Blinde Vögel
Der neue Fall für das Salzburger Ermittler-Paar Kaspary und Wenninger: Mord in der Facebook-Gruppe!
Was ist das Geheimnis der beiden Toten, die man bei einem Salzburger Campingplatz fand? Sie wurde stranguliert, er erschossen. Eine...
Was ist das Geheimnis der beiden Toten, die man bei einem Salzburger Campingplatz fand? Sie wurde stranguliert, er erschossen. Eine...
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Produktinformationen zu „Blinde Vögel “
Der neue Fall für das Salzburger Ermittler-Paar Kaspary und Wenninger: Mord in der Facebook-Gruppe!
Was ist das Geheimnis der beiden Toten, die man bei einem Salzburger Campingplatz fand? Sie wurde stranguliert, er erschossen. Eine Beziehungstat? Doch die Beiden scheinen sich zu Lebzeiten gar nicht gekannt zu haben. Einzige Verbindung: Ein Lyrik-Forum auf Facebook. Beatrice Kaspary und Florin Wenninger nehmen diese Gruppe ins Visier. Hier werden Gedichte und stimmungsvolle Fotos gepostet.
Alles ganz harmlos? Oder werden hier geheime Botschaften ausgetauscht, die nur wenige verstehen und die manchen den Tod bringen?
Lese-Probe zu „Blinde Vögel “
Blinde Vögel von Ursula Poznanski Prolog
... mehr
Dunkel. Eng. Keine Luft. Jede Unebenheit der Straße ein Schlag. Der Knebel in ihrem Mund ließ sich nicht mit der Zunge verschieben, die Nase war vom Weinen zugeschwollen. An sie gepresst lag der Dicke. Wimmerte. Sie fühlte das Zucken seiner gefesselten Hände. Vielleicht würden sie sich mit ihm begnügen. Im Gegensatz zu ihm war sie schnell, konnte rennen. Sie sog Luft durch die verstopften Nasenlöcher, mit aller Kraft. Ein weißes Schloß in weißer Einsamkeit. Ohne dass sie es wollte, spulte ihr Hirn die Worte ein weiteres Mal ab. In blanken Sälen schleichen leise Schauer. Todkrank krallt das Gerank sich an die Mauer, und alle Wege weltwärts sind verschneit. Er war nackt gewesen, als er es ihr das erste Mal gezeigt hatte, und sie hatte nackt neben ihm gelegen. Voller Glück. Sie presste die Lider aufeinander, versuchte, zu diesem Moment zurückzukehren. Die Zeit zu überwinden, die Monate, die vergangen waren, auszulöschen. «Düster», hatte sie gesagt. «Ein weißes Schloss, wie kann das so düster sein?» «Die wahre Dunkelheit kommt von innen», hatte er geantwortet. «Und sie ist wie Krebs. Frisst sich weiter, weißt du? Durch alles, nach und nach. Schwarze Metastasen.» Sie war ein Stück von ihm abgerückt, um ihm ins Gesicht sehen zu können, und war erstaunt gewesen, dass er lächelte. Sein Vergleich hatte einen Schatten auf ihren Tag geworfen. Aber jetzt wünschte sie sich, vielleicht eines Tages an Krebs sterben zu können. In dreißig, in fünfzig Jahren. Ein Tod im richtigen Alter, bitte. Nicht heute, nicht jetzt, nicht! In blanken Sälen schleichen leise Schauer. Todkrank krallt das Gerank sich an die Mauer. Zwischen ihren Fingern fühlte sie das Papier, das sie wie eine Rettungsleine mit ihm verband. Es war sein Drucker gewesen, der es ratternd ausgespuckt hatte. Und alle Wege weltwärts sind verschneit. Kaltes Beben überlief sie, trotz der stickigen Enge neben dem Dicken, der nach Angst stank. Vorne wurde gesprochen. Einer der Männer klang angespannt, der andere lachte. Holpern. Sie gab sich Mühe, den Kopf zu heben, damit er nicht bei jeder Unebenheit gegen den Boden des Kofferraums schlug. Darüber hängt der Himmel brach und breit. Ihr Hirn spuckte immer weitere Verse aus. Sie klammerte sich an sie wie an ein Gebet. Es blinkt das Schloß. Und längs den weißen Wänden hilft sich die Sehnsucht fort mit irren Händen. Die Uhren stehn im Schloß: es starb die Zeit. «Ich kenne das Gefühl», hatte er gesagt, und seine Hand war über ihre Wirbelsäule geglitten, auf und ab, ab und auf. «Kennst du es auch?» «Nein», hatte sie geantwortet, aber jetzt begriff sie es, oh Gott, und wie. Die Zeit war tot und blähte sich auf wie ein verwesender Leib. Jede Sekunde war quälend lang und verging gleichzeitig viel zu schnell, jede weitere führte näher an den Moment heran, der nicht kommen durfte ... und längs den weißen Wänden hilft sich die Sehnsucht fort mit irren Händen - Dann hielt der Wagen. Eine Tür wurde geöffnet und wieder geschlossen. Einer der Männer sagte etwas, das sie nicht verstand. In blanken Sälen schleichen leise Schauer, leise Schauer, leise Schauer ... die Worte fraßen sich in ihr Hirn und erstickten alle Gedanken. Der Dicke gab hinter seinem Knebel gurgelnde Geräusche von sich. Todkrank krallt das Geränk sich an die Mauer. Schritte, die näher kamen. Metallisches Klimpern. Zwei kurze, hohe Töne. Entsperrung. Die Heckklappe öffnete sich. Und alle Wege weltwärts sind verschneit.
Kapitel eins
Der Tisch war gedeckt, die Gläser poliert, sogar die Wassergläser. Beatrice sah nach dem Truthahn im Rohr und kämpfte gegen das völlig unpassende Gefühl an, ein Date vor sich zu haben. So war es nicht, ganz im Gegenteil, trotzdem wollte sie unbedingt noch duschen und sich umziehen, bevor sie den Tisch deckte. Ein Date, was für ein Wort. Als wäre sie siebzehn und nicht sechsunddreißig. Sie schüttelte über sich selbst den Kopf, drehte die Temperatur des Ofens hinunter und stieg aus ihren Jeans. Fünfzehn Minuten noch, das würde reichen. Mit etwas Glück fanden sie nicht gleich einen Parkplatz, dann hätte sie sogar noch Zeit genug, um sich ein gelöstes Lächeln ins Gesicht zu trimmen. Sie duschte schnell und heiß, föhnte ihr Haar halb trocken uns schlüpfte in ein hellblaues Sommerkleid, über das sie eine Schürze band, bevor sie die Teller auflegte und den Truthahn aus dem Ofen beförderte. Der Abend musste friedlich verlaufen, er musste einfach. Der Salat stand auf dem Tisch, daneben dampfte der Reis in einer Porzellanschüssel. Es sieht aus, dachte Beatrice, als würde ich so etwas hier jeden Tag machen.
Sie hatte den Truthahn gerade fertig tranchiert, als es an der Tür läutete. Pünktlich auf die Sekunde, natürlich. Das Lärmen der Kinder im Treppenhaus war sogar durch die geschlossene Tür zu hören, am lautesten Jakobs helle Stimme: «Ich bin schneller, ich bin schneller!». Beatrice öffnete die Tür, und beide Kinder stürmten ihr entgegen, atemlos. «Ich war schneller, Mama», keuchte Jakob. «Du hast es gesehen, oder? Oder?» Mina warf ihm einen vor Verachtung triefenden Blick zu. «Ist mir doch egal, Zwerg.» Sie drückte sich an Beatrice vorbei und schnupperte in die Wohnung hinein. Jetzt hatte auch Achim den letzten Treppenabsatz hinter sich gelassen. Er stand abwartend da, mit einer Flasche Wein in der Hand und einem Gesichtsausdruck, der sich zwischen Lächeln und Stirnrunzeln nicht entscheiden konnte. Beatrice ging ihm entgegen und nahm ihn am Arm. «Komm rein. Das Essen steht schon auf dem Tisch. Danke für den Wein.» Seine Miene hellte sich auf, und er strich sich beinahe verlegen über das schüttere blonde Haar. Es würde klappen, diesmal. Sie würden nicht streiten, sondern sich unterhalten wie Menschen, die etwas verbindet. Vielleicht würden sie sogar etwas finden, worüber sie gemeinsam lachen konnten. «Hattet ihr eine schöne Zeit?», fragte sie. «Ja, wir waren im Zoo in Hellbrunn», quäkte Jakob aus dem Badezimmer. Die Kinder wuschen sich freiwillig die Hände. Ein Wunder. «Die Nashörner sind so toll, Mama. Fast so groß wie ein Haus, und die stinken wie ... wie ...» Er fand keinen Vergleich und schüttelte sich zur Demonstration. Beatrice tauschte ein Lächeln mit Achim, eines der ersten seit der Scheidung. «Setzt euch, ja? Wer will Apfelsaft?» Sie fühlte, wie allmählich die Anspannung, die sie den ganzen Tag über begleitet hatte, von ihr abfiel. Das hier war ein normales Abendessen. Familie. Keine Prüfung, die sie zu bestehen hatte.
Wenn die Kinder im Bett waren, würde sie mit Achim reden, ganz in Ruhe, und endlich einen Modus für ihre Scheidungsbeziehung finden. Scheidungsbeziehung, oh mein Gott. Vielleicht Trennungsverhältnis? Auch nicht besser. Der Truthahn war gelungen, stellte sie nach dem ersten Bissen erleichtert fest. Das idiotensichere Rezept aus dem Internet hielt, was es versprochen hatte. «Wein?» Achim schwenkte die Flasche über ihrem Glas. «Ja, bitte.» Sie prosteten einander zu. Beatrice suchte nach dem bitteren Zug um seinen Mund, der und das alles hast du weggeworfen sagte, aber heute war nichts davon zu sehen. «Mina würde gern wieder einmal zum Segeln gehen», merkte er an, nachdem er den Wein gekostet hatte. «Ich finde, sie ist jetzt alt genug, um den Segelschein zu machen. Wäre doch ein schönes Hobby, nicht?» «Sicher. Wenn sie das möchte.» Mina hopste auf ihrem Stuhl auf und ab. «Ja, will ich! Dann steuere ich das Boot, und ihr sitzt nur drin und - » Beatrices Handy klingelte. Es war der schrille, nicht zu überhörende Ton, den sie für Anrufe aus dem Büro eingestellt hatte. «Drrring!», echote Jakob mit vollem Mund. Ihr erster Impuls war, nicht ranzugehen. Vielleicht war es bloß Hoffmann, der einen noch fehlenden Bericht einfordern wollte. Nein. Das konnte nicht sein. Hoffmann war für zwei weitere Tage in Wien. «Ach, Mist.» Sie legte die Gabel aus der Hand und blickte entschuldigend zu Achim. «Geh nur ran.» War sein Lächeln gönnerhaft? Oder tat sie ihm unrecht? Versuchte er, verständnisvoll zu sein? Beatrice fischte ihr Handy aus der Tasche. Florin.
Das war gut. Er würde verstehen, dass sie jetzt keine Zeit hatte, Berufliches zu besprechen. Bitte kein neuer Fall, nicht heute, nicht jetzt! Doch sie musste nur den Klang seiner Stimme hören, um zu wissen, dass sie das Abendessen vergessen konnte. «Bea, es tut mir leid. Eben ist ein Anruf hereingekommen, Spaziergänger haben zwei Tote gefunden, nicht weit von Schloss Aigen. Ich fahre gleich los. Kannst du direkt hinkommen?» Sie antwortete nicht sofort, sah erst zu Achim hinüber, der ebenfalls sein Besteck abgelegt hatte. Er rieb sich übers Kinn, eine ärgerliche Längsfalte teilte seine Stirn. Anrufe dieser Art hatte es früher oft gegeben, und er hatte nie freundlich darauf reagiert. Friedensverhandlungen einmal mehr im Ansatz gescheitert, dachte sie. «Wohin genau?» Sie kramte im Stiftehalter nach einem Kugelschreiber, der funktionierte, fand aber nur einen halb ausgetrockneten, grünen Textmarker.
Der musste reichen. Florin gab ihr eine Wegbeschreibung durch. In der Nähe des Fundorts lag ein Campingplatz, dort würde sie parken können, und dort würde er auf sie warten. Feste Schuhe, eine Jacke, Haare zusammenbinden. Aber vorher musste sie noch mit Achim sprechen. «Es tut mir leid, wirklich, aber ...» «Ein Notfall», führte er ihren Satz zu Ende. «Ja. Ist es das nicht immer?» Er klang resigniert, aber nicht angriffslustig, ganz anders als sonst. «Wer war dran? Wenninger?» «Ja. Florin. Er ist schon unterwegs zur Fundstelle.» «Du hast es also eilig.» Achims Lächeln wirkte angestrengt, aber es war da. Er gab sich wirklich Mühe. «Ja. Danke, dass du es verstehst», sagte sie vorsichtig. «Würdest du warten, bis ich zurück bin? Wegen der Kinder - und vielleicht können wir anschließend noch ein Glas trinken?» Jetzt senkten sich seine Mundwinkel, aber wenigstens blieb die Stimme freundlich. «Wenn du wiederkommst, schnarche ich längst auf der Couch. Ich habe nicht vergessen, wie das abläuft, machen wir uns keine Illusionen.» «Danke.» Sie lief ins Schlafzimmer, zog sich um, küsste die Kinder und saß innerhalb von fünf Minuten im Auto. Ein wenig beschämt über ihre eigene Erleichterung und Dankbarkeit Achim gegenüber. Als ob er etwas Besonderes geleistet hätte, indem er ihr keine Szene gemacht hatte. Sie stieg aus dem Auto und roch Brathuhn. Der Duft kam aus dem Bistro des Campingplatzes und erinnerte Beatrice daran, dass sie kaum etwas von ihrem Truthahn gegessen hatte. War vermutlich auch besser so.
Florin hatte nichts über den Zustand der Leichen gesagt. Es war gut möglich, dass ein voller Magen sich mit ihrem Anblick nur schlecht vertrug. Sie band sich die Schuhe fester zu und nahm die Jacke vom Rücksitz. Am Waldrand hatte sich eine Gruppe von Campern zusammengerottet, drei Polizisten in Uniform sprachen mit ihnen und sorgten gleichzeitig dafür, dass niemand zwischen den Bäumen verschwand. Dann entdeckte sie Florin. Er saß an einem Tisch vor dem Campingplatzbistro und unterhielt sich mit zwei jungen Männern. Sehr jungen Männern, wie Beatrice beim Näherkommen feststellte, höchstens neunzehn. Beide waren blass, einer hielt sich die Hände vor den Mund, als sei der Geruch von gebratenem Huhn zu viel für ihn. Florin winkte Beatrice dazu. «Gut, dass du da bist. Das hier sind Samuel Heilig und Daniel Radstetter. Studenten aus Freiburg, die ein paar Tage hier campen.» Beatrice schüttelte beiden die Hand. Die von Radstetter war eiskalt und feucht, trotz der sommerlichen Temperaturen. «Ich bin Beatrice Kaspary. Landeskriminalamt, genau wie mein Kollege. Ich vermute, Sie haben die Toten entdeckt?» Samuel Heilig schluckte und schloss kurz die Augen. «Wir waren spazieren, mit dem Hund. Unsere Freundinnen sind im Zelt geblieben.» Seiner Aussprache nach kam er aus Schwaben. «Der Hund hat plötzlich wie wild zu bellen begonnen und uns weitergezerrt. Zu einer ... Mulde hin. Einer Senke, wo ziemlich viel Gestrüpp wächst und dort -» Heilig unterbrach sich und warf seinem Freund einen hilfesuchenden Blick zu, aber der schüttelte nur den Kopf. «So schlimm», flüsterte er, die Hände immer noch vor dem Mund. «Ich gehe es mir ansehen.» Beatrice schob ihren Stuhl zurück und stand auf. «Ist Drasche schon hier?» Sie spähte zum Parkplatz hinüber, ohne das Auto des Spurensicherers zu entdecken. «Nein, aber er ist auf dem Weg.» Florin winkte einen der uniformierten Polizisten zum Tisch. «Bleiben Sie bitte bei den beiden Zeugen.» Mücken umschwirrten Beatrice und Florin schon am Waldrand, begleiteten sie auch, als sie in den Schatten der Bäume traten. Sirren und Summen. Am Fundort würde es noch schlimmer sein. Ein Fest für die Fliegen. Schweigend überwanden sie eine leichte Steigung. Beatrice spürte, dass Florin sie von der Seite ansah. Besorgt. Wirkte sie so mitgenommen? «Mit mir ist alles in Ordnung», erklärte sie. Er nickte und lächelte. «Gut zu wissen.» Sie überlegte, ob sie ihn fragen sollte, was sie in der Senke erwartete. Auf welchen Anblick sie sich einstellen musste. Doch dann ließ sie es bleiben. Es würde ihren ersten Eindruck zunichtemachen.
Beatrice konnte den Fundort der Leichen hören, bevor sie ihn sah. Wütendes Summen empfing sie, als sie auf den mit rot-weißem Band abgesperrten Bereich zugingen. Sie hatte recht gehabt mit den Fliegen. Aber noch kein Geruch. Sie kletterte unter der Absperrung hindurch und schluckte gegen das enge Gefühl in ihrer Kehle an. Doch die Anspannung blieb. Sie würde in Situationen wie dieser wohl ewig ihr Begleiter sein. Die Begegnung mit dem Tod wurde auch nach vielen Malen nicht einfacher. Sie lagen inmitten von trockenem Laub, eine Frau und ein Mann. Er auf dem Bauch, sie auf dem Rücken. Sein Körper war klein und gedrungen, ihrer lang und überschlank. Gegensätze, dachte Beatrice. Zwischen den Leichen kniete Dr. Vogt und war eben damit beschäftigt, mit einem Skalpell Hose und Unterhose des Mannes zu durchschneiden. Das Thermometer, mit dem er gleich die Rektaltemperatur messen würde, lag schon bereit. Beatrice unterdrückte den Impuls, sich abzuwenden. Sie heftete ihren Blick auf das zur Seite gewandte Gesicht der Frau, die bläuliche Hautfärbung, die aus dem Mund hängende Zunge. Halb offene, verdrehte Augen. Kein Wunder, dass die beiden jungen Camper so verstört gewesen waren. «Erdrosselt», erklärte Vogt, bevor sie fragen konnte. «Mit einer Wäscheleine, die liegt hier noch.» «Und der Mann?» Der Gerichtsmediziner winkte sie heran, deutete auf den von Laub halb verdeckten Kopf der Leiche. Ein Einschussloch an der rechten Schläfe. Eine ungleich größere Austrittswunde an der gegenüberliegenden Seite, das halbe Ohr und die Wange waren weggesprengt.
Direkt neben der Hand des Toten entdeckte Beatrice nun auch eine Pistole. Wenn sie die Fingerabdrücke des Mannes darauf fanden und sich zeigte, dass die Waffe auf ihn gemeldet war, dann konnten sie von Mord und Selbstmord ausgehen. Unerfüllte Liebe, Vertrauensmissbrauch, Betrug - sie versuchte, sich vorzustellen, wie die Beziehung der beiden zueinander gewesen sein mochte. Merkwürdig, es gelang ihr nicht. Es lag an der Frau. Ihr Gesicht war aufgequollen und verfärbt, aber man erkannte immer noch, dass sie sehr hübsch gewesen war. Puppenartige Züge, ein durchtrainierter, langgliedriger Körper. Schicke Kleidung - ein enormer Kontrast zu den an den Schenkeln abgewetzten Jeans des männlichen Opfers, das dazu ein sandfarbenes Poloshirt in Übergröße trug. Es war kein zulässiger Schluss, aber ein zu starker Eindruck, als dass Beatrice ihn einfach hätte ignorieren können. Mord und Selbstmord kamen hauptsächlich in Beziehungen vor, und sie glaubte nicht, dass die tote Frau ein intimes Verhältnis zu dem Mann gehabt hatte. Eher, dass er hinter ihr her gewesen war. Unerfüllte Liebe. Stalking, vielleicht. Vom Weg her waren eilige Schritte zu hören und die vertraute, übellaunige Stimme von Drasche, der wieder einmal seinen Unmut darüber kundtat, dass andere vor ihm am Tatort gewesen waren. Als könnten allein ihre Blicke wichtige Spuren verwischen. «Hallo, Gerd», begrüßte ihn Beatrice. «Bevor du fragst: Nein, wir haben noch nichts angefasst.» «Gut.» Drasche stellte seinen Spurensicherungskoffer ab und entnahm ihm Handschuhe, Plastikaufsteller mit Spurennummern und sein übliches Arsenal an Behältern und Tüten. Mittlerweile hatte auch sein Kollege Ebner den Anstieg geschafft, grüßte einmal in die Runde und packte seine Kamera aus. «Was bringt zwei so unterschiedliche Menschen im Tod zusammen?», murmelte Beatrice, mehr zu sich selbst, doch Florin hörte ihre Worte. «Das Leben, schätze ich. Wir wissen doch noch gar nichts über sie, Bea.» «Ja. Trotzdem.» Sie ging ein Stück näher heran, um Drasche besser bei der Arbeit beobachten zu können.
Florin gesellte sich zu Vogt, der eben unter dem Absperrband hindurchtauchte und sein Diktiergerät in die Jackentasche steckte. «Der Mann hat einen Ausweis bei sich, die Frau nicht.» Drasche hielt ein abgewetztes Lederportemonnaie hoch, aus dem er einen Führerschein zog, einen der neuen, im Scheckkartenformat. «Gerald Pallauf, geboren 1985. Vermutlich aus der Gegend, das Dokument wurde in Salzburg ausgestellt. Alles andere später.» Was ab jetzt will ich nicht mehr gestört werden bedeutete. Beatrice schrieb die Daten in ihr Notizbuch, die Augen zusammengekniffen, um besser sehen zu können. Die Dämmerung wich immer schneller der Dunkelheit. Gerade eben war noch jedes Detail des Waldbodens zu erkennen gewesen, nun hatte er sich in eine diffuse Fläche voller Stolperfallen verwandelt. Ebner brachte zwei Scheinwerfer in Position. Kurz darauf schnitt ihr Licht eine blendend grelle Scheibe aus der Finsternis und legte jedes Detail des Todes frei. Beatrice konzentrierte sich wieder auf Drasche, der sich gerade den Händen der Frau widmete, erst die linke, dann die rechte untersuchte.
Er betrachtete die gekrümmten Finger, hielt plötzlich inne und griff nach seiner Pinzette. Förderte etwas Dünnes, Weißes ans Licht, kaum größer als eine Briefmarke. «Ist das Papier?» Wenn man Drasche schon bei der Arbeit störte, war es Beatrices Erfahrung nach am erfolgversprechendsten, nur Ja- und Nein-Fragen zu stellen. Es funktionierte auch heute wieder, Drasche nickte und ließ den Papierschnipsel in einen kleinen Plastikbeutel fallen. «Steht etwas drauf?» Er sah kurz hoch, ungehaltene Querfalten auf der Stirn. «Nein. Diesmal keine Briefe an euch, wie es aussieht.» Beatrice ging bewusst nicht auf die Anspielung ein. Der Fall vom Frühjahr war ihr immer noch allzu präsent. Einiges, was damit in Zusammenhang stand, begleitete sie täglich in die Arbeit und zurück. Ein Stück leeres Papier also. Von einem größeren Blatt abgerissen, der Form und den Kanten nach zu schließen. Soweit sie die Senke überblickte, war dieses Blatt hier nirgendwo zu sehen. «Wir sollten uns um die Camper kümmern.» Florin war wieder neben sie getreten. «Die Campingplatzbesitzer befragen.» Er legte ihr eine Hand auf die Schulter.
© 2013 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Dunkel. Eng. Keine Luft. Jede Unebenheit der Straße ein Schlag. Der Knebel in ihrem Mund ließ sich nicht mit der Zunge verschieben, die Nase war vom Weinen zugeschwollen. An sie gepresst lag der Dicke. Wimmerte. Sie fühlte das Zucken seiner gefesselten Hände. Vielleicht würden sie sich mit ihm begnügen. Im Gegensatz zu ihm war sie schnell, konnte rennen. Sie sog Luft durch die verstopften Nasenlöcher, mit aller Kraft. Ein weißes Schloß in weißer Einsamkeit. Ohne dass sie es wollte, spulte ihr Hirn die Worte ein weiteres Mal ab. In blanken Sälen schleichen leise Schauer. Todkrank krallt das Gerank sich an die Mauer, und alle Wege weltwärts sind verschneit. Er war nackt gewesen, als er es ihr das erste Mal gezeigt hatte, und sie hatte nackt neben ihm gelegen. Voller Glück. Sie presste die Lider aufeinander, versuchte, zu diesem Moment zurückzukehren. Die Zeit zu überwinden, die Monate, die vergangen waren, auszulöschen. «Düster», hatte sie gesagt. «Ein weißes Schloss, wie kann das so düster sein?» «Die wahre Dunkelheit kommt von innen», hatte er geantwortet. «Und sie ist wie Krebs. Frisst sich weiter, weißt du? Durch alles, nach und nach. Schwarze Metastasen.» Sie war ein Stück von ihm abgerückt, um ihm ins Gesicht sehen zu können, und war erstaunt gewesen, dass er lächelte. Sein Vergleich hatte einen Schatten auf ihren Tag geworfen. Aber jetzt wünschte sie sich, vielleicht eines Tages an Krebs sterben zu können. In dreißig, in fünfzig Jahren. Ein Tod im richtigen Alter, bitte. Nicht heute, nicht jetzt, nicht! In blanken Sälen schleichen leise Schauer. Todkrank krallt das Gerank sich an die Mauer. Zwischen ihren Fingern fühlte sie das Papier, das sie wie eine Rettungsleine mit ihm verband. Es war sein Drucker gewesen, der es ratternd ausgespuckt hatte. Und alle Wege weltwärts sind verschneit. Kaltes Beben überlief sie, trotz der stickigen Enge neben dem Dicken, der nach Angst stank. Vorne wurde gesprochen. Einer der Männer klang angespannt, der andere lachte. Holpern. Sie gab sich Mühe, den Kopf zu heben, damit er nicht bei jeder Unebenheit gegen den Boden des Kofferraums schlug. Darüber hängt der Himmel brach und breit. Ihr Hirn spuckte immer weitere Verse aus. Sie klammerte sich an sie wie an ein Gebet. Es blinkt das Schloß. Und längs den weißen Wänden hilft sich die Sehnsucht fort mit irren Händen. Die Uhren stehn im Schloß: es starb die Zeit. «Ich kenne das Gefühl», hatte er gesagt, und seine Hand war über ihre Wirbelsäule geglitten, auf und ab, ab und auf. «Kennst du es auch?» «Nein», hatte sie geantwortet, aber jetzt begriff sie es, oh Gott, und wie. Die Zeit war tot und blähte sich auf wie ein verwesender Leib. Jede Sekunde war quälend lang und verging gleichzeitig viel zu schnell, jede weitere führte näher an den Moment heran, der nicht kommen durfte ... und längs den weißen Wänden hilft sich die Sehnsucht fort mit irren Händen - Dann hielt der Wagen. Eine Tür wurde geöffnet und wieder geschlossen. Einer der Männer sagte etwas, das sie nicht verstand. In blanken Sälen schleichen leise Schauer, leise Schauer, leise Schauer ... die Worte fraßen sich in ihr Hirn und erstickten alle Gedanken. Der Dicke gab hinter seinem Knebel gurgelnde Geräusche von sich. Todkrank krallt das Geränk sich an die Mauer. Schritte, die näher kamen. Metallisches Klimpern. Zwei kurze, hohe Töne. Entsperrung. Die Heckklappe öffnete sich. Und alle Wege weltwärts sind verschneit.
Kapitel eins
Der Tisch war gedeckt, die Gläser poliert, sogar die Wassergläser. Beatrice sah nach dem Truthahn im Rohr und kämpfte gegen das völlig unpassende Gefühl an, ein Date vor sich zu haben. So war es nicht, ganz im Gegenteil, trotzdem wollte sie unbedingt noch duschen und sich umziehen, bevor sie den Tisch deckte. Ein Date, was für ein Wort. Als wäre sie siebzehn und nicht sechsunddreißig. Sie schüttelte über sich selbst den Kopf, drehte die Temperatur des Ofens hinunter und stieg aus ihren Jeans. Fünfzehn Minuten noch, das würde reichen. Mit etwas Glück fanden sie nicht gleich einen Parkplatz, dann hätte sie sogar noch Zeit genug, um sich ein gelöstes Lächeln ins Gesicht zu trimmen. Sie duschte schnell und heiß, föhnte ihr Haar halb trocken uns schlüpfte in ein hellblaues Sommerkleid, über das sie eine Schürze band, bevor sie die Teller auflegte und den Truthahn aus dem Ofen beförderte. Der Abend musste friedlich verlaufen, er musste einfach. Der Salat stand auf dem Tisch, daneben dampfte der Reis in einer Porzellanschüssel. Es sieht aus, dachte Beatrice, als würde ich so etwas hier jeden Tag machen.
Sie hatte den Truthahn gerade fertig tranchiert, als es an der Tür läutete. Pünktlich auf die Sekunde, natürlich. Das Lärmen der Kinder im Treppenhaus war sogar durch die geschlossene Tür zu hören, am lautesten Jakobs helle Stimme: «Ich bin schneller, ich bin schneller!». Beatrice öffnete die Tür, und beide Kinder stürmten ihr entgegen, atemlos. «Ich war schneller, Mama», keuchte Jakob. «Du hast es gesehen, oder? Oder?» Mina warf ihm einen vor Verachtung triefenden Blick zu. «Ist mir doch egal, Zwerg.» Sie drückte sich an Beatrice vorbei und schnupperte in die Wohnung hinein. Jetzt hatte auch Achim den letzten Treppenabsatz hinter sich gelassen. Er stand abwartend da, mit einer Flasche Wein in der Hand und einem Gesichtsausdruck, der sich zwischen Lächeln und Stirnrunzeln nicht entscheiden konnte. Beatrice ging ihm entgegen und nahm ihn am Arm. «Komm rein. Das Essen steht schon auf dem Tisch. Danke für den Wein.» Seine Miene hellte sich auf, und er strich sich beinahe verlegen über das schüttere blonde Haar. Es würde klappen, diesmal. Sie würden nicht streiten, sondern sich unterhalten wie Menschen, die etwas verbindet. Vielleicht würden sie sogar etwas finden, worüber sie gemeinsam lachen konnten. «Hattet ihr eine schöne Zeit?», fragte sie. «Ja, wir waren im Zoo in Hellbrunn», quäkte Jakob aus dem Badezimmer. Die Kinder wuschen sich freiwillig die Hände. Ein Wunder. «Die Nashörner sind so toll, Mama. Fast so groß wie ein Haus, und die stinken wie ... wie ...» Er fand keinen Vergleich und schüttelte sich zur Demonstration. Beatrice tauschte ein Lächeln mit Achim, eines der ersten seit der Scheidung. «Setzt euch, ja? Wer will Apfelsaft?» Sie fühlte, wie allmählich die Anspannung, die sie den ganzen Tag über begleitet hatte, von ihr abfiel. Das hier war ein normales Abendessen. Familie. Keine Prüfung, die sie zu bestehen hatte.
Wenn die Kinder im Bett waren, würde sie mit Achim reden, ganz in Ruhe, und endlich einen Modus für ihre Scheidungsbeziehung finden. Scheidungsbeziehung, oh mein Gott. Vielleicht Trennungsverhältnis? Auch nicht besser. Der Truthahn war gelungen, stellte sie nach dem ersten Bissen erleichtert fest. Das idiotensichere Rezept aus dem Internet hielt, was es versprochen hatte. «Wein?» Achim schwenkte die Flasche über ihrem Glas. «Ja, bitte.» Sie prosteten einander zu. Beatrice suchte nach dem bitteren Zug um seinen Mund, der und das alles hast du weggeworfen sagte, aber heute war nichts davon zu sehen. «Mina würde gern wieder einmal zum Segeln gehen», merkte er an, nachdem er den Wein gekostet hatte. «Ich finde, sie ist jetzt alt genug, um den Segelschein zu machen. Wäre doch ein schönes Hobby, nicht?» «Sicher. Wenn sie das möchte.» Mina hopste auf ihrem Stuhl auf und ab. «Ja, will ich! Dann steuere ich das Boot, und ihr sitzt nur drin und - » Beatrices Handy klingelte. Es war der schrille, nicht zu überhörende Ton, den sie für Anrufe aus dem Büro eingestellt hatte. «Drrring!», echote Jakob mit vollem Mund. Ihr erster Impuls war, nicht ranzugehen. Vielleicht war es bloß Hoffmann, der einen noch fehlenden Bericht einfordern wollte. Nein. Das konnte nicht sein. Hoffmann war für zwei weitere Tage in Wien. «Ach, Mist.» Sie legte die Gabel aus der Hand und blickte entschuldigend zu Achim. «Geh nur ran.» War sein Lächeln gönnerhaft? Oder tat sie ihm unrecht? Versuchte er, verständnisvoll zu sein? Beatrice fischte ihr Handy aus der Tasche. Florin.
Das war gut. Er würde verstehen, dass sie jetzt keine Zeit hatte, Berufliches zu besprechen. Bitte kein neuer Fall, nicht heute, nicht jetzt! Doch sie musste nur den Klang seiner Stimme hören, um zu wissen, dass sie das Abendessen vergessen konnte. «Bea, es tut mir leid. Eben ist ein Anruf hereingekommen, Spaziergänger haben zwei Tote gefunden, nicht weit von Schloss Aigen. Ich fahre gleich los. Kannst du direkt hinkommen?» Sie antwortete nicht sofort, sah erst zu Achim hinüber, der ebenfalls sein Besteck abgelegt hatte. Er rieb sich übers Kinn, eine ärgerliche Längsfalte teilte seine Stirn. Anrufe dieser Art hatte es früher oft gegeben, und er hatte nie freundlich darauf reagiert. Friedensverhandlungen einmal mehr im Ansatz gescheitert, dachte sie. «Wohin genau?» Sie kramte im Stiftehalter nach einem Kugelschreiber, der funktionierte, fand aber nur einen halb ausgetrockneten, grünen Textmarker.
Der musste reichen. Florin gab ihr eine Wegbeschreibung durch. In der Nähe des Fundorts lag ein Campingplatz, dort würde sie parken können, und dort würde er auf sie warten. Feste Schuhe, eine Jacke, Haare zusammenbinden. Aber vorher musste sie noch mit Achim sprechen. «Es tut mir leid, wirklich, aber ...» «Ein Notfall», führte er ihren Satz zu Ende. «Ja. Ist es das nicht immer?» Er klang resigniert, aber nicht angriffslustig, ganz anders als sonst. «Wer war dran? Wenninger?» «Ja. Florin. Er ist schon unterwegs zur Fundstelle.» «Du hast es also eilig.» Achims Lächeln wirkte angestrengt, aber es war da. Er gab sich wirklich Mühe. «Ja. Danke, dass du es verstehst», sagte sie vorsichtig. «Würdest du warten, bis ich zurück bin? Wegen der Kinder - und vielleicht können wir anschließend noch ein Glas trinken?» Jetzt senkten sich seine Mundwinkel, aber wenigstens blieb die Stimme freundlich. «Wenn du wiederkommst, schnarche ich längst auf der Couch. Ich habe nicht vergessen, wie das abläuft, machen wir uns keine Illusionen.» «Danke.» Sie lief ins Schlafzimmer, zog sich um, küsste die Kinder und saß innerhalb von fünf Minuten im Auto. Ein wenig beschämt über ihre eigene Erleichterung und Dankbarkeit Achim gegenüber. Als ob er etwas Besonderes geleistet hätte, indem er ihr keine Szene gemacht hatte. Sie stieg aus dem Auto und roch Brathuhn. Der Duft kam aus dem Bistro des Campingplatzes und erinnerte Beatrice daran, dass sie kaum etwas von ihrem Truthahn gegessen hatte. War vermutlich auch besser so.
Florin hatte nichts über den Zustand der Leichen gesagt. Es war gut möglich, dass ein voller Magen sich mit ihrem Anblick nur schlecht vertrug. Sie band sich die Schuhe fester zu und nahm die Jacke vom Rücksitz. Am Waldrand hatte sich eine Gruppe von Campern zusammengerottet, drei Polizisten in Uniform sprachen mit ihnen und sorgten gleichzeitig dafür, dass niemand zwischen den Bäumen verschwand. Dann entdeckte sie Florin. Er saß an einem Tisch vor dem Campingplatzbistro und unterhielt sich mit zwei jungen Männern. Sehr jungen Männern, wie Beatrice beim Näherkommen feststellte, höchstens neunzehn. Beide waren blass, einer hielt sich die Hände vor den Mund, als sei der Geruch von gebratenem Huhn zu viel für ihn. Florin winkte Beatrice dazu. «Gut, dass du da bist. Das hier sind Samuel Heilig und Daniel Radstetter. Studenten aus Freiburg, die ein paar Tage hier campen.» Beatrice schüttelte beiden die Hand. Die von Radstetter war eiskalt und feucht, trotz der sommerlichen Temperaturen. «Ich bin Beatrice Kaspary. Landeskriminalamt, genau wie mein Kollege. Ich vermute, Sie haben die Toten entdeckt?» Samuel Heilig schluckte und schloss kurz die Augen. «Wir waren spazieren, mit dem Hund. Unsere Freundinnen sind im Zelt geblieben.» Seiner Aussprache nach kam er aus Schwaben. «Der Hund hat plötzlich wie wild zu bellen begonnen und uns weitergezerrt. Zu einer ... Mulde hin. Einer Senke, wo ziemlich viel Gestrüpp wächst und dort -» Heilig unterbrach sich und warf seinem Freund einen hilfesuchenden Blick zu, aber der schüttelte nur den Kopf. «So schlimm», flüsterte er, die Hände immer noch vor dem Mund. «Ich gehe es mir ansehen.» Beatrice schob ihren Stuhl zurück und stand auf. «Ist Drasche schon hier?» Sie spähte zum Parkplatz hinüber, ohne das Auto des Spurensicherers zu entdecken. «Nein, aber er ist auf dem Weg.» Florin winkte einen der uniformierten Polizisten zum Tisch. «Bleiben Sie bitte bei den beiden Zeugen.» Mücken umschwirrten Beatrice und Florin schon am Waldrand, begleiteten sie auch, als sie in den Schatten der Bäume traten. Sirren und Summen. Am Fundort würde es noch schlimmer sein. Ein Fest für die Fliegen. Schweigend überwanden sie eine leichte Steigung. Beatrice spürte, dass Florin sie von der Seite ansah. Besorgt. Wirkte sie so mitgenommen? «Mit mir ist alles in Ordnung», erklärte sie. Er nickte und lächelte. «Gut zu wissen.» Sie überlegte, ob sie ihn fragen sollte, was sie in der Senke erwartete. Auf welchen Anblick sie sich einstellen musste. Doch dann ließ sie es bleiben. Es würde ihren ersten Eindruck zunichtemachen.
Beatrice konnte den Fundort der Leichen hören, bevor sie ihn sah. Wütendes Summen empfing sie, als sie auf den mit rot-weißem Band abgesperrten Bereich zugingen. Sie hatte recht gehabt mit den Fliegen. Aber noch kein Geruch. Sie kletterte unter der Absperrung hindurch und schluckte gegen das enge Gefühl in ihrer Kehle an. Doch die Anspannung blieb. Sie würde in Situationen wie dieser wohl ewig ihr Begleiter sein. Die Begegnung mit dem Tod wurde auch nach vielen Malen nicht einfacher. Sie lagen inmitten von trockenem Laub, eine Frau und ein Mann. Er auf dem Bauch, sie auf dem Rücken. Sein Körper war klein und gedrungen, ihrer lang und überschlank. Gegensätze, dachte Beatrice. Zwischen den Leichen kniete Dr. Vogt und war eben damit beschäftigt, mit einem Skalpell Hose und Unterhose des Mannes zu durchschneiden. Das Thermometer, mit dem er gleich die Rektaltemperatur messen würde, lag schon bereit. Beatrice unterdrückte den Impuls, sich abzuwenden. Sie heftete ihren Blick auf das zur Seite gewandte Gesicht der Frau, die bläuliche Hautfärbung, die aus dem Mund hängende Zunge. Halb offene, verdrehte Augen. Kein Wunder, dass die beiden jungen Camper so verstört gewesen waren. «Erdrosselt», erklärte Vogt, bevor sie fragen konnte. «Mit einer Wäscheleine, die liegt hier noch.» «Und der Mann?» Der Gerichtsmediziner winkte sie heran, deutete auf den von Laub halb verdeckten Kopf der Leiche. Ein Einschussloch an der rechten Schläfe. Eine ungleich größere Austrittswunde an der gegenüberliegenden Seite, das halbe Ohr und die Wange waren weggesprengt.
Direkt neben der Hand des Toten entdeckte Beatrice nun auch eine Pistole. Wenn sie die Fingerabdrücke des Mannes darauf fanden und sich zeigte, dass die Waffe auf ihn gemeldet war, dann konnten sie von Mord und Selbstmord ausgehen. Unerfüllte Liebe, Vertrauensmissbrauch, Betrug - sie versuchte, sich vorzustellen, wie die Beziehung der beiden zueinander gewesen sein mochte. Merkwürdig, es gelang ihr nicht. Es lag an der Frau. Ihr Gesicht war aufgequollen und verfärbt, aber man erkannte immer noch, dass sie sehr hübsch gewesen war. Puppenartige Züge, ein durchtrainierter, langgliedriger Körper. Schicke Kleidung - ein enormer Kontrast zu den an den Schenkeln abgewetzten Jeans des männlichen Opfers, das dazu ein sandfarbenes Poloshirt in Übergröße trug. Es war kein zulässiger Schluss, aber ein zu starker Eindruck, als dass Beatrice ihn einfach hätte ignorieren können. Mord und Selbstmord kamen hauptsächlich in Beziehungen vor, und sie glaubte nicht, dass die tote Frau ein intimes Verhältnis zu dem Mann gehabt hatte. Eher, dass er hinter ihr her gewesen war. Unerfüllte Liebe. Stalking, vielleicht. Vom Weg her waren eilige Schritte zu hören und die vertraute, übellaunige Stimme von Drasche, der wieder einmal seinen Unmut darüber kundtat, dass andere vor ihm am Tatort gewesen waren. Als könnten allein ihre Blicke wichtige Spuren verwischen. «Hallo, Gerd», begrüßte ihn Beatrice. «Bevor du fragst: Nein, wir haben noch nichts angefasst.» «Gut.» Drasche stellte seinen Spurensicherungskoffer ab und entnahm ihm Handschuhe, Plastikaufsteller mit Spurennummern und sein übliches Arsenal an Behältern und Tüten. Mittlerweile hatte auch sein Kollege Ebner den Anstieg geschafft, grüßte einmal in die Runde und packte seine Kamera aus. «Was bringt zwei so unterschiedliche Menschen im Tod zusammen?», murmelte Beatrice, mehr zu sich selbst, doch Florin hörte ihre Worte. «Das Leben, schätze ich. Wir wissen doch noch gar nichts über sie, Bea.» «Ja. Trotzdem.» Sie ging ein Stück näher heran, um Drasche besser bei der Arbeit beobachten zu können.
Florin gesellte sich zu Vogt, der eben unter dem Absperrband hindurchtauchte und sein Diktiergerät in die Jackentasche steckte. «Der Mann hat einen Ausweis bei sich, die Frau nicht.» Drasche hielt ein abgewetztes Lederportemonnaie hoch, aus dem er einen Führerschein zog, einen der neuen, im Scheckkartenformat. «Gerald Pallauf, geboren 1985. Vermutlich aus der Gegend, das Dokument wurde in Salzburg ausgestellt. Alles andere später.» Was ab jetzt will ich nicht mehr gestört werden bedeutete. Beatrice schrieb die Daten in ihr Notizbuch, die Augen zusammengekniffen, um besser sehen zu können. Die Dämmerung wich immer schneller der Dunkelheit. Gerade eben war noch jedes Detail des Waldbodens zu erkennen gewesen, nun hatte er sich in eine diffuse Fläche voller Stolperfallen verwandelt. Ebner brachte zwei Scheinwerfer in Position. Kurz darauf schnitt ihr Licht eine blendend grelle Scheibe aus der Finsternis und legte jedes Detail des Todes frei. Beatrice konzentrierte sich wieder auf Drasche, der sich gerade den Händen der Frau widmete, erst die linke, dann die rechte untersuchte.
Er betrachtete die gekrümmten Finger, hielt plötzlich inne und griff nach seiner Pinzette. Förderte etwas Dünnes, Weißes ans Licht, kaum größer als eine Briefmarke. «Ist das Papier?» Wenn man Drasche schon bei der Arbeit störte, war es Beatrices Erfahrung nach am erfolgversprechendsten, nur Ja- und Nein-Fragen zu stellen. Es funktionierte auch heute wieder, Drasche nickte und ließ den Papierschnipsel in einen kleinen Plastikbeutel fallen. «Steht etwas drauf?» Er sah kurz hoch, ungehaltene Querfalten auf der Stirn. «Nein. Diesmal keine Briefe an euch, wie es aussieht.» Beatrice ging bewusst nicht auf die Anspielung ein. Der Fall vom Frühjahr war ihr immer noch allzu präsent. Einiges, was damit in Zusammenhang stand, begleitete sie täglich in die Arbeit und zurück. Ein Stück leeres Papier also. Von einem größeren Blatt abgerissen, der Form und den Kanten nach zu schließen. Soweit sie die Senke überblickte, war dieses Blatt hier nirgendwo zu sehen. «Wir sollten uns um die Camper kümmern.» Florin war wieder neben sie getreten. «Die Campingplatzbesitzer befragen.» Er legte ihr eine Hand auf die Schulter.
© 2013 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
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Autoren-Porträt von Ursula Poznanski
Ursula Poznanski wurde 1968 in Wien geboren. Nach dem fulminanten Erfolg ihrer Jugendromane "Erebos", "Saeculum" und "Die Verratenen" widmet sie sich hauptsächlich dem Schreiben. "Fünf", ihr erster Thriller für Erwachsenen, erschien 2012 und wurde sofort ein Bestseller.
Bibliographische Angaben
- Autor: Ursula Poznanski
- 2014, 1, 480 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Flex. Einband
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863653998
- ISBN-13: 9783863653996
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