Cold Kill
Er hat sie gefesselt, er hat sie gequält, und dann hat er sie grausam getötet. Innerhalb weniger Wochen hat die Ermittlerin Laura McGanity mit zwei bestialischen Morden an jungen Frauen zu tun. Was ihr jedoch wirklich das Blut in den Adern...
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Produktinformationen zu „Cold Kill “
Er hat sie gefesselt, er hat sie gequält, und dann hat er sie grausam getötet. Innerhalb weniger Wochen hat die Ermittlerin Laura McGanity mit zwei bestialischen Morden an jungen Frauen zu tun. Was ihr jedoch wirklich das Blut in den Adern gefrieren lässt, ist die Ähnlichkeit der beiden Opfer. Und bald stellt sich heraus: Zwischen Jane Roberts und Deborah Corley gab es noch mehr Verbindungen. Verbindungen, die auf ein schmutziges Geheimnis hindeuten. Verbindungen, die manche Leute lieber begraben würden. Doch der Killer ist noch nicht am Ende mit seinen Plänen.
"... unmöglich, es aus der Hand zu legen"
Booksellers Magazine
Lese-Probe zu „Cold Kill “
Cold Kill von Neil White1
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Es war ein schöner, warmer Abend. Das grelle Licht der untergehenden Sonne wurde sanft gebrochen durch das Laubdach der Bäume eines kleinen Wäldchens zwischen den Häusern der Siedlung. In den Lichtstreifen zwischen den Blättern tanzten Mücken. Er blickte auf die Uhr. Gleich war es so weit. Er kannte ihre Gewohnheiten. Samstagabend. Ein Gang zur Haltestelle an der Hauptstraße, um mit dem Bus in die Innenstadt zu fahren. Auf dem Weg dorthin kam sie immer an dem Wäldchen vorbei. Sie ging schnell, mit gesenktem Kopf.
Er hielt gerade so viel Abstand, dass sie ihn nicht sehen konnte. Sein Atem ging schnell, die Erregung schnürte ihm die Brust zusammen. Die Gedanken an sie kamen in Gestalt flüsternder Stimmen in seinem Kopf, so leise, dass er sie kaum hören konnte. Doch nachts wurden die Stimmen lauter, steigerten sich zu einem Crescendo. Es war wie ein Rausch, der sein Verlangen befeuerte.
Manchmal kämpfte er gegen dieses Verlangen an, doch das waren seltene Augenblicke. Vor seinem geistigen Auge sah er sie, die Bilder erregten ihn. Ihre blasse Haut, das blonde, bis über die Schultern herabfallende Haar. Die kleine Stupsnase. Strahlend weiße, ebenmäßige Zähne. Der Gedanke an ihre weiche, glatte Haut ließ ihn lächeln. Jetzt, wo der Augenblick gekommen war, wurden die Stimmen leiser, und er hielt vor Erregung den Atem an.
Diesmal würde alles anders sein, ein Rausch wie nie zuvor. Keine verscharrte Leiche. Kein ausgebranntes Auto. Keine Fahrt zum See mit einem gefesselten Opfer auf der Rückbank. Es würde der definitive Kick sein, denn er wusste, dass immer schon alles auf diesen Moment zugelaufen war.
Er glaubte fast, sie schon hören zu können. Das Rascheln ihres Kleides, den in ihrem Haar spielenden Wind. Dann wurde ihm bewusst, dass das rhythmische Geräusch, das er hörte, nicht sein schnell klopfendes Herz war, sondern das Klackern ihrer Absätze, das durch die verwaist daliegende Vorortstraße hallte. Sein Atem ging noch schneller, er spürte, dass er eine Erektion bekam. Er überprüfte seine Handschuhe. Keine Löcher, keine Risse. Er würde keine Spuren zurücklassen. Ein letztes Mal ließ er seinen Plan Revue passieren. Die ganze Woche über hatte er an kaum etwas anderes gedacht.
Jetzt war der Augenblick gekommen.
Während das Klackern der Absätze lauter wurde, ging er los, denn wenn sie auftauchte, wollte er auf der gleichen Straßenseite sein. Als sie ihn bemerkte, warf sie ihm einen beunruhigten Blick zu, doch dann sah sie die Uniformbluse mit dem Polizeiabzeichen und den Hut eines Bobbys mit dem schwarz-weißen Band.
Er lächelte, seine Zähne blitzten im Sonnenlicht. Er trat auf die Straße und ging weiter, bis er neben ihr war. Auf der anderen Seite des Bürgersteigs war das Wäldchen. »Guten Abend«, sagte er. Die Worte wären ihm fast im Hals stecken geblieben, als er ihr Parfüm roch. Der Duft von Blumen, vom Wind zu ihm getragen. Am liebsten wäre er mit einem Finger über ihren Hals gefahren. Er konnte sich nur mit Mühe beherrschen. Nichts überstürzen.
Sie lächelte ihn kurz an, schlug die Augen aber dann zu Boden. Er schaute auf ihren kurzen schwarzen Rock, die sauber rasierten Beine, die silbernen Absätze. Er musste schlucken, sein Mund war wie ausgetrocknet. Sein Herz schlug immer heftiger. Seine Hände glitten zur Hüfte hinab, um die Handschellen von seinem Gürtel zu lösen. Diese Bewegung war ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Geschwindigkeit war entscheidend, und er durfte keine Geräusche verursachen. Sein Blick wanderte die Straße hinab. Niemand zu sehen. Natürlich, es gab Häuser, doch warum sollte ausgerechnet jetzt jemand auf die Straße blicken? Wenn er schnell und leise war, würde niemand etwas bemerken und misstrauisch werden.
Er stürzte sich auf sie, rammte sie mit der Schulter. Sie verlor das Gleichgewicht, doch er fing sie auf und presste ihr eine Hand auf den Mund. Er stieß sie den Weg hinunter, der in das Wäldchen führte, ließ die Handschelle um ihr linkes Gelenk schnappen. Er liebte dieses Klicken. Jetzt begann sie sich zu wehren. Er durfte die Hand nicht von ihrem Mund nehmen, denn dann würde sie schreien. Er hob sie hoch und trug sie tiefer in das Gehölz, in die Dunkelheit, dorthin, wo die Bäume dichter standen.
Einer ihrer Schuhe fiel zu Boden. Danach würde er ihn holen müssen.
Zwischen den Bäumen, am Fuß eines Abhangs, floss ein kleiner Bach, und er wusste, dass er dort allen Blicken entzogen war. Er war in der Nähe des Weges, aber alles würde sehr schnell gehen.
Das Geräusch seiner Stiefel wurde leiser, je weicher der Waldboden wurde. Als er weit genug in das Unterholz vorgedrungen war, warf er sie zu Boden, weiter die Hand auf ihren Mund pressend.
Erneut begann sie sich zu wehren. Sie holte mit dem Arm aus, und das andere Ende der Handschellen hätte ihn fast ins Gesicht getroffen.
Er presste ihr Gesicht in den Boden, riss ihr die Hände auf den Rücken und ließ auch die andere Handschelle um ihr Gelenk schnappen. Wieder dieses Klicken.
Er drehte sie auf den Rücken, und seine freie Hand kratzte Erde und Blätter zusammen. Nachdem er ihr den Unterkiefer herabgerissen hatte, stopfte er ihr beides in den Mund. Sie riss die Augen auf, und ihre Brust bäumte sich auf, als sie hustete und würgte.
Dann stopfte er ihr Erde, Steine und kleine Gestrüppstücke in die Vagina.
Er öffnete seinen Gürtel, ihr weiter mit der anderen Hand den Mund zuhaltend, und stöhnte, als er sein Glied umfasste. Und dann nahm er die andere Hand von ihrem Mund, packte ihren Hals und strangulierte sie. Tränen liefen ihr über die Wangen, und sie trat mit den Beinen aus. Während er ihr immer fester die Kehle zudrückte, wurde sein Stöhnen lauter.
2
Ein paar Tage später bekam Jack Garrett den Anruf. Er war im Stadtbezirk Whitcroft, wegen eines Artikels für Dolby Wilkins, den neuen Herausgeber der Lokalzeitung, der die Kosten senken und zugleich die Auflage erhöhen sollte. Wilkins sah gut aus und hatte jenes Selbstvertrauen, das altes Geld mit sich bringt. Stets trug er Jeans und ein legeres Leinenjackett, und er wiederholte gebetsmühlenartig, nur mit Sex und Vorurteilen ließen sich Zeitungen verkaufen. Da er den Sex den überregionalen Boulevardzeitungen überließ, blieben nur die Vorurteile. Also verlegte er sich auf gesellschaftliche Ressentiments, auf billige, eindeutige Erklärungen, auf reißerische Storys. Einwanderer, die gegen die Gesetze verstießen. Sozialschmarotzer, die es sich auf Kosten ehrbarer Bürger gut gehen ließen. Wilkins' erste Amtshandlung war es gewesen, sich Visitenkarten drucken zu lassen. Mehr musste Jack Garrett nicht wissen.
Jack sah diesem Auftrag mit einigem Unbehagen entgegen. Wenn man die Armen als Faulpelze denunzierte, ließ das die Kasse klingeln, aber Wilkins war noch nicht lange in Blackley und begriff nicht, was in der Stadt lief. Er hatte nicht miterlebt, wie ein altes Zentrum der Textilverarbeitung seiner Industrie beraubt worden war. Jetzt gab es nur noch Überreste dieser Vergangenheit, riesige Fabriken und Lagerhäuser, von denen einige in Einkaufszentren umgewandelt worden waren. In anderen wurden an Sommerwochenenden Handwerksmessen abgehalten. Doch viele Industriegebäude verfielen einfach. Die Kabel waren aus den Fabrikwänden gerissen worden, um von dem Erlös Zigaretten und Schnaps zu kaufen, das Licht fiel durch halb eingebrochene Dächer. Das war Stoff für Geschichten über harte Zeiten mit wenig positiven Zukunftsaussichten. Aber mit Mitleid für die Unglücklichen ließ sich keine Auflage machen.
Ihm war klar, dass sich beim Blackley Telegraph alles um den Profi t drehte, doch er war freiberuflicher Journalist, kein Geschäftsmann. Eigentlich war er Gerichtsreporter, doch gelegentlich schrieb er auch einen längeren Artikel über einen Kriminalfall. Die Zeitung kaufte seine Artikel und entließ dafür fest angestellte Mitarbeiter. Die anderen Freiberufler, die deren Arbeit übernahmen, hatten zum Teil gerade erst das College verlassen oder bisher praktisch nichts veröffentlicht. Ihnen ging es um Referenzen, mit denen sie ihren Lebenslauf spicken konnten.
Jack hatte zugesagt, den Artikel über den Stadtteil Whitcroft zu schreiben, und zu Hause die ersten Seiten in die Tastatur seines alten Laptops gehackt. Er wohnte in einem Cottage in Turners Fold, einem abgelegenen Flecken in den Hügeln von Lancashire, ein paar Meilen von Blackley entfernt. Whitcroft lag am Stadtrand von Blackley. Einst auf sieben bewaldeten Hügeln erbaut, wirkte Blackley heute wie der hässliche große Bruder von Turners Fold. Im Zentrum kündeten viktorianische Häuser teilweise noch vom einstigen Wohlstand. In den vom Ruß geschwärzten zweistöckigen Geschäftshäusern residierten Juweliere und alteingesessene Herrenausstatter, die sich nun mit der Konkurrenz von der High Street herumschlagen mussten, wo die Läden Fassaden aus Glas und Stahl hatten. Vom Säulenvorbau und der Treppe des Rathauses aus schaute man auf die Hauptgeschäftsstraße, eine Erinnerung an bessere Zeiten, als hier Männer in Gehröcken und mit extravaganten Koteletten goldene Uhren aus ihren Westentaschen zogen.
Auch Whitcroft war in den besseren Tagen erbaut worden. Im Gegensatz zu den monoton geraden Straßen mit Reihenhäusern, die sonst den Anblick der Stadt dominierten, gab es hier Sackgassen, halbmondförmige Straßenzüge, Blumenbeete und Gebäude mit der Toilette im Haus. Heute zeigte sich in Whitcroft die Teilung der Stadt. Das Viertel war zu einer Zuflucht der Weißen geworden, als in den Sechzigerjahren immer mehr asiatische Einwanderer in die Innenstadt gezogen waren, wo nun Moscheen und Minarette zwischen den alten Fabriken und Lagerhäusern standen. Man vernahm den muslimischen Gebetsruf häufiger als die gewohnten Kirchenglocken, und jene Weißen, die es sich nicht leisten konnten, auf dem Land zu leben, waren nach Whitcroft gezogen.
All dies ging Jack durch den Kopf, während er in seinem Auto wartete, einem roten Triumph Stag Baujahr 1973. Junge Mütter schoben ihre Kinderwagen eine Straße entlang, die um das Viertel herumführte. Die strahlende Morgensonne betonte das tiefe Grün der Hecken, das Rot der Backsteinfassaden, die lebhaften Rottöne der Blumen. Von einem am Ende der Straße sichtbaren Schulhof her hörte er das fröhliche Lachen und Geschrei der Kinder.
Doch der idyllische Eindruck trog.
Ein vom Moor her kommender kalter Wind pfiff durch die Straße, die in den Stadtteil hineinführte. Sie war auf beiden Seiten von Geschäften gesäumt, die Bürgersteige waren mit ausgespuckten Kaugummis übersät. Ein chinesisches Takeaway, ein Lebensmittelgeschäft, das Postamt. Auf der anderen Seite ein Waschsalon und eine Apotheke. Die Fenster waren vergittert, die Eingangstüren wirkten alt und schmierig. In den kleinen Straßen hinter den Ladenzeilen standen jeweils vier Häuser. Viele Fenster waren mit Brettern zugenagelt, in anderen klebten England-Sticker. Die Straßen waren Sackgassen, verbunden durch von Hecken gesäumte Durchgänge. Die kurzen Wege waren die gefährlichsten. In den Hecken steckten Chipstüten und Bierdosen. Aber es schien nicht nur Armut und Verfall zu geben. Handwerker in Overalls eilten durch die Straßen, junge weibliche Büroangestellte kauften auf dem Weg zur Arbeit noch eine Zeitung oder Zigaretten. Einige Veranden waren vergrößert und verglast worden, einige Gartenmauern neu. Es gab in diesem Stadtteil nicht nur die hoffnungslosen Fälle. Jede halbe Stunde tauchte der Wagen einer privaten Sicherheitsfirma auf. Kahlköpfige Männer mit schwarzen Jacken starrten ihn an, als sie vorbeifuhren. Vielleicht würde Wilkins nicht den Artikel bekommen, den er wollte.
Er stieg aus seinem Wagen und ging auf einen Laden zu, vor dem eine Frau mit einem Kinderwagen stand. Sie hatte straff zurückgebundenes Haar, rauchte eine Zigarette und trug billigen Goldschmuck.
Jack stieß die Tür auf. Eine Ladenklingel ertönte. Er tat so, als würde er interessiert die Zeitschriften studieren. Als der Laden sich geleert hatte, trat er an die Theke. Der Mann dahinter schaute kaum auf. Er war in mittleren Jahren und hatte einen vom Nikotin verfärbten Schnurrbart. Er blätterte eine Zeitung durch und hörte erst auf, als Jack hustete.
Jack lächelte ihn an. »Jack Garrett«, sagte er. »Ich bin Journalist und schreibe einen Artikel über diesen Stadtteil.« Er zeigte auf die Fenster. »Was ist das für ein Gefühl, wenn man die Fenster seines Ladens vergittern lassen muss?«
Der Mann starrte Jack an, offenbar unschlüssig, ob er antworten sollte. »Der Stadtrat hat dieses Viertel vor die Hunde gehen lassen«, sagte er schließlich.
»Warum ?«
»Sie haben die Gegend sozusagen zur Müllkippe verkommen lassen. Ihnen ist es lieber, wenn das ganze Gesocks auf einem Haufen lebt. Sie haben es gesagt.«
»Wohnen Sie schon lange hier?«
»Mehr als zwanzig Jahre. Ich habe das Geschäft von meinem Vater geerbt. Zu einer Zeit, als man hier noch ein anständiges Leben führen konnte.«
»Was ist schiefgelaufen?«
Der Ladeninhaber zuckte die Achseln. »Keine Ahnung, aber manchmal denke ich, dass die Leute einfach nicht mehr arbeiten wollen. Die jungen Mädchen bekommen ein Haus zugewiesen, wenn sie schwanger werden, aber die Väter ziehen nie dort ein. Zumindest erzählen sie das jedem, doch ich sehe diese Typen, wenn sie morgens das Haus verlassen.«
»Ich habe eben durchaus Leute gesehen, die auf dem Weg zur Arbeit waren. Ganz so verarmt und verwahrlost scheint das Viertel nicht zu sein.«
»Es gibt hier immer noch einige Menschen, die mich stolz darauf machen, hier zu leben, aber es wird von Tag zu Tag schwieriger.«
»Warum ?«
»Wegen der Kids. Sie hängen hier abends rum, umkreisen die Kunden mit ihren Fahrrädern und Mopeds und betteln die Leute an, ihnen Schnaps und Zigaretten zu kaufen, denn ich weiß, dass sie zu jung dafür sind. Wenn ich versuche, sie zu verscheuchen, beleidigen sie mich. Meine Kunden wollen nur Milch kaufen, vielleicht ein paar Dosen Bier für den späteren Abend, aber die Kids schrecken sie ab.«
»Haben Sie mit ihren Eltern geredet?«
Der Ladeninhaber lachte. »Die sind auch meistens betrunken.«
Auch Jack lächelte. »Aber Sie verkaufen ihnen den Schnaps.«
»Normalerweise kaufen sie ihn woanders und sacken die Sonderangebote ein. Zu mir kommen sie nur, wenn sie auf dem Trockenen sitzen. Oder wenn sie gleich morgens anfangen wollen und keine Lust haben, zum Supermarkt zu fahren.«
»Lässt die Polizei sich häufiger blicken?«
Der Ladeninhaber zog eine Grimasse. »Fast nie. Und wenn sie mal kommt, freuen sich die Kids auf die Verfolgungsjagd. Sie beschimpfen die Cops und hauen ab, sobald sich die Türen des Polizeiwagens öffnen. Manchmal stürzt einer von ihnen, und die Polizei schnappt ihn, aber es passiert nichts.«
»Patrouilliert deshalb hier eine private Sicherheitsfirma?«
»Die Leute fühlen sich dann nicht so wehrlos.«
»Wer bezahlt sie?«
»Wer Interesse daran hat.«
»Wie sieht's mit Drogen aus? Könnte die Polizei da mehr tun?«
»Nein, Drogen spielen hier keine große Rolle. Vielleicht rauchen ein paar Kids Gras, aber meistens geht's um hochprozentigen Alkohol. Das war schon immer so. Damit will ich nicht sagen, dass hier niemand Drogen nimmt, aber die Kids tun es nicht. Sie haben einfach nur die Schnauze voll.«
»Sie zeichnen nicht gerade ein erfreuliches Bild.« Der Ladeninhaber nickte und blickte auf das Aufnahmegerät in Jacks Hand. »So wenig wie Sie, wenn Ihr Artikel fertig ist. Darauf wette ich.«
Als Jack widersprechen wollte, zeigte der Ladeninhaber auf die vor ihm liegende Zeitung. »Ich verkaufe sie nicht nur, sondern lese sie auch. Ich habe gesehen, was aus dem Blackley Telegraph geworden ist.« Damit schien er das Interesse an dem Gespräch verloren zu haben.
Jack drehte sich frustriert um und verließ den Laden. Draußen blickte er den vorbeikommenden Autos nach. Meistens waren es alte Vauxhalls und Fords, und die jungen Fahrer sahen nicht so aus, als könnten sie sich die Fahrzeugversicherung leisten. Sein Handy piepte. Er blickte auf das Display und sah, dass es Wilkins war. Er dachte darüber nach, den Anruf nicht anzunehmen, wusste aber, dass er sich die Sympathie des Herausgebers nicht verscherzen durfte. Er drückte auf die Taste. »Hallo, Mr Wilkins, was kann ich für Sie tun ?«
»Schon wieder ein Mord«, sagte Wilkins, der ein bisschen außer Atem zu sein schien. »Das Opfer ist eine junge Frau.«
Jack wusste nicht sofort, was Wilkins meinte, doch dann fiel ihm ein, dass vor ein paar Wochen eine tote junge Frau am Stadtrand in einem Überlaufrohr am Wasserreservoir gefunden
worden war. Ein Vater hatte die Leiche bei einem Angelausflug mit seinem Sohn entdeckt.
»Wo wurde sie gefunden?« Wilkins sagte es ihm, und er war nur eine halbe Meile vom Fundort der Leiche entfernt.
»Soll ich die Story übernehmen ?«
»Ich rufe Sie nicht an, um Sie über die Neuigkeiten auf dem Laufenden zu halten«, antwortete Wilkins leicht ungehalten.
»Bin schon unterwegs«, sagte Jack, bevor er die Verbindung unterbrach. Er drehte sich um und lächelte den Ladeninhaber durch das Schaufenster an, doch der reagierte nicht.
3
Es war kurz nach halb zehn, als Laura McGanity am Tatort eintraf. Sie blickte sich um und versuchte, ihre Nerven zu beruhigen. Jemand war ermordet worden, und nun musste sie beweisen, dass sie die Beförderung zum Detective Sergeant verdient hatte. Neun Monate hatte sie als uniformierte Polizistin gearbeitet, doch nun war sie wieder dort, wo sie sein wollte - bei der Mordkommission. Dies hier war eine Tragödie, und doch empfand sie ein vertrautes Gefühl der Erregung, als sie auf das blau-weiße Absperrband blickte, mit dem der Tatort abgesperrt worden war. Polizisten in Overalls bereiteten sich darauf vor, das Unterholz des Wäldchens nach Spuren und Beweisen zu durchsuchen - Fußabdrücke, ein hingefallenes Stück Papier, vielleicht ein Stofffetzen, der an Dornen oder an einem Ast hängen geblieben war. Noch war das menschliche Drama, das sich hier abgespielt hatte, ein Rätsel, doch nun wurden die Ermittlungen aufgenommen.
Sie hatte einen weißen Schutzanzug und Überschuhe angezogen, und unter der Gesichtsmaske spürte sie ihren heißen Atem auf den Wangen. Ihr war bewusst, dass das Gefühl der gespannten Erwartung nicht lange anhalten würde, denn gleich würde sie die Leiche sehen, die in dem kleinen Wäldchen hinter einer neuen Wohnsiedlung lag. An einigen Stellen war das Rot der Backsteinmauern durch das grüne Laub zu sehen. In einem Augenblick würde sie mit dem ganzen Ausmaß der Tragödie konfrontiert sein. Sie musste hundertprozentig konzentriert sein, damit ihr nichts Entscheidendes entging.
Jetzt tauchte neben ihr Joe Kinsella auf. Er hatte die Kapuze seines Schutzanzugs über das Haar gezogen und trug ebenfalls eine Gesichtsmaske, durch deren Sehschlitze seine sanften braunen Augen zu erkennen waren. Er schien zu lächeln und sagte mit gedämpfter Stimme : »Na los, Detective Sergeant. Dann wollen wir uns mal ansehen, was da passiert ist.«
Auch Laura lächelte hinter der Gesichtsmaske. Die neue Rangbezeichnung war noch ungewohnt, doch dies war nicht der richtige Augenblick, um sich selbst auf die Schulter zu klopfen, weil sie befördert worden war.
Joe ging vor. Am Fuß des Abhangs floss ein schmaler Bach mit schmutzig braunem Wasser, der in unterirdischen Rohren unterhalb der Siedlung hindurchgeführt wurde. Unter den Platanen und Rosskastanien war es dämmrig, der Boden war dicht mit Efeu überzogen. Man musste aufpassen, dass man nicht stolperte. Joe ging schnell, und Laura musste sich anstrengen, mit ihm Schritt zu halten. Sie war dankbar, dass es nicht geregnet hatte, denn sonst wäre sie vielleicht am Ufer des Baches ausgerutscht. Dort, wo die Leiche lag.
Sie war von Jugendlichen entdeckt worden. Es war nicht klar, weshalb sie in dem Wäldchen gewesen waren. Seitdem war der Fundort abgesperrt. Es wimmelte von Polizisten und Ermittlern
der Spurensicherung. Die sensationslüsternen Gaffer waren auf die Straße zurückgedrängt worden. Ein Detective posierte als Journalist. Er hatte sich unter die Schaulustigen gemischt, die sich die Hälse verrenkten, um etwas sehen zu können. Der »Journalist« schoss Fotos, denn möglicherweise war
unter ihnen der Mörder, der an den Tatort zurückgekehrt war, um sein Werk zu bewundern. Diese Geschichte mit dem Reporter war Joes Idee gewesen.
Ihr Vorgesetzter, Inspector Karl Carson, wartete bereits neben der Leiche. Er war ein großer, massiger Mann. Kahlköpfig, keine Augenbrauen. Seine blauen Augen blickten sie durch die Sehschlitze seiner Gesichtsmaske an.
»Sieht so aus, als müsste uns das bekannt vorkommen, McGanity.« Er schaute sie an, um ihre Reaktion zu registrieren. Laura seufzte. Schon wieder. Das machte alles komplizierter, denn es bedeutete, dass es sich nicht um ein Familiendrama handelte und dass der Mörder auch kein gewalttätiger eifersüchtiger Liebhaber war, der seine Tat als die eines anderen erscheinen lassen wollte.
Joe kniete neben der Leiche nieder. Laura wusste, dass er nicht den Kriminaltechnikern die Arbeit abnehmen wollte, sondern nach unscheinbaren Kleinigkeiten Ausschau hielt, die vielleicht Rückschlüsse auf das Tatmotiv zuließen. Das war seine Spezialität. Ihm ging es weniger darum, was geschehen war, sondern darum, warum es passiert war. Sie hatte früher schon mit ihm zusammengearbeitet, und er hatte dafür gesorgt, dass sie nun seit Kurzem erneut bei der Mordkommission war. Es war ein gutes Gefühl, es wieder mit den wirklich wichtigen Fällen zu tun zu haben. Sie war vor ein paar Jahren in den Norden gezogen, nachdem sie zuvor Detective bei der städtischen Londoner Polizei gewesen war. Dort hatte sie sich im Büro mit dem Abschluss von Routinefällen befasst, war aber später selbst kurz in Uniform Streife gefahren, weil das bei Beförderungen gern gesehen wurde. Aber wirklich zu Hause fühlte sie sich bei der Mordkommission.
Sie kniete neben Joe nieder, und als sie die Leiche eingehend betrachtete, wurde ihr klar, dass Karl Carson recht hatte. Damit bestätigten sich die schlimmsten Befürchtungen. Bei dem drei Wochen zurückliegenden Mord hatte es sich nicht um einen Einzelfall gehandelt. Hier gab es unverkennbare Parallelen. Laura schätzte das Alter der Toten auf Anfang zwanzig - kein junges Mädchen mit noch nicht ausgeprägten weiblichen Rundungen, aber auch keine reife Frau mit bereits etwas faltiger Haut. Am linken Handgelenk hatte sie eine Tätowierung. Ein rosafarbener Schmetterling. Die Leiche war mit Rinde bedeckt gewesen, die der Täter von einem in der Nähe stehenden Baum
gerissen hatte, und als die Teenager sie entfernt hatten, kam ihnen ein Schwarm von Schmeißfliegen entgegen. Laura biss die Zähne zusammen, als ihr trotz der Gesichtsmaske der Geruch in die Nase stieg, eine Mischung des Gestanks von Erbrochenem und verdorbenem Fleisch. Sie sah massenhaft Asseln und Maden, die sich des verwesenden Körpers bemächtigt hatten.
Der Bauch der Toten war aufgebläht. Laura wusste, dass sie nicht dabei sein wollte, wenn die Leiche auf eine Plastikplane gerollt werden würde, bevor sie vom Tatort weggeschafft wurde. Der Inhalt des Magens würde aus dem Mund der Toten hervorquellen.
Laura wollte sich auf das Gesicht konzentrieren, doch es war schmutzig und entstellt. Sie würde warten müssen, bis die Leiche gesäubert und obduziert worden war. Sie versuchte, emotionslos und professionell distanziert zu sein, wusste aber, dass sie der Anblick dieser ermordeten jungen Frau später noch mehrfach wieder einholen würde.
Sie atmete tief durch und konzentrierte sich erneut auf die Leiche, um sich nichts entgehen zu lassen.
Die Frau war nackt. Ihre Kleidungsstücke lagen nicht zerrissen neben ihr, sondern waren mitgenommen worden. Wie bei dem anderen Fall. Laura sah blaue Flecken und Kratzspuren auf dem Körper, vielleicht von einem Kampf herrührend, auch kleine Schnittwunden auf dem Bauch und den Beinen. Doch nicht das erweckte ihre Aufmerksamkeit, sondern der Mund. Der Täter hatte ihn ihr so sehr mit Erde und Laub vollgestopft, dass die Wangen sich hervorwölbten. An ihrem Hals sah Laura Würgemale. Vermutlich hatte der Mörder sie erdrosselt. Dann glitt ihr Blick zum Unterleib der Toten hinab, und sie musste nicht allzu genau hinsehen, um zu wissen, dass der Täter auch ihre Vagina mit Erde und Laub vollgestopft hatte. Doch was sie wirklich wütend machte, waren die Tränen. Das Gesicht der Toten war dreckig, und doch sah man die Spuren der Tränen, die ihr über die Wangen gelaufen waren, als die Erde in ihrem Mund sie würgen ließ und sie zu dem Mann aufblickte, der ihrem jungen Leben ein Ende bereiten würde.
»Gibt es wieder eine Beziehung zu uns ?«, fragte Laura. Carson zuckte die Achseln. Er wusste es noch nicht. Das erste Opfer war die Tochter eines Polizisten aus Blackley gewesen. Ein Racheakt seitens des organisierten Verbrechens war ausgeschlossen worden, da der Vater des Opfers nur ein einfacher uniformierter Polizist war, der mit seinem Streifenwagen in den Straßen patrouillierte und junge Polizisten instruierte, die bald seinen Job übernehmen würden. Über das Privatleben der Frau waren gewisse Gerüchte im Umlauf, sodass jeder geglaubt hatte, sie sei von einem eifersüchtigen Ex-Liebhaber umgebracht worden. Oder von einem untreuen Ehemann, der Angst hatte, dass seine Affäre ans Licht kam.
»Was denken Sie ?«, fragte Carson. Laura fühlte seinen Blick auf sich ruhen, und ihr war klar,
dass dies ein Test war. Carson wollte wissen, ob Joe recht gehabt hatte, als er sie für die Mordkommission empfohlen hatte. Sie atmete tief durch und schaute sich die Leiche noch einmal
genau an.
»Sie hat noch gelebt, als er ihr das Zeug da reingestopft hat.«
Laura zeigte auf die Vagina der Toten.
»Wie kommen Sie darauf?«
»Diese Kratzer und kleinen Schnitte an den Beinen sind blutunterlaufen oder blutig.« Sie zeigte auf die bräunlich verfärbten Spuren. »Sie werden entstanden sein, als er ihr Erde und Blätter zwischen die Beine geschoben hat. Es muss geschehen sein, als sie noch lebte, denn Tote bluten nicht.«
Carson nickte. »Warum ist das wichtig?«
»Weil es dadurch wahrscheinlicher wird, dass die Leiche nicht hierhergebracht, sondern dass die Frau hier ermordet wurde. Vielleicht finden wir im Gesicht oder auf den Oberschenkeln seine DNA.«
»Vorausgesetzt, er hat keine Handschuhe getragen.« Laura zog die Augenbrauen hoch. »Das versteht sich ja wohl von selbst.«
Carson nickte. »Was ist mit ihren Klamotten? Sie wird nicht nackt hergekommen sein.«
»Offenbar kennt er sich aus«, antwortete Laura. »Ihm muss bewusst gewesen sein, dass wir überall seine DNA gefunden hätten. Um eine Identifizierung anhand der Kleidungsstücke zu vermeiden, hat er sie mitgenommen. Dadurch wird es auch wahrscheinlicher, dass er Handschuhe getragen hat, als Vorsichtsmaßnahme. Und er ist cool.«
»Was meinen Sie ?«, fragte Carson.
»Sehen Sie sich um.« Laura zeigte auf die umliegenden Häuser, die nicht weit vom Fundort entfernt waren. »Es müsste nur jemand aus seinem Schlafzimmerfenster geblickt oder etwas gehört haben, und wir wären sofort hier gewesen. Im Moment können wir nur hoffen, dass es vielleicht doch einen Augenzeugen gegeben hat.«
»Sonst noch was ?«
Wieder schaute Laura auf die Leiche. Sie spürte Carsons durchbohrenden Blick auf sich ruhen und überlegte, was ihr entgangen sein könnte. Aber vielleicht versuchte er nur, sie zu unbegründeten Hypothesen zu verleiten, die er ihr später vorhalten konnte. Sie war nicht die einzige Frau bei der Mordkommission, glaubte aber immer noch, den Männern gegenüber ihre Qualitäten unter Beweis stellen zu müssen. Außerdem hatte sie spöttische Bemerkungen gehört, sie sei Joes neuer Liebling.
Dann ging ihr ein Licht auf.
»Wenn sie noch lebte, als er die Erde in ihre Vagina stopfte, heißt das, dass sie nicht vergewaltigt wurde, als sie starb«, sagte Laura. »Mit dem ganzen Zeug da drin war das nicht möglich, und bei dem, was er danach noch getan hat, ging es nur darum, sie zu erniedrigen.«
Carson neigte den Kopf, und Laura sah durch die Sehschlitze seine Lachfältchen. Es sah wirklich so aus, als lächelte er. Test bestanden.
Laura schaute zu Joe hinüber, der immer noch konzentriert auf die Leiche blickte.
»Woran denken Sie, Kinsella ?«, fragte Carson.
Joe ließ sich mit der Antwort Zeit. Das entsprach seiner ruhigen, nachdenklichen Art. Dann stand er auf, und seine Kniegelenke knackten.
»Diese Mordserie wird weitergehen«, sagte er leise.
»Wie kommst du darauf ?«, fragte Laura.
»Er hat vorher schon zugeschlagen, und wenn so ein Typ erst mal angefangen hat, hört er nicht mehr auf«, antwortete Joe.
»Ja, wir wissen, dass er es schon einmal getan hat«, sagte Carson stirnrunzelnd. »Vor drei Wochen.«
»Nein, auch vorher schon.« Joe wies mit einer Kopfbewegung auf die Leiche. »Diese Mordmethode ist ein feststehendes Ritual. Die Erde und das andere Zeug, das er ihr in den Mund, die Vagina und in den Anus gestopft hat. Die Ähnlichkeit mit dem letzten Fall ist frappierend. Aber warum tut er es? Niemand setzt darauf, die perfekte Methode gefunden zu haben. Mordmethoden verändern sich. Aber hier? Er ist genauso vorgegangen wie beim letzten Mal.«
Carson seufzte. »Scheint mir etwas weit hergeholt, dass es noch andere Fälle geben soll«, sagte er eher zu sich selbst. Joe warf Laura und Carson einen beunruhigten Blick zu.
»Wir haben keine Zeit zu verlieren«, sagte er. »Wir müssen ihn schnell schnappen, weil der zeitliche Abstand zwischen den Morden kürzer werden wird.«
»Sind Sie sicher?«
Joe nickte. »Zwischen diesen beiden Morden liegen drei Wochen, aber die Vorgehensweise war identisch. Er hat seine Methode gefunden und mag sie.«
»Warum stopft er sie mit all dem Dreck voll?«, fragte Laura. Nach einem weiteren Blick auf die Leiche schaute Joe erst Carson und dann Laura an.
»Ich weiß es nicht«, sagte er bedächtig. »Wir werden es herausfinden müssen, wenn wir den Täter fassen wollen. Aber eines weiß ich mit Sicherheit. Er wird es erneut tun.«
Übersetzung: Bernhard Liesen
Copyright der Originalausgabe © 2011 by Neil White
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2013 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Es war ein schöner, warmer Abend. Das grelle Licht der untergehenden Sonne wurde sanft gebrochen durch das Laubdach der Bäume eines kleinen Wäldchens zwischen den Häusern der Siedlung. In den Lichtstreifen zwischen den Blättern tanzten Mücken. Er blickte auf die Uhr. Gleich war es so weit. Er kannte ihre Gewohnheiten. Samstagabend. Ein Gang zur Haltestelle an der Hauptstraße, um mit dem Bus in die Innenstadt zu fahren. Auf dem Weg dorthin kam sie immer an dem Wäldchen vorbei. Sie ging schnell, mit gesenktem Kopf.
Er hielt gerade so viel Abstand, dass sie ihn nicht sehen konnte. Sein Atem ging schnell, die Erregung schnürte ihm die Brust zusammen. Die Gedanken an sie kamen in Gestalt flüsternder Stimmen in seinem Kopf, so leise, dass er sie kaum hören konnte. Doch nachts wurden die Stimmen lauter, steigerten sich zu einem Crescendo. Es war wie ein Rausch, der sein Verlangen befeuerte.
Manchmal kämpfte er gegen dieses Verlangen an, doch das waren seltene Augenblicke. Vor seinem geistigen Auge sah er sie, die Bilder erregten ihn. Ihre blasse Haut, das blonde, bis über die Schultern herabfallende Haar. Die kleine Stupsnase. Strahlend weiße, ebenmäßige Zähne. Der Gedanke an ihre weiche, glatte Haut ließ ihn lächeln. Jetzt, wo der Augenblick gekommen war, wurden die Stimmen leiser, und er hielt vor Erregung den Atem an.
Diesmal würde alles anders sein, ein Rausch wie nie zuvor. Keine verscharrte Leiche. Kein ausgebranntes Auto. Keine Fahrt zum See mit einem gefesselten Opfer auf der Rückbank. Es würde der definitive Kick sein, denn er wusste, dass immer schon alles auf diesen Moment zugelaufen war.
Er glaubte fast, sie schon hören zu können. Das Rascheln ihres Kleides, den in ihrem Haar spielenden Wind. Dann wurde ihm bewusst, dass das rhythmische Geräusch, das er hörte, nicht sein schnell klopfendes Herz war, sondern das Klackern ihrer Absätze, das durch die verwaist daliegende Vorortstraße hallte. Sein Atem ging noch schneller, er spürte, dass er eine Erektion bekam. Er überprüfte seine Handschuhe. Keine Löcher, keine Risse. Er würde keine Spuren zurücklassen. Ein letztes Mal ließ er seinen Plan Revue passieren. Die ganze Woche über hatte er an kaum etwas anderes gedacht.
Jetzt war der Augenblick gekommen.
Während das Klackern der Absätze lauter wurde, ging er los, denn wenn sie auftauchte, wollte er auf der gleichen Straßenseite sein. Als sie ihn bemerkte, warf sie ihm einen beunruhigten Blick zu, doch dann sah sie die Uniformbluse mit dem Polizeiabzeichen und den Hut eines Bobbys mit dem schwarz-weißen Band.
Er lächelte, seine Zähne blitzten im Sonnenlicht. Er trat auf die Straße und ging weiter, bis er neben ihr war. Auf der anderen Seite des Bürgersteigs war das Wäldchen. »Guten Abend«, sagte er. Die Worte wären ihm fast im Hals stecken geblieben, als er ihr Parfüm roch. Der Duft von Blumen, vom Wind zu ihm getragen. Am liebsten wäre er mit einem Finger über ihren Hals gefahren. Er konnte sich nur mit Mühe beherrschen. Nichts überstürzen.
Sie lächelte ihn kurz an, schlug die Augen aber dann zu Boden. Er schaute auf ihren kurzen schwarzen Rock, die sauber rasierten Beine, die silbernen Absätze. Er musste schlucken, sein Mund war wie ausgetrocknet. Sein Herz schlug immer heftiger. Seine Hände glitten zur Hüfte hinab, um die Handschellen von seinem Gürtel zu lösen. Diese Bewegung war ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Geschwindigkeit war entscheidend, und er durfte keine Geräusche verursachen. Sein Blick wanderte die Straße hinab. Niemand zu sehen. Natürlich, es gab Häuser, doch warum sollte ausgerechnet jetzt jemand auf die Straße blicken? Wenn er schnell und leise war, würde niemand etwas bemerken und misstrauisch werden.
Er stürzte sich auf sie, rammte sie mit der Schulter. Sie verlor das Gleichgewicht, doch er fing sie auf und presste ihr eine Hand auf den Mund. Er stieß sie den Weg hinunter, der in das Wäldchen führte, ließ die Handschelle um ihr linkes Gelenk schnappen. Er liebte dieses Klicken. Jetzt begann sie sich zu wehren. Er durfte die Hand nicht von ihrem Mund nehmen, denn dann würde sie schreien. Er hob sie hoch und trug sie tiefer in das Gehölz, in die Dunkelheit, dorthin, wo die Bäume dichter standen.
Einer ihrer Schuhe fiel zu Boden. Danach würde er ihn holen müssen.
Zwischen den Bäumen, am Fuß eines Abhangs, floss ein kleiner Bach, und er wusste, dass er dort allen Blicken entzogen war. Er war in der Nähe des Weges, aber alles würde sehr schnell gehen.
Das Geräusch seiner Stiefel wurde leiser, je weicher der Waldboden wurde. Als er weit genug in das Unterholz vorgedrungen war, warf er sie zu Boden, weiter die Hand auf ihren Mund pressend.
Erneut begann sie sich zu wehren. Sie holte mit dem Arm aus, und das andere Ende der Handschellen hätte ihn fast ins Gesicht getroffen.
Er presste ihr Gesicht in den Boden, riss ihr die Hände auf den Rücken und ließ auch die andere Handschelle um ihr Gelenk schnappen. Wieder dieses Klicken.
Er drehte sie auf den Rücken, und seine freie Hand kratzte Erde und Blätter zusammen. Nachdem er ihr den Unterkiefer herabgerissen hatte, stopfte er ihr beides in den Mund. Sie riss die Augen auf, und ihre Brust bäumte sich auf, als sie hustete und würgte.
Dann stopfte er ihr Erde, Steine und kleine Gestrüppstücke in die Vagina.
Er öffnete seinen Gürtel, ihr weiter mit der anderen Hand den Mund zuhaltend, und stöhnte, als er sein Glied umfasste. Und dann nahm er die andere Hand von ihrem Mund, packte ihren Hals und strangulierte sie. Tränen liefen ihr über die Wangen, und sie trat mit den Beinen aus. Während er ihr immer fester die Kehle zudrückte, wurde sein Stöhnen lauter.
2
Ein paar Tage später bekam Jack Garrett den Anruf. Er war im Stadtbezirk Whitcroft, wegen eines Artikels für Dolby Wilkins, den neuen Herausgeber der Lokalzeitung, der die Kosten senken und zugleich die Auflage erhöhen sollte. Wilkins sah gut aus und hatte jenes Selbstvertrauen, das altes Geld mit sich bringt. Stets trug er Jeans und ein legeres Leinenjackett, und er wiederholte gebetsmühlenartig, nur mit Sex und Vorurteilen ließen sich Zeitungen verkaufen. Da er den Sex den überregionalen Boulevardzeitungen überließ, blieben nur die Vorurteile. Also verlegte er sich auf gesellschaftliche Ressentiments, auf billige, eindeutige Erklärungen, auf reißerische Storys. Einwanderer, die gegen die Gesetze verstießen. Sozialschmarotzer, die es sich auf Kosten ehrbarer Bürger gut gehen ließen. Wilkins' erste Amtshandlung war es gewesen, sich Visitenkarten drucken zu lassen. Mehr musste Jack Garrett nicht wissen.
Jack sah diesem Auftrag mit einigem Unbehagen entgegen. Wenn man die Armen als Faulpelze denunzierte, ließ das die Kasse klingeln, aber Wilkins war noch nicht lange in Blackley und begriff nicht, was in der Stadt lief. Er hatte nicht miterlebt, wie ein altes Zentrum der Textilverarbeitung seiner Industrie beraubt worden war. Jetzt gab es nur noch Überreste dieser Vergangenheit, riesige Fabriken und Lagerhäuser, von denen einige in Einkaufszentren umgewandelt worden waren. In anderen wurden an Sommerwochenenden Handwerksmessen abgehalten. Doch viele Industriegebäude verfielen einfach. Die Kabel waren aus den Fabrikwänden gerissen worden, um von dem Erlös Zigaretten und Schnaps zu kaufen, das Licht fiel durch halb eingebrochene Dächer. Das war Stoff für Geschichten über harte Zeiten mit wenig positiven Zukunftsaussichten. Aber mit Mitleid für die Unglücklichen ließ sich keine Auflage machen.
Ihm war klar, dass sich beim Blackley Telegraph alles um den Profi t drehte, doch er war freiberuflicher Journalist, kein Geschäftsmann. Eigentlich war er Gerichtsreporter, doch gelegentlich schrieb er auch einen längeren Artikel über einen Kriminalfall. Die Zeitung kaufte seine Artikel und entließ dafür fest angestellte Mitarbeiter. Die anderen Freiberufler, die deren Arbeit übernahmen, hatten zum Teil gerade erst das College verlassen oder bisher praktisch nichts veröffentlicht. Ihnen ging es um Referenzen, mit denen sie ihren Lebenslauf spicken konnten.
Jack hatte zugesagt, den Artikel über den Stadtteil Whitcroft zu schreiben, und zu Hause die ersten Seiten in die Tastatur seines alten Laptops gehackt. Er wohnte in einem Cottage in Turners Fold, einem abgelegenen Flecken in den Hügeln von Lancashire, ein paar Meilen von Blackley entfernt. Whitcroft lag am Stadtrand von Blackley. Einst auf sieben bewaldeten Hügeln erbaut, wirkte Blackley heute wie der hässliche große Bruder von Turners Fold. Im Zentrum kündeten viktorianische Häuser teilweise noch vom einstigen Wohlstand. In den vom Ruß geschwärzten zweistöckigen Geschäftshäusern residierten Juweliere und alteingesessene Herrenausstatter, die sich nun mit der Konkurrenz von der High Street herumschlagen mussten, wo die Läden Fassaden aus Glas und Stahl hatten. Vom Säulenvorbau und der Treppe des Rathauses aus schaute man auf die Hauptgeschäftsstraße, eine Erinnerung an bessere Zeiten, als hier Männer in Gehröcken und mit extravaganten Koteletten goldene Uhren aus ihren Westentaschen zogen.
Auch Whitcroft war in den besseren Tagen erbaut worden. Im Gegensatz zu den monoton geraden Straßen mit Reihenhäusern, die sonst den Anblick der Stadt dominierten, gab es hier Sackgassen, halbmondförmige Straßenzüge, Blumenbeete und Gebäude mit der Toilette im Haus. Heute zeigte sich in Whitcroft die Teilung der Stadt. Das Viertel war zu einer Zuflucht der Weißen geworden, als in den Sechzigerjahren immer mehr asiatische Einwanderer in die Innenstadt gezogen waren, wo nun Moscheen und Minarette zwischen den alten Fabriken und Lagerhäusern standen. Man vernahm den muslimischen Gebetsruf häufiger als die gewohnten Kirchenglocken, und jene Weißen, die es sich nicht leisten konnten, auf dem Land zu leben, waren nach Whitcroft gezogen.
All dies ging Jack durch den Kopf, während er in seinem Auto wartete, einem roten Triumph Stag Baujahr 1973. Junge Mütter schoben ihre Kinderwagen eine Straße entlang, die um das Viertel herumführte. Die strahlende Morgensonne betonte das tiefe Grün der Hecken, das Rot der Backsteinfassaden, die lebhaften Rottöne der Blumen. Von einem am Ende der Straße sichtbaren Schulhof her hörte er das fröhliche Lachen und Geschrei der Kinder.
Doch der idyllische Eindruck trog.
Ein vom Moor her kommender kalter Wind pfiff durch die Straße, die in den Stadtteil hineinführte. Sie war auf beiden Seiten von Geschäften gesäumt, die Bürgersteige waren mit ausgespuckten Kaugummis übersät. Ein chinesisches Takeaway, ein Lebensmittelgeschäft, das Postamt. Auf der anderen Seite ein Waschsalon und eine Apotheke. Die Fenster waren vergittert, die Eingangstüren wirkten alt und schmierig. In den kleinen Straßen hinter den Ladenzeilen standen jeweils vier Häuser. Viele Fenster waren mit Brettern zugenagelt, in anderen klebten England-Sticker. Die Straßen waren Sackgassen, verbunden durch von Hecken gesäumte Durchgänge. Die kurzen Wege waren die gefährlichsten. In den Hecken steckten Chipstüten und Bierdosen. Aber es schien nicht nur Armut und Verfall zu geben. Handwerker in Overalls eilten durch die Straßen, junge weibliche Büroangestellte kauften auf dem Weg zur Arbeit noch eine Zeitung oder Zigaretten. Einige Veranden waren vergrößert und verglast worden, einige Gartenmauern neu. Es gab in diesem Stadtteil nicht nur die hoffnungslosen Fälle. Jede halbe Stunde tauchte der Wagen einer privaten Sicherheitsfirma auf. Kahlköpfige Männer mit schwarzen Jacken starrten ihn an, als sie vorbeifuhren. Vielleicht würde Wilkins nicht den Artikel bekommen, den er wollte.
Er stieg aus seinem Wagen und ging auf einen Laden zu, vor dem eine Frau mit einem Kinderwagen stand. Sie hatte straff zurückgebundenes Haar, rauchte eine Zigarette und trug billigen Goldschmuck.
Jack stieß die Tür auf. Eine Ladenklingel ertönte. Er tat so, als würde er interessiert die Zeitschriften studieren. Als der Laden sich geleert hatte, trat er an die Theke. Der Mann dahinter schaute kaum auf. Er war in mittleren Jahren und hatte einen vom Nikotin verfärbten Schnurrbart. Er blätterte eine Zeitung durch und hörte erst auf, als Jack hustete.
Jack lächelte ihn an. »Jack Garrett«, sagte er. »Ich bin Journalist und schreibe einen Artikel über diesen Stadtteil.« Er zeigte auf die Fenster. »Was ist das für ein Gefühl, wenn man die Fenster seines Ladens vergittern lassen muss?«
Der Mann starrte Jack an, offenbar unschlüssig, ob er antworten sollte. »Der Stadtrat hat dieses Viertel vor die Hunde gehen lassen«, sagte er schließlich.
»Warum ?«
»Sie haben die Gegend sozusagen zur Müllkippe verkommen lassen. Ihnen ist es lieber, wenn das ganze Gesocks auf einem Haufen lebt. Sie haben es gesagt.«
»Wohnen Sie schon lange hier?«
»Mehr als zwanzig Jahre. Ich habe das Geschäft von meinem Vater geerbt. Zu einer Zeit, als man hier noch ein anständiges Leben führen konnte.«
»Was ist schiefgelaufen?«
Der Ladeninhaber zuckte die Achseln. »Keine Ahnung, aber manchmal denke ich, dass die Leute einfach nicht mehr arbeiten wollen. Die jungen Mädchen bekommen ein Haus zugewiesen, wenn sie schwanger werden, aber die Väter ziehen nie dort ein. Zumindest erzählen sie das jedem, doch ich sehe diese Typen, wenn sie morgens das Haus verlassen.«
»Ich habe eben durchaus Leute gesehen, die auf dem Weg zur Arbeit waren. Ganz so verarmt und verwahrlost scheint das Viertel nicht zu sein.«
»Es gibt hier immer noch einige Menschen, die mich stolz darauf machen, hier zu leben, aber es wird von Tag zu Tag schwieriger.«
»Warum ?«
»Wegen der Kids. Sie hängen hier abends rum, umkreisen die Kunden mit ihren Fahrrädern und Mopeds und betteln die Leute an, ihnen Schnaps und Zigaretten zu kaufen, denn ich weiß, dass sie zu jung dafür sind. Wenn ich versuche, sie zu verscheuchen, beleidigen sie mich. Meine Kunden wollen nur Milch kaufen, vielleicht ein paar Dosen Bier für den späteren Abend, aber die Kids schrecken sie ab.«
»Haben Sie mit ihren Eltern geredet?«
Der Ladeninhaber lachte. »Die sind auch meistens betrunken.«
Auch Jack lächelte. »Aber Sie verkaufen ihnen den Schnaps.«
»Normalerweise kaufen sie ihn woanders und sacken die Sonderangebote ein. Zu mir kommen sie nur, wenn sie auf dem Trockenen sitzen. Oder wenn sie gleich morgens anfangen wollen und keine Lust haben, zum Supermarkt zu fahren.«
»Lässt die Polizei sich häufiger blicken?«
Der Ladeninhaber zog eine Grimasse. »Fast nie. Und wenn sie mal kommt, freuen sich die Kids auf die Verfolgungsjagd. Sie beschimpfen die Cops und hauen ab, sobald sich die Türen des Polizeiwagens öffnen. Manchmal stürzt einer von ihnen, und die Polizei schnappt ihn, aber es passiert nichts.«
»Patrouilliert deshalb hier eine private Sicherheitsfirma?«
»Die Leute fühlen sich dann nicht so wehrlos.«
»Wer bezahlt sie?«
»Wer Interesse daran hat.«
»Wie sieht's mit Drogen aus? Könnte die Polizei da mehr tun?«
»Nein, Drogen spielen hier keine große Rolle. Vielleicht rauchen ein paar Kids Gras, aber meistens geht's um hochprozentigen Alkohol. Das war schon immer so. Damit will ich nicht sagen, dass hier niemand Drogen nimmt, aber die Kids tun es nicht. Sie haben einfach nur die Schnauze voll.«
»Sie zeichnen nicht gerade ein erfreuliches Bild.« Der Ladeninhaber nickte und blickte auf das Aufnahmegerät in Jacks Hand. »So wenig wie Sie, wenn Ihr Artikel fertig ist. Darauf wette ich.«
Als Jack widersprechen wollte, zeigte der Ladeninhaber auf die vor ihm liegende Zeitung. »Ich verkaufe sie nicht nur, sondern lese sie auch. Ich habe gesehen, was aus dem Blackley Telegraph geworden ist.« Damit schien er das Interesse an dem Gespräch verloren zu haben.
Jack drehte sich frustriert um und verließ den Laden. Draußen blickte er den vorbeikommenden Autos nach. Meistens waren es alte Vauxhalls und Fords, und die jungen Fahrer sahen nicht so aus, als könnten sie sich die Fahrzeugversicherung leisten. Sein Handy piepte. Er blickte auf das Display und sah, dass es Wilkins war. Er dachte darüber nach, den Anruf nicht anzunehmen, wusste aber, dass er sich die Sympathie des Herausgebers nicht verscherzen durfte. Er drückte auf die Taste. »Hallo, Mr Wilkins, was kann ich für Sie tun ?«
»Schon wieder ein Mord«, sagte Wilkins, der ein bisschen außer Atem zu sein schien. »Das Opfer ist eine junge Frau.«
Jack wusste nicht sofort, was Wilkins meinte, doch dann fiel ihm ein, dass vor ein paar Wochen eine tote junge Frau am Stadtrand in einem Überlaufrohr am Wasserreservoir gefunden
worden war. Ein Vater hatte die Leiche bei einem Angelausflug mit seinem Sohn entdeckt.
»Wo wurde sie gefunden?« Wilkins sagte es ihm, und er war nur eine halbe Meile vom Fundort der Leiche entfernt.
»Soll ich die Story übernehmen ?«
»Ich rufe Sie nicht an, um Sie über die Neuigkeiten auf dem Laufenden zu halten«, antwortete Wilkins leicht ungehalten.
»Bin schon unterwegs«, sagte Jack, bevor er die Verbindung unterbrach. Er drehte sich um und lächelte den Ladeninhaber durch das Schaufenster an, doch der reagierte nicht.
3
Es war kurz nach halb zehn, als Laura McGanity am Tatort eintraf. Sie blickte sich um und versuchte, ihre Nerven zu beruhigen. Jemand war ermordet worden, und nun musste sie beweisen, dass sie die Beförderung zum Detective Sergeant verdient hatte. Neun Monate hatte sie als uniformierte Polizistin gearbeitet, doch nun war sie wieder dort, wo sie sein wollte - bei der Mordkommission. Dies hier war eine Tragödie, und doch empfand sie ein vertrautes Gefühl der Erregung, als sie auf das blau-weiße Absperrband blickte, mit dem der Tatort abgesperrt worden war. Polizisten in Overalls bereiteten sich darauf vor, das Unterholz des Wäldchens nach Spuren und Beweisen zu durchsuchen - Fußabdrücke, ein hingefallenes Stück Papier, vielleicht ein Stofffetzen, der an Dornen oder an einem Ast hängen geblieben war. Noch war das menschliche Drama, das sich hier abgespielt hatte, ein Rätsel, doch nun wurden die Ermittlungen aufgenommen.
Sie hatte einen weißen Schutzanzug und Überschuhe angezogen, und unter der Gesichtsmaske spürte sie ihren heißen Atem auf den Wangen. Ihr war bewusst, dass das Gefühl der gespannten Erwartung nicht lange anhalten würde, denn gleich würde sie die Leiche sehen, die in dem kleinen Wäldchen hinter einer neuen Wohnsiedlung lag. An einigen Stellen war das Rot der Backsteinmauern durch das grüne Laub zu sehen. In einem Augenblick würde sie mit dem ganzen Ausmaß der Tragödie konfrontiert sein. Sie musste hundertprozentig konzentriert sein, damit ihr nichts Entscheidendes entging.
Jetzt tauchte neben ihr Joe Kinsella auf. Er hatte die Kapuze seines Schutzanzugs über das Haar gezogen und trug ebenfalls eine Gesichtsmaske, durch deren Sehschlitze seine sanften braunen Augen zu erkennen waren. Er schien zu lächeln und sagte mit gedämpfter Stimme : »Na los, Detective Sergeant. Dann wollen wir uns mal ansehen, was da passiert ist.«
Auch Laura lächelte hinter der Gesichtsmaske. Die neue Rangbezeichnung war noch ungewohnt, doch dies war nicht der richtige Augenblick, um sich selbst auf die Schulter zu klopfen, weil sie befördert worden war.
Joe ging vor. Am Fuß des Abhangs floss ein schmaler Bach mit schmutzig braunem Wasser, der in unterirdischen Rohren unterhalb der Siedlung hindurchgeführt wurde. Unter den Platanen und Rosskastanien war es dämmrig, der Boden war dicht mit Efeu überzogen. Man musste aufpassen, dass man nicht stolperte. Joe ging schnell, und Laura musste sich anstrengen, mit ihm Schritt zu halten. Sie war dankbar, dass es nicht geregnet hatte, denn sonst wäre sie vielleicht am Ufer des Baches ausgerutscht. Dort, wo die Leiche lag.
Sie war von Jugendlichen entdeckt worden. Es war nicht klar, weshalb sie in dem Wäldchen gewesen waren. Seitdem war der Fundort abgesperrt. Es wimmelte von Polizisten und Ermittlern
der Spurensicherung. Die sensationslüsternen Gaffer waren auf die Straße zurückgedrängt worden. Ein Detective posierte als Journalist. Er hatte sich unter die Schaulustigen gemischt, die sich die Hälse verrenkten, um etwas sehen zu können. Der »Journalist« schoss Fotos, denn möglicherweise war
unter ihnen der Mörder, der an den Tatort zurückgekehrt war, um sein Werk zu bewundern. Diese Geschichte mit dem Reporter war Joes Idee gewesen.
Ihr Vorgesetzter, Inspector Karl Carson, wartete bereits neben der Leiche. Er war ein großer, massiger Mann. Kahlköpfig, keine Augenbrauen. Seine blauen Augen blickten sie durch die Sehschlitze seiner Gesichtsmaske an.
»Sieht so aus, als müsste uns das bekannt vorkommen, McGanity.« Er schaute sie an, um ihre Reaktion zu registrieren. Laura seufzte. Schon wieder. Das machte alles komplizierter, denn es bedeutete, dass es sich nicht um ein Familiendrama handelte und dass der Mörder auch kein gewalttätiger eifersüchtiger Liebhaber war, der seine Tat als die eines anderen erscheinen lassen wollte.
Joe kniete neben der Leiche nieder. Laura wusste, dass er nicht den Kriminaltechnikern die Arbeit abnehmen wollte, sondern nach unscheinbaren Kleinigkeiten Ausschau hielt, die vielleicht Rückschlüsse auf das Tatmotiv zuließen. Das war seine Spezialität. Ihm ging es weniger darum, was geschehen war, sondern darum, warum es passiert war. Sie hatte früher schon mit ihm zusammengearbeitet, und er hatte dafür gesorgt, dass sie nun seit Kurzem erneut bei der Mordkommission war. Es war ein gutes Gefühl, es wieder mit den wirklich wichtigen Fällen zu tun zu haben. Sie war vor ein paar Jahren in den Norden gezogen, nachdem sie zuvor Detective bei der städtischen Londoner Polizei gewesen war. Dort hatte sie sich im Büro mit dem Abschluss von Routinefällen befasst, war aber später selbst kurz in Uniform Streife gefahren, weil das bei Beförderungen gern gesehen wurde. Aber wirklich zu Hause fühlte sie sich bei der Mordkommission.
Sie kniete neben Joe nieder, und als sie die Leiche eingehend betrachtete, wurde ihr klar, dass Karl Carson recht hatte. Damit bestätigten sich die schlimmsten Befürchtungen. Bei dem drei Wochen zurückliegenden Mord hatte es sich nicht um einen Einzelfall gehandelt. Hier gab es unverkennbare Parallelen. Laura schätzte das Alter der Toten auf Anfang zwanzig - kein junges Mädchen mit noch nicht ausgeprägten weiblichen Rundungen, aber auch keine reife Frau mit bereits etwas faltiger Haut. Am linken Handgelenk hatte sie eine Tätowierung. Ein rosafarbener Schmetterling. Die Leiche war mit Rinde bedeckt gewesen, die der Täter von einem in der Nähe stehenden Baum
gerissen hatte, und als die Teenager sie entfernt hatten, kam ihnen ein Schwarm von Schmeißfliegen entgegen. Laura biss die Zähne zusammen, als ihr trotz der Gesichtsmaske der Geruch in die Nase stieg, eine Mischung des Gestanks von Erbrochenem und verdorbenem Fleisch. Sie sah massenhaft Asseln und Maden, die sich des verwesenden Körpers bemächtigt hatten.
Der Bauch der Toten war aufgebläht. Laura wusste, dass sie nicht dabei sein wollte, wenn die Leiche auf eine Plastikplane gerollt werden würde, bevor sie vom Tatort weggeschafft wurde. Der Inhalt des Magens würde aus dem Mund der Toten hervorquellen.
Laura wollte sich auf das Gesicht konzentrieren, doch es war schmutzig und entstellt. Sie würde warten müssen, bis die Leiche gesäubert und obduziert worden war. Sie versuchte, emotionslos und professionell distanziert zu sein, wusste aber, dass sie der Anblick dieser ermordeten jungen Frau später noch mehrfach wieder einholen würde.
Sie atmete tief durch und konzentrierte sich erneut auf die Leiche, um sich nichts entgehen zu lassen.
Die Frau war nackt. Ihre Kleidungsstücke lagen nicht zerrissen neben ihr, sondern waren mitgenommen worden. Wie bei dem anderen Fall. Laura sah blaue Flecken und Kratzspuren auf dem Körper, vielleicht von einem Kampf herrührend, auch kleine Schnittwunden auf dem Bauch und den Beinen. Doch nicht das erweckte ihre Aufmerksamkeit, sondern der Mund. Der Täter hatte ihn ihr so sehr mit Erde und Laub vollgestopft, dass die Wangen sich hervorwölbten. An ihrem Hals sah Laura Würgemale. Vermutlich hatte der Mörder sie erdrosselt. Dann glitt ihr Blick zum Unterleib der Toten hinab, und sie musste nicht allzu genau hinsehen, um zu wissen, dass der Täter auch ihre Vagina mit Erde und Laub vollgestopft hatte. Doch was sie wirklich wütend machte, waren die Tränen. Das Gesicht der Toten war dreckig, und doch sah man die Spuren der Tränen, die ihr über die Wangen gelaufen waren, als die Erde in ihrem Mund sie würgen ließ und sie zu dem Mann aufblickte, der ihrem jungen Leben ein Ende bereiten würde.
»Gibt es wieder eine Beziehung zu uns ?«, fragte Laura. Carson zuckte die Achseln. Er wusste es noch nicht. Das erste Opfer war die Tochter eines Polizisten aus Blackley gewesen. Ein Racheakt seitens des organisierten Verbrechens war ausgeschlossen worden, da der Vater des Opfers nur ein einfacher uniformierter Polizist war, der mit seinem Streifenwagen in den Straßen patrouillierte und junge Polizisten instruierte, die bald seinen Job übernehmen würden. Über das Privatleben der Frau waren gewisse Gerüchte im Umlauf, sodass jeder geglaubt hatte, sie sei von einem eifersüchtigen Ex-Liebhaber umgebracht worden. Oder von einem untreuen Ehemann, der Angst hatte, dass seine Affäre ans Licht kam.
»Was denken Sie ?«, fragte Carson. Laura fühlte seinen Blick auf sich ruhen, und ihr war klar,
dass dies ein Test war. Carson wollte wissen, ob Joe recht gehabt hatte, als er sie für die Mordkommission empfohlen hatte. Sie atmete tief durch und schaute sich die Leiche noch einmal
genau an.
»Sie hat noch gelebt, als er ihr das Zeug da reingestopft hat.«
Laura zeigte auf die Vagina der Toten.
»Wie kommen Sie darauf?«
»Diese Kratzer und kleinen Schnitte an den Beinen sind blutunterlaufen oder blutig.« Sie zeigte auf die bräunlich verfärbten Spuren. »Sie werden entstanden sein, als er ihr Erde und Blätter zwischen die Beine geschoben hat. Es muss geschehen sein, als sie noch lebte, denn Tote bluten nicht.«
Carson nickte. »Warum ist das wichtig?«
»Weil es dadurch wahrscheinlicher wird, dass die Leiche nicht hierhergebracht, sondern dass die Frau hier ermordet wurde. Vielleicht finden wir im Gesicht oder auf den Oberschenkeln seine DNA.«
»Vorausgesetzt, er hat keine Handschuhe getragen.« Laura zog die Augenbrauen hoch. »Das versteht sich ja wohl von selbst.«
Carson nickte. »Was ist mit ihren Klamotten? Sie wird nicht nackt hergekommen sein.«
»Offenbar kennt er sich aus«, antwortete Laura. »Ihm muss bewusst gewesen sein, dass wir überall seine DNA gefunden hätten. Um eine Identifizierung anhand der Kleidungsstücke zu vermeiden, hat er sie mitgenommen. Dadurch wird es auch wahrscheinlicher, dass er Handschuhe getragen hat, als Vorsichtsmaßnahme. Und er ist cool.«
»Was meinen Sie ?«, fragte Carson.
»Sehen Sie sich um.« Laura zeigte auf die umliegenden Häuser, die nicht weit vom Fundort entfernt waren. »Es müsste nur jemand aus seinem Schlafzimmerfenster geblickt oder etwas gehört haben, und wir wären sofort hier gewesen. Im Moment können wir nur hoffen, dass es vielleicht doch einen Augenzeugen gegeben hat.«
»Sonst noch was ?«
Wieder schaute Laura auf die Leiche. Sie spürte Carsons durchbohrenden Blick auf sich ruhen und überlegte, was ihr entgangen sein könnte. Aber vielleicht versuchte er nur, sie zu unbegründeten Hypothesen zu verleiten, die er ihr später vorhalten konnte. Sie war nicht die einzige Frau bei der Mordkommission, glaubte aber immer noch, den Männern gegenüber ihre Qualitäten unter Beweis stellen zu müssen. Außerdem hatte sie spöttische Bemerkungen gehört, sie sei Joes neuer Liebling.
Dann ging ihr ein Licht auf.
»Wenn sie noch lebte, als er die Erde in ihre Vagina stopfte, heißt das, dass sie nicht vergewaltigt wurde, als sie starb«, sagte Laura. »Mit dem ganzen Zeug da drin war das nicht möglich, und bei dem, was er danach noch getan hat, ging es nur darum, sie zu erniedrigen.«
Carson neigte den Kopf, und Laura sah durch die Sehschlitze seine Lachfältchen. Es sah wirklich so aus, als lächelte er. Test bestanden.
Laura schaute zu Joe hinüber, der immer noch konzentriert auf die Leiche blickte.
»Woran denken Sie, Kinsella ?«, fragte Carson.
Joe ließ sich mit der Antwort Zeit. Das entsprach seiner ruhigen, nachdenklichen Art. Dann stand er auf, und seine Kniegelenke knackten.
»Diese Mordserie wird weitergehen«, sagte er leise.
»Wie kommst du darauf ?«, fragte Laura.
»Er hat vorher schon zugeschlagen, und wenn so ein Typ erst mal angefangen hat, hört er nicht mehr auf«, antwortete Joe.
»Ja, wir wissen, dass er es schon einmal getan hat«, sagte Carson stirnrunzelnd. »Vor drei Wochen.«
»Nein, auch vorher schon.« Joe wies mit einer Kopfbewegung auf die Leiche. »Diese Mordmethode ist ein feststehendes Ritual. Die Erde und das andere Zeug, das er ihr in den Mund, die Vagina und in den Anus gestopft hat. Die Ähnlichkeit mit dem letzten Fall ist frappierend. Aber warum tut er es? Niemand setzt darauf, die perfekte Methode gefunden zu haben. Mordmethoden verändern sich. Aber hier? Er ist genauso vorgegangen wie beim letzten Mal.«
Carson seufzte. »Scheint mir etwas weit hergeholt, dass es noch andere Fälle geben soll«, sagte er eher zu sich selbst. Joe warf Laura und Carson einen beunruhigten Blick zu.
»Wir haben keine Zeit zu verlieren«, sagte er. »Wir müssen ihn schnell schnappen, weil der zeitliche Abstand zwischen den Morden kürzer werden wird.«
»Sind Sie sicher?«
Joe nickte. »Zwischen diesen beiden Morden liegen drei Wochen, aber die Vorgehensweise war identisch. Er hat seine Methode gefunden und mag sie.«
»Warum stopft er sie mit all dem Dreck voll?«, fragte Laura. Nach einem weiteren Blick auf die Leiche schaute Joe erst Carson und dann Laura an.
»Ich weiß es nicht«, sagte er bedächtig. »Wir werden es herausfinden müssen, wenn wir den Täter fassen wollen. Aber eines weiß ich mit Sicherheit. Er wird es erneut tun.«
Übersetzung: Bernhard Liesen
Copyright der Originalausgabe © 2011 by Neil White
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2013 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von Neil White
Neil White wurde 1965 im Norden Englands geboren und wuchs in Wakefield in West Yorkshire auf. Er studierte Jura und ist seit 1995 als Experte für Strafrecht tätig, zunächst als Strafverteidiger, inzwischen als Staatsanwalt. Neil White lebt mit seiner Frau und drei Kindern in Preston, Lancashire. Cold Kill ist der vierte Thriller um den Journalisten Jack Garrett und die Polizistin Laura McGanity, der in deutscher Übersetzung erscheint.
Weitere Informationen über den Autor finden Sie unter www.neilwhite.net.
Bibliographische Angaben
- Autor: Neil White
- 2013, 1, 383 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863652908
- ISBN-13: 9783863652906
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