Was vom Tode übrig bleibt
Peter Anders ist Tatortreiniger. Sein Job ist es, das zu beseitigen, was der Tod hinterlassen hat. In seinem fesselnden Buch schildert der Spezialist seine spektakulärsten Fälle. Er erzählt von den Angehörigen und von den Schicksalen,...
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Produktinformationen zu „Was vom Tode übrig bleibt “
Peter Anders ist Tatortreiniger. Sein Job ist es, das zu beseitigen, was der Tod hinterlassen hat. In seinem fesselnden Buch schildert der Spezialist seine spektakulärsten Fälle. Er erzählt von den Angehörigen und von den Schicksalen, die sich hinter den Wohnungstüren verbergen.
Klappentext zu „Was vom Tode übrig bleibt “
Er kommt, wenn das Leben gegangen istPeter Anders ist Tatortreiniger. Er beseitigt, was der Tod hinterlassen hat. Jetzt schildert er erstmals seine spektakulärsten Fälle. Er erzählt von den Begegnungen mit den Angehörigen, von den Schicksalen, die sich hinter den Wohnungstüren verbergen, vom Geruch des Todes, den man nie wieder vergisst - spannende Kriminalfälle, bewegende Schicksale, Grenzerfahrungen!
"...oft drastisch, manchmal traurig, manchmal kurios. In jedem Fall aber eine sehr unterhaltsame Lektüre." -- Hamburger Morgenpost
Lese-Probe zu „Was vom Tode übrig bleibt “
Was vom Tode übrig bleibt von Peter Anders1. Zement
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Es ist eine Sisyphusarbeit. Es ist, als müsste man mit einem winzigen Schraubenzieher im Winter eine zugefrorene Treppe frei schaben. Oder eine gründlich eingebrannte Pfanne mit einem Hölzchen säubern, wie es vom Eis am Stiel übrig bleibt. Und das Dümmste dabei ist: Ich weiß bereits jetzt, dass es Ärger geben wird. Ich bereue, dass ich diesen Job angenommen hab - ich bin manchmal so ein Depp, also wirklich!
Wir knien in unseren weißen Overalls in einem leeren Zimmer. Unsere Gesichter stecken in Atemschutzmasken. Wir haben elektrische Bohrmeißel, und wir bohren sie in den Estrich. Wir schaben ihn ab, in kleinen Streifen, einen, höchstens zwei Zentimeter breit. Den Meißel in den glasharten Zement zu drücken wird nach zehn Zentimetern schwer, nach höchstens 20 Zentimetern ist es unmöglich. Dann rutscht der Meißel nach oben weg, wir ziehen ihn zurück und fangen vorne wieder an.
Wir kratzen den Tod aus dem Boden.
Ich kenne nur den Nachnamen des Mannes, der hier starb. Er ist mit seiner Frau noch Anfang des Jahres in Thailand gewesen, sie ist dort ums Leben gekommen. Wie, weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass er drei Monate später fand, er hätte nun wohl ebenfalls lange genug gelebt, und Tabletten genommen hat. Was ich noch weiß, ist, dass er wohl nicht viele Freunde oder Verwandte hatte, die sich um ihn Sorgen gemacht haben. Man hat
ihn nach vier bis sechs Wochen gefunden. Er lag auf dem Boden, zwischen dem Bett und dem Fenster. Vielleicht lag er anfangs auch noch im Bett, ich würde es beim Selbstmord ja wenigstens bequem haben wollen, vielleicht wurde er durch die Tabletten nicht ganz so bewusstlos, wie er gern gewesen wäre, aber gestorben ist er auf dem Boden. Deswegen sind wir hier. Es ist sein Blut, das wir aus dem Boden kratzen, und nicht nur sein Blut.
Der Zementstaub dringt mir in die Augen. Ich richte mich langsam auf und frage mich, wie Klaus das durchhält, denn er ist mit seinen 48 Jahren ein paar Jahre älter als ich. Er ist wie ich Feuerwehrmann und Rettungsassistent und extrem vielseitig. Am Anfang hat die Arbeit noch leichter ausgesehen. Da hat Klaus mit der Flex zwei großzügig bemessene Schlitze um die Leichenumrisse in den Boden gefräst, damit wir eine Ansatzkante für unsere Geräte haben, ungefähr zwei Meter lang und einen Meter breit, eine matratzengroße Fläche. Die Flex ist durch den Boden gegangen wie Butter. Aber jetzt ... Mit verbissener Entschlossenheit treibt Klaus seinen Meißel in den Estrich, um wieder ein paar Quadratzentimeter loszuschlagen. Ich habe keine Ahnung, womit die Erbauer diesen Drecksboden angerührt haben. In manchen Städten stehen noch alte Flakbunker, die sie nach dem Krieg nicht abreißen konnten, weil die stärksten Sprengstoffe nichts vermocht hätten - hier in den Estrich haben sie vermutlich die Restbestände von diesem Bunkerzement gepresst; ich habe so etwas Granithartes noch nicht erlebt. Ich bin fast dankbar, wenn ich mal die Akkus in meinem Meißel wechseln kann. Ich richte mich auf, greife zum Besen, kehre die Splitter weg, was ich eigentlich nicht machen sollte, denn das Ergebnis ist ernüchternd: Es sieht aus, als hätten wir gerade erst angefangen.
Vielleicht ist das Ganze auch deshalb so tief drin, weil sie uns so spät gerufen haben.
Der Wohnungsbesitzer hat vorher offenbar schon selbst versucht, das Problem zu lösen, das heißt, irgendwelche Handwerker haben sich in seinem Auftrag bemüht. Wir jedenfalls haben nur den nackten Raum vorgefunden und den dunklen Fleck auf dem Boden vorm Fenster. Und die vielen kleinen Duftspender. Zwei blaue, kegelförmige aus dem Supermarkt, einer davon im Flur, einer im Wohnzimmer. Zwei weitere billige Plastikgehäuse stehen auf dem Fensterbrett im Schlafzimmer selbst, solche, die man gerne mal in die Gästetoilette stellt. Es wundert mich fast, dass sie nicht auch noch so ein kleines Bäumchen für den Autorückspiegel irgendwo hingehängt haben, Tannenduft oder Vanille. Die Mischung aus künstlichem Duftaroma und natürlicher Verwesung riecht furchtbar und hat zugleich etwas Rührendes. Als hätte jemand versucht, einen Waldbrand zu löschen, und zwar mit einem ganz, ganz kleinen Gießkännchen.
Sie haben das Zimmer ausgeräumt, ratzekahl. Sie haben den Teppichboden rausgerissen, die Klebstoffspuren sind noch auf dem Estrich darunter zu sehen, das war nicht mal so falsch. Dann haben sie geschrubbt, man sieht es an den Reinigern, die noch immer herumstehen. Sie haben die Fenster aufgerissen, ein paar Tage lang, einige Wochen lang. Und dann haben sie gemerkt, dass der Geruch nicht verschwindet. Sie sind also losgezogen und haben all die Duftmittelchen gekauft, die, die sie
wollten, und die, die man ihnen aufgeschwatzt hat. Sie haben nochmal geschrubbt und gelüftet wie die Weltmeister. Und dann haben sie den Geruch nicht mehr ertragen, uns gerufen und gehofft, dass wir ein Wundermittel haben. So läuft das immer.
Aber wir haben auch keine Wundermittel. Ich habe nur meine Nase und meine Erfahrung. Ich weiß eben, dass es nicht so ist, wie viele glauben, nämlich dass wir hier ein Zimmer haben, in dem ein Fleck ist und in dem es nach Tod riecht. Ich weiß, dass es der Fleck selbst ist, der riecht. Und weil nichts auf der Welt den Geruch des Todes neutralisieren kann, knien wir hier. Wir haben zuerst den Raum sicherheitshalber mit Kohrsolin aus-gesprüht, einem Desinfektionsmittel. Nicht dass nach vier Wochen das noch nötig gewesen wäre, aber sicher ist sicher. Und dann haben wir begonnen, den Fleck zu entfernen. Mit der einzigen Methode, die wirklich hilft: Wir schlagen ihn aus dem Boden.
Vier Wochen ist der Mann hier gelegen, im Hochsommer. Er lag auf der Seite, mit den Füßen an der Wand, dem Rücken zum Fenster, die Hände neben sich. Man sieht es an den Umrissen. Man kann den Daumen noch im Estrich erkennen, er schaut nur nicht mehr aus wie ein Daumen, sondern ähnelt mehr einem dicken Pilz. Die ganze Hand hat ja einen Umriss hinterlassen wie von einem Baseballhandschuh. Die Leichenflüssigkeit sickert eben aus dem Körper, aus dem ganzen Körper, durch die Kleidung, sie breitet sich aus, sie sickert in den Teppichboden, der sie in die Breite verteilt, dann dringt sie in den trockenen Stein darunter und dehnt sich dabei aus wie ein Tintentropfen auf einem Löschblatt. Die meisten Leute glauben, Stein wäre eine hermetisch dichte Schicht. Das ist nicht so. Wir sehen es ja beim Meißeln. Im Fernsehen gab es einmal eine Zahnpastareklame, in der eine Kindergärtnerin ein Stück Kreide rundum mit dem schmutzigen Malwasser ihrer Kinder bepinselte und dann das Kreidestück in zwei Teile brach, um zu zeigen, wie weit das Pinselwasser in die Kreide eingedrungen war. Genauso würden die tollen Wirkstoffe der Zahnpasta in den Zahn eindringen. Ob das bei der Zahnpasta stimmt, kann ich nicht sagen, aber beim Estrich stimmt es. Der dunkelbraunrote Fleck auf der Oberfläche setzt sich ein, zwei Zentimeter im Zement fort. Und die müssen raus. Wer den Boden gegen solche Flecken hätte abdichten wollen, hätte eine Edelstahlschicht einziehen müssen. Aber der Estrich ist nicht das eigentliche Problem, und wegen des Estrichs werden wir auch keinen Ärger kriegen. Den Ärger wird uns der Rest der Wohnung bereiten. Ich hab's gleich gemerkt, als der Hausbesitzer, ein älterer, sehr vorsichtiger, misstrauischer und sparsamer Herr, auf einem sofortigen Kostenvoranschlag noch am Telefon beharrte.
So vernünftig Sparsamkeit manchmal ist: Wie soll ich die Kosten richtig einschätzen, wenn ich den Tatort nicht sehe? Es gibt zig verschiedene Bodenarten, Dutzende Wände, Fugenmassen, Farben, was weiß ich. Wie alt ist das Haus? Wie lang lag die Leiche auf dem Boden? Wer hat bereits am Fundort herumgedoktert?
Er hat mich dann immerhin hineingelassen. Eine Zwei-Zimmer-Wohnung, Küche, Bad, die Leiche wurde im Schlafzimmer gefunden, und ich habe ihm gleich
gesagt, dass er die ganze Wohnung reinigen lassen müssen wird.
Nein, hat er gesagt, nur das Schlafzimmer.
Dreimal hab ich ihm erklärt, dass das sein Problem nicht lösen wird. Dass wir das Zimmer zwar sauber kriegen, aber danach wird er feststellen, dass der Rest der Wohnung eben doch riecht. Dass er dann merken wird, dass der starke Geruch im Zimmer nur den etwas schwächeren Geruch im Rest der Wohnung überdeckt hat.
Nein, hat er wieder gesagt, nur das eine Zimmer.
Wenn's wegen des Geldes ist, hab ich ihm vorgerechnet, soll er sich keine Sorgen machen. Das Zimmer, der Flur, das Bad, das kostet nicht so viel mehr. Viel teurer wird's, wenn wir extra dafür wieder anfahren müssen.
Nein, hat er gesagt, nur das Zimmer. Achthundert Euro, mehr zahlt er nicht.
Ich hab überlegt, ob ich jetzt noch von den hygienischen Gründen anfange, aber ich hab's dann gelassen. Der Mann war beratungsresistent. Die Gleichung ging für ihn so: Die Leiche lag nur in einem Zimmer, dann wird auch nur das eine Zimmer gereinigt. Um ihn umstimmen zu können, hätte die Leiche zwischendurch öfter mal das Zimmer gewechselt haben müssen.
Innerlich rollt man da mit den Augen. Wenn's meine Wohnung wäre, würde ich komplett die Farbe entfernen, die Türstöcke rausnehmen, den Estrich völlig neu machen, weil das auch nicht viel teurer ist, als unsere freigemeißelte Lücke wieder zu flicken. Ich würde die Teppichböden rauswerfen, die Fenster - na ja, die Fenster könnten vielleicht drinbleiben. Aber letztlich hat der Kunde immer Recht. Achthundert Euro, hm. Ich habe überlegt und dann zugesagt. Doch mit so einem Boden habe ich nicht gerechnet. Der Boden kostet uns Zeit, und je länger wir brauchen, desto unrentabler wird für uns der Auftrag.
An der Wand kommen wir mit den Meißeln inzwischen nicht weiter. Hier ist Ende, aus, mir zittern inzwischen auch die Hände. Unter dem Fenster hängt der Beton in der Stahlarmierung des Fußbodens. Wir müssen ihn extra raushauen, mit dem altmodischen Hammer und dem altmodischen Meißel. Zweihundert Kilo Schutt liegen inzwischen im Flur, in schwarzen Plastiksäcken. Das Zimmer riecht noch immer nicht viel besser, weil der ganze aufgewirbelte Staub den Geruch durch die Luft trägt. Im Flur geht's, wenigstens solange man die Säcke nicht aufmacht. Wir stellen uns ans Fenster und schnappen frische Luft. Ich erzähle Klaus die skurrile Nebengeschichte der Wohnung.
Ursprünglich hat die Wohnung den Eltern der Frau gehört, die in Thailand gestorben ist. Sie haben sie ihrer Tochter überschrieben. Und nach ihrem Tod hat ihr Mann die Wohnung geerbt. Na, dann bringt er sich um, und wer erbt jetzt die Wohnung? Seine Eltern. Die Wohnung wandert somit auf Umwegen von ihren Eltern zu seinen Eltern. Also, wenn meine Tochter mal heiratet, sorge ich dafür, dass so etwas nicht passiert. Wobei ich natürlich nicht davon ausgehe, dass dies geschehen könnte, um Gottes willen, nein, ein Alptraum. Aber falls doch, im Fall der Fälle oder bei einer Scheidung, dann sorge ich dafür, dass die Wohnung wieder an uns fällt.
»Wie bei meiner Exfrau«, sagt Klaus, »da hat's meine Schwiegermutter genauso gemacht.«
»Ja, sicher«, sag ich, »das sähe ich ja gar nicht ein. So nett kann mein Schwiegersohn gar nicht sein ...«
Wir machen uns wieder an die Arbeit. Nachdem wir die belasteten Estrichteile entfernt haben, rühren wir Lösungen aus Chlorbleichlauge an, in unterschiedlicher Konzentration. Sie soll den Geruch bekämpfen, an der Decke, an den Wänden, am Boden. Ganz besonders am Boden, dort, wo die Leiche gelegen ist, nehmen wir sicherheitshalber die höchste Konzentration, weshalb die Luft im Raum wegen der Chlordämpfe schnell unerträglich wird. Wir schrubben den aufgerissenen Estrich, die Wände, die Decke. Es riecht immer noch etwas nach Leiche, aber inzwischen stark vermischt mit dem Geruch von Hallenbad. Langsam lässt auch unsere Urteilsfähigkeit nach, wir wissen jetzt selbst nicht mehr genau, ob eine Stelle noch riecht oder ob wir uns das nur einbilden. Wir bürsten wirklich kräftig, das sollte in jedem Fall genügen. Jetzt müssen wir es einwirken lassen.
Wir beschließen, in der Zwischenzeit zum Griechen eine Kleinigkeit essen zu gehen, und ziehen unsere Overalls aus. Und wir reißen, bevor wir die Wohnung verlassen, die Fenster auf.
Klaus denkt dasselbe wie ich.
»Wirst sehen«, sagt er, »in drei Wochen rufen die uns wieder an, und dann heißt's: >Mei, wir haben gedacht, der Geruch ist weg, aber jetzt ist er wieder da.«<
»Ich weiß«, sage ich, »ich hab's dem Besitzer auch schon gesagt.«
»Und?«
»Er will's nicht.«
Klaus schüttelt den Kopf. Der Raum trocknet bereits wieder ab. Ich will gerade aus der Wohnung gehen, als mein Blick noch einmal auf das freigemeißelte Rechteck auf dem Estrich fällt. Es war gleichmäßig hellgrau, als wir die Chlorbleichlauge darauf ausgebracht haben. Die verdunstet jetzt, unterschiedlich schnell, in helleren und dunkleren Bereichen.
Und aus den dunkleren Flecken im Beton setzt sich langsam, aber deutlich ein Umriss zusammen, den ich eigentlich nicht wieder sehen wollte.
Der Umriss der Leiche.
Copyright © 2011 by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Es ist eine Sisyphusarbeit. Es ist, als müsste man mit einem winzigen Schraubenzieher im Winter eine zugefrorene Treppe frei schaben. Oder eine gründlich eingebrannte Pfanne mit einem Hölzchen säubern, wie es vom Eis am Stiel übrig bleibt. Und das Dümmste dabei ist: Ich weiß bereits jetzt, dass es Ärger geben wird. Ich bereue, dass ich diesen Job angenommen hab - ich bin manchmal so ein Depp, also wirklich!
Wir knien in unseren weißen Overalls in einem leeren Zimmer. Unsere Gesichter stecken in Atemschutzmasken. Wir haben elektrische Bohrmeißel, und wir bohren sie in den Estrich. Wir schaben ihn ab, in kleinen Streifen, einen, höchstens zwei Zentimeter breit. Den Meißel in den glasharten Zement zu drücken wird nach zehn Zentimetern schwer, nach höchstens 20 Zentimetern ist es unmöglich. Dann rutscht der Meißel nach oben weg, wir ziehen ihn zurück und fangen vorne wieder an.
Wir kratzen den Tod aus dem Boden.
Ich kenne nur den Nachnamen des Mannes, der hier starb. Er ist mit seiner Frau noch Anfang des Jahres in Thailand gewesen, sie ist dort ums Leben gekommen. Wie, weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass er drei Monate später fand, er hätte nun wohl ebenfalls lange genug gelebt, und Tabletten genommen hat. Was ich noch weiß, ist, dass er wohl nicht viele Freunde oder Verwandte hatte, die sich um ihn Sorgen gemacht haben. Man hat
ihn nach vier bis sechs Wochen gefunden. Er lag auf dem Boden, zwischen dem Bett und dem Fenster. Vielleicht lag er anfangs auch noch im Bett, ich würde es beim Selbstmord ja wenigstens bequem haben wollen, vielleicht wurde er durch die Tabletten nicht ganz so bewusstlos, wie er gern gewesen wäre, aber gestorben ist er auf dem Boden. Deswegen sind wir hier. Es ist sein Blut, das wir aus dem Boden kratzen, und nicht nur sein Blut.
Der Zementstaub dringt mir in die Augen. Ich richte mich langsam auf und frage mich, wie Klaus das durchhält, denn er ist mit seinen 48 Jahren ein paar Jahre älter als ich. Er ist wie ich Feuerwehrmann und Rettungsassistent und extrem vielseitig. Am Anfang hat die Arbeit noch leichter ausgesehen. Da hat Klaus mit der Flex zwei großzügig bemessene Schlitze um die Leichenumrisse in den Boden gefräst, damit wir eine Ansatzkante für unsere Geräte haben, ungefähr zwei Meter lang und einen Meter breit, eine matratzengroße Fläche. Die Flex ist durch den Boden gegangen wie Butter. Aber jetzt ... Mit verbissener Entschlossenheit treibt Klaus seinen Meißel in den Estrich, um wieder ein paar Quadratzentimeter loszuschlagen. Ich habe keine Ahnung, womit die Erbauer diesen Drecksboden angerührt haben. In manchen Städten stehen noch alte Flakbunker, die sie nach dem Krieg nicht abreißen konnten, weil die stärksten Sprengstoffe nichts vermocht hätten - hier in den Estrich haben sie vermutlich die Restbestände von diesem Bunkerzement gepresst; ich habe so etwas Granithartes noch nicht erlebt. Ich bin fast dankbar, wenn ich mal die Akkus in meinem Meißel wechseln kann. Ich richte mich auf, greife zum Besen, kehre die Splitter weg, was ich eigentlich nicht machen sollte, denn das Ergebnis ist ernüchternd: Es sieht aus, als hätten wir gerade erst angefangen.
Vielleicht ist das Ganze auch deshalb so tief drin, weil sie uns so spät gerufen haben.
Der Wohnungsbesitzer hat vorher offenbar schon selbst versucht, das Problem zu lösen, das heißt, irgendwelche Handwerker haben sich in seinem Auftrag bemüht. Wir jedenfalls haben nur den nackten Raum vorgefunden und den dunklen Fleck auf dem Boden vorm Fenster. Und die vielen kleinen Duftspender. Zwei blaue, kegelförmige aus dem Supermarkt, einer davon im Flur, einer im Wohnzimmer. Zwei weitere billige Plastikgehäuse stehen auf dem Fensterbrett im Schlafzimmer selbst, solche, die man gerne mal in die Gästetoilette stellt. Es wundert mich fast, dass sie nicht auch noch so ein kleines Bäumchen für den Autorückspiegel irgendwo hingehängt haben, Tannenduft oder Vanille. Die Mischung aus künstlichem Duftaroma und natürlicher Verwesung riecht furchtbar und hat zugleich etwas Rührendes. Als hätte jemand versucht, einen Waldbrand zu löschen, und zwar mit einem ganz, ganz kleinen Gießkännchen.
Sie haben das Zimmer ausgeräumt, ratzekahl. Sie haben den Teppichboden rausgerissen, die Klebstoffspuren sind noch auf dem Estrich darunter zu sehen, das war nicht mal so falsch. Dann haben sie geschrubbt, man sieht es an den Reinigern, die noch immer herumstehen. Sie haben die Fenster aufgerissen, ein paar Tage lang, einige Wochen lang. Und dann haben sie gemerkt, dass der Geruch nicht verschwindet. Sie sind also losgezogen und haben all die Duftmittelchen gekauft, die, die sie
wollten, und die, die man ihnen aufgeschwatzt hat. Sie haben nochmal geschrubbt und gelüftet wie die Weltmeister. Und dann haben sie den Geruch nicht mehr ertragen, uns gerufen und gehofft, dass wir ein Wundermittel haben. So läuft das immer.
Aber wir haben auch keine Wundermittel. Ich habe nur meine Nase und meine Erfahrung. Ich weiß eben, dass es nicht so ist, wie viele glauben, nämlich dass wir hier ein Zimmer haben, in dem ein Fleck ist und in dem es nach Tod riecht. Ich weiß, dass es der Fleck selbst ist, der riecht. Und weil nichts auf der Welt den Geruch des Todes neutralisieren kann, knien wir hier. Wir haben zuerst den Raum sicherheitshalber mit Kohrsolin aus-gesprüht, einem Desinfektionsmittel. Nicht dass nach vier Wochen das noch nötig gewesen wäre, aber sicher ist sicher. Und dann haben wir begonnen, den Fleck zu entfernen. Mit der einzigen Methode, die wirklich hilft: Wir schlagen ihn aus dem Boden.
Vier Wochen ist der Mann hier gelegen, im Hochsommer. Er lag auf der Seite, mit den Füßen an der Wand, dem Rücken zum Fenster, die Hände neben sich. Man sieht es an den Umrissen. Man kann den Daumen noch im Estrich erkennen, er schaut nur nicht mehr aus wie ein Daumen, sondern ähnelt mehr einem dicken Pilz. Die ganze Hand hat ja einen Umriss hinterlassen wie von einem Baseballhandschuh. Die Leichenflüssigkeit sickert eben aus dem Körper, aus dem ganzen Körper, durch die Kleidung, sie breitet sich aus, sie sickert in den Teppichboden, der sie in die Breite verteilt, dann dringt sie in den trockenen Stein darunter und dehnt sich dabei aus wie ein Tintentropfen auf einem Löschblatt. Die meisten Leute glauben, Stein wäre eine hermetisch dichte Schicht. Das ist nicht so. Wir sehen es ja beim Meißeln. Im Fernsehen gab es einmal eine Zahnpastareklame, in der eine Kindergärtnerin ein Stück Kreide rundum mit dem schmutzigen Malwasser ihrer Kinder bepinselte und dann das Kreidestück in zwei Teile brach, um zu zeigen, wie weit das Pinselwasser in die Kreide eingedrungen war. Genauso würden die tollen Wirkstoffe der Zahnpasta in den Zahn eindringen. Ob das bei der Zahnpasta stimmt, kann ich nicht sagen, aber beim Estrich stimmt es. Der dunkelbraunrote Fleck auf der Oberfläche setzt sich ein, zwei Zentimeter im Zement fort. Und die müssen raus. Wer den Boden gegen solche Flecken hätte abdichten wollen, hätte eine Edelstahlschicht einziehen müssen. Aber der Estrich ist nicht das eigentliche Problem, und wegen des Estrichs werden wir auch keinen Ärger kriegen. Den Ärger wird uns der Rest der Wohnung bereiten. Ich hab's gleich gemerkt, als der Hausbesitzer, ein älterer, sehr vorsichtiger, misstrauischer und sparsamer Herr, auf einem sofortigen Kostenvoranschlag noch am Telefon beharrte.
So vernünftig Sparsamkeit manchmal ist: Wie soll ich die Kosten richtig einschätzen, wenn ich den Tatort nicht sehe? Es gibt zig verschiedene Bodenarten, Dutzende Wände, Fugenmassen, Farben, was weiß ich. Wie alt ist das Haus? Wie lang lag die Leiche auf dem Boden? Wer hat bereits am Fundort herumgedoktert?
Er hat mich dann immerhin hineingelassen. Eine Zwei-Zimmer-Wohnung, Küche, Bad, die Leiche wurde im Schlafzimmer gefunden, und ich habe ihm gleich
gesagt, dass er die ganze Wohnung reinigen lassen müssen wird.
Nein, hat er gesagt, nur das Schlafzimmer.
Dreimal hab ich ihm erklärt, dass das sein Problem nicht lösen wird. Dass wir das Zimmer zwar sauber kriegen, aber danach wird er feststellen, dass der Rest der Wohnung eben doch riecht. Dass er dann merken wird, dass der starke Geruch im Zimmer nur den etwas schwächeren Geruch im Rest der Wohnung überdeckt hat.
Nein, hat er wieder gesagt, nur das eine Zimmer.
Wenn's wegen des Geldes ist, hab ich ihm vorgerechnet, soll er sich keine Sorgen machen. Das Zimmer, der Flur, das Bad, das kostet nicht so viel mehr. Viel teurer wird's, wenn wir extra dafür wieder anfahren müssen.
Nein, hat er gesagt, nur das Zimmer. Achthundert Euro, mehr zahlt er nicht.
Ich hab überlegt, ob ich jetzt noch von den hygienischen Gründen anfange, aber ich hab's dann gelassen. Der Mann war beratungsresistent. Die Gleichung ging für ihn so: Die Leiche lag nur in einem Zimmer, dann wird auch nur das eine Zimmer gereinigt. Um ihn umstimmen zu können, hätte die Leiche zwischendurch öfter mal das Zimmer gewechselt haben müssen.
Innerlich rollt man da mit den Augen. Wenn's meine Wohnung wäre, würde ich komplett die Farbe entfernen, die Türstöcke rausnehmen, den Estrich völlig neu machen, weil das auch nicht viel teurer ist, als unsere freigemeißelte Lücke wieder zu flicken. Ich würde die Teppichböden rauswerfen, die Fenster - na ja, die Fenster könnten vielleicht drinbleiben. Aber letztlich hat der Kunde immer Recht. Achthundert Euro, hm. Ich habe überlegt und dann zugesagt. Doch mit so einem Boden habe ich nicht gerechnet. Der Boden kostet uns Zeit, und je länger wir brauchen, desto unrentabler wird für uns der Auftrag.
An der Wand kommen wir mit den Meißeln inzwischen nicht weiter. Hier ist Ende, aus, mir zittern inzwischen auch die Hände. Unter dem Fenster hängt der Beton in der Stahlarmierung des Fußbodens. Wir müssen ihn extra raushauen, mit dem altmodischen Hammer und dem altmodischen Meißel. Zweihundert Kilo Schutt liegen inzwischen im Flur, in schwarzen Plastiksäcken. Das Zimmer riecht noch immer nicht viel besser, weil der ganze aufgewirbelte Staub den Geruch durch die Luft trägt. Im Flur geht's, wenigstens solange man die Säcke nicht aufmacht. Wir stellen uns ans Fenster und schnappen frische Luft. Ich erzähle Klaus die skurrile Nebengeschichte der Wohnung.
Ursprünglich hat die Wohnung den Eltern der Frau gehört, die in Thailand gestorben ist. Sie haben sie ihrer Tochter überschrieben. Und nach ihrem Tod hat ihr Mann die Wohnung geerbt. Na, dann bringt er sich um, und wer erbt jetzt die Wohnung? Seine Eltern. Die Wohnung wandert somit auf Umwegen von ihren Eltern zu seinen Eltern. Also, wenn meine Tochter mal heiratet, sorge ich dafür, dass so etwas nicht passiert. Wobei ich natürlich nicht davon ausgehe, dass dies geschehen könnte, um Gottes willen, nein, ein Alptraum. Aber falls doch, im Fall der Fälle oder bei einer Scheidung, dann sorge ich dafür, dass die Wohnung wieder an uns fällt.
»Wie bei meiner Exfrau«, sagt Klaus, »da hat's meine Schwiegermutter genauso gemacht.«
»Ja, sicher«, sag ich, »das sähe ich ja gar nicht ein. So nett kann mein Schwiegersohn gar nicht sein ...«
Wir machen uns wieder an die Arbeit. Nachdem wir die belasteten Estrichteile entfernt haben, rühren wir Lösungen aus Chlorbleichlauge an, in unterschiedlicher Konzentration. Sie soll den Geruch bekämpfen, an der Decke, an den Wänden, am Boden. Ganz besonders am Boden, dort, wo die Leiche gelegen ist, nehmen wir sicherheitshalber die höchste Konzentration, weshalb die Luft im Raum wegen der Chlordämpfe schnell unerträglich wird. Wir schrubben den aufgerissenen Estrich, die Wände, die Decke. Es riecht immer noch etwas nach Leiche, aber inzwischen stark vermischt mit dem Geruch von Hallenbad. Langsam lässt auch unsere Urteilsfähigkeit nach, wir wissen jetzt selbst nicht mehr genau, ob eine Stelle noch riecht oder ob wir uns das nur einbilden. Wir bürsten wirklich kräftig, das sollte in jedem Fall genügen. Jetzt müssen wir es einwirken lassen.
Wir beschließen, in der Zwischenzeit zum Griechen eine Kleinigkeit essen zu gehen, und ziehen unsere Overalls aus. Und wir reißen, bevor wir die Wohnung verlassen, die Fenster auf.
Klaus denkt dasselbe wie ich.
»Wirst sehen«, sagt er, »in drei Wochen rufen die uns wieder an, und dann heißt's: >Mei, wir haben gedacht, der Geruch ist weg, aber jetzt ist er wieder da.«<
»Ich weiß«, sage ich, »ich hab's dem Besitzer auch schon gesagt.«
»Und?«
»Er will's nicht.«
Klaus schüttelt den Kopf. Der Raum trocknet bereits wieder ab. Ich will gerade aus der Wohnung gehen, als mein Blick noch einmal auf das freigemeißelte Rechteck auf dem Estrich fällt. Es war gleichmäßig hellgrau, als wir die Chlorbleichlauge darauf ausgebracht haben. Die verdunstet jetzt, unterschiedlich schnell, in helleren und dunkleren Bereichen.
Und aus den dunkleren Flecken im Beton setzt sich langsam, aber deutlich ein Umriss zusammen, den ich eigentlich nicht wieder sehen wollte.
Der Umriss der Leiche.
Copyright © 2011 by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Autoren-Porträt von Peter Anders
Anders, PeterPeter Anders, geboren 1966, erkannte durch seine Einsätze als Feuerwehrmann bei der Berufsfeuerwehr München den Bedarf an Fachleuten, die den Angehörigen die Tatort-, Leichenfundort- und Unfallortreingung abnehmen. Er gründete seine Firma " ASD München" und ist seit 2005 als einer der wenigen Tatortreiniger Deutschlands tätig. Peter Anders ist verheiratet und lebt mit seiner Frau und den zwei Töchtern bei München. Sein erstes Buch "Was vom Tode übrig bleibt" (2011) war ein Bestseller.
Bibliographische Angaben
- Autor: Peter Anders
- 2011, 253 Seiten, Maße: 11,7 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Heyne
- ISBN-10: 345360184X
- ISBN-13: 9783453601840
- Erscheinungsdatum: 09.05.2011
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