Blutwald
Es ist ein heißer Sommertag wie so viele andere, als Jessie Conway zur Schule fährt. Zwanzig Minuten später ist die junge Lehrerin Teil eines furchtbaren Rennen um ihr Leben und das Leben ihrer Schüler – ein Amokläufer ist...
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Produktinformationen zu „Blutwald “
Es ist ein heißer Sommertag wie so viele andere, als Jessie Conway zur Schule fährt. Zwanzig Minuten später ist die junge Lehrerin Teil eines furchtbaren Rennen um ihr Leben und das Leben ihrer Schüler – ein Amokläufer ist in die Schule eingedrungen und richtet ein Blutbad an. Traumatisiert, am Ende ihrer Kräfte und von den Medien gejagt versucht sie in den Wochen danach, langsam wieder zu Kräften zu kommen. Sie weiß, dass sie sich ihr Leben zurückerobern muss. Aber sie weiß nicht, dass das Grauen gerade erst begonnen hat...
"Vielleicht die beste Krimiautorin der letzten Jahre. Mit Arlene Hunt müssen wir rechnen."
John Connolly
Lese-Probe zu „Blutwald “
Blutwald von Arlene HuntAus dem Englischen von Ulrich Hoffmann
1
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Jessie Conway fächelte sich vergebens mit einer Hand Luft zu und wünschte zum zigsten Mal, dass die gnadenlose Hitze wenigstens ein bisschen nachlassen würde. Sie war achtunddreißig Jahre alt, groß, gleichmäßig proportioniert, und trug schulterlanges Haar, um dessen Farbton sie alle rot gefärbten Frauen in Rockville beneideten.
»Miss Conway?«
»Was gibt es, Riley?«
»Es ist echt heiß. Mir ist echt heiß. Es ist echt heiß heute.«
»Möchtest du, dass ich das Fenster öffne, Riley?«
Er nickte.
»Kannst du das auch mit Worten ausdrücken?«
»Machen Sie das Fenster auf.«
»Was solltest du noch sagen?«
Riley runzelte die Stirn und dachte nach. Jessie wartete, bis er darauf kam. Riley war vierzehn und einer der klügeren Schüler in ihrer Klasse. Auf alle Fälle verfügte er über das Potenzial, ein einigermaßen produktives Leben führen zu können, wenn er mit der Schule fertig war. Und dafür waren Manieren entscheidend. Jessie hoffte nur, das Universum würde ihn in der Zukunft ein bisschen besser behandeln als bisher.
»Bitte?«
»Sehr gut, Riley.«
Jessie erhob sich von ihrem Pult, durchquerte den Klassenraum und mühte sich mit dem Schiebefenster ab. Sie war ziemlich kräftig, konnte es aber trotzdem nur ein paar Zentimeter weit öffnen. Dieser Teil der Rockville High war alt und renovierungsbedürftig. Und würde es sicher noch eine Weile bleiben.
»Der Junge ist nie zufrieden, außer er beschwert sich über was«, murmelte ihre Assistenz-Lehrkraft Tracy Flowers, als sie neben Jessie trat, um ihr zu helfen.
»Aber er hat recht, es ist heiß.«
»Ich weiß nur nicht, was das nützen soll; da draußen ist es genauso heiß wie hier drinnen.«
Tracy war vierundzwanzig Jahre alt. Sie war im vorigen September an die Rockville High gekommen und ohne jeden Zweifel die beste Assistenz-Lehrkraft, mit der Jessie je zusammengearbeitet hatte. Sie jammerte gern, aber sie war streng, freundlich und vor allem äußerst gerecht zu den Kindern. An diesem Tag trug sie ein gelbes Sommerkleid in der Farbe von Butterblumen. Jessie fand, dass es sehr hübsch aussah, und hätte das gern zum Ausdruck gebracht, aber Tracy bekam nicht gerne Komplimente und mochte es überhaupt nicht, wenn sie irgendjemandem auffiel.
Gemeinsam gelang es ihnen, das Fenster etwa dreißig Zentimeter weit aufzuschieben. Jessie stützte sich mit den Händen auf das Sims, genoss die leichte Brise und das beruhigende Dröhnen eines Rasenmähers irgendwo in der Ferne. Es war ein wirklich schöner Junitag.
Nur noch eine Woche bis zu den Ferien, dachte sie und lächelte. Sie fragte sich, ob Mike, ihr Mann, den Vermittler wegen des Ferienhäuschens angerufen hatte, wie er es heute Morgen versprochen hatte. So wie sie Mike kannte, hatte er es höchstwahrscheinlich vergessen. Sie nahm sich vor, ihn in der Pause anzurufen, um ihn daran zu erinnern.
Als Jessie sich wieder der Klasse zuwandte, sah sie aus dem Augenwinkel noch einen dunkelgrünen Toyota langsam über den kreisförmigen Weg fahren, der das Schulgelände umgab. Die Fenster waren getönt und geschlossen. Klimaanlage, dachte Jessie - noch etwas, wovon die Schulleitung behauptete, die Reparatur nicht finanzieren zu können. Der Wagen verlangsamte, bog auf den großen Mitarbeiter-Parkplatz ab, und verschwand aus ihrem Blickfeld.
Jessie wandte sich vom Fenster ab und begann einem lieben Mädchen namens Martha Fisk zu helfen, Kleber auf die Karte zu streichen, an der sie arbeitete. Marthas Zungenspitze ragte seitlich aus ihrem Mund, so sehr konzentrierte sie sich auf die Aufgabe. Überall glitzerte es.
»Das ist sehr hübsch, Martha.«
»Äh-hä.«
»Für wen machst du die? Für deine Mom?«
Martha schüttelte den Kopf.
»Deine Schwester?«
Sie nickte.
»Sie ist wirklich sehr ...«
»Oh-oh.« Jessie schaute dem Kind über die Schulter. Martha hatte sechs Sterne aus glänzender Folie auf ihre Karte geklebt - und einen auf ihren Tisch.
»Oh-oh. Oh-oh.«
»Kein Problem, Martha, den können wir abziehen. Alles in Ordnung. Sieh nur.« Jessie zog den Stern hoch und wischte den Kleberest mit dem Daumen weg. »Siehst du, alles weg.«
Martha bedachte Jessie mit einem schmerzlichen, übertriebenen Grinsen. Ihre Dankbarkeit brach Jessie das Herz. Martha fehlten die vorderen Schneidezähne. Niemand hatte je eine zufriedenstellende Antwort von ihr bekommen, was geschehen war, nur dass sie schon lange fehlten und sie nicht gern darüber sprach. Die gleiche Frage an Marthas Mutter, als diese ein einziges Mal zu einem Gespräch mit der Lehrerin aufgetaucht war, war mit einem gelangweilten Schulterzucken beantwortet worden. »Wahrscheinlich hat sie sie sich rausgeschlagen. Sie wissen doch, wie sie ist, das blöde Gör knallt immer und überall hin.«
»Miss Conway?«
»Was kann ich für dich tun, Austin?«
»Ich muss pinkeln gehen, Miss Conway.«
Jessie zeigte auf eine große Plastikuhr, die hinter ihrem Pult an der Wand hing.
»Siehst du den langen Zeiger, Austin? Erinnerst du dich, dass wir darüber gesprochen haben? Wenn der große Zeiger auf der Sechs ist, kannst du gehen.«
»Ich muss aber wirklich dringend, Miss Conway.«
»Tracy, kannst du bitte Austin zur Toilette begleiten?«
»Aber sicher. Komm, Austin.«
»Ich will nicht mit ihr gehen«, sagte Austin und bog sich von Tracy weg. »Ich will nicht mit der.«
Tracys Ausdruck blieb neutral, sie war diese Reaktion gewöhnt, aber Jessie verspürte einen Stich Wut und Scham. Austins Vater hasste und misstraute »Farbigen« und erzählte das nur zu gerne jedem, der bereit war zuzuhören. Er verbrachte den Großteil der wenigen Zeit, die er nicht im Knast saß, damit, seinem jüngsten Sohn mit Geschichten darüber Angst einzujagen, was die »Farbigen« einem kleinen, schwachen Jungen wie Austin antun würden, wenn sie nur die Gelegenheit dazu bekämen.
»Austin«, sagte Jessie. »Erinnerst du dich, dass wir darüber gesprochen haben? Du schreist im Klassenraum nicht rum - wenn du in der Klasse schreist, darfst du nicht auf den Pausenhof. «
»Ich hab's gehört.«
»Musst du immer noch auf die Toilette?« Austin starrte sie schmollend an und schüttelte den Kopf. Er wandte sich wieder seiner Arbeit zu, rot vor Wut, und Tracy setzte ebenfalls stoisch ihre Tätigkeit fort.
Jessie schaute wieder auf die Uhr. Sie wäre so froh, wenn dieser Tag vorüber war. Offiziell galten Jessies Schüler als »marginalisiert «, was nichts anderes als politisch korrekter Blödsinn für »voll neben der Spur« war. Die meisten der Schüler in Jessies Klasse waren das Ergebnis von empörender Vernachlässigung, sowohl geistig wie körperlich, und Missbrauch, ebenfalls geistig wie körperlich. Sie waren die Kinder von Alkoholikern und Drogensüchtigen, von Eltern, die ihr halbes Leben im Gefängnis verbrachten, und den Rest der Zeit damit, ihre Sozialhilfe für Alkohol, Gras und Crystal Meth auf den Kopf zu hauen. Falls sie überhaupt irgendwelche Eltern hatten. Viele von Jessies Schülern wuchsen bei ihren Großeltern auf - traurigen, müden, unzureichend qualifizierten Leuten, deren Herz am rechten Fleck saß, die allerdings auch über keinerlei Möglichkeiten verfügten, ihren Enkelkindern zu helfen, abgesehen davon, ihnen etwas zu essen und ein Dach über dem Kopf zu bieten.
Jessie zog ein Pop-up-Bilderbuch unter einem der Pulte hervor und stellte es zurück in das, was sie romantisch »die Bibliothek « nannten, obwohl es im Grunde nur zwei Borde voll abgegriffener Bücher waren, die aus Wohltätigkeitsveranstaltungen oder Gewinnspielen stammten. Endlich klingelte es. Die Schüler packten ihre Sachen und schlurften zur Tür. Irgendwer verabschiedete sich, die meisten nicht.
»Was für ein Tag«, seufzte Tracy, als das letzte Kind gegangen war. »Ich schwöre, ich kann das nicht noch eine Woche ertragen. «
»Keiner hat je gesagt, dass Sonderpädagogik einfach wäre«, sagte Jessie und fasste ihr dunkelrotes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammen.
»Nee, wohl nicht.«
Jessie legte Tracy eine Hand auf die Schulter. »Du machst das toll.«
Tracy zeigte ein schiefes Grinsen, das sagen sollte, dass sie das anders sah. »Ich hole mir einen starken Kaffee. Kommst du?«
»In ein paar Minuten. Hol mir einen Nachtisch, wenn es welchen gibt. Ich glaube, vorhin hat irgendjemand etwas von Cheesecake gesagt.«
»O Mann, wie kannst du bloß so was essen und nie zunehmen? Ich muss Kuchen nur angucken und er klebt schon auf meinen Hüften.«
»Das ist ein Geheimnis. Wenn ich es dir verrate, muss ich dich umbringen.«
Tracy lachte und ging.
Jessie wischte die Tafel sauber und begann die Aufgaben für die nächste Stunde anzuschreiben. Als sie damit fertig war, griff sie nach ihrer Handtasche und wollte gerade den Klassenraum verlassen, als sie ein Knallen hörte. Es war laut und nah.
Jessie öffnete die Tür und trat hinaus. Kinder rannten durch den Flur, etliche von ihnen schauten neugierig.
»Was ist los?«, fragte Jessie einen dicken Jungen, den sie aus der achten Klasse kannte.
»Weiß nich'.«
Das sommersprossige Mädchen neben ihm schaute ängstlich. »Für mich klingt das wie Schüsse.«
»Ach was«, sagte der Junge. »Wahrscheinlich bloß Böller oder so ein Scheiß.«
Dann ging der Feueralarm los, das ohrenbetäubende Schrillen erfüllte die Flure.
»Okay, okay.« Jessie klatschte in die Hände, um die Schüler auf sich aufmerksam zu machen. »Ihr wisst Bescheid, alle gehen raus auf den Basketball-Platz. Kein Gerenne, kein Geschubse. Ganz in Ruhe. Bitte durch den nächsten Ausgang.«
Jessie drängte sich zwischen den Kindern hindurch und lief den Flur entlang, bis sie in den Eingangsbereich kam. Die Rockville High war ein einstöckiges Gebäude, das um diesen doppelt so hohen Raum errichtet worden war, von dem vier »Flügel« abzweigten. Direkt links von Jessie befand sich das Lehrerzimmer, rechts die Cafeteria. Kinder kamen aus drei unterschiedlichen Fluren angelaufen. Einige von ihnen lachten und johlten, andere wirkten ängstlich. Etliche Schüler standen vor den Spinden gegenüber der Tür zur Cafeteria und zogen ihre Bücher aus den Rucksäcken, als wäre der Alarm überhaupt nicht zu hören.
Jessie entdeckte Adam Edwards, den stellvertretenden Schuldirektor, der aus dem B-Flügel ins Foyer kam. Er versuchte Schüler in Richtung des A-Flügels zu dirigieren; er bat sie, ruhig zu bleiben und zügig zu gehen, aber nicht zu rennen. Jessie fragte sich, warum er sie nicht in Richtung des Hauptausganges laufen ließ. Sie wandte den Kopf und sah, dass eine Kette durch die Türgriffe gezogen worden war; ein schweres Schnappschloss hing daran herunter. Augenblicklich eilte sie auf den stellvertretenden Schulleiter zu.
»Was ist los?«
»Ich weiß nicht. Ich war im Physikraum. Jemand hat gesagt, es würde geschossen. Als ich hierher kam, waren die Türen zugekettet. « Er beugte sich näher zu ihr und flüsterte: »Dasselbe gilt für den Notausgang neben den Fahrradständern.«
»Ist das problematisch?«
»Ich weiß es nicht.«
»Sind alle Türen zu?«
»Weiß ich nicht. Direktorin Carmichael überprüft den C-Flügel. Ich denke, wir sollten alle nach draußen bringen.«
»Was kann ich tun?«
»Sie können helfen, die Schüler nach draußen zu schaffen und dann zu überprüfen, ob jemand fehlt.«
Sie konnte sehen, dass er Mühe hatte, ruhig zu bleiben. Das alarmierte sie. Edwards war groß gewachsen, gutmütig, aber stets ernst, ganz sicher kein Angsthase. Immer mehr Jugendliche kamen in die Halle. Jessie fiel die Gruppe auf, mit der sie vor ihrem Klassenraum gesprochen hatte.
»Ich hatte euch doch gesagt, ihr sollt nach draußen gehen«, sagte sie zu dem Mädchen mit den Sommersprossen.
»Die Türen sind zu. Jemand hat sie mit einer Kette versperrt. «
Edwards hob die Hände über den Kopf.
»Alle mal zuhören. Hört auf zu drängeln und beruhigt euch. Geht ruhig und langsam zum hinteren Notausgang. Alle nacheinander. Ich möchte bitte alle draußen haben. Alle gehen aufs Basketballfeld, ruhig und langsam. Miss Conway, können Sie sicherstellen, dass die Cafeteria leer ist?«
»Natürlich.« Jessie begann in Richtung der Cafeteria zu gehen, aber in diesem Moment öffnete sich eine der Schwingtüren und ein groß gewachsener Jugendlicher kam heraus - sie kannte ihn, Kyle Saunders. Er hatte eine halbautomatische Waffe an einem langen Riemen vor der Brust hängen. Adam Edwards entdeckte ihn, und seine Augen weiteten sich vor Überraschung. Er reagierte schnell. Er packte das ihm am nächsten stehende Kind und schubste es in Richtung eines der Flure. »Lauf!« Kyle Saunders hob die Waffe. Sein Gesicht glänzte und seine Lippen waren gespreizt, sodass man seine Zähne sehen konnte. Sein Blick huschte durch das brodelnde Foyer.
»Hey ihr Wichser! Yo! Wichser, erinnert ihr euch?«
»Kyle ...« Edwards hob die Hand vor sich auf Brusthöhe. »Leg die Waffe weg, Kyle. Leg sie weg, damit wir über alles reden können.«
Kyle starrte Edwards einen Augenblick lang an und grinste dabei eigenartig. Jessie konnte sehen, wie sich Zweifel in Edwards Blick schlichen.
»Kyle, hör mir zu ...«
Kyle begann zu schießen.
Die erste Salve traf die Glasziegel, die sich an der Wand über den Spinden befanden. Kinder rannten schreiend in alle möglichen Richtungen. Einige stürzten und wurden niedergetrampelt, andere drückten sich an die Wände und bedeckten ihre Köpfe mit den Händen, als könnte sie das retten. Ein oder zwei standen bloß wie angewurzelt da und starrten ungläubig vor sich hin.
Die zweite Salve kam tiefer. Ein stechender Schrei brach ab. Eine Kugel traf Edwards direkt in die Brust, er wirbelte im Stand herum, tat einen Schritt und fiel zu Boden.
Jessie starrte Alan Edwards' Körper an, das Gesicht erstarrt; sie konnte nicht begreifen, was geschehen war.
»Alan.«
Sie trat einen Schritt vor, aber Blut begann sich unter ihm zu sammeln und seine Finger suchten auf dem Fliesenboden nach Halt. Hinter ihm lag ein weiterer Junge am Boden, den Rucksack noch auf den Schultern.
Kyle Saunders legte den Kopf in den Nacken und johlte. Er johlte immer noch, als Jessie Conway ihn mit vollem Tempo umrannte. Der Aufprall ließ Kyle durch die Schwingtüren der Cafeteria fliegen, Jessie praktisch auf ihm drauf. Sie stießen gegen einen Tisch, stürzten darüber und knallten zu Boden. Jessie erholte sich als erste. Sie rammte Kyle ihr Knie in den Magen und riss ihm den Riemen über den Kopf. Bevor er wusste, was geschah, griff sie nach der Waffe. Sie spürte, wie die Hitze des Laufes die Haut ihrer Finger Blasen schlagen ließ, sie roch das Schießpulver und den Schweiß von Kyles Körper. Sie warf sich mit ihrem gesamten Gewicht nach hinten, stemmte sich energisch gegen seinen Bauch, und schrie, während sie sich von ihm weg bog.
Aber Kyle war zu stark und es gelang ihm, die Waffe im Griff zu behalten. Er entriss sie ihr und schlug mit dem Kolben voran in Richtung von Jessies Kopf. Er streifte sie, aber es gelang ihr, den Körper zur Seite zu drehen, bevor er einen echten Treffer landen konnte. Kyle versuchte, sich aufzurappeln. Aber Jessie erhob sich zuerst, griff ihn mit der Schulter voran an und drängte ihren Körper zwischen ihn und die Waffe. Speichel stob seitlich gegen Jessies Gesicht, als Kyle versuchte, ihr das Gewehr unter das Kinn zu rammen. Sie klammerte sich stur an ihn und hielt die Waffe so dicht an ihrem Körper wie nur möglich, den Lauf nach oben und von ihr weg gerichtet.
Sie zerrten hin und her. Kyle löste eine Hand und schlug ihr in den Rücken, oberhalb der Niere. Verzweifelt trat Jessie Kyle auf den Fuß und versuchte, ihm ihre Schulter in die Brust zu stoßen, um seinen Griff über ihre Schulter hinweg zu lösen.
Es brachte nichts.
Sie trat und trat, sie zielte mit ihrer Ferse nach jedem Fleck, den sie erwischen konnte. Sie landete einen heftigen Treffer auf seinem Schienbein, aber Kyle schlug sie erneut, und diesmal tat es verdammt weh. Jessies Griff lockerte sich. Sie versuchte es mit einem letzten verzweifelten Schwinger. Als sie sich drehte, sah sie einen weiteren Jungen auf einem Tisch am anderen Ende der Cafeteria stehen, neben dem Getränkeautomaten. Er war schlank und jung, mit einem zarten dünnen Bärtchen, das noch nicht richtig zu wachsen begonnen hatte. Er trug von Kopf bis Fuß Schwarz. All das registrierte Jessie in einem einzigen Augenblick. Und da war noch etwas.
Er zielte mit einem Gewehr auf sie.
»Knall sie ab!«, schrie Kyle Saunders. »Knall die Scheißkuh ab!«
Es folgte ein ohrenbetäubendes Donnern. Jessie spürte, kurz bevor sie unter Kyles Saunders Gewicht zusammenbrach, einen Schmerz an der linken Seite ihres Gesichts. Sie hielt jetzt das Gewehr in Händen, hob es blindlings und schoss in die Richtung, wo sie den anderen Jungen vermutete. Durch den Rauch hindurch sah sie ihn rücklings vom Tisch kippen, dann konnte sie ihn nicht mehr sehen.
Jessie lag entgeistert still. Kyle Saunders' Unterkörper lag verdreht auf ihrer Hüfte. Sie drehte den Kopf und sah, dass er tot war. Von seinem Kopf war nichts übrig außer einem blutigen Stumpf und ein paar Knochenstücken. In Jessies Ohren zischte und klingelte es. Sie senkte das Gewehr zu Boden, kroch unter Kyle hervor und setzte sich auf. Blut tropfte auf ihre Brust und in ihren Schoß. Sie blinzelte, ohne irgendetwas zu begreifen. Als sie es geschafft hatte, sich aufzurichten, und unsichere Schritte tat, bemerkte sie, dass ihre Bluse durchnässt war. Sie stürzte erneut und landete dicht neben zwei entsetzten Mädchen, die unter einem umgedrehten Tisch kauerten. Sie erkannte ihre Gesichter, konnte sich aber nicht an ihre Namen erinnern.
»Haut ab!«
Die Mädchen klammerten sich aneinander. Eines von ihnen sagte etwas, aber Jessie konnte die Worte nicht verstehen.
»Lauft!«
Sie flohen.
Jessie kroch über den Boden dorthin, wo der Junge gestürzt war.
Er lag auf dem Rücken und keuchte. Sein Gewehr befand sich rechts von ihm, außer Reichweite. Ein Arm lag auf seiner Brust, der andere gekrümmt neben ihm. Die Vorderseite seines Shirts war blutig. Seine Augen standen offen, und als sie näher kam, schaute er in ihre Richtung.
»Oh«, flüsterte Jessie, als sie sah, welchen Schaden sie angerichtet hatte.
Er lächelte, in Wahrheit eine schreckliche Grimasse. Schaumige Blutbläschen bildeten sich in seinem Mundwinkel, platzten, wurden durch neue ersetzt. Jessie stützte all ihr Gewicht auf ihre rechte Hand und griff nach seiner Linken.
»Warum habt ihr das getan?«
Aber er antwortete ihr nicht, und einen Augenblick später verlor sein Blick den Fokus, seine Brust hörte auf sich zu bewegen, er war tot.
Jessie starrte ihn an. Sie versuchte sitzen zu bleiben, brachte aber die Kraft nicht auf. Sie sank neben dem toten Jungen zu Boden und wischte sich das Blut aus den Augen. Sie sah Tracy Flowers neben dem Getränkeautomaten liegen. Sie hatte einen Schuh verloren, und die Rückseite ihres sonnengelben Kleides war voller Blut.
Jessie wollte zu ihr, schaffte es aber nicht. Sie übergab sich, schloss die Augen, und endlich nahm die Dunkelheit sie mit sich.
2
Geboren worden war er als Caleb Switch, aber es war so lange her, seit er den Namen benutzt hatte, dass er sich nur noch selten selbst so nannte.
Caleb packte seine paar Sachen aus und legte sie sorgsam auf den Tisch. Er öffnete eine Plastikschachtel und aß daraus eine leichte, proteinreiche Mahlzeit, die er am Abend zuvor in seiner Wohnung zubereitet hatte. Während er darauf wartete, dass sein Essen verdaut wurde, blätterte er die neueste Ausgabe eines Magazins über traditionelle Jagd durch und amüsierte sich über die wilden Geschichten darin. Die Zeitschrift war ein Luxus. Sie wurde einmal im Monat in seine Wohnung in der Stadt geliefert. Der Name auf dem Abo lautete Arthur Weils. Derselbe Name wie im Grundbucheintrag und auf den Nebenkostenabrechnungen.
Arthur Weils war derjenige, der er momentan war, Arthur Samuel Weils. Seine Freunde hätten ihn vielleicht Art genannt, hätte er irgendwelche Freunde gehabt.
Der echte Arthur S. Weils lag begraben unter den Büschen hinter der Hütte, in der Caleb nun saß, endlich frei von seinem Selbsthass und der Unzufriedenheit, mit der er weitgehend passiv seine elenden sechsunddreißig Jahre auf diesem Planeten ertragen hatte. Wann immer Caleb an den echten Arthur Weils dachte - was selten geschah -, kam er zu dem Schluss, dass er dem Mann einen Gefallen getan hatte. Ganz sicher hatte Arthur sich nicht ernsthaft gewehrt, als klar geworden war, was Caleb vorhatte. Damit hatte Caleb auch nicht gerechnet, Typen der Kategorie B verfügten nicht über den Willen, zu überleben. Sie waren Betas, schwach und vollkommen zufrieden damit, blindlings der Herde zu folgen, stoisch akzeptierten sie ihr Schicksal. Ach Teufel, sie waren kaum mehr als Fleischbatzen. Aber auch sie hatten ihren Nutzen, wie Art bewies.
Als er ausgelesen hatte, legte Caleb seine Kleidung ab und stand nackt vor dem mannshohen Spiegel. Er betrachtete sein Spiegelbild in dem fleckigen Glas. Er war achtundzwanzig Jahre alt. Sein dunkles Haar war nicht zu lang und nicht zu kurz. Er hatte einen Bart, kurz geschoren. Die Leute sagten, er sehe ausgesprochen anständig aus. Praktischerweise verbarg der Bart zugleich eine lange Narbe, die von der linken Seite seiner Lippe bis unter den Kiefer führte, eines der vielen Kindheitsgeschenke von seinem alten Herrn. Er war einssiebenundachtzig groß und mit sechsundachtzig Kilo schlank und muskulös, wobei er auf angeberische Fitnessstudiomuskeln zugunsten echter körperlicher Kraft verzichtete. Er hatte kein überschüssiges Fett und teilte auch nicht die Weichheit, die viele Männer seines Alters befiel. Leute, die nicht auf sich achteten, fand er ekelhaft. Weiche, teigige, blassgesichtige Männer, mit ihren Bierbäuchen und Hängetitten, Frauen mit geschwollenen Wänsten und Pferdeschenkeln waren widerwärtig. Sein Körper würde nie so aussehen. Das würde er nicht zulassen. Sein Körper war eine Maschine, ein Werkzeug. Und insofern pflegte er ihn perfekt.
Er wärmte sich langsam auf, nahm sich die Zeit, seine Schenkel zu dehnen und seine Wadenmuskeln mit einer Reihe ausführlicher Dehnübungen und Drehungen zu lockern. Während er sich bewegte, spürte er, wie das Blut durch seinen Körper flutete, und genoss die Spannung in seinen Gliedern.
Nach dem Aufwärmen schnallte er sich einen Gewichtgürtel um, packte die Klimmzugstange, die er an die Decke geschraubt hatte, und vollführte einen Satz von zwanzig perfekten, vollständigen Klimmzügen. Er ließ sich auf den Boden herab, löste den Gürtel und vollführte dieselbe Anzahl Liegestützen. Die Muskeln auf seinem Rücken tanzten, die Venen auf seinen Bizeps zeichneten sich ab. Er wiederholte die Kombination weitere drei Mal.
Er beendete den letzten Satz und trat wieder vor den Spiegel. Er betrachtete seinen Körper eine ganze Minute lang und suchte nach Schwachstellen. Aber er fand keine. Nackt ging er zu einem Metallbord, das mit Winkeln an der gegenüberliegenden Wand befestigt war. Er hatte die Werkbank selbst gebaut und bestens organisiert. Jedes Werkzeug hatte seinen Platz, die Oberfläche war sauber und frei von Schmutz. Darauf stand eine schwere Leinentasche, daneben ein schmaler Metallkoffer.
Caleb zog einen Hocker heran und setzte sich. Er öffnete den Reißverschluss der Tasche und zog einen maßgefertigten Bogen heraus. Er setzte ihn geschickt zusammen, schob den gummierten Handschutz über das Scharnier und spannte den Bogen mit einer gekonnten Bewegung. Er wachste die Sehne und fuhr mit dem Daumen über das Zedernholz auf der Suche nach Scharten oder Kratzern. Der Bogen war von ausgesuchter Schönheit. Caleb hatte ihn vor über zehn Jahren von einem Handwerksmeister in Marshall, North Carolina, erworben. Er wog unter einem Kilo, hatte eine Auszugslänge von 28 Zoll und war lautlos wie eine Gruft. Seine Präzision war kaum vollstellbar. Jeder Idiot konnte aus der Ferne mit einer Pistole oder einer Armbrust schießen, und heutzutage taten das auch immer mehr Idioten, aber nur ein echter Jäger konnte nah genug herankommen, um mit Pfeil und Bogen Beute zu machen.
Zufrieden zog er einen Pfeil aus dem Köcher. Die Pfeile waren seine Spezialität, jedes Jahr machte er Dutzende davon. Sie bestanden aus leichten Holzschäften mit Adler- und Bussardfedern. Die Federn band er mit Bisamratten-Sehnen fest. Vorn an jedem Pfeil befand sich eine Jagdspitze mit vier Graten. Er fertigte die Pfeilspitzen aus Obsidian, wobei er einen Wellenschliff nutzte, den sein alter Herr ihm beigebracht hatte. Jede Pfeilspitze erhitzte er, dann durfte sie abkühlen, und schließlich wurde sie so scharf geschliffen, dass sie durch dickes Gummi schnitt, als wäre es Butter. Caleb hielt eine ins Licht. Er schaute darüber hinweg, er stellte sich vor, wie sie seinen Bogen verließ. Der Pfeil würde schnurgerade fliegen, daran hatte er keine Zweifel.
Außer seinem Bogen trug er ein altes Armeemesser bei sich, das einst seinem Großvater gehört hatte, und ein Winchester- Gewehr mit offenem Visier, Kaliber .30-30, das er von seinem Vater geerbt hatte. Das Gewehr nervte. Obwohl gerade dieses Modell sich relativ leicht tragen ließ, war er damit langsamer. Er hatte es noch nie gebraucht, aber aus Erfahrung war er lieber auf das Unvorhergesehene vorbereitet.
Er legte das Gewehr hin und wickelte das Messer aus. Der Griff war aus Kirschholz. Es war mal ein Muster darauf gewesen - er konnte sich noch grob daran erinnern - aber das war schon lange abgegriffen. Er fuhr mit dem Daumen über die Klinge, und augenblicklich stieg ein Blutstropfen an die Oberfläche seiner Haut.
Caleb wickelte das Messer wieder ein und betrat die gasbetriebene Dusche hinten in der Hütte. Er schaltete das Wasser ein, und als es fast zu heiß war, um es noch zu ertragen, trat er unter den Strahl und wusch sich mit einer speziellen Seife. Er entfernte alle Überreste von Schweiß von seinem Körper, wusch sich erneut, und ließ das Wasser lange über seine Haut laufen. Duft wurde in der Luft weitergetragen, auf diese Weise konnte man leicht seine Position verraten. Er beendete die Dusche mit einem eiskalten Strahl, um seine Poren zu schließen, dann schaltete er das Wasser aus. Er trat aus der Dusche und kehrte in das Wohnzimmer der Hütte zurück, wo er seine Haut an der Luft trocknen ließ.
Er betrachtete eine Karte, die an der Wand gegenüber der Werkbank hing, und ging im Geiste das Gelände durch, er prägte sich die Route ein. Es gab natürliche Jäger in diesem Wald, sowohl Bären als auch Kojoten. Die Bären in dieser Gegend waren ängstlich und vor allem interessiert am Fressen, sie hielten sich von Menschen so fern wie möglich. Die Männchen spielten sich manchmal auf, waren aber im Grunde ungefährlich, ein Weibchen mit Jungen hingegen würde ihn ohne zögern angreifen, und das durfte er nicht vergessen.
Er tippte mit dem Zeigefinger auf die Karte. Die Gegend, in der er jagte, befand sich tief in einem Wald, der sich aus North Carolina bis nach Tennessee erstreckte. Seine Hütte lag in einem abgelegenen, fast menschenleeren Tal, etliche Kilometer von den beliebten Wanderwegen und Zeltplätzen entfernt. Es hatte vor vielen Jahren in diesem Tal eine kleine Stadt gegeben, aber die war längst verlassen. Die Natur hatte sie zurückgefordert.
Als Caleb trocken war, schloss er eine Metalltruhe auf und nahm die einzelnen Zip-Lock-Plastiktüten heraus, in denen sich seine Jagdsachen befanden. Nach einer Jagd wurden alle diese Kleidungsstücke sorgfältig gewaschen, getrocknet, und mit einigen Blättern und frischen Pinienzapfen in Plastik verpackt. In den Jagdzeitschriften berichteten sie von Hightech- Carbon-Anzügen, die den Geruch der Jäger verminderten, aber er machte es auf traditionelle Art und hatte Erfolg damit.
Caleb zog sich zügig an und schmierte sich dunkelgrüne, nicht reflektierende Tarnfarbe auf seine blassen Wangen und die Handrücken. Er bedeckte seinen Kopf mit einer frisch gewaschenen schwarzen Kappe. Es überraschte ihn immer wieder, wie viele Jäger sich die Mühe machten, duftende Klamotten anzuziehen, aber jeden Tag dieselbe Mütze trugen, wobei sie vergaßen, wie stinkig der schweißdurchtränkte Lappen wurde.
Er befestigte sein Messer am linken Oberschenkel und trug das Gewehr, den Köcher und den Bogen hinaus zu seinem Truck. Er legte sie neben dem Fahrersitz auf den Boden und bedeckte sie mit einer Plastikfolie. Ein erregtes Zittern durchfuhr ihn. Das war der beste Teil der Jagd. Die ganze Arbeit, die ganze mühsame Vorbereitung, galt der bevorstehenden Stunde. Er lehnte sich an den Truck, reckte sein Gesicht dem wolkenlosen Morgenhimmel über sich entgegen, und schätzte sich einen glücklichen Mann.
Caleb fuhr von seinem Grundstück herunter und bog dann rechts auf einen kleinen Feldweg ein, auf dem das Gras in der Mitte fast kniehoch stand. Er fuhr mit Abblendlicht, obwohl ihm nicht ein einziges Fahrzeug entgegenkam, und damit hatte er auch nicht gerechnet. So weit im Tal begegnete ihm selten jemand. Er legte ein paar Kilometer zurück, wobei der Weg stetig anstieg. Er überquerte eine alte Holzbrücke, kaum breit genug für seinen Truck, und nach einem guten halben Kilometer bog er auf einen holprigen Weg, der seitlich den Berg hochführte. Er schaltete in den zweiten Gang, dann in den ersten, während er immer höher fuhr. An einigen Stellen standen die Büsche und Bäume an beiden Seiten so dicht, dass der Weg kaum passierbar war.
Es dauerte weitere fünfundzwanzig Minuten, bevor der Weg abflachte und er durch einen mit Schlaglöchern übersäten Durchlass auf eine kleine Lichtung holperte. Er setzte den Truck rückwärts zwischen einige Felsen und schaltete den Motor aus.
Die Lichtung befand sich etwa auf zwei Drittel der Höhe eines Berges, den er nur als Devils Bridge kannte, und weiter konnte man nicht mit dem Auto fahren. Er saß kurz da, starrte über die Bäume hinweg, lauschte dem Ticken des abkühlenden Motors. Er sah die ersten Lichtstrahlen die höchsten Wipfel beleuchten. Er wurde sich seines Atems bewusst, spürte wie seine Brust sich weitete und zusammenzog, langsam und regelmäßig.
Er war bereit.
Er stieg aus dem Jeep, ging nach hinten und sprang mit einer geschmeidigen Bewegung auf die Ladefläche. Er wuchtete den Reservereifen heraus und öffnete die Tür zu einem Kasten, die unter der Ladefläche angebracht worden war.
Darin lag ein gefesseltes und geknebeltes Mädchen. Sie trug eine knallenge Jeans und eine dunkelrote Lederjacke. Ihr Haar war in einem krassen, peinlichen Grellblond gefärbt, ein paar Zentimeter Ansatz waren zu sehen.
Sie schrie trotz ihres Knebels, als er sie herauszerrte. Das Geräusch störte ihn.
»Hör auf. Hier kann dich sowieso keiner hören.«
Er stieß sie seitlich vom Truck herunter und sie knallte mit der Grazie eines Sacks Getreide zu Boden. Er sprang hinterher, riss sie in den Stand und entfernte den Knebel. Augenblicklich begann sie zu reden.
»Bitte ... oh, bitte, Mister ... bitte tun Sie mir nichts. Bitte, ich sage auch keinem was, ich schwöre es, Mister, ich sage nichts ...«
Er zog das Messer aus der Scheide und drückte es an ihre Wange.
»Ich habe gesagt, du sollst still sein.«
Sie zitterte heftig, schwieg aber. Er fuhr mit dem Messer über ihre Haut und durchschnitt schließlich die Fesseln an ihren Handgelenken. Er deutete mit der Klinge quer über die Lichtung.
»Hast du vor einer Weile die Brücke gehört?«
Sie zwinkerte und leckte ein paarmal über ihre Lippen.
»Also, hast du, oder nicht?«
Sie nickte.
»Hinter diesen Bäumen ist so eine Art Pfad. Wenn du den findest, kannst du ihm folgen, bis du an einen Bach kommst. Folgst du dem, schaffst du es vielleicht bis zur Brücke. Und wenn du das schaffst, schaffst du es vielleicht auch noch weiter, bis zur Straße.«
Sie zwinkerte, drehte den Kopf in Richtung der Bäume, dann in seine Richtung, ungläubig. Ihr Hals schimmerte weiß im Morgenlicht.
»Mister?«
»Ich gebe dir fünf Minuten Vorsprung. Ich schlage vor, du machst das Beste daraus.«
Sie sank gegen den Truck. »Sie tun mir was, wenn ich weglaufe. «
»Ich tue dir was, wenn du nicht wegläufst.«
»Ich will nicht sterben. Bitte, Mister, ich will wirklich nicht sterben.«
»Dann lauf.«
Sie zögerte. Er wartete. Sie zögerten immer.
Sie schaute hierhin und dahin, schätzte die Lage ab. Er fragte sich, was sie glaubte, was jetzt geschehen würde? Glaubte sie, es wäre wie im Film? Dass die Guten mit einem Hubschrauber kämen und sie in Sicherheit brachten? Wieso kapierten sie es immer erst in der letzten Sekunde?
Schließlich ging sie los, zuerst langsam, sie behielt ihn im Auge. Caleb stand vollkommen still. Nach drei Metern begann sie ungeschickt über den unebenen Boden zu laufen. Sie hatte noch keine dreißig Meter geschafft, als sie stolperte und fiel. Er sah zu, wie sie sich aufrappelte und weitertaumelte.
Kategorie B, dachte er, kein Zweifel.
Als sie endlich die Bäume auf der anderen Seite der Lichtung erreicht hatte, wandte Caleb sein Gesicht der aufgehenden Sonne zu und zählte die Minuten herunter. Deswegen machte er sich selten die Mühe mit solchen Schnepfen. Sie hatten keinen Kampfgeist, keinen Grips, keinen Überlebenswillen.
Als die vorgegebene Zeit abgelaufen war, holte er sein Gewehr und den Bogen hinter dem Sitz hervor und machte sich auf die Suche nach dem Mädchen.
Zeit zu jagen.
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2013 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Jessie Conway fächelte sich vergebens mit einer Hand Luft zu und wünschte zum zigsten Mal, dass die gnadenlose Hitze wenigstens ein bisschen nachlassen würde. Sie war achtunddreißig Jahre alt, groß, gleichmäßig proportioniert, und trug schulterlanges Haar, um dessen Farbton sie alle rot gefärbten Frauen in Rockville beneideten.
»Miss Conway?«
»Was gibt es, Riley?«
»Es ist echt heiß. Mir ist echt heiß. Es ist echt heiß heute.«
»Möchtest du, dass ich das Fenster öffne, Riley?«
Er nickte.
»Kannst du das auch mit Worten ausdrücken?«
»Machen Sie das Fenster auf.«
»Was solltest du noch sagen?«
Riley runzelte die Stirn und dachte nach. Jessie wartete, bis er darauf kam. Riley war vierzehn und einer der klügeren Schüler in ihrer Klasse. Auf alle Fälle verfügte er über das Potenzial, ein einigermaßen produktives Leben führen zu können, wenn er mit der Schule fertig war. Und dafür waren Manieren entscheidend. Jessie hoffte nur, das Universum würde ihn in der Zukunft ein bisschen besser behandeln als bisher.
»Bitte?«
»Sehr gut, Riley.«
Jessie erhob sich von ihrem Pult, durchquerte den Klassenraum und mühte sich mit dem Schiebefenster ab. Sie war ziemlich kräftig, konnte es aber trotzdem nur ein paar Zentimeter weit öffnen. Dieser Teil der Rockville High war alt und renovierungsbedürftig. Und würde es sicher noch eine Weile bleiben.
»Der Junge ist nie zufrieden, außer er beschwert sich über was«, murmelte ihre Assistenz-Lehrkraft Tracy Flowers, als sie neben Jessie trat, um ihr zu helfen.
»Aber er hat recht, es ist heiß.«
»Ich weiß nur nicht, was das nützen soll; da draußen ist es genauso heiß wie hier drinnen.«
Tracy war vierundzwanzig Jahre alt. Sie war im vorigen September an die Rockville High gekommen und ohne jeden Zweifel die beste Assistenz-Lehrkraft, mit der Jessie je zusammengearbeitet hatte. Sie jammerte gern, aber sie war streng, freundlich und vor allem äußerst gerecht zu den Kindern. An diesem Tag trug sie ein gelbes Sommerkleid in der Farbe von Butterblumen. Jessie fand, dass es sehr hübsch aussah, und hätte das gern zum Ausdruck gebracht, aber Tracy bekam nicht gerne Komplimente und mochte es überhaupt nicht, wenn sie irgendjemandem auffiel.
Gemeinsam gelang es ihnen, das Fenster etwa dreißig Zentimeter weit aufzuschieben. Jessie stützte sich mit den Händen auf das Sims, genoss die leichte Brise und das beruhigende Dröhnen eines Rasenmähers irgendwo in der Ferne. Es war ein wirklich schöner Junitag.
Nur noch eine Woche bis zu den Ferien, dachte sie und lächelte. Sie fragte sich, ob Mike, ihr Mann, den Vermittler wegen des Ferienhäuschens angerufen hatte, wie er es heute Morgen versprochen hatte. So wie sie Mike kannte, hatte er es höchstwahrscheinlich vergessen. Sie nahm sich vor, ihn in der Pause anzurufen, um ihn daran zu erinnern.
Als Jessie sich wieder der Klasse zuwandte, sah sie aus dem Augenwinkel noch einen dunkelgrünen Toyota langsam über den kreisförmigen Weg fahren, der das Schulgelände umgab. Die Fenster waren getönt und geschlossen. Klimaanlage, dachte Jessie - noch etwas, wovon die Schulleitung behauptete, die Reparatur nicht finanzieren zu können. Der Wagen verlangsamte, bog auf den großen Mitarbeiter-Parkplatz ab, und verschwand aus ihrem Blickfeld.
Jessie wandte sich vom Fenster ab und begann einem lieben Mädchen namens Martha Fisk zu helfen, Kleber auf die Karte zu streichen, an der sie arbeitete. Marthas Zungenspitze ragte seitlich aus ihrem Mund, so sehr konzentrierte sie sich auf die Aufgabe. Überall glitzerte es.
»Das ist sehr hübsch, Martha.«
»Äh-hä.«
»Für wen machst du die? Für deine Mom?«
Martha schüttelte den Kopf.
»Deine Schwester?«
Sie nickte.
»Sie ist wirklich sehr ...«
»Oh-oh.« Jessie schaute dem Kind über die Schulter. Martha hatte sechs Sterne aus glänzender Folie auf ihre Karte geklebt - und einen auf ihren Tisch.
»Oh-oh. Oh-oh.«
»Kein Problem, Martha, den können wir abziehen. Alles in Ordnung. Sieh nur.« Jessie zog den Stern hoch und wischte den Kleberest mit dem Daumen weg. »Siehst du, alles weg.«
Martha bedachte Jessie mit einem schmerzlichen, übertriebenen Grinsen. Ihre Dankbarkeit brach Jessie das Herz. Martha fehlten die vorderen Schneidezähne. Niemand hatte je eine zufriedenstellende Antwort von ihr bekommen, was geschehen war, nur dass sie schon lange fehlten und sie nicht gern darüber sprach. Die gleiche Frage an Marthas Mutter, als diese ein einziges Mal zu einem Gespräch mit der Lehrerin aufgetaucht war, war mit einem gelangweilten Schulterzucken beantwortet worden. »Wahrscheinlich hat sie sie sich rausgeschlagen. Sie wissen doch, wie sie ist, das blöde Gör knallt immer und überall hin.«
»Miss Conway?«
»Was kann ich für dich tun, Austin?«
»Ich muss pinkeln gehen, Miss Conway.«
Jessie zeigte auf eine große Plastikuhr, die hinter ihrem Pult an der Wand hing.
»Siehst du den langen Zeiger, Austin? Erinnerst du dich, dass wir darüber gesprochen haben? Wenn der große Zeiger auf der Sechs ist, kannst du gehen.«
»Ich muss aber wirklich dringend, Miss Conway.«
»Tracy, kannst du bitte Austin zur Toilette begleiten?«
»Aber sicher. Komm, Austin.«
»Ich will nicht mit ihr gehen«, sagte Austin und bog sich von Tracy weg. »Ich will nicht mit der.«
Tracys Ausdruck blieb neutral, sie war diese Reaktion gewöhnt, aber Jessie verspürte einen Stich Wut und Scham. Austins Vater hasste und misstraute »Farbigen« und erzählte das nur zu gerne jedem, der bereit war zuzuhören. Er verbrachte den Großteil der wenigen Zeit, die er nicht im Knast saß, damit, seinem jüngsten Sohn mit Geschichten darüber Angst einzujagen, was die »Farbigen« einem kleinen, schwachen Jungen wie Austin antun würden, wenn sie nur die Gelegenheit dazu bekämen.
»Austin«, sagte Jessie. »Erinnerst du dich, dass wir darüber gesprochen haben? Du schreist im Klassenraum nicht rum - wenn du in der Klasse schreist, darfst du nicht auf den Pausenhof. «
»Ich hab's gehört.«
»Musst du immer noch auf die Toilette?« Austin starrte sie schmollend an und schüttelte den Kopf. Er wandte sich wieder seiner Arbeit zu, rot vor Wut, und Tracy setzte ebenfalls stoisch ihre Tätigkeit fort.
Jessie schaute wieder auf die Uhr. Sie wäre so froh, wenn dieser Tag vorüber war. Offiziell galten Jessies Schüler als »marginalisiert «, was nichts anderes als politisch korrekter Blödsinn für »voll neben der Spur« war. Die meisten der Schüler in Jessies Klasse waren das Ergebnis von empörender Vernachlässigung, sowohl geistig wie körperlich, und Missbrauch, ebenfalls geistig wie körperlich. Sie waren die Kinder von Alkoholikern und Drogensüchtigen, von Eltern, die ihr halbes Leben im Gefängnis verbrachten, und den Rest der Zeit damit, ihre Sozialhilfe für Alkohol, Gras und Crystal Meth auf den Kopf zu hauen. Falls sie überhaupt irgendwelche Eltern hatten. Viele von Jessies Schülern wuchsen bei ihren Großeltern auf - traurigen, müden, unzureichend qualifizierten Leuten, deren Herz am rechten Fleck saß, die allerdings auch über keinerlei Möglichkeiten verfügten, ihren Enkelkindern zu helfen, abgesehen davon, ihnen etwas zu essen und ein Dach über dem Kopf zu bieten.
Jessie zog ein Pop-up-Bilderbuch unter einem der Pulte hervor und stellte es zurück in das, was sie romantisch »die Bibliothek « nannten, obwohl es im Grunde nur zwei Borde voll abgegriffener Bücher waren, die aus Wohltätigkeitsveranstaltungen oder Gewinnspielen stammten. Endlich klingelte es. Die Schüler packten ihre Sachen und schlurften zur Tür. Irgendwer verabschiedete sich, die meisten nicht.
»Was für ein Tag«, seufzte Tracy, als das letzte Kind gegangen war. »Ich schwöre, ich kann das nicht noch eine Woche ertragen. «
»Keiner hat je gesagt, dass Sonderpädagogik einfach wäre«, sagte Jessie und fasste ihr dunkelrotes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammen.
»Nee, wohl nicht.«
Jessie legte Tracy eine Hand auf die Schulter. »Du machst das toll.«
Tracy zeigte ein schiefes Grinsen, das sagen sollte, dass sie das anders sah. »Ich hole mir einen starken Kaffee. Kommst du?«
»In ein paar Minuten. Hol mir einen Nachtisch, wenn es welchen gibt. Ich glaube, vorhin hat irgendjemand etwas von Cheesecake gesagt.«
»O Mann, wie kannst du bloß so was essen und nie zunehmen? Ich muss Kuchen nur angucken und er klebt schon auf meinen Hüften.«
»Das ist ein Geheimnis. Wenn ich es dir verrate, muss ich dich umbringen.«
Tracy lachte und ging.
Jessie wischte die Tafel sauber und begann die Aufgaben für die nächste Stunde anzuschreiben. Als sie damit fertig war, griff sie nach ihrer Handtasche und wollte gerade den Klassenraum verlassen, als sie ein Knallen hörte. Es war laut und nah.
Jessie öffnete die Tür und trat hinaus. Kinder rannten durch den Flur, etliche von ihnen schauten neugierig.
»Was ist los?«, fragte Jessie einen dicken Jungen, den sie aus der achten Klasse kannte.
»Weiß nich'.«
Das sommersprossige Mädchen neben ihm schaute ängstlich. »Für mich klingt das wie Schüsse.«
»Ach was«, sagte der Junge. »Wahrscheinlich bloß Böller oder so ein Scheiß.«
Dann ging der Feueralarm los, das ohrenbetäubende Schrillen erfüllte die Flure.
»Okay, okay.« Jessie klatschte in die Hände, um die Schüler auf sich aufmerksam zu machen. »Ihr wisst Bescheid, alle gehen raus auf den Basketball-Platz. Kein Gerenne, kein Geschubse. Ganz in Ruhe. Bitte durch den nächsten Ausgang.«
Jessie drängte sich zwischen den Kindern hindurch und lief den Flur entlang, bis sie in den Eingangsbereich kam. Die Rockville High war ein einstöckiges Gebäude, das um diesen doppelt so hohen Raum errichtet worden war, von dem vier »Flügel« abzweigten. Direkt links von Jessie befand sich das Lehrerzimmer, rechts die Cafeteria. Kinder kamen aus drei unterschiedlichen Fluren angelaufen. Einige von ihnen lachten und johlten, andere wirkten ängstlich. Etliche Schüler standen vor den Spinden gegenüber der Tür zur Cafeteria und zogen ihre Bücher aus den Rucksäcken, als wäre der Alarm überhaupt nicht zu hören.
Jessie entdeckte Adam Edwards, den stellvertretenden Schuldirektor, der aus dem B-Flügel ins Foyer kam. Er versuchte Schüler in Richtung des A-Flügels zu dirigieren; er bat sie, ruhig zu bleiben und zügig zu gehen, aber nicht zu rennen. Jessie fragte sich, warum er sie nicht in Richtung des Hauptausganges laufen ließ. Sie wandte den Kopf und sah, dass eine Kette durch die Türgriffe gezogen worden war; ein schweres Schnappschloss hing daran herunter. Augenblicklich eilte sie auf den stellvertretenden Schulleiter zu.
»Was ist los?«
»Ich weiß nicht. Ich war im Physikraum. Jemand hat gesagt, es würde geschossen. Als ich hierher kam, waren die Türen zugekettet. « Er beugte sich näher zu ihr und flüsterte: »Dasselbe gilt für den Notausgang neben den Fahrradständern.«
»Ist das problematisch?«
»Ich weiß es nicht.«
»Sind alle Türen zu?«
»Weiß ich nicht. Direktorin Carmichael überprüft den C-Flügel. Ich denke, wir sollten alle nach draußen bringen.«
»Was kann ich tun?«
»Sie können helfen, die Schüler nach draußen zu schaffen und dann zu überprüfen, ob jemand fehlt.«
Sie konnte sehen, dass er Mühe hatte, ruhig zu bleiben. Das alarmierte sie. Edwards war groß gewachsen, gutmütig, aber stets ernst, ganz sicher kein Angsthase. Immer mehr Jugendliche kamen in die Halle. Jessie fiel die Gruppe auf, mit der sie vor ihrem Klassenraum gesprochen hatte.
»Ich hatte euch doch gesagt, ihr sollt nach draußen gehen«, sagte sie zu dem Mädchen mit den Sommersprossen.
»Die Türen sind zu. Jemand hat sie mit einer Kette versperrt. «
Edwards hob die Hände über den Kopf.
»Alle mal zuhören. Hört auf zu drängeln und beruhigt euch. Geht ruhig und langsam zum hinteren Notausgang. Alle nacheinander. Ich möchte bitte alle draußen haben. Alle gehen aufs Basketballfeld, ruhig und langsam. Miss Conway, können Sie sicherstellen, dass die Cafeteria leer ist?«
»Natürlich.« Jessie begann in Richtung der Cafeteria zu gehen, aber in diesem Moment öffnete sich eine der Schwingtüren und ein groß gewachsener Jugendlicher kam heraus - sie kannte ihn, Kyle Saunders. Er hatte eine halbautomatische Waffe an einem langen Riemen vor der Brust hängen. Adam Edwards entdeckte ihn, und seine Augen weiteten sich vor Überraschung. Er reagierte schnell. Er packte das ihm am nächsten stehende Kind und schubste es in Richtung eines der Flure. »Lauf!« Kyle Saunders hob die Waffe. Sein Gesicht glänzte und seine Lippen waren gespreizt, sodass man seine Zähne sehen konnte. Sein Blick huschte durch das brodelnde Foyer.
»Hey ihr Wichser! Yo! Wichser, erinnert ihr euch?«
»Kyle ...« Edwards hob die Hand vor sich auf Brusthöhe. »Leg die Waffe weg, Kyle. Leg sie weg, damit wir über alles reden können.«
Kyle starrte Edwards einen Augenblick lang an und grinste dabei eigenartig. Jessie konnte sehen, wie sich Zweifel in Edwards Blick schlichen.
»Kyle, hör mir zu ...«
Kyle begann zu schießen.
Die erste Salve traf die Glasziegel, die sich an der Wand über den Spinden befanden. Kinder rannten schreiend in alle möglichen Richtungen. Einige stürzten und wurden niedergetrampelt, andere drückten sich an die Wände und bedeckten ihre Köpfe mit den Händen, als könnte sie das retten. Ein oder zwei standen bloß wie angewurzelt da und starrten ungläubig vor sich hin.
Die zweite Salve kam tiefer. Ein stechender Schrei brach ab. Eine Kugel traf Edwards direkt in die Brust, er wirbelte im Stand herum, tat einen Schritt und fiel zu Boden.
Jessie starrte Alan Edwards' Körper an, das Gesicht erstarrt; sie konnte nicht begreifen, was geschehen war.
»Alan.«
Sie trat einen Schritt vor, aber Blut begann sich unter ihm zu sammeln und seine Finger suchten auf dem Fliesenboden nach Halt. Hinter ihm lag ein weiterer Junge am Boden, den Rucksack noch auf den Schultern.
Kyle Saunders legte den Kopf in den Nacken und johlte. Er johlte immer noch, als Jessie Conway ihn mit vollem Tempo umrannte. Der Aufprall ließ Kyle durch die Schwingtüren der Cafeteria fliegen, Jessie praktisch auf ihm drauf. Sie stießen gegen einen Tisch, stürzten darüber und knallten zu Boden. Jessie erholte sich als erste. Sie rammte Kyle ihr Knie in den Magen und riss ihm den Riemen über den Kopf. Bevor er wusste, was geschah, griff sie nach der Waffe. Sie spürte, wie die Hitze des Laufes die Haut ihrer Finger Blasen schlagen ließ, sie roch das Schießpulver und den Schweiß von Kyles Körper. Sie warf sich mit ihrem gesamten Gewicht nach hinten, stemmte sich energisch gegen seinen Bauch, und schrie, während sie sich von ihm weg bog.
Aber Kyle war zu stark und es gelang ihm, die Waffe im Griff zu behalten. Er entriss sie ihr und schlug mit dem Kolben voran in Richtung von Jessies Kopf. Er streifte sie, aber es gelang ihr, den Körper zur Seite zu drehen, bevor er einen echten Treffer landen konnte. Kyle versuchte, sich aufzurappeln. Aber Jessie erhob sich zuerst, griff ihn mit der Schulter voran an und drängte ihren Körper zwischen ihn und die Waffe. Speichel stob seitlich gegen Jessies Gesicht, als Kyle versuchte, ihr das Gewehr unter das Kinn zu rammen. Sie klammerte sich stur an ihn und hielt die Waffe so dicht an ihrem Körper wie nur möglich, den Lauf nach oben und von ihr weg gerichtet.
Sie zerrten hin und her. Kyle löste eine Hand und schlug ihr in den Rücken, oberhalb der Niere. Verzweifelt trat Jessie Kyle auf den Fuß und versuchte, ihm ihre Schulter in die Brust zu stoßen, um seinen Griff über ihre Schulter hinweg zu lösen.
Es brachte nichts.
Sie trat und trat, sie zielte mit ihrer Ferse nach jedem Fleck, den sie erwischen konnte. Sie landete einen heftigen Treffer auf seinem Schienbein, aber Kyle schlug sie erneut, und diesmal tat es verdammt weh. Jessies Griff lockerte sich. Sie versuchte es mit einem letzten verzweifelten Schwinger. Als sie sich drehte, sah sie einen weiteren Jungen auf einem Tisch am anderen Ende der Cafeteria stehen, neben dem Getränkeautomaten. Er war schlank und jung, mit einem zarten dünnen Bärtchen, das noch nicht richtig zu wachsen begonnen hatte. Er trug von Kopf bis Fuß Schwarz. All das registrierte Jessie in einem einzigen Augenblick. Und da war noch etwas.
Er zielte mit einem Gewehr auf sie.
»Knall sie ab!«, schrie Kyle Saunders. »Knall die Scheißkuh ab!«
Es folgte ein ohrenbetäubendes Donnern. Jessie spürte, kurz bevor sie unter Kyles Saunders Gewicht zusammenbrach, einen Schmerz an der linken Seite ihres Gesichts. Sie hielt jetzt das Gewehr in Händen, hob es blindlings und schoss in die Richtung, wo sie den anderen Jungen vermutete. Durch den Rauch hindurch sah sie ihn rücklings vom Tisch kippen, dann konnte sie ihn nicht mehr sehen.
Jessie lag entgeistert still. Kyle Saunders' Unterkörper lag verdreht auf ihrer Hüfte. Sie drehte den Kopf und sah, dass er tot war. Von seinem Kopf war nichts übrig außer einem blutigen Stumpf und ein paar Knochenstücken. In Jessies Ohren zischte und klingelte es. Sie senkte das Gewehr zu Boden, kroch unter Kyle hervor und setzte sich auf. Blut tropfte auf ihre Brust und in ihren Schoß. Sie blinzelte, ohne irgendetwas zu begreifen. Als sie es geschafft hatte, sich aufzurichten, und unsichere Schritte tat, bemerkte sie, dass ihre Bluse durchnässt war. Sie stürzte erneut und landete dicht neben zwei entsetzten Mädchen, die unter einem umgedrehten Tisch kauerten. Sie erkannte ihre Gesichter, konnte sich aber nicht an ihre Namen erinnern.
»Haut ab!«
Die Mädchen klammerten sich aneinander. Eines von ihnen sagte etwas, aber Jessie konnte die Worte nicht verstehen.
»Lauft!«
Sie flohen.
Jessie kroch über den Boden dorthin, wo der Junge gestürzt war.
Er lag auf dem Rücken und keuchte. Sein Gewehr befand sich rechts von ihm, außer Reichweite. Ein Arm lag auf seiner Brust, der andere gekrümmt neben ihm. Die Vorderseite seines Shirts war blutig. Seine Augen standen offen, und als sie näher kam, schaute er in ihre Richtung.
»Oh«, flüsterte Jessie, als sie sah, welchen Schaden sie angerichtet hatte.
Er lächelte, in Wahrheit eine schreckliche Grimasse. Schaumige Blutbläschen bildeten sich in seinem Mundwinkel, platzten, wurden durch neue ersetzt. Jessie stützte all ihr Gewicht auf ihre rechte Hand und griff nach seiner Linken.
»Warum habt ihr das getan?«
Aber er antwortete ihr nicht, und einen Augenblick später verlor sein Blick den Fokus, seine Brust hörte auf sich zu bewegen, er war tot.
Jessie starrte ihn an. Sie versuchte sitzen zu bleiben, brachte aber die Kraft nicht auf. Sie sank neben dem toten Jungen zu Boden und wischte sich das Blut aus den Augen. Sie sah Tracy Flowers neben dem Getränkeautomaten liegen. Sie hatte einen Schuh verloren, und die Rückseite ihres sonnengelben Kleides war voller Blut.
Jessie wollte zu ihr, schaffte es aber nicht. Sie übergab sich, schloss die Augen, und endlich nahm die Dunkelheit sie mit sich.
2
Geboren worden war er als Caleb Switch, aber es war so lange her, seit er den Namen benutzt hatte, dass er sich nur noch selten selbst so nannte.
Caleb packte seine paar Sachen aus und legte sie sorgsam auf den Tisch. Er öffnete eine Plastikschachtel und aß daraus eine leichte, proteinreiche Mahlzeit, die er am Abend zuvor in seiner Wohnung zubereitet hatte. Während er darauf wartete, dass sein Essen verdaut wurde, blätterte er die neueste Ausgabe eines Magazins über traditionelle Jagd durch und amüsierte sich über die wilden Geschichten darin. Die Zeitschrift war ein Luxus. Sie wurde einmal im Monat in seine Wohnung in der Stadt geliefert. Der Name auf dem Abo lautete Arthur Weils. Derselbe Name wie im Grundbucheintrag und auf den Nebenkostenabrechnungen.
Arthur Weils war derjenige, der er momentan war, Arthur Samuel Weils. Seine Freunde hätten ihn vielleicht Art genannt, hätte er irgendwelche Freunde gehabt.
Der echte Arthur S. Weils lag begraben unter den Büschen hinter der Hütte, in der Caleb nun saß, endlich frei von seinem Selbsthass und der Unzufriedenheit, mit der er weitgehend passiv seine elenden sechsunddreißig Jahre auf diesem Planeten ertragen hatte. Wann immer Caleb an den echten Arthur Weils dachte - was selten geschah -, kam er zu dem Schluss, dass er dem Mann einen Gefallen getan hatte. Ganz sicher hatte Arthur sich nicht ernsthaft gewehrt, als klar geworden war, was Caleb vorhatte. Damit hatte Caleb auch nicht gerechnet, Typen der Kategorie B verfügten nicht über den Willen, zu überleben. Sie waren Betas, schwach und vollkommen zufrieden damit, blindlings der Herde zu folgen, stoisch akzeptierten sie ihr Schicksal. Ach Teufel, sie waren kaum mehr als Fleischbatzen. Aber auch sie hatten ihren Nutzen, wie Art bewies.
Als er ausgelesen hatte, legte Caleb seine Kleidung ab und stand nackt vor dem mannshohen Spiegel. Er betrachtete sein Spiegelbild in dem fleckigen Glas. Er war achtundzwanzig Jahre alt. Sein dunkles Haar war nicht zu lang und nicht zu kurz. Er hatte einen Bart, kurz geschoren. Die Leute sagten, er sehe ausgesprochen anständig aus. Praktischerweise verbarg der Bart zugleich eine lange Narbe, die von der linken Seite seiner Lippe bis unter den Kiefer führte, eines der vielen Kindheitsgeschenke von seinem alten Herrn. Er war einssiebenundachtzig groß und mit sechsundachtzig Kilo schlank und muskulös, wobei er auf angeberische Fitnessstudiomuskeln zugunsten echter körperlicher Kraft verzichtete. Er hatte kein überschüssiges Fett und teilte auch nicht die Weichheit, die viele Männer seines Alters befiel. Leute, die nicht auf sich achteten, fand er ekelhaft. Weiche, teigige, blassgesichtige Männer, mit ihren Bierbäuchen und Hängetitten, Frauen mit geschwollenen Wänsten und Pferdeschenkeln waren widerwärtig. Sein Körper würde nie so aussehen. Das würde er nicht zulassen. Sein Körper war eine Maschine, ein Werkzeug. Und insofern pflegte er ihn perfekt.
Er wärmte sich langsam auf, nahm sich die Zeit, seine Schenkel zu dehnen und seine Wadenmuskeln mit einer Reihe ausführlicher Dehnübungen und Drehungen zu lockern. Während er sich bewegte, spürte er, wie das Blut durch seinen Körper flutete, und genoss die Spannung in seinen Gliedern.
Nach dem Aufwärmen schnallte er sich einen Gewichtgürtel um, packte die Klimmzugstange, die er an die Decke geschraubt hatte, und vollführte einen Satz von zwanzig perfekten, vollständigen Klimmzügen. Er ließ sich auf den Boden herab, löste den Gürtel und vollführte dieselbe Anzahl Liegestützen. Die Muskeln auf seinem Rücken tanzten, die Venen auf seinen Bizeps zeichneten sich ab. Er wiederholte die Kombination weitere drei Mal.
Er beendete den letzten Satz und trat wieder vor den Spiegel. Er betrachtete seinen Körper eine ganze Minute lang und suchte nach Schwachstellen. Aber er fand keine. Nackt ging er zu einem Metallbord, das mit Winkeln an der gegenüberliegenden Wand befestigt war. Er hatte die Werkbank selbst gebaut und bestens organisiert. Jedes Werkzeug hatte seinen Platz, die Oberfläche war sauber und frei von Schmutz. Darauf stand eine schwere Leinentasche, daneben ein schmaler Metallkoffer.
Caleb zog einen Hocker heran und setzte sich. Er öffnete den Reißverschluss der Tasche und zog einen maßgefertigten Bogen heraus. Er setzte ihn geschickt zusammen, schob den gummierten Handschutz über das Scharnier und spannte den Bogen mit einer gekonnten Bewegung. Er wachste die Sehne und fuhr mit dem Daumen über das Zedernholz auf der Suche nach Scharten oder Kratzern. Der Bogen war von ausgesuchter Schönheit. Caleb hatte ihn vor über zehn Jahren von einem Handwerksmeister in Marshall, North Carolina, erworben. Er wog unter einem Kilo, hatte eine Auszugslänge von 28 Zoll und war lautlos wie eine Gruft. Seine Präzision war kaum vollstellbar. Jeder Idiot konnte aus der Ferne mit einer Pistole oder einer Armbrust schießen, und heutzutage taten das auch immer mehr Idioten, aber nur ein echter Jäger konnte nah genug herankommen, um mit Pfeil und Bogen Beute zu machen.
Zufrieden zog er einen Pfeil aus dem Köcher. Die Pfeile waren seine Spezialität, jedes Jahr machte er Dutzende davon. Sie bestanden aus leichten Holzschäften mit Adler- und Bussardfedern. Die Federn band er mit Bisamratten-Sehnen fest. Vorn an jedem Pfeil befand sich eine Jagdspitze mit vier Graten. Er fertigte die Pfeilspitzen aus Obsidian, wobei er einen Wellenschliff nutzte, den sein alter Herr ihm beigebracht hatte. Jede Pfeilspitze erhitzte er, dann durfte sie abkühlen, und schließlich wurde sie so scharf geschliffen, dass sie durch dickes Gummi schnitt, als wäre es Butter. Caleb hielt eine ins Licht. Er schaute darüber hinweg, er stellte sich vor, wie sie seinen Bogen verließ. Der Pfeil würde schnurgerade fliegen, daran hatte er keine Zweifel.
Außer seinem Bogen trug er ein altes Armeemesser bei sich, das einst seinem Großvater gehört hatte, und ein Winchester- Gewehr mit offenem Visier, Kaliber .30-30, das er von seinem Vater geerbt hatte. Das Gewehr nervte. Obwohl gerade dieses Modell sich relativ leicht tragen ließ, war er damit langsamer. Er hatte es noch nie gebraucht, aber aus Erfahrung war er lieber auf das Unvorhergesehene vorbereitet.
Er legte das Gewehr hin und wickelte das Messer aus. Der Griff war aus Kirschholz. Es war mal ein Muster darauf gewesen - er konnte sich noch grob daran erinnern - aber das war schon lange abgegriffen. Er fuhr mit dem Daumen über die Klinge, und augenblicklich stieg ein Blutstropfen an die Oberfläche seiner Haut.
Caleb wickelte das Messer wieder ein und betrat die gasbetriebene Dusche hinten in der Hütte. Er schaltete das Wasser ein, und als es fast zu heiß war, um es noch zu ertragen, trat er unter den Strahl und wusch sich mit einer speziellen Seife. Er entfernte alle Überreste von Schweiß von seinem Körper, wusch sich erneut, und ließ das Wasser lange über seine Haut laufen. Duft wurde in der Luft weitergetragen, auf diese Weise konnte man leicht seine Position verraten. Er beendete die Dusche mit einem eiskalten Strahl, um seine Poren zu schließen, dann schaltete er das Wasser aus. Er trat aus der Dusche und kehrte in das Wohnzimmer der Hütte zurück, wo er seine Haut an der Luft trocknen ließ.
Er betrachtete eine Karte, die an der Wand gegenüber der Werkbank hing, und ging im Geiste das Gelände durch, er prägte sich die Route ein. Es gab natürliche Jäger in diesem Wald, sowohl Bären als auch Kojoten. Die Bären in dieser Gegend waren ängstlich und vor allem interessiert am Fressen, sie hielten sich von Menschen so fern wie möglich. Die Männchen spielten sich manchmal auf, waren aber im Grunde ungefährlich, ein Weibchen mit Jungen hingegen würde ihn ohne zögern angreifen, und das durfte er nicht vergessen.
Er tippte mit dem Zeigefinger auf die Karte. Die Gegend, in der er jagte, befand sich tief in einem Wald, der sich aus North Carolina bis nach Tennessee erstreckte. Seine Hütte lag in einem abgelegenen, fast menschenleeren Tal, etliche Kilometer von den beliebten Wanderwegen und Zeltplätzen entfernt. Es hatte vor vielen Jahren in diesem Tal eine kleine Stadt gegeben, aber die war längst verlassen. Die Natur hatte sie zurückgefordert.
Als Caleb trocken war, schloss er eine Metalltruhe auf und nahm die einzelnen Zip-Lock-Plastiktüten heraus, in denen sich seine Jagdsachen befanden. Nach einer Jagd wurden alle diese Kleidungsstücke sorgfältig gewaschen, getrocknet, und mit einigen Blättern und frischen Pinienzapfen in Plastik verpackt. In den Jagdzeitschriften berichteten sie von Hightech- Carbon-Anzügen, die den Geruch der Jäger verminderten, aber er machte es auf traditionelle Art und hatte Erfolg damit.
Caleb zog sich zügig an und schmierte sich dunkelgrüne, nicht reflektierende Tarnfarbe auf seine blassen Wangen und die Handrücken. Er bedeckte seinen Kopf mit einer frisch gewaschenen schwarzen Kappe. Es überraschte ihn immer wieder, wie viele Jäger sich die Mühe machten, duftende Klamotten anzuziehen, aber jeden Tag dieselbe Mütze trugen, wobei sie vergaßen, wie stinkig der schweißdurchtränkte Lappen wurde.
Er befestigte sein Messer am linken Oberschenkel und trug das Gewehr, den Köcher und den Bogen hinaus zu seinem Truck. Er legte sie neben dem Fahrersitz auf den Boden und bedeckte sie mit einer Plastikfolie. Ein erregtes Zittern durchfuhr ihn. Das war der beste Teil der Jagd. Die ganze Arbeit, die ganze mühsame Vorbereitung, galt der bevorstehenden Stunde. Er lehnte sich an den Truck, reckte sein Gesicht dem wolkenlosen Morgenhimmel über sich entgegen, und schätzte sich einen glücklichen Mann.
Caleb fuhr von seinem Grundstück herunter und bog dann rechts auf einen kleinen Feldweg ein, auf dem das Gras in der Mitte fast kniehoch stand. Er fuhr mit Abblendlicht, obwohl ihm nicht ein einziges Fahrzeug entgegenkam, und damit hatte er auch nicht gerechnet. So weit im Tal begegnete ihm selten jemand. Er legte ein paar Kilometer zurück, wobei der Weg stetig anstieg. Er überquerte eine alte Holzbrücke, kaum breit genug für seinen Truck, und nach einem guten halben Kilometer bog er auf einen holprigen Weg, der seitlich den Berg hochführte. Er schaltete in den zweiten Gang, dann in den ersten, während er immer höher fuhr. An einigen Stellen standen die Büsche und Bäume an beiden Seiten so dicht, dass der Weg kaum passierbar war.
Es dauerte weitere fünfundzwanzig Minuten, bevor der Weg abflachte und er durch einen mit Schlaglöchern übersäten Durchlass auf eine kleine Lichtung holperte. Er setzte den Truck rückwärts zwischen einige Felsen und schaltete den Motor aus.
Die Lichtung befand sich etwa auf zwei Drittel der Höhe eines Berges, den er nur als Devils Bridge kannte, und weiter konnte man nicht mit dem Auto fahren. Er saß kurz da, starrte über die Bäume hinweg, lauschte dem Ticken des abkühlenden Motors. Er sah die ersten Lichtstrahlen die höchsten Wipfel beleuchten. Er wurde sich seines Atems bewusst, spürte wie seine Brust sich weitete und zusammenzog, langsam und regelmäßig.
Er war bereit.
Er stieg aus dem Jeep, ging nach hinten und sprang mit einer geschmeidigen Bewegung auf die Ladefläche. Er wuchtete den Reservereifen heraus und öffnete die Tür zu einem Kasten, die unter der Ladefläche angebracht worden war.
Darin lag ein gefesseltes und geknebeltes Mädchen. Sie trug eine knallenge Jeans und eine dunkelrote Lederjacke. Ihr Haar war in einem krassen, peinlichen Grellblond gefärbt, ein paar Zentimeter Ansatz waren zu sehen.
Sie schrie trotz ihres Knebels, als er sie herauszerrte. Das Geräusch störte ihn.
»Hör auf. Hier kann dich sowieso keiner hören.«
Er stieß sie seitlich vom Truck herunter und sie knallte mit der Grazie eines Sacks Getreide zu Boden. Er sprang hinterher, riss sie in den Stand und entfernte den Knebel. Augenblicklich begann sie zu reden.
»Bitte ... oh, bitte, Mister ... bitte tun Sie mir nichts. Bitte, ich sage auch keinem was, ich schwöre es, Mister, ich sage nichts ...«
Er zog das Messer aus der Scheide und drückte es an ihre Wange.
»Ich habe gesagt, du sollst still sein.«
Sie zitterte heftig, schwieg aber. Er fuhr mit dem Messer über ihre Haut und durchschnitt schließlich die Fesseln an ihren Handgelenken. Er deutete mit der Klinge quer über die Lichtung.
»Hast du vor einer Weile die Brücke gehört?«
Sie zwinkerte und leckte ein paarmal über ihre Lippen.
»Also, hast du, oder nicht?«
Sie nickte.
»Hinter diesen Bäumen ist so eine Art Pfad. Wenn du den findest, kannst du ihm folgen, bis du an einen Bach kommst. Folgst du dem, schaffst du es vielleicht bis zur Brücke. Und wenn du das schaffst, schaffst du es vielleicht auch noch weiter, bis zur Straße.«
Sie zwinkerte, drehte den Kopf in Richtung der Bäume, dann in seine Richtung, ungläubig. Ihr Hals schimmerte weiß im Morgenlicht.
»Mister?«
»Ich gebe dir fünf Minuten Vorsprung. Ich schlage vor, du machst das Beste daraus.«
Sie sank gegen den Truck. »Sie tun mir was, wenn ich weglaufe. «
»Ich tue dir was, wenn du nicht wegläufst.«
»Ich will nicht sterben. Bitte, Mister, ich will wirklich nicht sterben.«
»Dann lauf.«
Sie zögerte. Er wartete. Sie zögerten immer.
Sie schaute hierhin und dahin, schätzte die Lage ab. Er fragte sich, was sie glaubte, was jetzt geschehen würde? Glaubte sie, es wäre wie im Film? Dass die Guten mit einem Hubschrauber kämen und sie in Sicherheit brachten? Wieso kapierten sie es immer erst in der letzten Sekunde?
Schließlich ging sie los, zuerst langsam, sie behielt ihn im Auge. Caleb stand vollkommen still. Nach drei Metern begann sie ungeschickt über den unebenen Boden zu laufen. Sie hatte noch keine dreißig Meter geschafft, als sie stolperte und fiel. Er sah zu, wie sie sich aufrappelte und weitertaumelte.
Kategorie B, dachte er, kein Zweifel.
Als sie endlich die Bäume auf der anderen Seite der Lichtung erreicht hatte, wandte Caleb sein Gesicht der aufgehenden Sonne zu und zählte die Minuten herunter. Deswegen machte er sich selten die Mühe mit solchen Schnepfen. Sie hatten keinen Kampfgeist, keinen Grips, keinen Überlebenswillen.
Als die vorgegebene Zeit abgelaufen war, holte er sein Gewehr und den Bogen hinter dem Sitz hervor und machte sich auf die Suche nach dem Mädchen.
Zeit zu jagen.
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2013 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von Arlene Hunt
Arleen Hunt begann im Alter von 27 Jahren zu schreiben. Seither hat sie sieben Thriller veröffentlicht und gilt als der neue Star unter den irischen Kriminalautoren. Mit Blutwald erscheint erstmals einer ihrer Romane auf Deutsch.Arlene Hunt lebt mit ihrem Mann, einer Tochter, drei Katzen und einem Hund in Dublin.
Bibliographische Angaben
- Autor: Arlene Hunt
- 2013, 1, 352 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863654501
- ISBN-13: 9783863654504
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