Einer trage des anderen Schuld / Inspector Monk Bd.17
William Monk, Inspector bei der Londoner Wasserpolizei, glaubt, den Fall Jericho Phillips abschließen zu können: Der Kinderschänder und Mörder ist tot, sein Pädophilenring zerschlagen. Doch Arthur Ballinger, der Schwiegervater von...
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Produktinformationen zu „Einer trage des anderen Schuld / Inspector Monk Bd.17 “
William Monk, Inspector bei der Londoner Wasserpolizei, glaubt, den Fall Jericho Phillips abschließen zu können: Der Kinderschänder und Mörder ist tot, sein Pädophilenring zerschlagen. Doch Arthur Ballinger, der Schwiegervater von Monks Freund, dem Anwalt Sir Oliver Rathbone, hat mit der Sache zu tun: Ballinger hat die in den Skandal verwickelten Honoratioren der Stadt mit kompromittierenden Fotos erpresst und steht nun vor Gericht. Als Rathbone, der seinen Schwiegervater verteidigen soll, in den Besitz der Fotos gelangt, sieht er sich in einer teuflischen Versuchung gegenüber ...
Klappentext zu „Einer trage des anderen Schuld / Inspector Monk Bd.17 “
William Monk, Inspector bei der Londoner Wasserpolizei, glaubt, den Fall Jericho Phillips abschließen zu können: Der Kinderschänder und Mörder ist tot, sein Pädophilenring zerschlagen. Doch Arthur Ballinger, der Schwiegervater von Monks Freund, dem Anwalt Sir Oliver Rathbone, hat mit der Sache zu tun: Ballinger hat die in den Skandal verwickelten Honoratioren der Stadt mit kompromittierenden Fotos erpresst und steht nun vor Gericht. Als Rathbone, der seinen Schwiegervater verteidigen soll, in den Besitz der Fotos gelangt, sieht er sich in einer teuflischen Versuchung gegenüber ...
Lese-Probe zu „Einer trage des anderen Schuld / Inspector Monk Bd.17 “
Einer trage des anderen Schuld von Anne Perry1
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Hester dämmerte in einem leichten Halbschlaf dahin. Ein leises Geräusch drang an ihre Ohren, als schnappte jemand nach Luft und ließe sie mit einem unterdrückten, verzweifelten Keuchen entweichen. Monk lag regungslos neben ihr, die Hand schlaff auf dem Kissen, das Haar über dem Gesicht.
Nicht zum ersten Mal in den letzten zwei Wochen hatte sie Scuff in der Nacht weinen hören. Es war eine heikle Beziehung zwischen ihr und dem Jungen, mit dem Monk und sie sich angefreundet hatten. Zuvor hatte er auf den Straßen in der Nähe des Flusses gelebt und sich größtenteils selbst versorgt, was ihm vorzeitige Reife und einen unbändigen Unabhängigkeitsdrang beschert hatte. Wie er das sah, passte er auf Monk auf, denn dem fehlte es Scuffs Meinung nach an jenen Kenntnissen und scharfen Sinnen, die in seiner Stellung als Kommandant der Thames River Police in Wapping, dem Herzen der Londoner Hafengegend, unabdingbar waren.
Bis vor einem Monat war Scuff nach Lust und Laune gekommen und gegangen und hatte nur sporadisch die Nacht in Monks Haus in der Paradise Place verbracht. Doch seit seiner Verschleppung und den entsetzlichen Erlebnissen in jenem Boot am Execution Dock hatte Scuff sich hier eingerichtet, wagte sich tagsüber kaum hinaus und warf sich in den Nächten, von Alpträumen gepeinigt, in seinem Bett hin und her. Er sprach nie darüber, und sein Stolz verbot es ihm, ausgerechnet Hester gegenüber zuzugeben, dass er vor Dunkelheit, geschlossenen Türen und besonders vor dem Schlaf Angst hatte.
Natürlich wusste sie, warum. Kaum entglitt ihm die strenge Kontrolle, die er in wachen Stunden über sich ausübte, lag er wieder verkrümmt unter der Falltür zum Kielraum des Bootes, eingesperrt neben der halb verwesten Leiche des vermissten Jungen, deren Gestank bei ihm einen permanenten Brechreiz auslöste, und kämpfte gegen das wirbelnde Wasser und die Ratten.
In seinen Alpträumen schien es keine Bedeutung zu haben, dass er jetzt wieder frei und Jericho Phillips tot war. Dabei hatte er dessen Leiche selbst gesehen, gefangen in einem Eisenkäfig im Fluss. Sein Mund war weit aufgerissen, als ihn die steigende Flut umschloss und seine Stimme für immer erstickte.
Hester hörte das Geräusch erneut und glitt aus dem Bett. Sie hüllte sich in einen Morgenrock, nicht so sehr, weil sie in der Spätseptembernacht fröstelte, sondern um Scuff nicht in Verlegenheit zu bringen, falls er wach war. Lautlos huschte sie durch das Schlafzimmer und über den Flur. Die Tür zu seinem Zimmer hatte sie mit Bedacht weit offen gelassen, damit er jeden Moment einfach hinauslaufen konnte. Die Gaslampe brannte auf kleiner Flamme, wodurch die Illusion erhalten bleiben konnte, Hester hätte vergessen, sie vor dem Zubettgehen auszublasen. Keiner von den beiden sprach dieses Thema jemals an.
Scuff lag klein und verkrümmt zwischen den Laken und halb zu Boden gerutschten Decken. Seine Haltung war genau dieselbe wie damals, als Sutton, der Rattenfänger, die Falltür zum Kielraum aufgestemmt hatte.
Ohne lange zu überlegen, trat Hester in das Zimmer, hob die Decken auf, breitete sie über dem Jungen aus und stopfte sie an den Rändern behutsam unter die Matratze, damit sie nicht gleich wieder herunterrutschten. Erneut stieß Scuff ein Wimmern aus, dann zog er die Decke höher, als wäre ihm kalt. Hester blieb bei dem Bett stehen und beobachtete ihn. Im matten Schein der Gaslampe konnte sie sehen, dass er immer noch träumte. Seine Züge waren angespannt, seine Augen fest geschlossen und seine Zähne aufeinandergepresst. Immer wieder bewegte sich sein Körper, und dann schossen seine Hände in die Höhe, als griffen sie nach etwas.
Wie konnte sie ihn wecken, ohne seinen Stolz zu verletzen? Er würde es ihr nie verzeihen, wenn sie ihn wie ein Kind behandelte. Und doch waren seine Wangen so glatt, sein Hals so zierlich und seine Schultern so schmal, dass noch nichts den Mann in ihm verriet. Er behauptete, er sei elf Jahre alt, sah aber eher aus wie neun.
Welche Lüge würde er nicht durchschauen? Sie konnte ihn nicht wecken, ohne damit stillschweigend zuzugeben, dass sie ihn im Traum hatte weinen hören. Schließlich wandte sie sich um, kehrte zur Tür zurück und ging ein Stück weit in den Flur hinaus. Unvermittelt hatte sie eine Idee. Auf Zehenspitzen lief sie die Treppe zur Küche hinunter, wo sie ein Glas Milch einschenkte und vier Kekse auf einen Teller legte. Damit stieg sie wieder nach oben, sorgfältig darauf bedacht, nicht über ihren Morgenrock zu stolpern. Im Flur angekommen, knallte sie absichtlich den Wäscheschrank zu.
Ihr war klar, dass sie damit womöglich auch Monk weckte, aber das ließ sich nun einmal nicht ändern.
Als sie in Scuffs Zimmer trat, lag der Junge mit weit aufgerissenen Augen im Bett, die bis zum Kinn hochgezogenen Decken fest umklammert.
»Du bist wach?«, fragte sie in einem Ton gelinden Erstaunens. »Ich bin es auch. Ich habe mir Milch und Kekse geholt. Möchtest du die Hälfte davon haben?« Sie zeigte ihm den Teller.
Scuff nickte. Er sah, dass es nur ein Glas war, aber auf die Milch kam es ihm nicht an. Was zählte, war die Gelegenheit, wach und dabei nicht allein zu sein.
Hester trat ein, wobei sie die Tür nur anlehnte, und setzte sich auf die Bettkante. Das Glas stellte sie auf dem Tisch neben ihm und den Teller auf den Decken ab.
Scuff nahm einen Keks und knabberte daran, ohne Hester aus den Augen zu lassen. Seine Pupillen waren im matten Lampenlicht groß und dunkel. Er wartete darauf, dass sie etwas sagte.
»Ich mag es nicht, so spät in der Nacht nicht schlafen zu können«, begann sie und biss sich auf die Lippe. »Eigentlich habe ich gar keinen Hunger. Ich habe es nur ganz gern, wenn ich irgendwas esse. Du kannst die Milch haben, wenn du sie willst.«
»Ich trink die Hälfte«, erklärte Scuff. Nahrung war wertvoll; er nahm es stets sehr genau mit der gerechten Verteilung.
Hester lächelte. »Ist recht.« Und damit er sich beim Essen unbefangener fühlte, griff sie ebenfalls nach einem Keks.
Scuff beäugte sie immer noch wachsam, gelangte dann aber zu dem Schluss, dass ihr Angebot aufrichtig gemeint war. So nahm er sich den letzten Keks und verspeiste ihn mit drei Bissen.
Sie lächelte ihn an, und einen Augenblick später grinste er zurück.
»Bist du schläfrig?«, wollte sie wissen.
»Nein ...«
»Ich auch nicht.« Sie rutschte ein Stück nach hinten, damit sie sich an das Kopfende lehnen konnte, wahrte aber weiter eine halbe Armeslänge Abstand zu ihm. »Manchmal lese ich, wenn ich in der Nacht wach bin, aber im Augenblick habe ich kein gutes Buch. Und die Zeitung ist voll mit allen möglichen Geschichten, die ich bestimmt nicht wissen will.«
»Was für Geschichten?« Er drehte sich so zu ihr, dass er sie besser sehen konnte.
Sie berichtete ihm von gesellschaftlichen Ereignissen, von denen sie gehört hatte, und fügte ergänzend hinzu, wann sie stattgefunden hatten und wer daran beteiligt gewesen war. Das Thema interessierte weder sie noch ihn, aber sie hatten etwas zu reden. Sehr bald schweifte sie ab, und andere Veranstaltungen fielen ihr ein, mit denen sie persönliche Erinnerungen verband. Ausführlich beschrieb sie Kleider und Speisen, Verhaltensweisen, schlagfertige Bemerkungen, Flirts, kurz: alles Mögliche, um ihn abzulenken. Sogar die unselige Trauerfeier fiel ihr wieder ein, bei der ihre Freundin in einem von ihr nicht beabsichtigten Vollrausch für einen Skandal gesorgt hatte. Mitten in einer Geigendarbietung war sie auf die Bühne geklettert und hatte der äußerst ernsten jungen Geigerin die Violine entrissen, um dann selbst mehrere beliebte Varieté-nummern zum Besten zu geben und von Stück zu Stück frivoler zu werden.
Kichernd versuchte Scuff, sich die Situation auszumalen. »Und das war schlimm?«, fragte er.
»Verheerend!«, bestätigte Hester voller Genuss. »Sie verriet den Leute die ganze Wahrheit darüber, was für ein Angsthase der Tote gewesen war und warum sie tatsächlich gekommen waren. Damals war es entsetzlich, aber jetzt muss ich jedes Mal lachen, wenn ich daran denke.«
»Sie war Ihre Freundin.« Scuff sagte das letzte Wort ganz langsam, schmeckte geradezu seinen Wert.
»Ja, das war sie.«
»Haben Sie ihr geholfen?«
»So gut ich konnte.«
»Fig war mein Freund«, murmelte Scuff. »Ich hab ihm nich' geholfen. Und die andern genauso wenig.«
»Ich weiß.« Hester spürte einen Kloß im Hals. Einen, der hart war und schmerzte. Fig war einer der Jungen, die Jericho Phillips ermordet hatte. »Das tut mir sehr leid«, flüsterte sie.
»Jetzt lässt sich nix mehr ändern«, stellte Scuff nüchtern fest.
»Sie haben Ihr Bestes getan. Niemand kann so was aufhalten.« Er rutschte eine Handbreit näher an sie heran. »Erzählen Sie mir mehr von Rose und den andern.«
Oft genug hatte Hester die Schuldgefühle gesehen, die sich in den Gesichtern von Überlebenden spiegelten, deren Kameraden getötet worden waren. In ihrer Zeit als Krankenschwester im Krimkrieg hatte sie nur allzu oft gehört, wie Soldaten in den gleichen Alpträumen aufschrien und mit dem gleichen entsetzten, hilflosen Blick aufwachten und fassungslos die Bequemlichkeit um sie herum anstarrten und das Grauen in ihrem Inneren entdeckten.
Allein schon deshalb versuchte sie, an etwas anderes, Schöneres zu denken, das sie Scuff erzählen könnte, um die Erinnerungen an seine verlorenen Freunde zu vertreiben. So schmückte sie ihre Anekdoten noch ein wenig aus, bis sie bemerkte, dass ihm die Augen zufielen. Sie senkte die Stimme, senkte sie dann noch etwas mehr. Er war inzwischen so nahe, dass er sie berührte und sie seine Wärme durch die Decken zwischen ihnen spürte. Ein paar Minuten später schlief er. Ohne sich dessen bewusst zu werden, hatte er den Kopf an ihre Schulter gelehnt. Sie verstummte und blieb, wo sie war. Auch wenn ihre Haltung etwas verkrampft war, rührte sie sich bis zum Morgen nicht von der Stelle. Und als Scuff aufwachte, tat sie so, als hätte sie ebenfalls geschlafen.
Nach dem Frühstück mit heißem Porridge, Toast und Marmelade schickte Monk den Jungen auf einen Botengang, dann wandte er sich an Hester.
»Wieder Alpträume?«, erkundigte er sich.
»Es tut mir leid«, entschuldigte sie sich. »Ich dachte mir schon, dass ich dich wahrscheinlich wecken würde, aber ich konnte ihn nicht damit alleinlassen. Darum knallte ich die Tür zu und ... «
»Du musst das nicht erklären«, unterbrach Monk sie. Für einen Moment milderte die Ahnung eines Lächelns die scharfen Züge seines kantigen Gesichts, nur um gleich wieder zu verschwinden. Er wirkte düster, voller Schmerzen, mit denen er nicht umzugehen wusste.
Hester war es klar, dass er wieder an diese schreckliche Nacht auf dem Fluss dachte, als Jericho Phillips Scuff verschleppt hatte, um Monk daran zu hindern, die Ermittlungen gegen ihn abzuschließen, was mit Sicherheit seinen Tod durch den Strick bedeutet hätte. Und fast wäre ihm sein teuflisches Vorhaben auch gelungen. Wäre nicht Snoot, Suttons kleiner Hund, gewesen, hätten sie den Jungen nie entdeckt.
»Er hat immer noch Angst«, sagte Hester leise. »Er weiß, dass Phillips tot ist - schließlich hat er die Leiche in diesem Käfig selbst gesehen. Aber es gibt andere Leute, die dasselbe tun, andere Boote auf dem Fluss, die Jungen für Pornografie und Prostitution benutzen - Jungen, genau wie ihn und seine Freunde. Menschen, denen wir nicht helfen können. Ich weiß nicht, was ich ihm sagen soll, denn er ist zu klug, um tröstliche Lügen zu glauben. Abgesehen davon will ich ihn sowieso nicht anlügen. Dann würde er mir überhaupt nicht mehr vertrauen. Ich wünschte, ihm würde nicht so viel an den anderen Jungen liegen, aber andererseits fände ich es entsetzlich, wenn für ihn Sicherheit nur ohne den Blick zurück in die Vergangenheit möglich wäre. Er glaubt, dass wir ihm nicht helfen können.« Sie blinzelte heftig. »William, Eltern sollten in der Lage sein zu helfen. Dazu sind sie doch da! Scuff ist zu jung, um sich der Realität zu stellen, die viel zu oft sogar uns überfordert. Ihm muss es so vorkommen, als ob wir es erst gar nicht versuchten, als ob wir uns einfach in die Niederlage fügten. Er versteht nicht einmal, warum er sich so schuldig fühlt, und glaubt, er würde die Opfer durch sein Wohlergehen, durch Vergessen verraten. Und auch wenn wir beteuern, dass er uns bestimmt nicht gleichgültig geworden ist, wird er uns nicht glauben.«
»Ich weiß.« Monk holte tief Luft und ließ sie langsam entweichen. »Und das ist nicht der einzige Aspekt des Problems.«
Hester wartete. Ihr Herz klopfte heftig, und sie spürte einen Knoten im Hals, der ihr die Luft abschnürte. Bisher hatten sie vermieden, es auszusprechen: Ihre ganze Zeit und all ihre Emotionen galten Scuff. Doch sie hatte gewusst, dass es irgendwann ans Tageslicht drängen würde. Jetzt betrachtete sie die von Anspannung herrührenden Furchen auf seiner Stirn, die Schatten um seine Augen, die hohen Wangenknochen. All das zeugte von einer Verletzlichkeit, die nur sie verstehen konnte.
War es wirklich vorstellbar, dass Margarets Vater die treibende Kraft und der Geldgeber von Jericho Phillips' Gräueltaten gewesen war? Hester wünschte sich so sehnlich, Monk würde ihr sagen, das alles wäre nicht wahr.
»Du hast gehört, was Rathbone über Arthur Ballinger und Phillips berichtet hat?«, fragte er laut.
»Ja. Hat er noch mehr dazu gesagt?«
»Nein. Ich nehme an, es wurden keine rechtlichen Schritte unternommen; sonst hätte er sich dazu geäußert. Dann hätte er keine Wahl gehabt.«
»Du meinst, es gibt keine Beweise, nur Sullivans Wort - und der ist ja tot?«
»Genau.«
»Aber du glaubst es?« Auch das war eigentlich keine Frage. Wenn Monk Sullivans Anschuldigung für eine Lüge gehalten hätte, müssten sie sich jetzt nicht diesem unausweichlichen Schmerz aussetzen.
»Natürlich glaube ich das«, antwortete er sehr leise. »Rathbone glaubt es. Und kannst du dir vorstellen, er würde ihn verdächtigen, wenn es im Himmel oder in der Hölle einen Weg gäbe, das zu vermeiden?«
»Nein.« Das Bild Oliver Rathbones erstand vor ihren Augen.
Er war nun schon so lange mit Monk und ihr befreundet. An seiner Seite hatten sie so viele verzweifelte Schlachten um Gerechtigkeit ausgefochten, oft unter Gefahren für ihren Ruf, ja, ihr Leben. Endlose Nächte hatten sie sich auf der Suche nach Lösungen um die Ohren geschlagen, gemeinsam hatten sie Siege errungen und Katastrophen durchgestanden, sich dem Entsetzen gestellt, das Trauer, Mitleid und Desillusionierung mit sich brachten. Rathbone hatte Hester einmal geliebt, doch sie hatte Monk auserwählt. Später hatte er Margaret Ballinger geheiratet und bei ihr ein Glück gefunden, das viel besser zu seinem Naturell passte. Margaret konnte ihm Kinder schenken, aber noch augenfälliger war, dass sie gesellschaftlich auf der gleichen Stufe stand. Sie war ruhiger und besonnener als Hester; sie wusste, welches Verhalten von einer Lady Rathbone, Gattin des begnadetsten Anwalts von London, erwartet wurde.
Monk hob die Hand und strich ihr so sanft über die Wange, dass sie mehr als seine Berührung seine Wärme spürte.
»Um Scuffs willen muss ich wissen, ob Ballinger beteiligt war«, antwortete er ihr. »Dann merkt der Junge wenigstens, dass ich mich bemühe. Und Rathbone muss das Gleiche tun, selbst wenn er die Sache am liebsten auf sich beruhen lassen würde.«
»Hast du vor, mit ihm darüber zu sprechen?«
»Bisher bin ich diesem Thema ausgewichen und er genauso. In den letzten zwei Wochen hat er einen anderen Fall vor Gericht vertreten, doch das ist jetzt erledigt, sodass er die Sache nicht länger auf die lange Bank schieben kann.«
»Bist du sicher, dass er es wissen muss?«, drängte Hester. »Der Schmerz, den das für ihn bedeuten würde, wäre unerträglich, und er hätte keine andere Wahl als zu handeln.«
»Eine solche Haltung entspricht gar nicht deinem Wesen«, meinte Monk nachdenklich.
»Der Wunsch, jemandem zu helfen, Schmerzen zu vermeiden?« Einen Moment lang war sie regelrecht empört.
»Etwas zu vermeiden«, verbesserte er sie. »Du bist als Krankenschwester zu gut, um eine Stelle verbinden zu wollen, von der du weißt, dass sie operiert werden muss. Wenn es Wundbrand ist, muss man den Arm amputieren, sonst stirbt der Patient. Das hast du mich selbst gelehrt.«
»Nennst du mein Verhalten feige?« Obwohl Hester das letzte Wort absichtlich benutzte, zuckte sie in dem Moment, da sie es aussprach, zusammen. Sie hatte im Krimkrieg Verwundete gepflegt und wusste, dass »Feigling« für einen Soldaten in jeder Sprache die schlimmste vorstellbare Beschimpfung darstellte, übler noch als »Betrüger« oder »Dieb«.
Monk beugte sich vor und küsste sie. Seine Lippen verweilten nur kurz auf den ihren. »Man braucht keinen Mut, wenn man keine Angst hat«, erklärte er. »Es dauert nur ein wenig, bis man sich sicher ist, dass es keine Alternative gibt. Scuff braucht die Gewissheit, dass wir uns auch um diesen Missbrauchsfall kümmern und nicht nur darum, ihn zu retten, um alles andere zu ignorieren. Und ich glaube, dass Rathbone den gleichen Wunsch hat, egal, um welchen Preis.«
»Egal, um welchen Preis?«, fragte sie nach.
Er zögerte. »Vielleicht nicht um jeden Preis, aber es stimmt trotzdem.«
Zu Fuß begab sich Hester auf den Weg zu der Klinik, die sie selbst aufgebaut hatte, damit Prostituierte und andere auf der Straße lebende Frauen bei einer Erkrankung oder Verletzung behandelt werden konnten. Das Krankenhaus war in der Portpool Lane, ganz in der Nähe der Gray's Inn Road gelegen. Es überlebte dank wohltätiger Spenden, und unter denjenigen, die um Gelder warben und sie erhielten, war Margaret Rathbone mit Abstand die hingebungsvollste und fähigste Sammlerin. Darüber hinaus verbrachte sie beträchtliche Zeit mit Arbeit in dieser Einrichtung, wo sie wusch, putzte und leichtere Pflegeaufgaben, für die Hester sie angelernt hatte, an den Patientinnen versah.
Verständlicherweise leistete sie seit ihrer Hochzeit deutlich weniger Arbeit und gar keine mehr in der Nacht. Gleichwohl freute Hester sich nicht unbedingt darauf, Margaret heute zu begegnen, und hoffte, es wäre einer der Tage, an denen sie anderweitig beschäftigt war. Hester war sich bewusst, dass ihr Unbehagen auch an ihrer eigenen Mutlosigkeit lag. Sie fürchtete sich vor den unabwendbaren Gefühlen von Wut und Schmerz. Doch sie schob all das nur hinaus.
Hester verließ die Paradise Place und lief den Hügel zur Fähre hinunter. Der Herbstwind war stürmisch und roch nach Salz. In Wapping angelangt, nahm sie einen Pferdeomnibus westwärts in Richtung Holborn. Es war ein weiter Weg zur Klinik, aber sie mussten notwendigerweise in der Nähe von Monks Arbeitsstätte leben. Nachdem er sich jahrelang als Privatermittler ohne Aussicht auf Sicherheit oder feste Bezahlung von einem Fall zum anderen gehangelt hatte, bekleidete er jetzt eine relativ neue Position. Seit noch nicht ganz einem Jahr war er Kommandant der Wasserpolizei in dieser Gegend und versah damit ein höchst verantwortungsvolles Amt. In ganz England gab es niemanden mit mehr Geschick für die Aufdeckung von Verbrechen, größerem Mut und hingebungsvollerem Einsatz oder, wie manche sagen mochten, erbarmungsloserer Härte, doch an der Kunst der Führung der eigenen Männer und der Fähigkeit, Vorgesetzte oder höhere Ränge in der politischen Hierarchie für sich zu gewinnen, mangelte es Monk bisweilen sehr. Außerdem hatte er seine ersten Erfahrungen als Polizist in der Stadt, nicht auf dem Wasser gesammelt, ehe seine Rivalität mit seinem damaligen Kollegen und jetzigen Chef Runcorn mit seinem Rauswurf beendet worden war.
...
Übersetzung: Peter Pfaffinger
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2011
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Hester dämmerte in einem leichten Halbschlaf dahin. Ein leises Geräusch drang an ihre Ohren, als schnappte jemand nach Luft und ließe sie mit einem unterdrückten, verzweifelten Keuchen entweichen. Monk lag regungslos neben ihr, die Hand schlaff auf dem Kissen, das Haar über dem Gesicht.
Nicht zum ersten Mal in den letzten zwei Wochen hatte sie Scuff in der Nacht weinen hören. Es war eine heikle Beziehung zwischen ihr und dem Jungen, mit dem Monk und sie sich angefreundet hatten. Zuvor hatte er auf den Straßen in der Nähe des Flusses gelebt und sich größtenteils selbst versorgt, was ihm vorzeitige Reife und einen unbändigen Unabhängigkeitsdrang beschert hatte. Wie er das sah, passte er auf Monk auf, denn dem fehlte es Scuffs Meinung nach an jenen Kenntnissen und scharfen Sinnen, die in seiner Stellung als Kommandant der Thames River Police in Wapping, dem Herzen der Londoner Hafengegend, unabdingbar waren.
Bis vor einem Monat war Scuff nach Lust und Laune gekommen und gegangen und hatte nur sporadisch die Nacht in Monks Haus in der Paradise Place verbracht. Doch seit seiner Verschleppung und den entsetzlichen Erlebnissen in jenem Boot am Execution Dock hatte Scuff sich hier eingerichtet, wagte sich tagsüber kaum hinaus und warf sich in den Nächten, von Alpträumen gepeinigt, in seinem Bett hin und her. Er sprach nie darüber, und sein Stolz verbot es ihm, ausgerechnet Hester gegenüber zuzugeben, dass er vor Dunkelheit, geschlossenen Türen und besonders vor dem Schlaf Angst hatte.
Natürlich wusste sie, warum. Kaum entglitt ihm die strenge Kontrolle, die er in wachen Stunden über sich ausübte, lag er wieder verkrümmt unter der Falltür zum Kielraum des Bootes, eingesperrt neben der halb verwesten Leiche des vermissten Jungen, deren Gestank bei ihm einen permanenten Brechreiz auslöste, und kämpfte gegen das wirbelnde Wasser und die Ratten.
In seinen Alpträumen schien es keine Bedeutung zu haben, dass er jetzt wieder frei und Jericho Phillips tot war. Dabei hatte er dessen Leiche selbst gesehen, gefangen in einem Eisenkäfig im Fluss. Sein Mund war weit aufgerissen, als ihn die steigende Flut umschloss und seine Stimme für immer erstickte.
Hester hörte das Geräusch erneut und glitt aus dem Bett. Sie hüllte sich in einen Morgenrock, nicht so sehr, weil sie in der Spätseptembernacht fröstelte, sondern um Scuff nicht in Verlegenheit zu bringen, falls er wach war. Lautlos huschte sie durch das Schlafzimmer und über den Flur. Die Tür zu seinem Zimmer hatte sie mit Bedacht weit offen gelassen, damit er jeden Moment einfach hinauslaufen konnte. Die Gaslampe brannte auf kleiner Flamme, wodurch die Illusion erhalten bleiben konnte, Hester hätte vergessen, sie vor dem Zubettgehen auszublasen. Keiner von den beiden sprach dieses Thema jemals an.
Scuff lag klein und verkrümmt zwischen den Laken und halb zu Boden gerutschten Decken. Seine Haltung war genau dieselbe wie damals, als Sutton, der Rattenfänger, die Falltür zum Kielraum aufgestemmt hatte.
Ohne lange zu überlegen, trat Hester in das Zimmer, hob die Decken auf, breitete sie über dem Jungen aus und stopfte sie an den Rändern behutsam unter die Matratze, damit sie nicht gleich wieder herunterrutschten. Erneut stieß Scuff ein Wimmern aus, dann zog er die Decke höher, als wäre ihm kalt. Hester blieb bei dem Bett stehen und beobachtete ihn. Im matten Schein der Gaslampe konnte sie sehen, dass er immer noch träumte. Seine Züge waren angespannt, seine Augen fest geschlossen und seine Zähne aufeinandergepresst. Immer wieder bewegte sich sein Körper, und dann schossen seine Hände in die Höhe, als griffen sie nach etwas.
Wie konnte sie ihn wecken, ohne seinen Stolz zu verletzen? Er würde es ihr nie verzeihen, wenn sie ihn wie ein Kind behandelte. Und doch waren seine Wangen so glatt, sein Hals so zierlich und seine Schultern so schmal, dass noch nichts den Mann in ihm verriet. Er behauptete, er sei elf Jahre alt, sah aber eher aus wie neun.
Welche Lüge würde er nicht durchschauen? Sie konnte ihn nicht wecken, ohne damit stillschweigend zuzugeben, dass sie ihn im Traum hatte weinen hören. Schließlich wandte sie sich um, kehrte zur Tür zurück und ging ein Stück weit in den Flur hinaus. Unvermittelt hatte sie eine Idee. Auf Zehenspitzen lief sie die Treppe zur Küche hinunter, wo sie ein Glas Milch einschenkte und vier Kekse auf einen Teller legte. Damit stieg sie wieder nach oben, sorgfältig darauf bedacht, nicht über ihren Morgenrock zu stolpern. Im Flur angekommen, knallte sie absichtlich den Wäscheschrank zu.
Ihr war klar, dass sie damit womöglich auch Monk weckte, aber das ließ sich nun einmal nicht ändern.
Als sie in Scuffs Zimmer trat, lag der Junge mit weit aufgerissenen Augen im Bett, die bis zum Kinn hochgezogenen Decken fest umklammert.
»Du bist wach?«, fragte sie in einem Ton gelinden Erstaunens. »Ich bin es auch. Ich habe mir Milch und Kekse geholt. Möchtest du die Hälfte davon haben?« Sie zeigte ihm den Teller.
Scuff nickte. Er sah, dass es nur ein Glas war, aber auf die Milch kam es ihm nicht an. Was zählte, war die Gelegenheit, wach und dabei nicht allein zu sein.
Hester trat ein, wobei sie die Tür nur anlehnte, und setzte sich auf die Bettkante. Das Glas stellte sie auf dem Tisch neben ihm und den Teller auf den Decken ab.
Scuff nahm einen Keks und knabberte daran, ohne Hester aus den Augen zu lassen. Seine Pupillen waren im matten Lampenlicht groß und dunkel. Er wartete darauf, dass sie etwas sagte.
»Ich mag es nicht, so spät in der Nacht nicht schlafen zu können«, begann sie und biss sich auf die Lippe. »Eigentlich habe ich gar keinen Hunger. Ich habe es nur ganz gern, wenn ich irgendwas esse. Du kannst die Milch haben, wenn du sie willst.«
»Ich trink die Hälfte«, erklärte Scuff. Nahrung war wertvoll; er nahm es stets sehr genau mit der gerechten Verteilung.
Hester lächelte. »Ist recht.« Und damit er sich beim Essen unbefangener fühlte, griff sie ebenfalls nach einem Keks.
Scuff beäugte sie immer noch wachsam, gelangte dann aber zu dem Schluss, dass ihr Angebot aufrichtig gemeint war. So nahm er sich den letzten Keks und verspeiste ihn mit drei Bissen.
Sie lächelte ihn an, und einen Augenblick später grinste er zurück.
»Bist du schläfrig?«, wollte sie wissen.
»Nein ...«
»Ich auch nicht.« Sie rutschte ein Stück nach hinten, damit sie sich an das Kopfende lehnen konnte, wahrte aber weiter eine halbe Armeslänge Abstand zu ihm. »Manchmal lese ich, wenn ich in der Nacht wach bin, aber im Augenblick habe ich kein gutes Buch. Und die Zeitung ist voll mit allen möglichen Geschichten, die ich bestimmt nicht wissen will.«
»Was für Geschichten?« Er drehte sich so zu ihr, dass er sie besser sehen konnte.
Sie berichtete ihm von gesellschaftlichen Ereignissen, von denen sie gehört hatte, und fügte ergänzend hinzu, wann sie stattgefunden hatten und wer daran beteiligt gewesen war. Das Thema interessierte weder sie noch ihn, aber sie hatten etwas zu reden. Sehr bald schweifte sie ab, und andere Veranstaltungen fielen ihr ein, mit denen sie persönliche Erinnerungen verband. Ausführlich beschrieb sie Kleider und Speisen, Verhaltensweisen, schlagfertige Bemerkungen, Flirts, kurz: alles Mögliche, um ihn abzulenken. Sogar die unselige Trauerfeier fiel ihr wieder ein, bei der ihre Freundin in einem von ihr nicht beabsichtigten Vollrausch für einen Skandal gesorgt hatte. Mitten in einer Geigendarbietung war sie auf die Bühne geklettert und hatte der äußerst ernsten jungen Geigerin die Violine entrissen, um dann selbst mehrere beliebte Varieté-nummern zum Besten zu geben und von Stück zu Stück frivoler zu werden.
Kichernd versuchte Scuff, sich die Situation auszumalen. »Und das war schlimm?«, fragte er.
»Verheerend!«, bestätigte Hester voller Genuss. »Sie verriet den Leute die ganze Wahrheit darüber, was für ein Angsthase der Tote gewesen war und warum sie tatsächlich gekommen waren. Damals war es entsetzlich, aber jetzt muss ich jedes Mal lachen, wenn ich daran denke.«
»Sie war Ihre Freundin.« Scuff sagte das letzte Wort ganz langsam, schmeckte geradezu seinen Wert.
»Ja, das war sie.«
»Haben Sie ihr geholfen?«
»So gut ich konnte.«
»Fig war mein Freund«, murmelte Scuff. »Ich hab ihm nich' geholfen. Und die andern genauso wenig.«
»Ich weiß.« Hester spürte einen Kloß im Hals. Einen, der hart war und schmerzte. Fig war einer der Jungen, die Jericho Phillips ermordet hatte. »Das tut mir sehr leid«, flüsterte sie.
»Jetzt lässt sich nix mehr ändern«, stellte Scuff nüchtern fest.
»Sie haben Ihr Bestes getan. Niemand kann so was aufhalten.« Er rutschte eine Handbreit näher an sie heran. »Erzählen Sie mir mehr von Rose und den andern.«
Oft genug hatte Hester die Schuldgefühle gesehen, die sich in den Gesichtern von Überlebenden spiegelten, deren Kameraden getötet worden waren. In ihrer Zeit als Krankenschwester im Krimkrieg hatte sie nur allzu oft gehört, wie Soldaten in den gleichen Alpträumen aufschrien und mit dem gleichen entsetzten, hilflosen Blick aufwachten und fassungslos die Bequemlichkeit um sie herum anstarrten und das Grauen in ihrem Inneren entdeckten.
Allein schon deshalb versuchte sie, an etwas anderes, Schöneres zu denken, das sie Scuff erzählen könnte, um die Erinnerungen an seine verlorenen Freunde zu vertreiben. So schmückte sie ihre Anekdoten noch ein wenig aus, bis sie bemerkte, dass ihm die Augen zufielen. Sie senkte die Stimme, senkte sie dann noch etwas mehr. Er war inzwischen so nahe, dass er sie berührte und sie seine Wärme durch die Decken zwischen ihnen spürte. Ein paar Minuten später schlief er. Ohne sich dessen bewusst zu werden, hatte er den Kopf an ihre Schulter gelehnt. Sie verstummte und blieb, wo sie war. Auch wenn ihre Haltung etwas verkrampft war, rührte sie sich bis zum Morgen nicht von der Stelle. Und als Scuff aufwachte, tat sie so, als hätte sie ebenfalls geschlafen.
Nach dem Frühstück mit heißem Porridge, Toast und Marmelade schickte Monk den Jungen auf einen Botengang, dann wandte er sich an Hester.
»Wieder Alpträume?«, erkundigte er sich.
»Es tut mir leid«, entschuldigte sie sich. »Ich dachte mir schon, dass ich dich wahrscheinlich wecken würde, aber ich konnte ihn nicht damit alleinlassen. Darum knallte ich die Tür zu und ... «
»Du musst das nicht erklären«, unterbrach Monk sie. Für einen Moment milderte die Ahnung eines Lächelns die scharfen Züge seines kantigen Gesichts, nur um gleich wieder zu verschwinden. Er wirkte düster, voller Schmerzen, mit denen er nicht umzugehen wusste.
Hester war es klar, dass er wieder an diese schreckliche Nacht auf dem Fluss dachte, als Jericho Phillips Scuff verschleppt hatte, um Monk daran zu hindern, die Ermittlungen gegen ihn abzuschließen, was mit Sicherheit seinen Tod durch den Strick bedeutet hätte. Und fast wäre ihm sein teuflisches Vorhaben auch gelungen. Wäre nicht Snoot, Suttons kleiner Hund, gewesen, hätten sie den Jungen nie entdeckt.
»Er hat immer noch Angst«, sagte Hester leise. »Er weiß, dass Phillips tot ist - schließlich hat er die Leiche in diesem Käfig selbst gesehen. Aber es gibt andere Leute, die dasselbe tun, andere Boote auf dem Fluss, die Jungen für Pornografie und Prostitution benutzen - Jungen, genau wie ihn und seine Freunde. Menschen, denen wir nicht helfen können. Ich weiß nicht, was ich ihm sagen soll, denn er ist zu klug, um tröstliche Lügen zu glauben. Abgesehen davon will ich ihn sowieso nicht anlügen. Dann würde er mir überhaupt nicht mehr vertrauen. Ich wünschte, ihm würde nicht so viel an den anderen Jungen liegen, aber andererseits fände ich es entsetzlich, wenn für ihn Sicherheit nur ohne den Blick zurück in die Vergangenheit möglich wäre. Er glaubt, dass wir ihm nicht helfen können.« Sie blinzelte heftig. »William, Eltern sollten in der Lage sein zu helfen. Dazu sind sie doch da! Scuff ist zu jung, um sich der Realität zu stellen, die viel zu oft sogar uns überfordert. Ihm muss es so vorkommen, als ob wir es erst gar nicht versuchten, als ob wir uns einfach in die Niederlage fügten. Er versteht nicht einmal, warum er sich so schuldig fühlt, und glaubt, er würde die Opfer durch sein Wohlergehen, durch Vergessen verraten. Und auch wenn wir beteuern, dass er uns bestimmt nicht gleichgültig geworden ist, wird er uns nicht glauben.«
»Ich weiß.« Monk holte tief Luft und ließ sie langsam entweichen. »Und das ist nicht der einzige Aspekt des Problems.«
Hester wartete. Ihr Herz klopfte heftig, und sie spürte einen Knoten im Hals, der ihr die Luft abschnürte. Bisher hatten sie vermieden, es auszusprechen: Ihre ganze Zeit und all ihre Emotionen galten Scuff. Doch sie hatte gewusst, dass es irgendwann ans Tageslicht drängen würde. Jetzt betrachtete sie die von Anspannung herrührenden Furchen auf seiner Stirn, die Schatten um seine Augen, die hohen Wangenknochen. All das zeugte von einer Verletzlichkeit, die nur sie verstehen konnte.
War es wirklich vorstellbar, dass Margarets Vater die treibende Kraft und der Geldgeber von Jericho Phillips' Gräueltaten gewesen war? Hester wünschte sich so sehnlich, Monk würde ihr sagen, das alles wäre nicht wahr.
»Du hast gehört, was Rathbone über Arthur Ballinger und Phillips berichtet hat?«, fragte er laut.
»Ja. Hat er noch mehr dazu gesagt?«
»Nein. Ich nehme an, es wurden keine rechtlichen Schritte unternommen; sonst hätte er sich dazu geäußert. Dann hätte er keine Wahl gehabt.«
»Du meinst, es gibt keine Beweise, nur Sullivans Wort - und der ist ja tot?«
»Genau.«
»Aber du glaubst es?« Auch das war eigentlich keine Frage. Wenn Monk Sullivans Anschuldigung für eine Lüge gehalten hätte, müssten sie sich jetzt nicht diesem unausweichlichen Schmerz aussetzen.
»Natürlich glaube ich das«, antwortete er sehr leise. »Rathbone glaubt es. Und kannst du dir vorstellen, er würde ihn verdächtigen, wenn es im Himmel oder in der Hölle einen Weg gäbe, das zu vermeiden?«
»Nein.« Das Bild Oliver Rathbones erstand vor ihren Augen.
Er war nun schon so lange mit Monk und ihr befreundet. An seiner Seite hatten sie so viele verzweifelte Schlachten um Gerechtigkeit ausgefochten, oft unter Gefahren für ihren Ruf, ja, ihr Leben. Endlose Nächte hatten sie sich auf der Suche nach Lösungen um die Ohren geschlagen, gemeinsam hatten sie Siege errungen und Katastrophen durchgestanden, sich dem Entsetzen gestellt, das Trauer, Mitleid und Desillusionierung mit sich brachten. Rathbone hatte Hester einmal geliebt, doch sie hatte Monk auserwählt. Später hatte er Margaret Ballinger geheiratet und bei ihr ein Glück gefunden, das viel besser zu seinem Naturell passte. Margaret konnte ihm Kinder schenken, aber noch augenfälliger war, dass sie gesellschaftlich auf der gleichen Stufe stand. Sie war ruhiger und besonnener als Hester; sie wusste, welches Verhalten von einer Lady Rathbone, Gattin des begnadetsten Anwalts von London, erwartet wurde.
Monk hob die Hand und strich ihr so sanft über die Wange, dass sie mehr als seine Berührung seine Wärme spürte.
»Um Scuffs willen muss ich wissen, ob Ballinger beteiligt war«, antwortete er ihr. »Dann merkt der Junge wenigstens, dass ich mich bemühe. Und Rathbone muss das Gleiche tun, selbst wenn er die Sache am liebsten auf sich beruhen lassen würde.«
»Hast du vor, mit ihm darüber zu sprechen?«
»Bisher bin ich diesem Thema ausgewichen und er genauso. In den letzten zwei Wochen hat er einen anderen Fall vor Gericht vertreten, doch das ist jetzt erledigt, sodass er die Sache nicht länger auf die lange Bank schieben kann.«
»Bist du sicher, dass er es wissen muss?«, drängte Hester. »Der Schmerz, den das für ihn bedeuten würde, wäre unerträglich, und er hätte keine andere Wahl als zu handeln.«
»Eine solche Haltung entspricht gar nicht deinem Wesen«, meinte Monk nachdenklich.
»Der Wunsch, jemandem zu helfen, Schmerzen zu vermeiden?« Einen Moment lang war sie regelrecht empört.
»Etwas zu vermeiden«, verbesserte er sie. »Du bist als Krankenschwester zu gut, um eine Stelle verbinden zu wollen, von der du weißt, dass sie operiert werden muss. Wenn es Wundbrand ist, muss man den Arm amputieren, sonst stirbt der Patient. Das hast du mich selbst gelehrt.«
»Nennst du mein Verhalten feige?« Obwohl Hester das letzte Wort absichtlich benutzte, zuckte sie in dem Moment, da sie es aussprach, zusammen. Sie hatte im Krimkrieg Verwundete gepflegt und wusste, dass »Feigling« für einen Soldaten in jeder Sprache die schlimmste vorstellbare Beschimpfung darstellte, übler noch als »Betrüger« oder »Dieb«.
Monk beugte sich vor und küsste sie. Seine Lippen verweilten nur kurz auf den ihren. »Man braucht keinen Mut, wenn man keine Angst hat«, erklärte er. »Es dauert nur ein wenig, bis man sich sicher ist, dass es keine Alternative gibt. Scuff braucht die Gewissheit, dass wir uns auch um diesen Missbrauchsfall kümmern und nicht nur darum, ihn zu retten, um alles andere zu ignorieren. Und ich glaube, dass Rathbone den gleichen Wunsch hat, egal, um welchen Preis.«
»Egal, um welchen Preis?«, fragte sie nach.
Er zögerte. »Vielleicht nicht um jeden Preis, aber es stimmt trotzdem.«
Zu Fuß begab sich Hester auf den Weg zu der Klinik, die sie selbst aufgebaut hatte, damit Prostituierte und andere auf der Straße lebende Frauen bei einer Erkrankung oder Verletzung behandelt werden konnten. Das Krankenhaus war in der Portpool Lane, ganz in der Nähe der Gray's Inn Road gelegen. Es überlebte dank wohltätiger Spenden, und unter denjenigen, die um Gelder warben und sie erhielten, war Margaret Rathbone mit Abstand die hingebungsvollste und fähigste Sammlerin. Darüber hinaus verbrachte sie beträchtliche Zeit mit Arbeit in dieser Einrichtung, wo sie wusch, putzte und leichtere Pflegeaufgaben, für die Hester sie angelernt hatte, an den Patientinnen versah.
Verständlicherweise leistete sie seit ihrer Hochzeit deutlich weniger Arbeit und gar keine mehr in der Nacht. Gleichwohl freute Hester sich nicht unbedingt darauf, Margaret heute zu begegnen, und hoffte, es wäre einer der Tage, an denen sie anderweitig beschäftigt war. Hester war sich bewusst, dass ihr Unbehagen auch an ihrer eigenen Mutlosigkeit lag. Sie fürchtete sich vor den unabwendbaren Gefühlen von Wut und Schmerz. Doch sie schob all das nur hinaus.
Hester verließ die Paradise Place und lief den Hügel zur Fähre hinunter. Der Herbstwind war stürmisch und roch nach Salz. In Wapping angelangt, nahm sie einen Pferdeomnibus westwärts in Richtung Holborn. Es war ein weiter Weg zur Klinik, aber sie mussten notwendigerweise in der Nähe von Monks Arbeitsstätte leben. Nachdem er sich jahrelang als Privatermittler ohne Aussicht auf Sicherheit oder feste Bezahlung von einem Fall zum anderen gehangelt hatte, bekleidete er jetzt eine relativ neue Position. Seit noch nicht ganz einem Jahr war er Kommandant der Wasserpolizei in dieser Gegend und versah damit ein höchst verantwortungsvolles Amt. In ganz England gab es niemanden mit mehr Geschick für die Aufdeckung von Verbrechen, größerem Mut und hingebungsvollerem Einsatz oder, wie manche sagen mochten, erbarmungsloserer Härte, doch an der Kunst der Führung der eigenen Männer und der Fähigkeit, Vorgesetzte oder höhere Ränge in der politischen Hierarchie für sich zu gewinnen, mangelte es Monk bisweilen sehr. Außerdem hatte er seine ersten Erfahrungen als Polizist in der Stadt, nicht auf dem Wasser gesammelt, ehe seine Rivalität mit seinem damaligen Kollegen und jetzigen Chef Runcorn mit seinem Rauswurf beendet worden war.
...
Übersetzung: Peter Pfaffinger
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2011
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Autoren-Porträt von Anne Perry
Anne Perry, 1938 in London geboren, musste als Zehnjährige wegen ihrer angegriffenen Gesundheit England verlassen und verbrachte einen Teil ihrer Jugend in Neuseeland und auf den Bahamas. Schon früh begann sie zu schreiben. Mittlerweile begeistert sie mit ihrem Helden, dem Privatdetektiv William Monk, sowie dem Detektivgespann Thomas und Charlotte Pitt ein Millionenpublikum. Die Autorin lebt in Suffolk.
Bibliographische Angaben
- Autor: Anne Perry
- 2011, 441 Seiten, Maße: 13,5 x 20,6 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Peter Pfaffinger
- Übersetzer: Peter Pfaffinger
- Verlag: Goldmann
- ISBN-10: 3442475511
- ISBN-13: 9783442475513
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