Keiner wird dir helfen
Nach einem Überfall wacht Katherine im Krankenhaus auf. Die junge Frau hat Gedächtnislücken und findet sich nicht mehr in ihrem Leben zurecht. Vor ihrem Freund Ed hat sie Angst, doch zu ihrem Nachbarn Dan fühlt sie sich auf...
Leider schon ausverkauft
Buch
4.99 €
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Produktdetails
Produktinformationen zu „Keiner wird dir helfen “
Nach einem Überfall wacht Katherine im Krankenhaus auf. Die junge Frau hat Gedächtnislücken und findet sich nicht mehr in ihrem Leben zurecht. Vor ihrem Freund Ed hat sie Angst, doch zu ihrem Nachbarn Dan fühlt sie sich auf unerklärliche Weise hingezogen. Als sie erneut von zwei Männern bedroht wird, flüchtet sie mit letzter Kraft aus der Klinik. Wer ist sie wirklich? Und darf sie Dan vertrauen?
"Karen Robards ist eine grandiose Geschichtenerzählerin"
Chicago Tribune
"Spannend!"
Los Angeles Times
Lese-Probe zu „Keiner wird dir helfen “
Keiner wird dir helfen von Karen Robards Aus dem Amerikanischen von Evelin Sudakowa-Blasberg
Wie es begann ...
8. Juni 2005
»Nick. Nii-ckiee! Bist du da? Ich bin in Schwierigkeiten. Ernsten Schwierigkeiten.«
Special Agent Nick Houston, FBI, stand in der Küche seines kleinen Hauses in Alexandria, Virginia, und massierte sich den Nacken, während er mit gesenktem Kopf der Nachricht auf seinem Anrufbeantworter lauschte. Es war ein schwüler Mittwochabend kurz nach elf Uhr, und er war hundemüde. Er hatte einen höllisch anstrengenden Tag bei Gericht hinter sich, wo er als Zeuge für einen Mann ausgesagt hatte, der über ein Jahr als Informant für ihn gearbeitet hatte. Als der für seine Härte bekannte Richter den armen Kerl trotz Nicks Fürsprache und der Kooperation des Mannes zu zehn Jahren Haft verdonnerte, war dessen Tochter mitten im Gerichtssaal zusammengeklappt. Den Rest des Tages hatte Nick damit verbracht, sich Wortgefechte mit teuren Anwälten zu liefern, die versuchten, ihm ans Bein zu pinkeln. Sie setzten alles dran, seinen Job herunterzumachen, als er in einem verwandten Fall als Zeuge aussagte. Er hatte Aussagen zu Protokoll gegeben, die Berge von Papierkram bearbeitet, die dem Abschluss jeden Falls so unvermeidlich folgten wie der Schwanz einem Hund. Und zu guter Letzt war er auf dem Heimweg als Berater zu einer Geiselnahme gerufen worden, die mit dem Tod einer der Geiseln, einer Frau, geendet hatte.
Ein ganz normaler Arbeitstag im Leben eines überarbeiteten, unterbezahlten amerikanischen Bundesbeamten, keine Frage. Aber das Letzte, was er nach so einem Tag brauchte, war, beim Heimkommen die Stimme seiner Schwester auf dem Anrufbeantworter zu hören.
... mehr
»Irgendein Mann hat mich angerufen und gesagt, dass Keith wegen mir seinen Job verlieren wird. Er meinte, wenn ich ihm nicht die Kopien aller Unterlagen verschaffe, die Keith über einen bestimmten Bundesrichter gesammelt hat, gegen den ihr Jungs ermittelt, wird er den Leuten, die für Sicherheitsfragen zuständig sind, stecken, dass ich« - an dieser Stelle brach die Stimme seiner Schwester ab - »auf Drogen bin.«
»Oh, Scheiße!« Nick nahm die Hand vom Nacken und starrte stirnrunzelnd auf das Telefon. Das war ihr kleines schmutziges Familiengeheimnis, das er, Allison und ihr Mann, Keith Clark - Leiter des FBI-Programms gegen White-Collar-Kriminalität und zufälligerweise auch Nicks Boss -, hüteten wie ein Kobold seinen Goldtopf. Wenn die Neigungen seiner Schwester - sie war Alkoholikerin, die auch bei keiner anderen Droge Nein sagte, wiewohl Kokain ihre erste Wahl war - herauskämen, würde Keith vermutlich gefeuert werden. Ein Beamter der Bundespolizei, der durch seine Frau erpressbar war, konnte unmöglich im Amt bleiben.
Und jetzt war es so weit. Jemand wollte sie erpressen. »Kannst du kommen? Jetzt gleich? Ich brauche dich unbedingt. Ich weiß wirklich nicht weiter. Okay, ich sollte nicht so schwach sein bei ... bei so Sachen, aber ich ... ich kann nicht anders. Ich habe Angst, Nick. Schreckliche Angst.« Der Piepston des Anrufbeantworters unterbrach das Geräusch ihres leisen Weinens.
»Verdammt, Allie!« Nick schlug mit der flachen Hand auf die Küchentheke. Sie war nicht so robust, wie sie aussah - er wollte die Küche schon seit fünf Jahren, seit er das Haus gekauft hatte, renovieren. Deshalb begann alles, was darauf stand, zu wackeln, einschließlich des Goldfischglases. Seine beiden Goldfische, Bill und Ted, bedachten ihn mit vorwurfsvollen Blicken. Der Vorwurf in ihren vorquellenden Augen könnte sich natürlich auch darauf beziehen, dass die Schachtel mit Fischfutter direkt vor seiner Nase stand und er bis jetzt noch keine Anstalten gemacht hatte, seiner Fütterpflicht nachzukommen. Bill und Ted waren sehr pedantisch. (Er war zu ihnen gekommen wie die sprichwörtliche Jungfrau zum Kind, als er vor zwei Jahren in einem Anflug von Irrsinn eine Frau mit ihrem sechsjährigen Sohn zu einem kinderfreundlichen Rendezvous auf ein Volksfest eingeladen hatte. Auf Drängen des Jungen hin hatte er die beiden Fische für ihn gewonnen, indem er für ungefähr vierzig Dollar Pingpongbälle in Richtung des Goldfischglases warf. Leider nur mit dem Erfolg, dass die Frau, die er eigentlich hatte beeindrucken wollen, sagte, sie wolle keine stinkenden Fische in ihrem Haus haben.) Wie auch immer, die Fische bestanden auf ihren paar Kubikzentimetern Platz und einem sauberen Glas. Abgesehen davon waren sie traumhafte Wohngenossen. Sie waren ruhig, nie schlecht gelaunt und hatten immer ein offenes Ohr für ihn.
Als Belohnung für ihre Geduld nahm er eine Prise Fischfutter aus der Schachtel und streute es über die Wasseroberfläche. Während die Fische gierig nach den weißen Flocken schnappten, kehrten seine Gedanken wieder zu seiner Schwester zurück.
Zunächst versuchte er, sie auf ihrem Handy zu erreichen. Keine Antwort. Er überlegte, sie auf dem Festnetzanschluss anzurufen oder auf dem Handy seines Schwagers, doch falls Allie bisher noch nicht den Mut gehabt haben sollte, Keith einzuweihen, könnte das problematisch werden. Die Nachricht war knapp eine halbe Stunde alt, was zeitlich in etwa hinkam, weil ihm vor einer Stunde in dem Durcheinander des Geiselszenarios sein Handy aus der Tasche gefallen und kaputtgegangen war. Als echte Nachteule ging Allie nie vor ein Uhr ins Bett, was bedeutete, dass sie höchstwahrscheinlich noch wach war - irgendwo. Und gerade, wer weiß was, anstellte. Bei dem Gedanken sträubten sich ihm seine Nackenhaare.
Scheiße.
»Du verdammter Quälgeist!«, beschimpfte er die abwesende Allie. Weiterhin leise vor sich hin fluchend, marschierte er aus dem Haus und stieg in seinen Wagen. Er würde zu ihr nach Arlington fahren, das nur etwa eine Viertelstunde entfernt war. Falls sie Keith die schlechten Nachrichten noch nicht gebeichtet haben sollte, würde er ihr zur Seite stehen, während sie das tat. Und wenn sie es ihm bereits gebeichtet hätte und Keith so fuchsteufelswild sein würde, wie Nick es erwartete, dann würde er ihr auch dabei zur Seite stehen.
Was soll's. Sie war nun mal seine Schwester.
Blut ist dicker als Wasser. Diesen Spruch hatte seine Mutter gern von sich gegeben, wenn sie betrunken und schwankend in einem der Wohnwagen stand, in denen Allie und er groß geworden waren. Meist sagte sie das, bevor sie ihn losschickte, um Allie zu suchen, seine schöne, labile, vier Jahre ältere Schwester, deren Anfälligkeit für alle Arten von Drogen sich bereits im Alter von zwölf Jahren manifestiert hatte. Er war der stabile Teil des Trios gewesen, derjenige, der dieses beschissene Leben mit gnadenlosem Blick analysiert und sich geschworen hatte, es besser zu machen. Er entfloh der offenbar familiären Neigung zu Drogen und Alkohol, indem er nicht trank, sich nicht mit Rauschgift die Sinne vernebelte, sondern nichts anderes machte, als hart zu arbeiten, damit sie es alle irgendwann besser haben würden. Unglücklicherweise starb seine Mutter noch während er auf dem College war. Doch sobald er seinen Abschluss in der Tasche hatte, machte er seinen Schwur wahr: Er holte Allie, die bereits einen Ehemann verschlissen hatte, aus dem verwahrlosten Umfeld von Georgia heraus und brachte sie nach Virginia, wo er gerade eine Stelle beim FBI angetreten hatte.
Eine Weile lang war für sie beide alles bestens gelaufen. Beflügelt durch diese Chance auf einen Neubeginn, nahm Allie einen Job an und blieb clean - jedenfalls, soweit Nick es wusste. Im nüchternen Zustand war Allie ein bezauberndes Wesen mit einem fröhlichen, überschäumenden Naturell, das andere Menschen anzog wie ein Magnet. Zudem war sie auch schön, eine große, schlanke, blauäugige Blondine mit den feinen, erlesenen Zügen eines Models.
Durch Nick lernte Allie Keith kennen, Nicks Kollegen, der ihm in der FBI-Hierarchie ein paar Jahre voraus war. Nick hatte wirklich gehofft, diese Beziehung würde für Allie die Rettung bedeuten. Dass ihre Liebe zu Keith ihr die Kraft gäbe, ihre Sucht zu überwinden. Zu seiner Schande musste er gestehen, dass er Keith gegenüber nicht ein Sterbenswörtchen von Allies Problemen erwähnt hatte. Wie auch? Sie war seine Schwester.
Das war vor ungefähr fünfzehn Jahren gewesen. Inzwischen war Keith Teil der Familie, und es war ihm hoch anzurechnen, dass er nicht ein einziges Mal zu Nick gesagt hatte: »Warum hast du mir nichts davon erzählt?« Denn natürlich war Allie, die schöne, labile Allie im Lauf der Jahre rückfällig geworden. Sie hatte den Anforderungen des täglichen Lebens nicht ohne, wie sie es nannte, »kleine Helferchen« standhalten können. Manchmal dröhnte sie sich mit Alkohol zu, manchmal mit Drogen, manchmal mit beidem. Doch zwischen diesen Phasen war es Nick und Keith immer gelungen, sie in die Normalität zurückzuholen und ihre Eskapaden geheim zu halten.
So wie er hoffte - nein, betete -, dass ihnen das auch dieses Mal gelingen möge.
Als er in Arlington, dem teuren Vorort von Washington, D.C., ankam, war es kurz vor Mitternacht. Seine Schwester wohnte in einer ruhigen Straße mit großen Häusern und gepflegten Gärten, in denen hundertjährige Eichen Schatten spendeten. Als Allie und Keith das Haus gekauft hatten, planten sie, es mit Kindern zu füllen. Die Kinder waren bisher ausgeblieben, aber Allie hatte mit ihren einundvierzig Jahren die Hoffnung noch nicht aufgegeben.
Um diese späte Stunde sollte es in dieser Wohngegend ruhig und dunkel sein. Doch sobald Nick in Allies Straße einbog, wurde er von Lichtern und Lärm überrumpelt, einer geschäftigen Aktivität, die sich, wie er beim Näherkommen entdeckte, auf das Haus seiner Schwester konzentrierte.
»Oh, verdammt!«, keuchte er, als die Lichter sich als die blitzenden Stroboskoplichter von Einsatzfahrzeugen herauskristallisierten - Polizeiautos, ein Ambulanzwagen und sogar ein Feuerwehrauto, das seitlich auf dem Rasen parkte, was seiner Schwester sicher nicht recht wäre. Der Lärm entpuppte sich als Sirenengeheul und die Aktivität als herumrennende Einsatzkräfte, Nachbarn und Gott weiß welche Leute, die in und um das Haus herumschwirrten.
Das hell erleuchtet war.
Sein Mund wurde trocken. Sein Puls raste. Sein Herz hämmerte gegen die Brust.
Ohne sich einen Deut darum zu scheren, dass Allie stocksauer sein würde, parkte er auf dem Rasen, weil das der einzige freie Platz war, und rannte zur Haustür. Nur die innere Glastür, die zur Sturmsicherung diente, war geschlossen. Die wuchtige, mit Holzschnitzereien versehene Eingangstür stand weit offen, gewährte allen Zugang, die eintreten wollten.
Nick trat ein. Nach zwei raschen Schritten durch die Eingangsdiele ging er nach rechts in das geräumige, geschmackvoll eingerichtete Wohnzimmer. Dort fand er zwei uniformierte Cops vor, die untätig herumstanden, ein kleines Grüppchen von Leuten, womöglich Nachbarn, die die Köpfe zusammensteckten und sich leise unterhielten, und einige offiziell aussehende Typen in Mänteln und Krawatten, die Nick vor Aufregung nicht einordnen konnte. In einer Ecke des Raums entdeckte er Keith, der gerade mit einer uniformierten Polizistin redete. Während er sprach, machte sich die Polizistin Notizen auf ein Klemmbrett. Mit raschem Blick musterte Nick seinen fünfundvierzigjährigen Schwager und stellte fest, dass Keith noch dieselbe Hose und dasselbe weiße Hemd trug wie tagsüber im Büro, nur hatte er jetzt Mantel und Krawatte abgelegt. Sein schütteres mittelbraunes Haar war zerzaust.
Irgendetwas Schlimmes war passiert, so viel stand fest.
»Keith! Wo ist Allie?«, fragte Nick ohne Umschweife, sobald er sich Keith auf Hörweite genähert hatte. Seine Stimme war laut, scharf. Alle sahen ihn an - die Polizistin mit dem Klemmbrett, die offiziellen Typen, die Nachbarn, sein Schwager. Nick stellte fest, dass Keiths stumpfnasiges, kantiges und normalerweise gesund gerötetes Gesicht jede Farbe verloren hatte. Seine Augen waren geschwollen und rotgerändert. Seine Nasenspitze war gerötet.
»O mein Gott, Nick!«, stöhnte Keith und vergrub das Gesicht in den Händen. Seine Schultern bebten. Mit einem flauen Gefühl, als habe er gerade einen Schlag in die Magengrube erhalten, wurde Nick klar, dass Keith weinte.
»Wo ist Allie?«, herrschte er ihn an. Panik überfiel ihn. Unbewusst ballte er die Hände zu Fäusten.
Keith schluchzte. Die Polizistin mit dem Klemmbrett und ein offiziell aussehender Typ bewegten sich gleichzeitig auf Nick zu. Ihre Mienen kündeten von den schlechten Nachrichten, die sie zu übermitteln hatten.
Doch noch ehe sie bei ihm waren, hörte Nick etwas anderes. Das Quietschen einer Bahre auf Rädern. Nick drehte sich um und sah, wie die Bahre durch die Diele in Richtung Haustür gerollt wurde. An den Enden wurde das Gefährt von je einem Sanitäter gelenkt. Ein weißes Laken war darüber gebreitet. Und unter dem Laken zeichnete sich deutlich ein Körper ab.
Ein langer, schlanker Körper.
Nick stockte der Atem. Er sprang auf die Bahre zu, ignorierte Keiths Ruf, es bleiben zu lassen, ignorierte die Stimmen und die Hände, die sich nach ihm ausstreckten. Noch ehe ihn jemand davon abhalten konnte, das zu tun, was er unbedingt tun musste, war er auch schon neben der Bahre und riss einen Zipfel des Lakens zurück.
Allie lag ausgestreckt da, ihr blondes Haar ergoss sich auf das weiße Laken unter ihr. Ihre Augen waren weit aufgerissen, glasig, starr und extrem blutunterlaufen. Ihre Haut war grau, ihre geöffneten Lippen purpurrot. An ihrem Hals befanden sich massive Blutergüsse ...
Kalter Schweiß brach ihm aus.
»Allie.« Seine Stimme war heiser. Er wusste natürlich, dass sie nicht antworten würde. Sie war unverkennbar tot. »Allie!«
»Sir!« Empört riss ihm einer der Sanitäter den Lakenzipfel aus seiner plötzlich kraftlosen Hand und drapierte ihn wieder über Allies Gesicht. Dann war Keith bei ihm, gefolgt von der Polizistin mit dem Klemmbrett, legte ihm die Hände auf die Schultern, auf die Arme, und hielt ihn fest, während die Bahre in Richtung Haustür weiterrollte. Nick rührte sich nicht. Er konnte nicht. Starr vor Erschütterung, stand er einfach nur da und sah zu, wie die Leiche seiner Schwester in die Nacht hinausgeschoben wurde.
Er konnte eine Minute da gestanden haben oder eine Stunde. Infolge des schweren Schocks hatte er jedes Zeitgefühl verloren. Aber schließlich gelang es ihm, sich der entsetzlichen Wahrheit zu stellen, wieder einen Gedanken zu fassen, sich wieder zu bewegen, und er wandte sich zu seinem weinenden Schwager um, dessen Hand nach wie vor auf seiner Schulter lag.
»Keith ...« Seine Stimme war ein Krächzen. »Was, zum Teufel ...«
»Sie hat sich erhängt.« Keith schluchzte heftig, fasste sich dann wieder. »Ich kam nach Hause und - oh, mein Gott, da war sie. Ich konnte nichts mehr tun. Sie war bereits t-tot.«
Nick hatte das Gefühl, als würde sich eine Riesenhand um seine Brust spannen und sein Herz zerquetschen. Es tat so weh. So verdammt weh. Er konnte kaum atmen. In seinen Ohren schrillte es. Sein Kopf dröhnte, als würde er jeden Moment bersten.
Allies Stimme hallte in seinem Kopf wider: Ich bin in Schwierigkeiten. Ernsten Schwierigkeiten ...
Das konnte er Keith nicht erzählen, wenn das Zimmer voller Fremder war.
»Komm mit«, sagte er zu Keith und nahm ihn beim Arm. Überall im Haus waren Leute, also zog er seinen Schwager durch die Hintertür auf die gepflasterte Terrasse hinaus, mit der eingebauten Partyküche, in der Allie so gern gefeiert hatte.
Bei der Erinnerung daran blutete ihm das Herz.
»Sie hat mich angerufen«, stieß er rau hervor, sobald sie allein waren, und wiederholte, was Allie gesagt hatte. Die weiche Schönheit der Nacht bot keinen Trost, im Gegenteil: Sie war wie ein Schlag ins Gesicht. Wie konnten die Sterne noch scheinen und die Blumen die Luft mit süßem Duft erfüllen, obwohl Allie tot war?
»Deshalb also.« Wie Nick schien auch Keith Probleme mit der Atmung zu haben. Seine Schultern waren nach vorne gekrümmt, sein Kopf gesenkt. Seine Stimme war keuchend und belegt. »Herrgott, Nick, deshalb hat sie es getan. Weil irgendein mieses Schwein gedroht hat, sie zu erpressen.« Er schnappte nach Luft. »Wer immer es ist, er wird nicht davonkommen. Wir werden ihn schnappen. Und wenn wir ihn geschnappt haben, werden wir seinen Arsch an die Wand nageln.«
Nick sah wieder Allies graues Gesicht auf der Bahre vor sich und merkte, wie sich seine Eingeweide zusammenzogen.
»O ja«, sagte er leise. »Ich werde ihn finden. Verlass dich drauf. Was immer es auch bedarf.«
Es war eher ein Versprechen an seine Schwester als an Keith.
Eine erste jähe Trauer überfiel ihn, bohrte sich mit greller Schärfe durch den Schock hindurch, und er stolperte in den dunklen Garten hinaus und erbrach sich auf dem Rasen.
Kapitel 1
29. Juli 2006
Ihre letzten Gedanken vor dem Sterben waren trivial, und das war Katharine Lawrence auch bewusst. Aber Fakt war nun mal: Ihr Küchenboden war dreckig.
Als sie bäuchlings auf dem harten, kalten Boden lag, die Hände auf dem Rücken mit Klebeband gefesselt, war sie mit ihren dreißig mal dreißig Zentimeter großen Terracotta- Fliesen in so engem, intimem Kontakt wie noch niemals zuvor. Und deshalb waren auch die Fettflecken nicht zu übersehen, die aussahen, als wäre irgendetwas Öliges ausgelaufen und nur schlampig aufgewischt worden. Ebenso die kleinen, schlammigen Pfotenabdrücke - das flache, runde Gesicht ihrer Perserkatze, Muffy, blitzte vor ihrem inneren Auge auf - sowie ein paar eingetrocknete schwärzliche Tropfen, die wie Barbecue-Soße rochen, und eine Reihe unidentifizierbarer Schrammen, Flecken und Schmutz.
Herrgott nochmal, besaß sie denn keinen Schrubber?
»Ich werde Sie noch ein einziges Mal fragen: Wo ist er?«
Die Frage wurde etwa einen Meter über ihrem Kopf von einem über sie gebeugten, großen, muskulösen Mann mit schwarzer Wollmaske in kaltem, drohendem Ton hervorgestoßen. Und durch eine kräftige Faust, die sie schmerzhaft an den Haaren zog, betont. Das Ziehen an ihrer Kopfhaut war jedoch nichts im Vergleich zu dem stechenden Schmerz, der ihren Nacken hinunterschoss, als er ihren Kopf brutal zurückriss, damit er ihr Gesicht sehen konnte, das trotz der leicht gebogenen Nase allgemein als schön galt, wenn es nicht gerade, so wie jetzt, vor Angst verzerrt war. Seine Waffe - eine große silberne Pistole - knallte gegen ihre Schläfe. Der Aufprall von Metall auf Knochen entrang ihr ein Wimmern. Die Mündung der Waffe war hart und kalt wie der Tod.
Seine Augen - haselnussbraun, eng zusammenstehend, mit dichten schwarzen Wimpern, die ihr verrieten, dass er unter der Maske mit nahezu hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit schwarzhaarig war - waren noch härter und kälter.
Als sie dem Blick dieser Augen begegnete, kroch ihr die Angst erneut über den Rücken. Ihr Atem wurde schneller. Ihr Herz, das ohnehin schon heftig schlug, begann wie rasend zu hämmern, bis das wilde Pochen das Summen des Kühlschranks und das leise Zischen der Klimaanlage übertönte - und die raschen Schritte des zweiten Mannes, der ihr Haus Zimmer für Zimmer durchsuchte.
»Ich habe es Ihnen doch bereits gesagt: Es gibt keinen. Er existiert nicht, okay? Sie sind offenbar einer Fehlinformation aufgesessen.«
Sie konnte nichts weiter sagen als das, obwohl sie bereits wusste, dass er ihr nicht glauben würde. Er hatte ihr vorher nicht geglaubt, er würde ihr auch jetzt nicht glauben. Sie drehten sich im Kreis.
Seine Augen verdunkelten sich. Sein Mund, der durch einen Schlitz in der Wollmaske sichtbar war, wurde schmaler. Ihr Magen verkrampfte sich vor Angst.
Würden die Männer sie töten, wenn sie das Gesuchte nicht bekamen?
Ja, lautete die deprimierende Antwort, zu der sie gelangte, als sie sich die bisherige Brutalität des Überfalls vor Augen führte. Die Kälte und Entschlossenheit, mit der die Männer vorgingen, sprachen für sich. Sie war sich so gut wie sicher, dass die beiden Eindringlinge - beide große athletische Typen, die sich in den schwarzen T-Shirts und Trainingshosen gespenstisch ähnelten - nicht die Absicht hatten, sie am Leben zu lassen.
Oder Lisa.
Lisa Abbott, ihre gute Freundin und früher auch Mitglied in derselben Studentinnenvereinigung, hatte, wie es der böse Zufall wollte, ausgerechnet dieses Wochenende gewählt, um Katharine zum ersten Mal seit sieben Jahren zu besuchen; genauer gesagt, seit Katharine mit ihrem funkelnagelneuen Abschlusszeugnis in Politikwissenschaften und dem Kopf voller Weltverbesserungsideale das College verlassen hatte. Katharine hatte Muffy das Wochenende über zu Freunden gebracht - Lisa war allergisch gegen Katzenhaare - und anschließend Lisa um kurz nach siebzehn Uhr vom Dulles Flughafen abgeholt. Sie waren beide aufgeregt gewesen und hatten nonstop gequasselt, um sich gegenseitig auf den neuesten Stand zu bringen. Auf dem Heimweg hatten sie auf einen Drink im Le Bar in Georgetown haltgemacht, waren dann um die Ecke zum Dinner zu Angelo's gegangen und anschließend durch die Bars gezogen. Bei der Ankunft in Katharines elegantem, zweistöckigem Reihenhaus in der historischen Altstadt des D.C.-Bezirks Alexandria, Virginia, war es nach Mitternacht, und sie waren beide mehr als nur angesäuselt gewesen. Nachdem sie mit einem Glas Wein noch einmal auf ihr Wiedersehen angestoßen hatten, waren sie zu Bett gegangen, nicht unbedingt müde, aber komplett betrunken.
Das war vor einigen Stunden gewesen.
Jetzt war Katharine stocknüchtern, und Lisa lag etwa einen Meter von ihr entfernt mit dem Gesicht nach unten auf dem peinlich schmutzigen Boden, die Hände und Füße wie bei Katharine mit Klebeband gefesselt. Ein weiterer Klebestreifen bedeckte Lisas Mund. Das ornamentierte, schmiedeeiserne Unterteil der mit einer Granitplatte ausgestatteten Kücheninsel trennte sie zwar, doch dank der Struktur des offenen Designs konnten sie sich immer noch sehen. Lisas schulterlanges kastanienbraunes Haar lag über ihrem Gesicht, aber dennoch war das entsetzte Flackern in ihren braunen Augen erkennbar. Ihr gelbes, bodenlanges Seidennachthemd war bis zu den Knien hochgerutscht und enthüllte das zarte Trio aus miteinander verbundenen Schmetterlingen, das über ihrem linken Fußgelenk tätowiert war. Der gerüschte Saum breitete sich fächerförmig um ihre gebräunten Beine aus wie die Blütenblätter irgendeiner exotischen Blume. Aber wenigstens bot das lange Nachthemd mehr Schutz als Katharines winzige pinkfarbene Boxershorts und das dazu passende Strickhemdchen. Lisa war mit ihren eins siebzig zwei Zenitmeter größer als Katharine. Katharine war die dünnere von beiden, aber Lisa war mit ihrer durchtrainierten Figur mindestens genauso sexy. Selbst als Katharine voller Angst in die kalten, haselnussbraunen Augen über ihr starrte, nahm sie Lisas panisches Hecheln wahr.
Vier Jahre lang haben wir praktisch alles zusammen gemacht, und jetzt, wo wir uns endlich wiedersehen, werden wir vermutlich zusammen sterben, schoss Katharine durch den Kopf. Oh, Gott, ich will nicht sterben. Nicht auf diese Weise. Wir sind noch so jung. Lisa ist gerade dreißig geworden, und ich bin erst neunundzwanzig ...
Sie hatten alles, wofür es sich zu leben lohnte. Alles.
»Eine letzte Chance: Wo ist der verdammte Safe?«
Verzweifelt räusperte sie sich. »Verstehen Sie doch, hier gibt es wirklich keinen Safe. Der Schmuck ist nicht hier. Er gehört mir nicht. Er war geliehen -«
Die Worte erstarben ihr in der Kehle, als der Mann ihr Haar losließ, einen Schritt zurücktrat, die Waffe in den Hosenbund schob und ihr einen Tritt in die Rippen versetzte. Die Stärke war genau dosiert: hart genug, um wehzutun, aber nicht zu fest, um ihr einen echten Schaden zuzufügen.
Dennoch explodierte der Schmerz, breitete sich von der Stelle, wo die Spitze des schwarzen Turnschuhs ihre Rippen getroffen hatte, blitzartig nach allen Seiten aus. Hätte der Schmerz es zugelassen, hätte Katharine geschrien. Stattdessen krümmte sie sich keuchend. Tränen brannten in ihren Augen, liefen über ihre Wangen. Sie konnte die heißen, feuchten Spuren auf ihrer Haut fühlen.
Es tat so schrecklich weh - so schlimm, dass ihr der Atem stockte und ihr der kalte Schweiß auf die Stirn trat. Gezackte Schmerzsplitter schossen wie glühende Pfeile in ihre Organe, ihre Muskeln, ihre Knochen.
»Na, kommen wir jetzt endlich zur Vernunft?« Sein Ton war eher locker als drohend, als er dunkel über ihr aufragte. Gleichwohl war es der entsetzlichste Klang, den sie je vernommen hatte. Nach einem kurzen, angsterfüllten Blick zu ihm hoch kniff sie die Augen fest zusammen und erstarrte zu völliger Reglosigkeit. »Wo ist der Safe?«
Aus Angst vor der Antwort, bemühte sich Katharine nach Kräften, den Mann auszublenden. Zitternd vor Schmerz und Todesangst, zog sie sich in sich selbst zurück. Auf der Haut spürte sie das Kribbeln ihres Schweißes, der ihr aus allen Poren brach. Der Schmerz in ihrer Seite erschwerte ihr nach wie vor das Atmen. In kleinen, vorsichtigen Zügen holte sie Luft und versuchte, wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Sie fror nun, spürte eine eisige Kälte, die nichts mit den ungemütlichen Fliesen unter ihr zu tun hatte oder mit der Klimaanlage, die über ihre schweißnasse Haut blies.
Es war die Kälte der Todesangst.
Sie war sich ziemlich sicher, dass sie nichts sagen oder tun könnte, um das drohende Ende abzuwenden. Dennoch dachte sie fieberhaft nach, ob es nicht etwas gäbe, irgendetwas, das vielleicht die Rettung bringen würde ...
»Antworten Sie!«
Er griff wieder in ihr Haar, und sie öffnete die Augen und schrie auf. Ihre Kopfhaut brannte, als er ihren Kopf nach hinten riss. Ihr Hals fühlte sich an, als würde er abbrechen.
»Wo ist der verdammte Safe?«
Er war nah, furchterregend nah, und beugte sich über sie, während er ihren Kopf zu sich drehte und sie anfunkelte.
Ihre Blicke begegneten sich. Die unmissverständliche Drohung in seinen Augen erfüllte sie mit neuer Panik.
Ihre Lippen zitterten. »Hier ist kein Safe.«
Seine Augen wurden schmal, hart, bis sie diesen brutalen Blick keine Sekunde länger ertragen konnte. Sie presste die Lippen zusammen, schluckte heftig und schloss die Augen wieder. Während sie sich bemühte, wieder zu Atem zu kommen und den Schmerz hinter sich zu lassen, hing sie für einen Moment schlaff an der Hand, die sie noch immer an den Haaren in der Luft hielt. Ihre Kopfhaut prickelte und brannte von seinem groben Griff. Ihr Hals tat weh. Doch auch der schlimmste körperliche Schmerz war nichts im Vergleich zu der wachsenden Panik, die ihren Mund austrocknete, ihren Puls hochjagte und ihren Atem in Keuchlaute verwandelte.
Bitte, lieber Gott, bitte, schick Hilfe ...
Sogar mit geschlossenen Augen konnte sie seinen unablässigen Blick auf ihrem Gesicht spüren.
»Also, allmählich habe ich dieses Spiel satt. Wenn Sie mir nicht sofort sagen, was ich wissen will, könnte ich gute Lust kriegen, Ihre Freundin ein wenig mit dem Messer zu kitzeln. Ihr zum Beispiel einen Finger abschneiden oder ein Ohr.«
Katharine riss die Augen auf und blickte zu Lisa hinüber, die plötzlich erstarrte. Sie schien nicht einmal mehr zu atmen, und wäre da nicht das angstvolle Flackern ihrer Augen gewesen, hätte Katharine geglaubt, ihre Freundin sei ohnmächtig geworden.
»Wollen Sie zuschauen? Wollen Sie sie bluten sehen? Bringt Sie das in Redelaune?«
Katharine holte tief Luft und fand endlich ihre Stimme wieder. Oder wenigstens etwas, das ihrer Stimme ähnelte. Was aus ihrem Mund kam, war leise und zittrig, klang ganz und gar nicht wie ihr normaler flotter Ton, der ihre Herkunft aus Midwest verriet.
»Nein«, flüsterte sie gequält, den Blick weiterhin auf Lisa gerichtet. »Bitte. Sie müssen mir glauben, hier ist kein Safe ...« Ihre Stimme brach ab, als sie sah, wie Lisa zu zittern begann. Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie musste sich anstrengen, um trotz des Kloßes in ihrem Hals zu sprechen. »Wenn es hier einen Safe gäbe oder Schmuck oder irgendetwas anderes von Wert, das ich Ihnen geben könnte, damit Sie weggehen, dann hätte ich Ihnen das gesagt. Das schwöre ich.«
Seine Augen glitzerten unheilvoll. Er spitzte die Lippen. Sein Blick glitt langsam und betont über ihren Körper.
Katharine erschauerte.
»Hm, Sie sind ein wirklich hübsches Mädchen. Vielleicht sollte ich Ihre Freundin in Ruhe lassen und stattdessen Ihnen meine Initialen ins Gesicht ritzen.«
Ihr Magen krampfte sich zusammen, als würde sich eine eiserne Faust darum schließen.
»Nein.« Ihr Flehen klang selbst in ihren Ohren mitleiderregend. »Nein.«
Seine Drohung war vor allem deswegen so verstörend, weil er sie in einem leisen, unbeteiligten Ton ausgesprochen hatte. Alles, was passiert war, hatte sich in albtraumhafter Stille zugetragen. Bevor er sie überwältigte, hatte sie die Augen eine Nanosekunde vorher geöffnet und gesehen, wie in dem dunklen Schlafzimmer ein Mann auf ihr Bett zuschlich. Der Angstschrei, der sich ihrer Kehle entrang, war das einzige laute Geräusch gewesen. Leider nicht laut genug, um darauf zu hoffen, dass ihn außerhalb dieser vier Wände jemand gehört und die Polizei gerufen hatte.
Lisa, die im Gästezimmer geschlafen hatte, und sie waren nach unten in die Küche geschleift, auf den Boden geworfen und brutal gefesselt worden. Vergewaltigung war Katharines erster Gedanke gewesen, doch das war nicht geschehen. Ein sexueller Übergriff schien das Letzte zu sein, was diese Männer im Sinn hatten.
Vielmehr hatten sie es, wie sie mehr als deutlich zu verstehen gaben, auf den Inhalt eines Safes abgesehen, der angeblich irgendwo im Haus versteckt war. In dem Safe schienen sie Schmuck im Wert von Hunderttausenden von Dollar zu erwarten. Normale Einbrecherbeute wie das Fernsehgerät mit Plasmabildschirm im Wohnzimmer und der Laptop im Arbeitszimmer interessierte die beiden offenbar nicht. Entsprechend rührten sie auch den Schmuck nicht an, den die beiden Frauen trugen. Sie hatten Lisas bescheidenen Diamantanhänger genauso ignoriert wie Katharines weitaus wertvollere Diamantohrstecker und den großen, oval geschliffenen Saphirring, den sie sich selbst zum letzten Geburtstag geschenkt hatte.
Seit Lisa und sie in der Küche lagen, hatten die Männer Lisa mehr oder weniger sich selbst überlassen. Es war Katharine, die sie terrorisiert, ausgefragt und bedroht hatten, um ihr das Versteck des nicht existierenden (jedenfalls, soweit sie das wusste) Safes zu entlocken.
Komisch war, dass sie ihren Namen von Anfang an gekannt hatten. Das war ihr voller Schrecken bewusst geworden, nachdem sich der erste Nebel blinder Panik weit genug gelichtet hatte, um nachdenken zu können. Dies war kein zufälliger Einbruch; er hatte ganz gezielt sie im Visier und war sorgfältig geplant, obwohl sie den Eindruck hatte, dass Lisas Anwesenheit für die Männer eine Überraschung gewesen war. Offenbar hatten sie damit gerechnet, sie allein anzutreffen.
Aus einigen Bemerkungen der Einbrecher schloss sie, dass sie das Foto von ihr gesehen hatten, das letzte Woche in der Washington Post abgebildet gewesen war und das ihr bereits vor diesem Albtraum eine Menge Scherereien eingebracht hatte. Sie hatte von dem Foto gar nichts geahnt, bis sie es dann in der Zeitung entdeckte. Auf dem Bild war sie gerade zur Dinnerparty bei einem von Washingtons Top- Lobbyisten unterwegs und trug ein verführerisches weißes Dior-Abendkleid sowie atemberaubenden Schmuck, der ein Vermögen wert war. Vermutlich ging nun in Einbrecherkreisen das Gerücht um, dass diese unbezahlbar teuren Juwelen und andere vergleichbar wertvolle Dinge bei ihr zu Hause in diesem ominösen Safe aufbewahrt wurden.
Von wegen.
Der Schmuck, den sie auf dem Foto trug, gehörte ihr gar nicht. Er war ihr eigens für diesen Anlass geliehen worden. Neben dem Ring und den Ohrringen, die sie gerade trug, besaß sie nur die wenigen wertlosen Schmuckstücke in dem ledernen Schmuckkästchen auf ihrer Kommode. Bis Ende letzten Herbstes hatte sie ausschließlich von dem Gehalt einer Regierungsangestellten gelebt, welches, sofern das überhaupt erwähnt werden musste, nicht gerade üppig war. Jedenfalls nicht annähernd so hoch, um sich solche Klunker leisten zu können, wie sie die Einbrecher bei ihr vermuteten.
Und genau das hatte sie versucht, ihnen klarzumachen. Leider wollten sie ihr nicht glauben, obwohl es die reine Wahrheit war.
Während der Einbrecher, der ihren Kopf gerade an den Haaren nach oben riss, sich nach Kräften bemüht hatte, ihr eine Information, die sie nicht besaß, zu entlocken, hatte der andere ihr Haus verwüstet. Unter gedämpftem Gepolter und Geklapper hatte er das Haus auseinandergenommen, Bücher von den Regalen gefegt, Bilder von den Wänden gerissen, Möbel umgeworfen und die teuren Orientteppiche weggeschoben, die das glänzend polierte Parkett bedeckten. Wäre ihr Nachbar, ein Arzt, dessen Name Katharine im Moment nicht einfiel, zu Hause gewesen, hätte er womöglich etwas gehört. Doch als Lisa und sie nachts zurückgekommen waren, waren die Fenster seines Hauses dunkel gewesen, und Katharine wusste, dass er an den Wochenenden häufig verreist war. Ihre Nachbarin zur anderen Seite hin wiederum, eine junge Abgeordnete, weilte definitiv bis Ende August bei ihren Eltern in Minnesota. Möglicherweise war das Anwaltspärchen, das im letzten der vier Reihenhäuser wohnte, zu Hause - jedenfalls hatten die beiden nicht erzählt, dass sie irgendwohin fahren wollten. Aber warum hätten sie das auch tun sollen? Andererseits schien es völlig egal zu sein, ob die Leute da waren oder nicht: Bisher hatte noch kein neugieriger Nachbar angerufen, um sich zu erkundigen, was es mit dem Tumult mitten in der Nacht auf sich hatte. Es waren auch keine Sirenen zu hören gewesen, kein Hämmern an der Haustür, keine gebrüllten Befehle, die Tür zu öffnen. Was nachbarliche Einmischung betraf, so war diese, kurz gesagt, gleich null. Sollten der Arzt oder die Anwälte tatsächlich zu Hause sein, so bekamen sie von den Vorgängen anscheinend genauso wenig mit wie der nachtschwarze Potomac, der verschlafen jenseits der kopfsteingepflasterten Straße entlangfloss.
Laut der Uhr an der schwarzen Vorderseite des Mikrowellenherds, der in einer der freigelegten, unverputzten Ziegelwände der erst vor Kurzem renovierten Küche eingebaut war, war es ein Uhr sieben. Es war Samstag, der neunundzwanzigste Juli. Washington - zumindest das offizielle Washington - war in den Sommerferien. Das bedeutete, dass sich in Old Town gegenwärtig kaum Menschen befanden. Katharines Straße, in der einige der weniger bedeutenden Regierungsangestellten wohnten, war jedenfalls halb leer. Ihr Reihenhaus - das hübsche, alte Haus - war komplett saniert und mit einem hochmodernen Sicherheitssystem ausgestattet worden. Deswegen hatte Katharine es auch bis vor zwanzig Minuten für völlig sicher gehalten. Doch nun wirkte es so abgeschieden wie eine Blockhütte im tiefen Wald.
Mit anderen Worten, Lisa - die arme, unschuldige Lisa, die einfach nur das falsche Wochenende für ihren Besuch gewählt hatte - und sie waren ganz auf sich gestellt.
»Katharine. Ich will weder Ihnen noch Ihrer Freundin wehtun.« Sein Ton war beinahe sanft. Seine Augen nicht.
Sie nahm einen zitternden Atemzug. Als sie sprach, war ihre Stimme kräftiger als vorher. »Dann lassen Sie es doch.«
Er blinzelte langsam wie eine träge Schildkröte. Dann griff er mit einer bedächtigen Bewegung in seine Tasche und zog ein Messer hervor. Ein silbernes Messer, schmal und harmlos aussehend, etwa fünfzehn Zentimeter lang. Es war keine scharfe Klinge zu sehen, aber Katharine erkannte mit einem Blick, worum es sich handelte: ein Schnappmesser.
Entsetzen erfasste sie. Ihre Kehle schnürte sich zusammen, während ihr Blick wie gebannt auf dem Messer haften blieb. Er brauchte nur auf den Knopf zu drücken ...
»Sie lassen mir keine Wahl, Katharine, deshalb werden Sie Ihren Kopf hinhalten müssen. Wenn Sie mir nicht sagen, wo der Safe ist, werde ich Ihr hübsches Gesicht wie eine Kürbislaterne zurechtschnitzen.«
Trotz dieser grausamen Drohung konnte sie ihm nur eine Antwort geben - dieselbe, die sie ihm schon die ganze Zeit über gegeben hatte.
Verzweifelt schüttelte sie den Kopf, deutete ohne Worte an, was sie gleich darauf laut aussprach: »Hier ... gibt ... es ... keinen ... Safe. Bitte, glauben Sie mir. Wie ich bereits sagte, sind Sie einem Irrtum erlegen.«
Eine tödliche Stille trat ein.
»Dummes Miststück«, sagte er, und das Fehlen jeglicher Emotion in seiner Stimme, ließ die Worte noch brutaler klingen.
»Es ist die Wahrheit.« Ihre Stimme bebte vor Hilflosigkeit. »Wirklich. Das ist ein ganz normales, gemietetes Reihenhaus. Warum sollte hier ein Safe versteckt sein?«
Sie vernahm das helle Klicken des Messers einen Sekundenbruchteil, bevor sie die Klinge aus dem Gehäuse springen sah. Das Licht aus den in die Decke versenkten Lichtquellen ließ die geschliffene Klinge bösartig aufglitzern. Das Messer war, wie sie sehen konnte, skalpellscharf. Den Blick darauf geheftet, nahm sie einen tiefen, zitternden Atemzug.
»Das wird Ihnen auch nicht weiterhelfen«, sagte sie. »Ich kann Ihnen nichts verraten, was ich nicht weiß.«
Er beugte sich näher zu ihr hinunter. Sein Gesicht war nur Zentimeter von ihrem entfernt, nah genug, um die geplatzten Äderchen in seinen blutunterlaufenen Augen zu sehen und den schwachen Knoblauchgeruch in seinem Atem zu riechen. Plötzlich lächelte er. Ein kleines, böses Lächeln. Von einem jähen Schwindel erfasst, nahm sie ein seltsames Rauschen wahr und erkannte erst nach einigen Sekunden, dass es ihr eigenes Blut war, das wie ein Wasserfall in ihren Ohren dröhnte. »Hier gibt es sehr wohl einen Safe, weil Ihr Freund ihn hier versteckt hat«, sagte er.
© der deutschsprachigen Ausgabe 2009 by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House
»Irgendein Mann hat mich angerufen und gesagt, dass Keith wegen mir seinen Job verlieren wird. Er meinte, wenn ich ihm nicht die Kopien aller Unterlagen verschaffe, die Keith über einen bestimmten Bundesrichter gesammelt hat, gegen den ihr Jungs ermittelt, wird er den Leuten, die für Sicherheitsfragen zuständig sind, stecken, dass ich« - an dieser Stelle brach die Stimme seiner Schwester ab - »auf Drogen bin.«
»Oh, Scheiße!« Nick nahm die Hand vom Nacken und starrte stirnrunzelnd auf das Telefon. Das war ihr kleines schmutziges Familiengeheimnis, das er, Allison und ihr Mann, Keith Clark - Leiter des FBI-Programms gegen White-Collar-Kriminalität und zufälligerweise auch Nicks Boss -, hüteten wie ein Kobold seinen Goldtopf. Wenn die Neigungen seiner Schwester - sie war Alkoholikerin, die auch bei keiner anderen Droge Nein sagte, wiewohl Kokain ihre erste Wahl war - herauskämen, würde Keith vermutlich gefeuert werden. Ein Beamter der Bundespolizei, der durch seine Frau erpressbar war, konnte unmöglich im Amt bleiben.
Und jetzt war es so weit. Jemand wollte sie erpressen. »Kannst du kommen? Jetzt gleich? Ich brauche dich unbedingt. Ich weiß wirklich nicht weiter. Okay, ich sollte nicht so schwach sein bei ... bei so Sachen, aber ich ... ich kann nicht anders. Ich habe Angst, Nick. Schreckliche Angst.« Der Piepston des Anrufbeantworters unterbrach das Geräusch ihres leisen Weinens.
»Verdammt, Allie!« Nick schlug mit der flachen Hand auf die Küchentheke. Sie war nicht so robust, wie sie aussah - er wollte die Küche schon seit fünf Jahren, seit er das Haus gekauft hatte, renovieren. Deshalb begann alles, was darauf stand, zu wackeln, einschließlich des Goldfischglases. Seine beiden Goldfische, Bill und Ted, bedachten ihn mit vorwurfsvollen Blicken. Der Vorwurf in ihren vorquellenden Augen könnte sich natürlich auch darauf beziehen, dass die Schachtel mit Fischfutter direkt vor seiner Nase stand und er bis jetzt noch keine Anstalten gemacht hatte, seiner Fütterpflicht nachzukommen. Bill und Ted waren sehr pedantisch. (Er war zu ihnen gekommen wie die sprichwörtliche Jungfrau zum Kind, als er vor zwei Jahren in einem Anflug von Irrsinn eine Frau mit ihrem sechsjährigen Sohn zu einem kinderfreundlichen Rendezvous auf ein Volksfest eingeladen hatte. Auf Drängen des Jungen hin hatte er die beiden Fische für ihn gewonnen, indem er für ungefähr vierzig Dollar Pingpongbälle in Richtung des Goldfischglases warf. Leider nur mit dem Erfolg, dass die Frau, die er eigentlich hatte beeindrucken wollen, sagte, sie wolle keine stinkenden Fische in ihrem Haus haben.) Wie auch immer, die Fische bestanden auf ihren paar Kubikzentimetern Platz und einem sauberen Glas. Abgesehen davon waren sie traumhafte Wohngenossen. Sie waren ruhig, nie schlecht gelaunt und hatten immer ein offenes Ohr für ihn.
Als Belohnung für ihre Geduld nahm er eine Prise Fischfutter aus der Schachtel und streute es über die Wasseroberfläche. Während die Fische gierig nach den weißen Flocken schnappten, kehrten seine Gedanken wieder zu seiner Schwester zurück.
Zunächst versuchte er, sie auf ihrem Handy zu erreichen. Keine Antwort. Er überlegte, sie auf dem Festnetzanschluss anzurufen oder auf dem Handy seines Schwagers, doch falls Allie bisher noch nicht den Mut gehabt haben sollte, Keith einzuweihen, könnte das problematisch werden. Die Nachricht war knapp eine halbe Stunde alt, was zeitlich in etwa hinkam, weil ihm vor einer Stunde in dem Durcheinander des Geiselszenarios sein Handy aus der Tasche gefallen und kaputtgegangen war. Als echte Nachteule ging Allie nie vor ein Uhr ins Bett, was bedeutete, dass sie höchstwahrscheinlich noch wach war - irgendwo. Und gerade, wer weiß was, anstellte. Bei dem Gedanken sträubten sich ihm seine Nackenhaare.
Scheiße.
»Du verdammter Quälgeist!«, beschimpfte er die abwesende Allie. Weiterhin leise vor sich hin fluchend, marschierte er aus dem Haus und stieg in seinen Wagen. Er würde zu ihr nach Arlington fahren, das nur etwa eine Viertelstunde entfernt war. Falls sie Keith die schlechten Nachrichten noch nicht gebeichtet haben sollte, würde er ihr zur Seite stehen, während sie das tat. Und wenn sie es ihm bereits gebeichtet hätte und Keith so fuchsteufelswild sein würde, wie Nick es erwartete, dann würde er ihr auch dabei zur Seite stehen.
Was soll's. Sie war nun mal seine Schwester.
Blut ist dicker als Wasser. Diesen Spruch hatte seine Mutter gern von sich gegeben, wenn sie betrunken und schwankend in einem der Wohnwagen stand, in denen Allie und er groß geworden waren. Meist sagte sie das, bevor sie ihn losschickte, um Allie zu suchen, seine schöne, labile, vier Jahre ältere Schwester, deren Anfälligkeit für alle Arten von Drogen sich bereits im Alter von zwölf Jahren manifestiert hatte. Er war der stabile Teil des Trios gewesen, derjenige, der dieses beschissene Leben mit gnadenlosem Blick analysiert und sich geschworen hatte, es besser zu machen. Er entfloh der offenbar familiären Neigung zu Drogen und Alkohol, indem er nicht trank, sich nicht mit Rauschgift die Sinne vernebelte, sondern nichts anderes machte, als hart zu arbeiten, damit sie es alle irgendwann besser haben würden. Unglücklicherweise starb seine Mutter noch während er auf dem College war. Doch sobald er seinen Abschluss in der Tasche hatte, machte er seinen Schwur wahr: Er holte Allie, die bereits einen Ehemann verschlissen hatte, aus dem verwahrlosten Umfeld von Georgia heraus und brachte sie nach Virginia, wo er gerade eine Stelle beim FBI angetreten hatte.
Eine Weile lang war für sie beide alles bestens gelaufen. Beflügelt durch diese Chance auf einen Neubeginn, nahm Allie einen Job an und blieb clean - jedenfalls, soweit Nick es wusste. Im nüchternen Zustand war Allie ein bezauberndes Wesen mit einem fröhlichen, überschäumenden Naturell, das andere Menschen anzog wie ein Magnet. Zudem war sie auch schön, eine große, schlanke, blauäugige Blondine mit den feinen, erlesenen Zügen eines Models.
Durch Nick lernte Allie Keith kennen, Nicks Kollegen, der ihm in der FBI-Hierarchie ein paar Jahre voraus war. Nick hatte wirklich gehofft, diese Beziehung würde für Allie die Rettung bedeuten. Dass ihre Liebe zu Keith ihr die Kraft gäbe, ihre Sucht zu überwinden. Zu seiner Schande musste er gestehen, dass er Keith gegenüber nicht ein Sterbenswörtchen von Allies Problemen erwähnt hatte. Wie auch? Sie war seine Schwester.
Das war vor ungefähr fünfzehn Jahren gewesen. Inzwischen war Keith Teil der Familie, und es war ihm hoch anzurechnen, dass er nicht ein einziges Mal zu Nick gesagt hatte: »Warum hast du mir nichts davon erzählt?« Denn natürlich war Allie, die schöne, labile Allie im Lauf der Jahre rückfällig geworden. Sie hatte den Anforderungen des täglichen Lebens nicht ohne, wie sie es nannte, »kleine Helferchen« standhalten können. Manchmal dröhnte sie sich mit Alkohol zu, manchmal mit Drogen, manchmal mit beidem. Doch zwischen diesen Phasen war es Nick und Keith immer gelungen, sie in die Normalität zurückzuholen und ihre Eskapaden geheim zu halten.
So wie er hoffte - nein, betete -, dass ihnen das auch dieses Mal gelingen möge.
Als er in Arlington, dem teuren Vorort von Washington, D.C., ankam, war es kurz vor Mitternacht. Seine Schwester wohnte in einer ruhigen Straße mit großen Häusern und gepflegten Gärten, in denen hundertjährige Eichen Schatten spendeten. Als Allie und Keith das Haus gekauft hatten, planten sie, es mit Kindern zu füllen. Die Kinder waren bisher ausgeblieben, aber Allie hatte mit ihren einundvierzig Jahren die Hoffnung noch nicht aufgegeben.
Um diese späte Stunde sollte es in dieser Wohngegend ruhig und dunkel sein. Doch sobald Nick in Allies Straße einbog, wurde er von Lichtern und Lärm überrumpelt, einer geschäftigen Aktivität, die sich, wie er beim Näherkommen entdeckte, auf das Haus seiner Schwester konzentrierte.
»Oh, verdammt!«, keuchte er, als die Lichter sich als die blitzenden Stroboskoplichter von Einsatzfahrzeugen herauskristallisierten - Polizeiautos, ein Ambulanzwagen und sogar ein Feuerwehrauto, das seitlich auf dem Rasen parkte, was seiner Schwester sicher nicht recht wäre. Der Lärm entpuppte sich als Sirenengeheul und die Aktivität als herumrennende Einsatzkräfte, Nachbarn und Gott weiß welche Leute, die in und um das Haus herumschwirrten.
Das hell erleuchtet war.
Sein Mund wurde trocken. Sein Puls raste. Sein Herz hämmerte gegen die Brust.
Ohne sich einen Deut darum zu scheren, dass Allie stocksauer sein würde, parkte er auf dem Rasen, weil das der einzige freie Platz war, und rannte zur Haustür. Nur die innere Glastür, die zur Sturmsicherung diente, war geschlossen. Die wuchtige, mit Holzschnitzereien versehene Eingangstür stand weit offen, gewährte allen Zugang, die eintreten wollten.
Nick trat ein. Nach zwei raschen Schritten durch die Eingangsdiele ging er nach rechts in das geräumige, geschmackvoll eingerichtete Wohnzimmer. Dort fand er zwei uniformierte Cops vor, die untätig herumstanden, ein kleines Grüppchen von Leuten, womöglich Nachbarn, die die Köpfe zusammensteckten und sich leise unterhielten, und einige offiziell aussehende Typen in Mänteln und Krawatten, die Nick vor Aufregung nicht einordnen konnte. In einer Ecke des Raums entdeckte er Keith, der gerade mit einer uniformierten Polizistin redete. Während er sprach, machte sich die Polizistin Notizen auf ein Klemmbrett. Mit raschem Blick musterte Nick seinen fünfundvierzigjährigen Schwager und stellte fest, dass Keith noch dieselbe Hose und dasselbe weiße Hemd trug wie tagsüber im Büro, nur hatte er jetzt Mantel und Krawatte abgelegt. Sein schütteres mittelbraunes Haar war zerzaust.
Irgendetwas Schlimmes war passiert, so viel stand fest.
»Keith! Wo ist Allie?«, fragte Nick ohne Umschweife, sobald er sich Keith auf Hörweite genähert hatte. Seine Stimme war laut, scharf. Alle sahen ihn an - die Polizistin mit dem Klemmbrett, die offiziellen Typen, die Nachbarn, sein Schwager. Nick stellte fest, dass Keiths stumpfnasiges, kantiges und normalerweise gesund gerötetes Gesicht jede Farbe verloren hatte. Seine Augen waren geschwollen und rotgerändert. Seine Nasenspitze war gerötet.
»O mein Gott, Nick!«, stöhnte Keith und vergrub das Gesicht in den Händen. Seine Schultern bebten. Mit einem flauen Gefühl, als habe er gerade einen Schlag in die Magengrube erhalten, wurde Nick klar, dass Keith weinte.
»Wo ist Allie?«, herrschte er ihn an. Panik überfiel ihn. Unbewusst ballte er die Hände zu Fäusten.
Keith schluchzte. Die Polizistin mit dem Klemmbrett und ein offiziell aussehender Typ bewegten sich gleichzeitig auf Nick zu. Ihre Mienen kündeten von den schlechten Nachrichten, die sie zu übermitteln hatten.
Doch noch ehe sie bei ihm waren, hörte Nick etwas anderes. Das Quietschen einer Bahre auf Rädern. Nick drehte sich um und sah, wie die Bahre durch die Diele in Richtung Haustür gerollt wurde. An den Enden wurde das Gefährt von je einem Sanitäter gelenkt. Ein weißes Laken war darüber gebreitet. Und unter dem Laken zeichnete sich deutlich ein Körper ab.
Ein langer, schlanker Körper.
Nick stockte der Atem. Er sprang auf die Bahre zu, ignorierte Keiths Ruf, es bleiben zu lassen, ignorierte die Stimmen und die Hände, die sich nach ihm ausstreckten. Noch ehe ihn jemand davon abhalten konnte, das zu tun, was er unbedingt tun musste, war er auch schon neben der Bahre und riss einen Zipfel des Lakens zurück.
Allie lag ausgestreckt da, ihr blondes Haar ergoss sich auf das weiße Laken unter ihr. Ihre Augen waren weit aufgerissen, glasig, starr und extrem blutunterlaufen. Ihre Haut war grau, ihre geöffneten Lippen purpurrot. An ihrem Hals befanden sich massive Blutergüsse ...
Kalter Schweiß brach ihm aus.
»Allie.« Seine Stimme war heiser. Er wusste natürlich, dass sie nicht antworten würde. Sie war unverkennbar tot. »Allie!«
»Sir!« Empört riss ihm einer der Sanitäter den Lakenzipfel aus seiner plötzlich kraftlosen Hand und drapierte ihn wieder über Allies Gesicht. Dann war Keith bei ihm, gefolgt von der Polizistin mit dem Klemmbrett, legte ihm die Hände auf die Schultern, auf die Arme, und hielt ihn fest, während die Bahre in Richtung Haustür weiterrollte. Nick rührte sich nicht. Er konnte nicht. Starr vor Erschütterung, stand er einfach nur da und sah zu, wie die Leiche seiner Schwester in die Nacht hinausgeschoben wurde.
Er konnte eine Minute da gestanden haben oder eine Stunde. Infolge des schweren Schocks hatte er jedes Zeitgefühl verloren. Aber schließlich gelang es ihm, sich der entsetzlichen Wahrheit zu stellen, wieder einen Gedanken zu fassen, sich wieder zu bewegen, und er wandte sich zu seinem weinenden Schwager um, dessen Hand nach wie vor auf seiner Schulter lag.
»Keith ...« Seine Stimme war ein Krächzen. »Was, zum Teufel ...«
»Sie hat sich erhängt.« Keith schluchzte heftig, fasste sich dann wieder. »Ich kam nach Hause und - oh, mein Gott, da war sie. Ich konnte nichts mehr tun. Sie war bereits t-tot.«
Nick hatte das Gefühl, als würde sich eine Riesenhand um seine Brust spannen und sein Herz zerquetschen. Es tat so weh. So verdammt weh. Er konnte kaum atmen. In seinen Ohren schrillte es. Sein Kopf dröhnte, als würde er jeden Moment bersten.
Allies Stimme hallte in seinem Kopf wider: Ich bin in Schwierigkeiten. Ernsten Schwierigkeiten ...
Das konnte er Keith nicht erzählen, wenn das Zimmer voller Fremder war.
»Komm mit«, sagte er zu Keith und nahm ihn beim Arm. Überall im Haus waren Leute, also zog er seinen Schwager durch die Hintertür auf die gepflasterte Terrasse hinaus, mit der eingebauten Partyküche, in der Allie so gern gefeiert hatte.
Bei der Erinnerung daran blutete ihm das Herz.
»Sie hat mich angerufen«, stieß er rau hervor, sobald sie allein waren, und wiederholte, was Allie gesagt hatte. Die weiche Schönheit der Nacht bot keinen Trost, im Gegenteil: Sie war wie ein Schlag ins Gesicht. Wie konnten die Sterne noch scheinen und die Blumen die Luft mit süßem Duft erfüllen, obwohl Allie tot war?
»Deshalb also.« Wie Nick schien auch Keith Probleme mit der Atmung zu haben. Seine Schultern waren nach vorne gekrümmt, sein Kopf gesenkt. Seine Stimme war keuchend und belegt. »Herrgott, Nick, deshalb hat sie es getan. Weil irgendein mieses Schwein gedroht hat, sie zu erpressen.« Er schnappte nach Luft. »Wer immer es ist, er wird nicht davonkommen. Wir werden ihn schnappen. Und wenn wir ihn geschnappt haben, werden wir seinen Arsch an die Wand nageln.«
Nick sah wieder Allies graues Gesicht auf der Bahre vor sich und merkte, wie sich seine Eingeweide zusammenzogen.
»O ja«, sagte er leise. »Ich werde ihn finden. Verlass dich drauf. Was immer es auch bedarf.«
Es war eher ein Versprechen an seine Schwester als an Keith.
Eine erste jähe Trauer überfiel ihn, bohrte sich mit greller Schärfe durch den Schock hindurch, und er stolperte in den dunklen Garten hinaus und erbrach sich auf dem Rasen.
Kapitel 1
29. Juli 2006
Ihre letzten Gedanken vor dem Sterben waren trivial, und das war Katharine Lawrence auch bewusst. Aber Fakt war nun mal: Ihr Küchenboden war dreckig.
Als sie bäuchlings auf dem harten, kalten Boden lag, die Hände auf dem Rücken mit Klebeband gefesselt, war sie mit ihren dreißig mal dreißig Zentimeter großen Terracotta- Fliesen in so engem, intimem Kontakt wie noch niemals zuvor. Und deshalb waren auch die Fettflecken nicht zu übersehen, die aussahen, als wäre irgendetwas Öliges ausgelaufen und nur schlampig aufgewischt worden. Ebenso die kleinen, schlammigen Pfotenabdrücke - das flache, runde Gesicht ihrer Perserkatze, Muffy, blitzte vor ihrem inneren Auge auf - sowie ein paar eingetrocknete schwärzliche Tropfen, die wie Barbecue-Soße rochen, und eine Reihe unidentifizierbarer Schrammen, Flecken und Schmutz.
Herrgott nochmal, besaß sie denn keinen Schrubber?
»Ich werde Sie noch ein einziges Mal fragen: Wo ist er?«
Die Frage wurde etwa einen Meter über ihrem Kopf von einem über sie gebeugten, großen, muskulösen Mann mit schwarzer Wollmaske in kaltem, drohendem Ton hervorgestoßen. Und durch eine kräftige Faust, die sie schmerzhaft an den Haaren zog, betont. Das Ziehen an ihrer Kopfhaut war jedoch nichts im Vergleich zu dem stechenden Schmerz, der ihren Nacken hinunterschoss, als er ihren Kopf brutal zurückriss, damit er ihr Gesicht sehen konnte, das trotz der leicht gebogenen Nase allgemein als schön galt, wenn es nicht gerade, so wie jetzt, vor Angst verzerrt war. Seine Waffe - eine große silberne Pistole - knallte gegen ihre Schläfe. Der Aufprall von Metall auf Knochen entrang ihr ein Wimmern. Die Mündung der Waffe war hart und kalt wie der Tod.
Seine Augen - haselnussbraun, eng zusammenstehend, mit dichten schwarzen Wimpern, die ihr verrieten, dass er unter der Maske mit nahezu hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit schwarzhaarig war - waren noch härter und kälter.
Als sie dem Blick dieser Augen begegnete, kroch ihr die Angst erneut über den Rücken. Ihr Atem wurde schneller. Ihr Herz, das ohnehin schon heftig schlug, begann wie rasend zu hämmern, bis das wilde Pochen das Summen des Kühlschranks und das leise Zischen der Klimaanlage übertönte - und die raschen Schritte des zweiten Mannes, der ihr Haus Zimmer für Zimmer durchsuchte.
»Ich habe es Ihnen doch bereits gesagt: Es gibt keinen. Er existiert nicht, okay? Sie sind offenbar einer Fehlinformation aufgesessen.«
Sie konnte nichts weiter sagen als das, obwohl sie bereits wusste, dass er ihr nicht glauben würde. Er hatte ihr vorher nicht geglaubt, er würde ihr auch jetzt nicht glauben. Sie drehten sich im Kreis.
Seine Augen verdunkelten sich. Sein Mund, der durch einen Schlitz in der Wollmaske sichtbar war, wurde schmaler. Ihr Magen verkrampfte sich vor Angst.
Würden die Männer sie töten, wenn sie das Gesuchte nicht bekamen?
Ja, lautete die deprimierende Antwort, zu der sie gelangte, als sie sich die bisherige Brutalität des Überfalls vor Augen führte. Die Kälte und Entschlossenheit, mit der die Männer vorgingen, sprachen für sich. Sie war sich so gut wie sicher, dass die beiden Eindringlinge - beide große athletische Typen, die sich in den schwarzen T-Shirts und Trainingshosen gespenstisch ähnelten - nicht die Absicht hatten, sie am Leben zu lassen.
Oder Lisa.
Lisa Abbott, ihre gute Freundin und früher auch Mitglied in derselben Studentinnenvereinigung, hatte, wie es der böse Zufall wollte, ausgerechnet dieses Wochenende gewählt, um Katharine zum ersten Mal seit sieben Jahren zu besuchen; genauer gesagt, seit Katharine mit ihrem funkelnagelneuen Abschlusszeugnis in Politikwissenschaften und dem Kopf voller Weltverbesserungsideale das College verlassen hatte. Katharine hatte Muffy das Wochenende über zu Freunden gebracht - Lisa war allergisch gegen Katzenhaare - und anschließend Lisa um kurz nach siebzehn Uhr vom Dulles Flughafen abgeholt. Sie waren beide aufgeregt gewesen und hatten nonstop gequasselt, um sich gegenseitig auf den neuesten Stand zu bringen. Auf dem Heimweg hatten sie auf einen Drink im Le Bar in Georgetown haltgemacht, waren dann um die Ecke zum Dinner zu Angelo's gegangen und anschließend durch die Bars gezogen. Bei der Ankunft in Katharines elegantem, zweistöckigem Reihenhaus in der historischen Altstadt des D.C.-Bezirks Alexandria, Virginia, war es nach Mitternacht, und sie waren beide mehr als nur angesäuselt gewesen. Nachdem sie mit einem Glas Wein noch einmal auf ihr Wiedersehen angestoßen hatten, waren sie zu Bett gegangen, nicht unbedingt müde, aber komplett betrunken.
Das war vor einigen Stunden gewesen.
Jetzt war Katharine stocknüchtern, und Lisa lag etwa einen Meter von ihr entfernt mit dem Gesicht nach unten auf dem peinlich schmutzigen Boden, die Hände und Füße wie bei Katharine mit Klebeband gefesselt. Ein weiterer Klebestreifen bedeckte Lisas Mund. Das ornamentierte, schmiedeeiserne Unterteil der mit einer Granitplatte ausgestatteten Kücheninsel trennte sie zwar, doch dank der Struktur des offenen Designs konnten sie sich immer noch sehen. Lisas schulterlanges kastanienbraunes Haar lag über ihrem Gesicht, aber dennoch war das entsetzte Flackern in ihren braunen Augen erkennbar. Ihr gelbes, bodenlanges Seidennachthemd war bis zu den Knien hochgerutscht und enthüllte das zarte Trio aus miteinander verbundenen Schmetterlingen, das über ihrem linken Fußgelenk tätowiert war. Der gerüschte Saum breitete sich fächerförmig um ihre gebräunten Beine aus wie die Blütenblätter irgendeiner exotischen Blume. Aber wenigstens bot das lange Nachthemd mehr Schutz als Katharines winzige pinkfarbene Boxershorts und das dazu passende Strickhemdchen. Lisa war mit ihren eins siebzig zwei Zenitmeter größer als Katharine. Katharine war die dünnere von beiden, aber Lisa war mit ihrer durchtrainierten Figur mindestens genauso sexy. Selbst als Katharine voller Angst in die kalten, haselnussbraunen Augen über ihr starrte, nahm sie Lisas panisches Hecheln wahr.
Vier Jahre lang haben wir praktisch alles zusammen gemacht, und jetzt, wo wir uns endlich wiedersehen, werden wir vermutlich zusammen sterben, schoss Katharine durch den Kopf. Oh, Gott, ich will nicht sterben. Nicht auf diese Weise. Wir sind noch so jung. Lisa ist gerade dreißig geworden, und ich bin erst neunundzwanzig ...
Sie hatten alles, wofür es sich zu leben lohnte. Alles.
»Eine letzte Chance: Wo ist der verdammte Safe?«
Verzweifelt räusperte sie sich. »Verstehen Sie doch, hier gibt es wirklich keinen Safe. Der Schmuck ist nicht hier. Er gehört mir nicht. Er war geliehen -«
Die Worte erstarben ihr in der Kehle, als der Mann ihr Haar losließ, einen Schritt zurücktrat, die Waffe in den Hosenbund schob und ihr einen Tritt in die Rippen versetzte. Die Stärke war genau dosiert: hart genug, um wehzutun, aber nicht zu fest, um ihr einen echten Schaden zuzufügen.
Dennoch explodierte der Schmerz, breitete sich von der Stelle, wo die Spitze des schwarzen Turnschuhs ihre Rippen getroffen hatte, blitzartig nach allen Seiten aus. Hätte der Schmerz es zugelassen, hätte Katharine geschrien. Stattdessen krümmte sie sich keuchend. Tränen brannten in ihren Augen, liefen über ihre Wangen. Sie konnte die heißen, feuchten Spuren auf ihrer Haut fühlen.
Es tat so schrecklich weh - so schlimm, dass ihr der Atem stockte und ihr der kalte Schweiß auf die Stirn trat. Gezackte Schmerzsplitter schossen wie glühende Pfeile in ihre Organe, ihre Muskeln, ihre Knochen.
»Na, kommen wir jetzt endlich zur Vernunft?« Sein Ton war eher locker als drohend, als er dunkel über ihr aufragte. Gleichwohl war es der entsetzlichste Klang, den sie je vernommen hatte. Nach einem kurzen, angsterfüllten Blick zu ihm hoch kniff sie die Augen fest zusammen und erstarrte zu völliger Reglosigkeit. »Wo ist der Safe?«
Aus Angst vor der Antwort, bemühte sich Katharine nach Kräften, den Mann auszublenden. Zitternd vor Schmerz und Todesangst, zog sie sich in sich selbst zurück. Auf der Haut spürte sie das Kribbeln ihres Schweißes, der ihr aus allen Poren brach. Der Schmerz in ihrer Seite erschwerte ihr nach wie vor das Atmen. In kleinen, vorsichtigen Zügen holte sie Luft und versuchte, wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Sie fror nun, spürte eine eisige Kälte, die nichts mit den ungemütlichen Fliesen unter ihr zu tun hatte oder mit der Klimaanlage, die über ihre schweißnasse Haut blies.
Es war die Kälte der Todesangst.
Sie war sich ziemlich sicher, dass sie nichts sagen oder tun könnte, um das drohende Ende abzuwenden. Dennoch dachte sie fieberhaft nach, ob es nicht etwas gäbe, irgendetwas, das vielleicht die Rettung bringen würde ...
»Antworten Sie!«
Er griff wieder in ihr Haar, und sie öffnete die Augen und schrie auf. Ihre Kopfhaut brannte, als er ihren Kopf nach hinten riss. Ihr Hals fühlte sich an, als würde er abbrechen.
»Wo ist der verdammte Safe?«
Er war nah, furchterregend nah, und beugte sich über sie, während er ihren Kopf zu sich drehte und sie anfunkelte.
Ihre Blicke begegneten sich. Die unmissverständliche Drohung in seinen Augen erfüllte sie mit neuer Panik.
Ihre Lippen zitterten. »Hier ist kein Safe.«
Seine Augen wurden schmal, hart, bis sie diesen brutalen Blick keine Sekunde länger ertragen konnte. Sie presste die Lippen zusammen, schluckte heftig und schloss die Augen wieder. Während sie sich bemühte, wieder zu Atem zu kommen und den Schmerz hinter sich zu lassen, hing sie für einen Moment schlaff an der Hand, die sie noch immer an den Haaren in der Luft hielt. Ihre Kopfhaut prickelte und brannte von seinem groben Griff. Ihr Hals tat weh. Doch auch der schlimmste körperliche Schmerz war nichts im Vergleich zu der wachsenden Panik, die ihren Mund austrocknete, ihren Puls hochjagte und ihren Atem in Keuchlaute verwandelte.
Bitte, lieber Gott, bitte, schick Hilfe ...
Sogar mit geschlossenen Augen konnte sie seinen unablässigen Blick auf ihrem Gesicht spüren.
»Also, allmählich habe ich dieses Spiel satt. Wenn Sie mir nicht sofort sagen, was ich wissen will, könnte ich gute Lust kriegen, Ihre Freundin ein wenig mit dem Messer zu kitzeln. Ihr zum Beispiel einen Finger abschneiden oder ein Ohr.«
Katharine riss die Augen auf und blickte zu Lisa hinüber, die plötzlich erstarrte. Sie schien nicht einmal mehr zu atmen, und wäre da nicht das angstvolle Flackern ihrer Augen gewesen, hätte Katharine geglaubt, ihre Freundin sei ohnmächtig geworden.
»Wollen Sie zuschauen? Wollen Sie sie bluten sehen? Bringt Sie das in Redelaune?«
Katharine holte tief Luft und fand endlich ihre Stimme wieder. Oder wenigstens etwas, das ihrer Stimme ähnelte. Was aus ihrem Mund kam, war leise und zittrig, klang ganz und gar nicht wie ihr normaler flotter Ton, der ihre Herkunft aus Midwest verriet.
»Nein«, flüsterte sie gequält, den Blick weiterhin auf Lisa gerichtet. »Bitte. Sie müssen mir glauben, hier ist kein Safe ...« Ihre Stimme brach ab, als sie sah, wie Lisa zu zittern begann. Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie musste sich anstrengen, um trotz des Kloßes in ihrem Hals zu sprechen. »Wenn es hier einen Safe gäbe oder Schmuck oder irgendetwas anderes von Wert, das ich Ihnen geben könnte, damit Sie weggehen, dann hätte ich Ihnen das gesagt. Das schwöre ich.«
Seine Augen glitzerten unheilvoll. Er spitzte die Lippen. Sein Blick glitt langsam und betont über ihren Körper.
Katharine erschauerte.
»Hm, Sie sind ein wirklich hübsches Mädchen. Vielleicht sollte ich Ihre Freundin in Ruhe lassen und stattdessen Ihnen meine Initialen ins Gesicht ritzen.«
Ihr Magen krampfte sich zusammen, als würde sich eine eiserne Faust darum schließen.
»Nein.« Ihr Flehen klang selbst in ihren Ohren mitleiderregend. »Nein.«
Seine Drohung war vor allem deswegen so verstörend, weil er sie in einem leisen, unbeteiligten Ton ausgesprochen hatte. Alles, was passiert war, hatte sich in albtraumhafter Stille zugetragen. Bevor er sie überwältigte, hatte sie die Augen eine Nanosekunde vorher geöffnet und gesehen, wie in dem dunklen Schlafzimmer ein Mann auf ihr Bett zuschlich. Der Angstschrei, der sich ihrer Kehle entrang, war das einzige laute Geräusch gewesen. Leider nicht laut genug, um darauf zu hoffen, dass ihn außerhalb dieser vier Wände jemand gehört und die Polizei gerufen hatte.
Lisa, die im Gästezimmer geschlafen hatte, und sie waren nach unten in die Küche geschleift, auf den Boden geworfen und brutal gefesselt worden. Vergewaltigung war Katharines erster Gedanke gewesen, doch das war nicht geschehen. Ein sexueller Übergriff schien das Letzte zu sein, was diese Männer im Sinn hatten.
Vielmehr hatten sie es, wie sie mehr als deutlich zu verstehen gaben, auf den Inhalt eines Safes abgesehen, der angeblich irgendwo im Haus versteckt war. In dem Safe schienen sie Schmuck im Wert von Hunderttausenden von Dollar zu erwarten. Normale Einbrecherbeute wie das Fernsehgerät mit Plasmabildschirm im Wohnzimmer und der Laptop im Arbeitszimmer interessierte die beiden offenbar nicht. Entsprechend rührten sie auch den Schmuck nicht an, den die beiden Frauen trugen. Sie hatten Lisas bescheidenen Diamantanhänger genauso ignoriert wie Katharines weitaus wertvollere Diamantohrstecker und den großen, oval geschliffenen Saphirring, den sie sich selbst zum letzten Geburtstag geschenkt hatte.
Seit Lisa und sie in der Küche lagen, hatten die Männer Lisa mehr oder weniger sich selbst überlassen. Es war Katharine, die sie terrorisiert, ausgefragt und bedroht hatten, um ihr das Versteck des nicht existierenden (jedenfalls, soweit sie das wusste) Safes zu entlocken.
Komisch war, dass sie ihren Namen von Anfang an gekannt hatten. Das war ihr voller Schrecken bewusst geworden, nachdem sich der erste Nebel blinder Panik weit genug gelichtet hatte, um nachdenken zu können. Dies war kein zufälliger Einbruch; er hatte ganz gezielt sie im Visier und war sorgfältig geplant, obwohl sie den Eindruck hatte, dass Lisas Anwesenheit für die Männer eine Überraschung gewesen war. Offenbar hatten sie damit gerechnet, sie allein anzutreffen.
Aus einigen Bemerkungen der Einbrecher schloss sie, dass sie das Foto von ihr gesehen hatten, das letzte Woche in der Washington Post abgebildet gewesen war und das ihr bereits vor diesem Albtraum eine Menge Scherereien eingebracht hatte. Sie hatte von dem Foto gar nichts geahnt, bis sie es dann in der Zeitung entdeckte. Auf dem Bild war sie gerade zur Dinnerparty bei einem von Washingtons Top- Lobbyisten unterwegs und trug ein verführerisches weißes Dior-Abendkleid sowie atemberaubenden Schmuck, der ein Vermögen wert war. Vermutlich ging nun in Einbrecherkreisen das Gerücht um, dass diese unbezahlbar teuren Juwelen und andere vergleichbar wertvolle Dinge bei ihr zu Hause in diesem ominösen Safe aufbewahrt wurden.
Von wegen.
Der Schmuck, den sie auf dem Foto trug, gehörte ihr gar nicht. Er war ihr eigens für diesen Anlass geliehen worden. Neben dem Ring und den Ohrringen, die sie gerade trug, besaß sie nur die wenigen wertlosen Schmuckstücke in dem ledernen Schmuckkästchen auf ihrer Kommode. Bis Ende letzten Herbstes hatte sie ausschließlich von dem Gehalt einer Regierungsangestellten gelebt, welches, sofern das überhaupt erwähnt werden musste, nicht gerade üppig war. Jedenfalls nicht annähernd so hoch, um sich solche Klunker leisten zu können, wie sie die Einbrecher bei ihr vermuteten.
Und genau das hatte sie versucht, ihnen klarzumachen. Leider wollten sie ihr nicht glauben, obwohl es die reine Wahrheit war.
Während der Einbrecher, der ihren Kopf gerade an den Haaren nach oben riss, sich nach Kräften bemüht hatte, ihr eine Information, die sie nicht besaß, zu entlocken, hatte der andere ihr Haus verwüstet. Unter gedämpftem Gepolter und Geklapper hatte er das Haus auseinandergenommen, Bücher von den Regalen gefegt, Bilder von den Wänden gerissen, Möbel umgeworfen und die teuren Orientteppiche weggeschoben, die das glänzend polierte Parkett bedeckten. Wäre ihr Nachbar, ein Arzt, dessen Name Katharine im Moment nicht einfiel, zu Hause gewesen, hätte er womöglich etwas gehört. Doch als Lisa und sie nachts zurückgekommen waren, waren die Fenster seines Hauses dunkel gewesen, und Katharine wusste, dass er an den Wochenenden häufig verreist war. Ihre Nachbarin zur anderen Seite hin wiederum, eine junge Abgeordnete, weilte definitiv bis Ende August bei ihren Eltern in Minnesota. Möglicherweise war das Anwaltspärchen, das im letzten der vier Reihenhäuser wohnte, zu Hause - jedenfalls hatten die beiden nicht erzählt, dass sie irgendwohin fahren wollten. Aber warum hätten sie das auch tun sollen? Andererseits schien es völlig egal zu sein, ob die Leute da waren oder nicht: Bisher hatte noch kein neugieriger Nachbar angerufen, um sich zu erkundigen, was es mit dem Tumult mitten in der Nacht auf sich hatte. Es waren auch keine Sirenen zu hören gewesen, kein Hämmern an der Haustür, keine gebrüllten Befehle, die Tür zu öffnen. Was nachbarliche Einmischung betraf, so war diese, kurz gesagt, gleich null. Sollten der Arzt oder die Anwälte tatsächlich zu Hause sein, so bekamen sie von den Vorgängen anscheinend genauso wenig mit wie der nachtschwarze Potomac, der verschlafen jenseits der kopfsteingepflasterten Straße entlangfloss.
Laut der Uhr an der schwarzen Vorderseite des Mikrowellenherds, der in einer der freigelegten, unverputzten Ziegelwände der erst vor Kurzem renovierten Küche eingebaut war, war es ein Uhr sieben. Es war Samstag, der neunundzwanzigste Juli. Washington - zumindest das offizielle Washington - war in den Sommerferien. Das bedeutete, dass sich in Old Town gegenwärtig kaum Menschen befanden. Katharines Straße, in der einige der weniger bedeutenden Regierungsangestellten wohnten, war jedenfalls halb leer. Ihr Reihenhaus - das hübsche, alte Haus - war komplett saniert und mit einem hochmodernen Sicherheitssystem ausgestattet worden. Deswegen hatte Katharine es auch bis vor zwanzig Minuten für völlig sicher gehalten. Doch nun wirkte es so abgeschieden wie eine Blockhütte im tiefen Wald.
Mit anderen Worten, Lisa - die arme, unschuldige Lisa, die einfach nur das falsche Wochenende für ihren Besuch gewählt hatte - und sie waren ganz auf sich gestellt.
»Katharine. Ich will weder Ihnen noch Ihrer Freundin wehtun.« Sein Ton war beinahe sanft. Seine Augen nicht.
Sie nahm einen zitternden Atemzug. Als sie sprach, war ihre Stimme kräftiger als vorher. »Dann lassen Sie es doch.«
Er blinzelte langsam wie eine träge Schildkröte. Dann griff er mit einer bedächtigen Bewegung in seine Tasche und zog ein Messer hervor. Ein silbernes Messer, schmal und harmlos aussehend, etwa fünfzehn Zentimeter lang. Es war keine scharfe Klinge zu sehen, aber Katharine erkannte mit einem Blick, worum es sich handelte: ein Schnappmesser.
Entsetzen erfasste sie. Ihre Kehle schnürte sich zusammen, während ihr Blick wie gebannt auf dem Messer haften blieb. Er brauchte nur auf den Knopf zu drücken ...
»Sie lassen mir keine Wahl, Katharine, deshalb werden Sie Ihren Kopf hinhalten müssen. Wenn Sie mir nicht sagen, wo der Safe ist, werde ich Ihr hübsches Gesicht wie eine Kürbislaterne zurechtschnitzen.«
Trotz dieser grausamen Drohung konnte sie ihm nur eine Antwort geben - dieselbe, die sie ihm schon die ganze Zeit über gegeben hatte.
Verzweifelt schüttelte sie den Kopf, deutete ohne Worte an, was sie gleich darauf laut aussprach: »Hier ... gibt ... es ... keinen ... Safe. Bitte, glauben Sie mir. Wie ich bereits sagte, sind Sie einem Irrtum erlegen.«
Eine tödliche Stille trat ein.
»Dummes Miststück«, sagte er, und das Fehlen jeglicher Emotion in seiner Stimme, ließ die Worte noch brutaler klingen.
»Es ist die Wahrheit.« Ihre Stimme bebte vor Hilflosigkeit. »Wirklich. Das ist ein ganz normales, gemietetes Reihenhaus. Warum sollte hier ein Safe versteckt sein?«
Sie vernahm das helle Klicken des Messers einen Sekundenbruchteil, bevor sie die Klinge aus dem Gehäuse springen sah. Das Licht aus den in die Decke versenkten Lichtquellen ließ die geschliffene Klinge bösartig aufglitzern. Das Messer war, wie sie sehen konnte, skalpellscharf. Den Blick darauf geheftet, nahm sie einen tiefen, zitternden Atemzug.
»Das wird Ihnen auch nicht weiterhelfen«, sagte sie. »Ich kann Ihnen nichts verraten, was ich nicht weiß.«
Er beugte sich näher zu ihr hinunter. Sein Gesicht war nur Zentimeter von ihrem entfernt, nah genug, um die geplatzten Äderchen in seinen blutunterlaufenen Augen zu sehen und den schwachen Knoblauchgeruch in seinem Atem zu riechen. Plötzlich lächelte er. Ein kleines, böses Lächeln. Von einem jähen Schwindel erfasst, nahm sie ein seltsames Rauschen wahr und erkannte erst nach einigen Sekunden, dass es ihr eigenes Blut war, das wie ein Wasserfall in ihren Ohren dröhnte. »Hier gibt es sehr wohl einen Safe, weil Ihr Freund ihn hier versteckt hat«, sagte er.
© der deutschsprachigen Ausgabe 2009 by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House
... weniger
Autoren-Porträt von Karen Robards
Karin Robards hat ihren ersten Roman bereits mit 24 Jahren veröffentlicht. Sie ist mit ihren Büchern regelmäßig auf den amerikanischen Bestsellerlisten vertreten und lebt mit ihrem Mann und ihren drei Söhnen in ihrer Heimatstadt Louisville/Kentucky.
Bibliographische Angaben
- Autor: Karen Robards
- 2013, 1, 432 Seiten, Maße: 13,3 x 19,1 cm, Flex. Einband
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863657365
- ISBN-13: 9783863657369
Kommentare zu "Keiner wird dir helfen"
0 Gebrauchte Artikel zu „Keiner wird dir helfen“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
4.5 von 5 Sternen
5 Sterne 7Schreiben Sie einen Kommentar zu "Keiner wird dir helfen".
Kommentar verfassen