Kein Wort zu Papa
Roman
Christine und ihre Schwester Ines sollen auf Norderney die Pension ihrer Freundin Marleen hüten. Wenn das mal gutgeht. Umgehend steht da Christines alter Verehrer auf der Matte. Und dann natürlich auch noch Mama und Papa. Großartig. Und...
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Produktinformationen zu „Kein Wort zu Papa “
Christine und ihre Schwester Ines sollen auf Norderney die Pension ihrer Freundin Marleen hüten. Wenn das mal gutgeht. Umgehend steht da Christines alter Verehrer auf der Matte. Und dann natürlich auch noch Mama und Papa. Großartig. Und Marleen? Die sitzt in Dubai in U-Haft. Was natürlich keiner wissen darf.
Klappentext zu „Kein Wort zu Papa “
Der Nr.1-Bestseller jetzt im Taschenbuch»Das schaffen wir doch mit links!« Wie gut, dass Ines nichts schrecken kann. Ohne ihre patente Schwester wäre Christine sonst nämlich ziemlich mulmig zumute. Sie soll für einige Tage die Pension ihrer Freundin Marleen auf Norderney übernehmen - ein Job, von dem die 47-Jährige nicht die leiseste Ahnung hat. Kein Wunder, dass die beiden Schwestern schnell an ihre Grenzen stoßen. Und das nicht nur, weil sie nicht kochen können. Ihre Anwesenheit spricht sich auf der Insel schnell herum. Zu schnell. Und so dauert es nicht lange, bis Papa Heinz und Mama Charlotte vor der Tür stehen, um ihre Töchter mit höchst eigenwilligen Ideen zu unterstützen ...
Lese-Probe zu „Kein Wort zu Papa “
Kein Wort zu Papa von Dora Heldt... mehr
»Komm. Nur zwei Wochen. Danach hast du auch wieder bessere Laune.« Meine Schwester säuselte in diesem schmeichelnden Ton, den sie schon ihr Leben lang benutzt hatte, wenn sie etwas von mir wollte. Ich wollte aber nichts von ihr.
»Nein. Ich habe keine Lust, und ich habe kein Geld. Und übrigens auch keine schlechte Laune.«
Das war natürlich gelogen, Ines ging gar nicht darauf ein.
»Los, Christine, jetzt sag Ja. Dänemark ist ganz toll im September. Das Haus ist riesig, mit Sauna und Kamin und offener Küche. Wir nehmen uns stapelweise Krimis mit, gehen jeden Tag am Strand spazieren, unterhalten uns bei Rotwein und Kaminfeuer, schlafen aus, essen sooft wir wollen rote Würstchen und Backfisch, das wird super.«
»Nein.« Ich hatte momentan keine gute Zeit und wollte einfach meine Ruhe. Ferien mit meiner kleinen Schwester standen wirklich ganz unten auf meiner Liste. »Wir können die Diskussion an dieser Stelle beenden.«
Meine Schwester interessierte kein Nein. Das hatte sie noch nie interessiert. Sie kannte es auch kaum, zumindest nicht aus ihrer Kindheit. Es gab nur ein lässiges: »Ach, lass sie doch« oder: »Christine, andere Kinder wünschen sich eine kleine Schwester, sei froh, dass du sie hast und nimm sie mit« oder: »Vertragt euch, die Ältere ist die Klügere und gibt nach«. Das Wort »Nein« gab es nicht. Und wenn, dann kam ich nicht damit durch. Sie dafür immer. Und jetzt hatte ich dazu keine Lust mehr. Ich atmete tief durch, Ines war schneller: »Ich komme heute Abend bei dir vorbei und bringe einen Prospekt von dem Haus mit. Du wirst begeistert sein. Möchtest du Pizza mit Schinken oder Salami? Oder Thunfisch? Ich finde die mit Thunfisch und Schinken ja auch super.«
»Ich möchte gar keine Pizza. Ich kann nicht schlafen, wenn ich abends so viel esse.«
»Seit wann das denn?« Ines lachte. »Ich fahre doch sowieso beim Italiener vorbei. Also, ich bestelle eine große mit allem drauf, und die teilen wir dann. Gegen sieben?«
»Ich will keine und außerdem habe ich heute Abend überhaupt ...«
»Christine, mein anderes Telefon klingelt, ich bin ja noch im Büro. Bis später dann, tschüss.«
Warum hörte sie mir eigentlich nie zu?
Ich legte das Telefon zurück auf die Station und ging in die Küche, um mir einen Kaffee zu kochen. Meine Schwester hatte öfter idiotische Ideen. Sie war so furchtbar spontan, ich nicht. Von mir aus sollte sie doch mit ihrer Pizza vorbeikommen, ihre Dänemarkkataloge könnte sie danach ins Altpapier werfen. Zwei Wochen Ferien in Dänemark mit meiner kleinen Schwester, das war auch genau das, was mir im Moment gerade noch gefehlt hatte. Nur weil ihr geplanter Segeltörn kurzfristig geplatzt war, sollte ich jetzt als Lückenbüßer einspringen. Dabei waren die Zeiten, in denen ich ihren Babysitter spielen musste, wirklich vorbei.
Das Telefon klingelte erneut. Vermutlich war das wieder Ines, die wissen wollte, welches Dressing ich auf dem Beilagensalat haben wollte. Weil eine Familienpizza mit Salat dann ein Menü und drei Euro billiger ist. Ines liebte Schnäppchen und Aktionsangebote. Weil ihre ältere Schwester nie mit Geld umgehen konnte. Deswegen hatte sie das schon früh gelernt.
Sie handelte immer wie auf einem türkischen Basar, egal ob sie sich ein Auto, eine Kiste Wein oder eine Pizza kaufte. Hauptsache, man konnte noch was am Preis drehen.
Die Nummer auf dem Display hatte eine schwedische Vorwahl, kein Mensch konnte ermessen, wie ich sie mittlerweile hasste. Ich nahm das Telefon hoch.
»Hallo, Johann.«
»Na? Was machst du gerade?«
Er hatte ein Lächeln in der Stimme, das mich aus irgendeinem Grund wieder schlecht gelaunt machte. Wieso ging es ihm gut und mir nicht? Er müsste sich mit vor Sehnsucht brüchiger Stimme melden, dann könnte ich ihn wenigstens trösten und sagen, dass doch alles nicht so schlimm sei. Schließlich würde dieser blöde Job in Stockholm ja nur noch etwa zwei Monate dauern. Aber so war nur meine Stimme gefühlt brüchig, und zwar wahrlich nicht mehr vor Sehnsucht, sondern vor Ärger, weil er diesen Job in Stockholm nämlich überhaupt nicht blöde fand. Mit einer unglaublichen Begeisterung und Euphorie sanierte Johann eine schwedische Zeitung. Als ob das niemand anders als der berühmte Johann Thiess konnte, der dafür natürlich sofort den geplanten Umzug nach Hamburg in eine gemeinsame Wohnung mit mir verschob: »Christine, das ist eine ganz große Chance. Der Verlag hat mich extra angefordert, weil ich mit Verlagen Erfahrung und auch schon mal in Schweden gearbeitet habe. Und ich spreche die Sprache. Das ist ein sensationeller Job. Und was sind denn schon drei Monate? Sobald ich wieder da bin, ziehen wir um.«
Ganz klar, nur dass mittlerweile die drei Monate schon fast um waren und Johanns Auslandsaufenthalt auf fünf Monate verlängert worden war. Und da Johann offiziell auch noch in Bremen wohnte und nicht bei mir in Hamburg, musste er an den wenigen Wochenenden, an denen ihn die Schweden mal raus ließen, auch noch zwischen seiner und meiner Wohnung hin- und herfahren. Das wäre vielleicht alles gar nicht so schlimm gewesen, wenn auch ich einen sensationellen Job gehabt hätte. Nur leider hielten sich zurzeit die Sensationen bei mir in Grenzen. Nachdem einer von Johanns Berufskollegen den Verlag, in dem ich seit Jahren gearbeitet hatte, mit ähnlicher Euphorie saniert hatte, war ich meinen Job los und hielt mich jetzt mit dem Schreiben kleiner Kolumnen für eine Frauenzeitschrift über Wasser. Aber wirklich nur eine Handbreit über der Wasseroberfläche. Alles in allem war meine Situation im Moment höchst anstrengend, und ich gab Johann die Schuld dafür. Das war leichter, als einfach nur niedergeschlagen zu sein.
»Christine? Bist du noch dran? Die Verbindung ist so schlecht.«
»Das kommt davon, dass du in Schweden bist. Und ich in Hamburg.«
Johann ignorierte meinen bissigen Ton. »Was machst du gerade?«
»Nichts weiter.«
»Aha. Hast du schlechte Laune?«
»Nein.«
»Das ist gut. Hast du deine Kolumne fertig?«
»Wie soll ich bitte eine lustige Kolumne schreiben, bei der das Thema der Urlaub eines Paares ist? Ich hatte keinen Urlaub mit dir, du bist in Schweden.«
»Ich weiß.« Er lachte. Es war nicht zu glauben. »Nimm doch unseren Sylt-Urlaub aus dem letzten Jahr.«
»Sehr witzig. Das war kein Urlaub, das war eine Katastrophe.«
»So schlimm war es auch wieder nicht. Lass ein paar Dinge weg, dann wird das doch ganz lustig. Du, hör mal, nächstes Wochenende kann ich hier eigentlich nicht weg. Wir kriegen das zeitlich sonst nicht hin, der Bericht für den Aufsichtsrat muss übernächste Woche fertig sein. Dafür komme ich danach für eine ganze Woche. Das ist doch schön, oder?«
Na, toll! Wieder mal ein einsames Wochenende. Ich wollte zurückschlagen.
»Da fahre ich mit Ines für zwei Wochen nach Dänemark.«
Was redete ich eigentlich? Das war reinster Blödsinn. Ich konnte mich doch nicht ernsthaft bei der Wahl zwischen einer Woche Johann und zwei Wochen Ines für meine Schwester entscheiden. Johann schien aber bereit, es zu glauben.
»Das ist doch nett«, sagte er in einem Ton, als ginge es ums Eisessen und nicht darum, dass wir uns noch länger nicht sehen würden, »Dänemark ist ganz toll im September. Das tut dir bestimmt gut.«
In diesem Moment bezweifelte ich, dass er eine vage Ahnung von dem hätte, was mir guttat. Ich war einfach sauer. Auf ihn, auf mich, auf das Leben und auf die Schweden. Und weil ich schon mal dabei war, auch noch auf Dänemark.
Meine Schwester balancierte einen Pizzakarton, auf dem noch eine Tüte hin und her rutschte, eine Flasche Rotwein und ihre überdimensionale Schultertasche das Treppenhaus hinauf. An den Türrahmen gelehnt, sah ich ihr entgegen, sie atmete schwer und blickte zu mir hoch.
»Dieses Treppenhaus macht mich wahnsinnig. Es wird wirklich Zeit, dass du umziehst.«
Sie hatte keine Ahnung, wie recht sie damit hatte. Oben angekommen, reichte sie mir den Karton und die Tüte.
»Mittwochs ist bei der großen Pizza immer ein Salat dabei. Gut, oder? Und den Rotwein gab es für sechs Euro. Apulienwoche oder so, habe ich gleich mitgekauft.«
»Ich habe noch zehn Flaschen im Schrank. Und auch gute.«
»Na ja«, sie ging an mir vorbei und warf ihre Tasche in den Flur, »wenn der Wein nicht schmeckt, machen wir einen von deinen auf.«
Ich schob ihre Tasche mit dem Fuß an die Seite und folgte ihr in die Küche. Ines kramte Besteck aus der Schublade, holte Gläser und Teller aus dem Schrank und deckte den Tisch.
Dann nahm sie mir den Pizzakarton aus der Hand.
»Wo ist denn dein großes Messer?«
»Fühl dich wie zu Hause«, antwortete ich, während ich mich setzte und dabei auf die Spüle deutete, »und das Messer liegt in der Spüle, weil ich eigentlich vorhatte, heute Abend ein bisschen Amok zu laufen.«
Ines wischte die Klinge mit einem Spültuch ab und begann, die Pizza in Viertel zu schneiden.
»Gibt es was Neues vom Schwedenhappen?«
»Wenn du Johann damit meinst, der hat mir vorhin gesagt, dass er am Wochenende nicht kommen kann, dafür aber danach eine Woche freihat. Also hat sich dein Dänemarkplan für mich erledigt.«
»Wolltest du deshalb Amok laufen? Weil dein Süßer nicht kommt?«
»Unsinn.« Ich sah ihr zu, wie sie mit gleichmäßigen Bewegungen aus den Vierteln Achtel schnitt. »Aber mir geht dieses ganze Hin und Her auf die Nerven. Man kann überhaupt nichts mehr planen.«
Ines ließ das Messer zurück in die Spüle fallen und setzte sich mir gegenüber.
»Du könntest planen. Du machst dich nur so abhängig von Johann. Der spricht sich ja auch nicht immer mit dir ab. Und du musst doch nicht hier rum sitzen und warten, was der große Meister sagt. Ich finde das albern.«
Sie nahm das größte Stück und biss ab. Mit vollem Mund sagte sie: »Nimm doch, ist super.«
»Wozu hast du eigentlich Besteck hingelegt, wenn du jetzt mit den Fingern isst?«
»Esskultur! Aber Pizza geht besser mit der Hand.«
Eine Zeit lang kauten wir schweigend. Ines hatte recht, Thunfisch mit Schinken war wirklich gut. Außerdem hatte sie doppelt Käse bestellt. Von gesunder Ernährung konnte hierbei nicht die Rede sein, aber es schmeckte.
Nach dem dritten Stück stand Ines auf und holte einen Prospekt aus der Tasche. »Ferienhäuser Dänemark.« Sie hatte die Seite, auf der das Haus abgebildet war, mit einem gelben Klebezettel markiert.
»Guck mal. Ist das nicht schön? Und der Preis geht auch.«
Ich warf nur einen flüchtigen Blick auf das rote Holzhaus mit dem hübschen Garten und schob den Prospekt sofort wieder zurück.
»Ich habe weder Lust noch Geld. Und außerdem kommt Johann ja in der Zeit. Wir sehen uns doch sowieso kaum noch.«
Ines fuhr sich mit der Hand durch ihre Haare, ein kleines Stück Käse blieb an einer Ponysträhne hängen.
»Und wenn doch wieder was dazwischenkommt? Dann hängst du weiterhin schlecht gelaunt hier herum?«
»Ich weiß gar nicht, was du immer mit meiner schlechten Laune hast. Und ich hänge auch nicht herum.«
Mit einem weiteren Pizzastück in der Hand betrachtete Ines mich nachdenklich.
»Ich war am Wochenende zu Hause.«
»Ich weiß. Hat Mama mir erzählt. Und? War es nett?«
»Papa hat gesagt, ich soll mich um dich kümmern. Du wärst in einer schlechten Verfassung.«
Deshalb also Dänemark. Weil mein Vater mal wieder seine Hausfrauenpsychologie betrieb. Am Wochenende vorher war ich auf Sylt bei meinen Eltern gewesen. Bereits da war es mir auf die Nerven gegangen, dass mein Vater mich ständig mit zusammengekniffenen Augen beobachtet hatte. Bei einem Strandspaziergang hatte er mich gefragt, wie ich mir eigentlich meine Zukunft vorstellen würde.
»Christine, du musst doch Pläne haben. Sowohl beruflich als auch privat. Also auch, was du mal werden möchtest.«
»Papa, ich bin 47. Ich habe einen Job, wenn auch nicht besonders gut bezahlt. Und ich werde auch wieder was anderes finden. Und ich habe einen Freund, den du kennst. Ich weiß gar nicht, von welchen Plänen du redest.«
»Aber das läuft doch alles nicht rund bei dir. Da darf man sich als Vater doch wohl mal Gedanken machen.«
»Ja, natürlich. Mach dir Gedanken, aber erzähle sie mir nicht.«
Jetzt hatte er sie also Ines erzählt. Das war ja klar. Sie sah mich mit ernstem Gesichtsausdruck an.
»Papa hat einen Artikel gelesen, in dem stand, dass statistisch gesehen eine Wochenendbeziehung nicht länger als zwei Jahre hält.«
»Aha. Statistisch gesehen. Und weiter?«
Ines probierte den Rotwein und rümpfte die Nase. »Ich glaube, wir müssen doch eine von deinen Flaschen öffnen. Der schmeckt nicht.«
»Das Stichwort war ›Wochenendbeziehung‹.«
»Ja, sicher. Also, er meinte, dass dir dann mit Johann nur noch ein Dreivierteljahr bliebe. Wobei man das aber schlecht rechnen kann, weil Johann im Moment ja noch nicht einmal jedes Wochenende da ist. Wie das jetzt geht, wusste er auch nicht. Auf jeden Fall musst du aber etwas tun. Wobei ich dir die Idee, nach Schweden umzuziehen, ausreden soll.«
»Ich hatte noch nie im Leben die Idee, nach Schweden umzuziehen.«
»Soll ich jetzt einen anderen Wein holen, oder machst du das?«
Ines sah sich suchend um, blieb aber sitzen. Der Wein war wirklich ziemlich schlecht, Apulienwochen hin oder her. Ich schob mein Glas zur Seite und stand auf.
»Was hat Papa noch gesagt?«
Ines sammelte die Gurkenscheiben aus ihrem Salat und legte sie mir ungefragt auf den Teller. Sie hasste Gurken, ich mochte sie auch nicht besonders gern, aß sie aber trotzdem für sie. Seit sie wusste, was eine Gurke ist, machten wir das so.
»Papa findet die Situation hoch kompliziert. Er hat erklärt, dass er Johann ja ganz nett findet, aber sein Ehrgeiz wäre doch ein bisschen eigenartig. Fast schon krankhaft.«
»Meine Güte. Ich glaube, mehr will ich von seinen Überlegungen gar nicht wissen. Sonst kommen gleich Johanns ›tückische Augen‹ wieder ins Spiel.«
Ich öffnete die neue Weinflasche und holte zwei frische Gläser aus dem Schrank. Statt über unseren Vater zu reden, sollten wir uns lieber gepflegt betrinken. Das würde vieles einfacher machen.
Ines drückte den Korken in den Sonderangebotswein und meinte: »Damit kannst du jetzt Rotweinkuchen backen. Den musst du ja nicht wegschütten. Im Kuchen merkt man überhaupt nicht, wie schlecht der ist. Du nimmst einfach ein bisschen mehr Schokolade. Das geht bestimmt.«
Manchmal fragte ich mich, was Ines antrieb, alles an Getränken und Lebensmitteln, was ihr unter die Finger kam, zu konservieren oder zu verarbeiten. Sie war doch kein Flüchtlingskind, das drei Jahre lang durch halb Europa zu Fuß unterwegs gewesen war, immer auf der Suche nach Beeren und Blättern, getrieben vom Hunger und Überlebenskampf. Sie tat aber so. Es war mir ein Rätsel. Aber es war zwecklos, darüber mit ihr zu diskutieren.
Ich arbeitete mich durch die Gurkenschicht auf meinem Salat und hoffte, dass Ines das Thema wechseln würde. Sie tat es nicht.
»Jedenfalls hat Papa dann die glorreiche Idee gehabt, dass wir beide doch ein paar Tage zusammen verreisen könnten. Du kannst dir in aller Ruhe Gedanken über deine Zukunft machen, und ich vertreibe dir dabei die Zeit. Papa zahlt auch was dazu.«
»Er macht was?« Ich glaubte, mich verhört zu haben.
Ines hatte das Glas schon fast ausgetrunken. »Der schmeckt besser. Der ist sogar richtig gut. Kann ich noch was haben?«
»Trink doch erst mal aus.«
Sie tat es mit einem Schluck und hielt mir das leere Glas hin. Bei Katzen nannte man das Futterneid. Bei Ines war es wohl etwas anderes. Ich ertappte mich dabei, dass auch ich mein Tempo beim Essen und Trinken beschleunigte. Aber eigentlich waren wir bei einem anderen Thema.
»Was meintest du jetzt mit ›Papa zahlt was dazu‹?«
Treuherzig sah Ines mich an. »Na ja, habe ich doch erzählt: Er hat gesagt, ich soll mit dir ein paar Tage wegfahren, damit du auf andere Gedanken kommst. Daraufhin habe ich geantwortet, dass du bestimmt sagen wirst, du hättest kein Geld. Und ich sehe ja nicht ein, dass ich so ein Rettungspaket bezahlen soll.«
»Ines!«
»Genau dasselbe hat Papa auch gesagt.« Sie grinste. »Ich habe ihm aber ganz freundlich erklärt, dass ich mein Geld zum Segeln bräuchte. Der Törn ist nämlich teuer. Deswegen habe ich ihm vorgeschlagen, dass er das ja sponsern kann. Wollte er dann auch. Wobei er immer nur von ein paar Tagen geredet hat.«
»Aber doch keine zwei Wochen?«
Mein Glas war jetzt auch leer. Wir griffen gleichzeitig zur Flasche, ich war schneller und schenkte mir nach. Ines hob ihr halb volles Glas und musterte kurz den Inhalt der Flasche.
»Prost. Ich habe ihn gestern Abend angerufen und ihm erzählt, dass mein Segeltörn geplatzt ist, weil das Boot einen Motorschaden hat. Ich könnte jetzt aber mit dir zwei Wochen Urlaub machen. Und da wäre Dänemark doch sehr schön, das würde ihn aber ein bisschen was kosten.« Sie trank aus und zog die Flasche zu sich.
»Und?«
Während sie lächelnd ihr Glas sehr voll goss, antwortete sie: »Er hat gesagt, wir sollen es machen. Hauptsache, es hilft. Und wir könnten ja Lebensmittel mitnehmen und bräuchten nicht jeden Tag essen zu gehen.« Sie sah mich gut gelaunt an und legte den Kopf schief. »Wir können dein Auto nehmen. Mein Kofferraum ist so klein.«
Das war typisch für meine Schwester. Ich schob die letzten Gurken zur Seite.
»Das heißt, du sparst dein Urlaubsgeld für den nächsten Segeltörn und lässt dir von Papa den Ersatzurlaub bezahlen, weil du mich auf andere Gedanken bringen sollst?«
Ines nickte. »So ungefähr. Das ist doch nett von ihm.«
»Du fährst nur mit mir, weil er das bezahlt?«
»Nein«, mit hochgerecktem Kinn sah sie mich an. »Weil er das will. Ist die Flasche schon wieder leer?«
Eine weitere Flasche und eine Stunde später verkündete ich, schon leicht lallend: »Papa, Geld, Dänemark, alles egal, ich fahre nicht mit dir in Urlaub. So. Und das mit meinem Schwedenhappen löse ich wie folgt ...«
Das Klingeln des Telefons unterbrach mich mitten in meinem Plädoyer. Ines fing albern an zu lachen und brüllte: »Wetten, das ist Papa? Oder ... haha, noch besser, Johann, haha, der will mit dir nach Dänemark!«
Ich riss mich zusammen, meldete mich betont sachlich und hörte - ein Rauschen. Und ein Knacken und Knistern. Sonst nichts.
»Hallo? Wer ist denn da?«
»...«
»Hallo? Johann?«
»...«
Ines schlug sich vor Lachen schon fast auf die Schenkel und spülte mit Wein nach.
»Christine? ... Hallo?«
Die Stimme klang wie die von Marleen, aber auch irgendwie anders. Ganz anders. Außerdem war Marleen im Urlaub. In Dubai, mit einer neuen Liebe. Beneidenswerte Marleen.
Ich presste den Hörer ans Ohr, gab Ines ein Zeichen, leiser zu sein.
»Hallo? Ich verstehe Sie nicht.«
»Ach, Gott sei Dank, du bist zu Hause. Christine, hör zu, es ist was Blödes passiert, ich ...«
Es war tatsächlich Marleen.
Es rauschte und knisterte, ihre Stimme war wieder weg.
Dann ein Knacken. Wieder das Rauschen. Ines beobachtete mich und hörte auf zu lachen. Sie schob mir mein Glas zu. Ich hatte plötzlich ein ungutes Gefühl und stellte das Telefon auf Lautsprecher.
»Marleen?«
»Ja.« Ihre Stimme klang gehetzt und ganz anders als sonst. »Ich kann nicht lange reden. Christine, ich sitze blöderweise in Dubai fest und kann am Wochenende nicht zurückfliegen. Du musst nach Norderney und mich in der Pension vertreten, ich erkläre dir alles später. Du kannst doch, oder?«
»Ich?« Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken. »Was ist denn passiert? Sag doch mal, was los ist. Du klingst so komisch. Was heißt, du sitzt fest? Bis wann denn?«
Das Rauschen wurde etwas leiser. »Christine, mach bitte, was ich sage. Ruf meinen Anwalt Kühlke an, Ralf Kühlke, Anwalt in Oldenburg, und fahr nach Norderney. Und frag jetzt nicht. Ich kann nicht.«
Weinte sie etwa? Sie hatte so eine komische Stimme. Ich verstand gar nichts mehr.
»Marleen? Wo bist du denn?«
»Ich muss Schluss machen. Und du fährst nach Norderney, ja? Und bitte, sage keinem, wohin und mit wem ich verreist bin. Das ist ganz wichtig. Denk dir was aus.«
Ines nickte, während ich verwirrt wartete. Und dann rief sie in Richtung des Telefons: »Marleen, hier ist Ines. Wir fahren nach Norderney und schmeißen deinen Laden. Wir wollten sowieso mal raus.«
Das Rauschen und Knistern wurde wieder lauter, plötzlich hörten wir kurz Marleens erleichterte Stimme: »Danke und ...« Dann war die Leitung tot.
»Wie? Denk dir was aus! Was soll ich mir denn ausdenken? Wieso denn?«
Aber die Leitung war tot. Meine Schwester und ich starrten uns an. Mit einem Schlag waren wir wieder nüchtern.
»Das ist ja schräg. Und so was von Marleen«, sagte Ines und fuhr sich durch die Haare, »... das ist ja völlig verrückt. Na gut, dann fahren wir eben nach Norderney, statt vorm dänischen Kamin Krimis zu lesen. Aber die Sache klingt nach Notfall. Was ist denn da nun passiert?«
»Keine Ahnung.« Ich ließ mich auf das Sofa sinken. »Das ist doch ein Witz, oder? Sie ist in Dubai und schickt mich nach Norderney?«
Ines trank den restlichen Wein aus der Flasche. Sie dachte kurz nach.
»Das hörte sich aber nicht an, als würde sie da freiwillig bleiben. Vielleicht haben sie ihr die Papiere geklaut. Aber wieso sollen wir diesen Anwalt anrufen? Na ja, die Nummer kriegen wir wohl von der Auskunft. Was anderes fällt mir im Moment auch nicht ein.«
Ich sah meine Schwester an, die mit vor der Brust verschränkten Armen vor mir stand.
»Das ist doch völlig idiotisch.«
Ich war mir nicht sicher, ob ich jetzt sauer auf Marleen oder besorgt sein sollte. So etwas passte überhaupt nicht zu ihr.
»Und was soll das mit dem Anwalt?«
Ines schob ihre Hände in die Jeanstaschen und zuckte mit den Schultern.
»Was weiß ich? Vielleicht fällt ihm etwas ein. Keine Ahnung. Ich war noch nie in Dubai. Ich habe keinen blassen Schimmer davon, was einem da passieren kann.«
»Toll.« Ich massierte mir die Schläfen, um besser denken zu können. »Aber irgendetwas Blödes muss ja passiert sein, sonst halten die einen doch nicht fest. Und wieso soll ich mir was ausdenken? Großer Gott, das ist ja völlig verquer. Aber dann muss ich wohl nach Norderney. Es hilft ja nichts. Willst du wirklich mit?«
Ines betrachtete mich verwundert. »Natürlich komme ich mit. Du hast doch noch nie eine Pension geleitet.«
»Du etwa?«
»Natürlich nicht. Aber zusammen kriegen wir das bestimmt irgendwie hin. Du weißt ein bisschen was, ich weiß ein bisschen was anderes, und in der Summe muss das dann reichen. Nur du alleine, Schwesterherz, das wird nichts. Du wirst doch immer so schnell hektisch.«
Man konnte meiner kleinen Schwester alle möglichen Dinge nachsagen, aber ganz bestimmt nicht, dass sie unter zu wenig Selbstvertrauen litt. Und so nervenschwach, wie sie meinte, war ich auch nicht.
»Ich habe die Pension damals mit umgebaut. Und außerdem fast drei Wochen lang den gesamten Frühstücksdienst gemacht. Das hat ziemlich gut geklappt.«
»Sag ich doch«, zufrieden sah sie mich an, »ein bisschen was weißt du, das andere ich. Aber du musst morgen früh erst mal mit diesem Anwalt telefonieren. Dann wissen wir vielleicht, wie lange das dauert. Wer arbeitet denn noch in der Pension? Ist die jetzt geschlossen?«
»Nein.« Ich überlegte, was mir Marleen alles am Telefon erzählt hatte, bevor sie in den Urlaub geflogen war. »Marleens Tante Theda hat die Urlaubsvertretung gemacht. Aber nur bis zum Wochenende. Ansonsten ist Gesa da, das ist die Nachbarstochter, die in den Semesterferien immer dort jobbt. Ich kenne sie noch vom Umbau. Und außerdem gibt es eine ältere Frau, eine Adelheid, die arbeitet da vormittags. Aber erst seit einem halben Jahr.«
»Dann musst du morgen Gesa anrufen. Wer war denn noch in der Umbauzeit dabei? Wer könnte zusätzlich mithelfen?«
Ein hysterischer Lachkoller stieg in mir auf. Die Truppe damals bestand aus Marleen, meiner Freundin Dorothea, deren Sommerflirt Nils und vier Rentnern. Der Anführer war mein Vater Heinz. Noch einmal würde ich diese Konstellation nicht überleben.
Ines schien meine Gedanken zu erraten. »Ach je, Papa war ja dabei. Und noch ein paar ältere Männer, oder?«
Ich nickte. »Ja. Und dann noch dieser unsägliche Inselreporter Gisbert von Meyer. Der hing auch jeden Tag auf der Baustelle herum. Vergiss es, die Einzige, die wir anrufen können, ist Gesa. Und im Moment habe ich keine Ahnung, was wir uns für eine harmlose Geschichte ausdenken sollen. Wieso darf denn keiner wissen, wo Marleen ist?«
Meine Schwester starrte lange auf die Wand hinter mir. Dann kehrte ihr Blick zu mir zurück. Leise sagte sie: »Kalli wohnt auf Norderney.«
Ich hielt kurz die Luft an, dann griff ich nach ihrem Handgelenk.
»Ines, wir müssen uns eine ganz wasserdichte Geschichte ausdenken. Wenn wir Kalli zufällig treffen, soll er denken, wir machen da ein paar Tage Ferien oder so etwas Ähnliches. Aber bitte, egal was passiert, kein Wort zu Papa! Sonst ist er mit der nächsten Fähre da. Und das halte ich nicht aus, ich schwöre es dir. Das halten wir beide nicht aus!«
Wir sahen uns lange an. Ines nickte ernst und rieb ihr Handgelenk.
Am nächsten Mittag stand ich zum dritten Mal im Bad, um irgendetwas zu holen, und hatte schon wieder vergessen, was es eigentlich war. Ich hatte ein ganz warmes Ohr vom stundenlangen Telefonieren und war vollkommen neben der Spur. Nachdem ich mein Spiegelbild erschrocken gemustert hatte, beschloss ich, mir einen Kaffee zu kochen, mich damit auf den Balkon zu setzen und eine Liste zu schreiben, um das Durcheinander in meinem Kopf einigermaßen zu sortieren. Ich schrieb in Krisensituationen immer Listen. Meine Schwester fand das albern, sie meinte, in der Zeit, die ich darauf verwendete, alles aufzulisten, hätte sie die gesamte Problematik schon zweimal gelöst. Ich hielt das für Unsinn.
Mit einem Blick auf den Kirchturm vor meinem Haus und einem kleinen Stoßgebet in dieselbe Richtung strich ich das Blatt Papier glatt und begann:
1.) Meine langjährige und beste Freundin Marleen hat eine Reise nach Dubai gebucht, zusammen mit ihrem neuen Freund Björn, von dem außer mir noch niemand weiß. Von dieser Reise sollte sie eigentlich diese Woche zurückkehren, das tut sie aber nicht.
2.) Stattdessen sitzt sie jetzt aus Gründen, die mir völlig schleierhaft sind, dort fest.
3.) Rechtsanwalt Kühlke aus Oldenburg blieb ganz locker, als ich ihn heute Morgen anrief, und hat sofort etwas unternommen.
4.) Die deutsche Botschaft wurde eingeschaltet, die wiederum einen Anwalt aus Dubai mit deutschen Sprachkenntnissen beauftragt hat, sich um den Fall zu kümmern. Der wiederum hat Marleen geraten, sich auch einen deutschen Anwalt zu nehmen, das haben wir ja nun schon erledigt. Es muss ein riesiges Missverständnis sein.
5.) Am Samstag ist Bettenwechsel und die Pension »Haus Theda« fast ausgebucht. Marleen wollte am Freitag wieder zurück sein. Das ist morgen, und daraus wird nun nichts.
6.) Deshalb fahren meine Schwester und ich heute Nachmittag nach Norderney. Gesa gibt uns den Schlüssel, bis dahin müssen wir uns noch eine unglaublich gute Geschichte ausdenken, die auf charmante Weise Marleens Fernbleiben erklärt. In dieser Geschichte dürfen drei Wörter keinesfalls vorkommen: »Dubai«, »Björn« und »Schwierigkeiten«.
7.) Ines und ich haben noch nie eine Pension geführt.
8.) Johann ist den ganzen Tag nicht zu erreichen gewesen und hat deswegen keine Ahnung, zu welchem Abenteuer ich gleich aufbrechen werde.
9.) Niemand, wirklich niemand, darf erfahren, was mit Marleen los ist, Anwalt Kühlke hat es strikt angeordnet. Aus diplomatischen und was weiß ich noch für Gründen.
10.) Die Idee mit Dänemark war eigentlich gar nicht so schlecht.
Ich las mir alles noch mal in Ruhe durch und kam zu dem Schluss, dass die Situation geschrieben noch schlimmer war als gedacht. Gut, ich hatte jetzt die Dinge in die Wege geleitet, die Marleen mir in diesem überraschenden Telefonat aufgetragen hatte. Aber wie ich das alles ernsthaft bewerkstelligen sollte, war mir im Moment noch ein Rätsel. Wobei ich auch niemanden kannte, der mit so etwas Erfahrung gehabt hätte. Niemand, den man anrufen konnte, um die lockeren Fragen zu stellen: »Sag mal, als deine Freundin in den Arabischen Emiraten verschollen war, wie lange hat das eigentlich gedauert?
Das war doch nicht dramatisch, oder? Und die Pension hast du mit links geschmissen? Alles halb so wild?« Geschweige denn, die Antworten zu hören: »Du, das war nicht lange, ein, zwei Tage. Das hat ihr gut gefallen, sie hat dort ganz nette Leute kennengelernt. So eine Pension ist ein Kinderspiel, nach einer Stunde hast du das Gefühl, du hättest nie etwas anderes gemacht. Da musst du dich überhaupt nicht verrückt machen, das kriegst du alles hin. Und wenn deine Schwester mitkommt, wird das sein, als hättet ihr Ferien.«
Leider konnte mir hierbei niemand helfen. Also würde ich das allein hinkriegen müssen. Nein, nicht ganz allein, schließlich hatte ich eine kleine Schwester.
Als ich gerade mit geballter Kraft versuchte, den Reißverschluss meiner Tasche zu schließen, rief meine Mutter an. Ich bekam eine Hitzewelle. Ines und ich hatten uns noch nicht auf eine offizielle Geschichte geeinigt, jetzt würde ich improvisieren müssen.
»Hallo, Mama.«
»Na, Kind? Was machst du gerade?«
Ich zerrte weiter am Reißverschluss und klemmte mir den Finger ein. »Aua, ach, nichts weiter. Ich räume hier so ein bisschen herum.«
»Was räumst du denn? Ich denke, du willst sowieso bald umziehen.«
»Ja, sicher. Was wolltest du denn wirklich?«
»Ich wollte nur mal hören, was du so machst. Hast du schon was von deiner Bewerbung bei diesem Zeitungsverlag gehört?«
Ehrlich gesagt hatte ich die sogar schon ganz vergessen.
»Nein. Aber ich glaube, die Bewerbungsfrist läuft auch noch vier Wochen.«
»Was heißt, du glaubst? Christine, du musst dich doch mal kümmern.«
»Mama, bitte. Ich bin erwachsen.«
Meine Mutter klang jetzt schnippisch. »Ich meine es nur gut. Und? Wie geht es Johann? Wann kommt er denn mal wieder?«
Aus dem Schnippischen war jetzt etwas Lauerndes geworden. Aber das kannte ich ja. Meine Antwort war sehr freundlich.
»Übernächste Woche. Dann auch für ein paar Tage.«
Es folgte ein schweres, fast schon theatralisches Atmen.
»Das ist doch auch komisch. Am Anfang hieß es, er kommt jedes Wochenende nach Hause, aber je länger dieser Job dauert, desto seltener bekommst du diesen Mann zu sehen.«
»Mama! Er hat viel zu tun!«
Jetzt wurde ich giftig. Ich durfte mich über Johann aufregen und schlecht über ihn denken, meine Mutter nicht. Das konnte ich nicht leiden. Sie trat den Rückzug an. »Das ist auch eine anstrengende Arbeit, die er macht. Na ja, wird bestimmt alles klappen. Sag
mal, hast du schon mit Ines gesprochen?«
Jetzt wurde es gefährlich.
»Worüber?«
»Dass ihr beide zusammen ein paar Tage nach Dänemark fahrt. Ines hat doch so ein Pech mit ihrem geplanten Urlaub und du ja auch, wegen Johann und so, da hatte Papa diese tolle Idee gehabt, ihr beiden Schwestern mal ganz alleine. Das ist doch nett von ihm. Er will euch das unbedingt schenken.«
Wegen Johann und so. Es ging eigentlich niemanden außer mir etwas an. Warum wurde bloß alles immer gleich ein Familiendrama?
»Ich fahre aber nicht nach Dänemark. Auch wenn Papa das will. Und es sogar bezahlt.«
»Jetzt sei doch nicht so stur. Er macht sich Sorgen. Du hast ja nicht die beste deiner Lebensphasen.«
»Mama, bitte! Ich bin alt genug, um das selbst zu entscheiden. Und wenn Papa anfängt, sich Sorgen zu machen, geht sowieso wieder alles schief.« Ich hielt inne, wenn ich weiter ausholen würde, käme gleich der Satz, dass sie nicht wüsste, von wem ich das hätte, und außerdem würde ich was Falsches sagen. Also zählte ich bis drei und fuhr betont ruhig fort:
»Und im Übrigen haben Ines und ich gestern Abend beschlossen, ein paar Tage nach ... Norderney zu fahren.«
Am anderen Ende blieb es einen Moment ruhig. Nur einen Moment. Dann kam die erstaunte Frage: »Zu Marleen?«
Ich hätte es mir denken können, trotzdem zuckte ich zusammen.
»Nein, nicht zu Marleen. Sie hat uns ein ganz tolles Hotel empfohlen, den ›Seesteg‹, ganz schön, mit Wellness, super Küche, schönen Zimmern und allem Drum und Dran. Und wir haben gedacht, wenn Papa so spendabel ist, dann können wir es uns dort auch nett machen. Und deshalb haben wir sofort gebucht, gestern Abend noch, die hatten nämlich gerade eine Absage, und deshalb klappte das. Toll, oder? Und wir freuen uns ja so.«
Ich biss mir auf die Unterlippe, wieso faselte ich eigentlich so viel Blödsinn? Weil ich einfach nicht gut lügen konnte. Hoffentlich nahm meine Mutter mir diese Rede ab.
Sie tat es. »Das ist eine gute Idee. Und ihr könnt Marleen ja besuchen, wenn ihr schon nicht bei ihr wohnt. Ach, und dann guckt doch auch bei Hanna und Kalli vorbei. Sie sind unsere ältesten Freunde und freuen sich, wenn ihr mal zum Essen kommt.«
Erleichtert antwortete ich: »Ja, mal sehen. Erst mal machen wir keine Pläne, sondern Urlaub. Und wir melden uns auch nicht. Wir wollen eigentlich unsere Ruhe haben.«
»Natürlich.« Die Stimme meiner Mutter klang sehr weich, sofort bekam ich ein schlechtes Gewissen. »Aber Papa will sowieso nachher noch Kalli anrufen, er kann euch ja schon mal ankündigen. Für irgendwann.«
»Nein, Mama, bitte nicht. Du kennst doch Kalli. Wir gehen da einfach mal vorbei. Du, ich muss jetzt auch Schluss machen.«
»Ja, klar. Also dann, viel Spaß. Ach so, wie lange bleibt ihr denn im ›Seesteg‹?«
Ich schluckte trocken. »Ines hat ja zwei Wochen Urlaub. Ich komme dann mit ihr zurück.«
Hoffentlich, dachte ich inbrünstig und klopfte dreimal auf meinen Holztisch.
Nachdem ich ein letztes Mal erfolglos versucht hatte, Johann zu erreichen, packte ich mein Auto und machte mich auf den Weg zu meiner Schwester.
»Ist es schon so spät?« Erschrocken sah Ines auf die Uhr, als ich ihre Wohnung betrat. »Tatsächlich. Ich bin noch gar nicht ganz fertig.«
Das war nichts Neues, das hatte sogar eine beruhigende Tradition. Die Welt ging unter, aber meine Schwester kam trotzdem zu spät. Als sie noch zur Schule ging, fuhr meine Mutter das Kind durchschnittlich dreimal in der Woche mit dem Auto zum Unterricht, so oft verpasste Ines nämlich den Bus. Meine Mutter trug bei diesen Fahrten immer einen verschossenen gelben Bademantel, der ihr etwas zu klein war. Erst nach einer sehr peinlichen Polizeikontrolle wurden diese Privatfahrten eingeschränkt und Ines morgens auch schon mal angebrüllt. Geholfen hatte es nichts.
»Ich habe auch nicht damit gerechnet, dass du schon fertig bist.« Ich stieg über ihre Tasche, die mitten im Flur stand, und ging in die Küche. »Beeile dich, die Fähre wartet nicht auf uns.
Hast du noch einen Kaffee?«
»In der Kanne«, antwortete sie und verschwand in ihrem Schlafzimmer. Während ich den Kaffee trank, ihre Spülmaschine ausräumte, den Tisch abwischte und das ›Hamburger Abendblatt‹ von vorn bis hinten las, packte sie ihre Sachen zusammen und stand wieder vor mir.
»So, fertig. Ging doch ruck, zuck. Ich weiß gar nicht, warum du immer so hetzt. Hast du diesen Anwalt erreicht?«
»Ja. Erzähle ich dir dann auf der Fahrt. Wir müssen los, hast du jetzt alles?«
»Ich muss nur noch meine restlichen Lebensmittel einpacken, das wird ja alles schlecht, bis ich nach Hause komme. Wer weiß, wie lange die ganze Rettungsaktion dauert. Und das kann man doch nicht wegschmeißen.«
Ich stellte mich demonstrativ an die Haustür. Sie warf mir nur einen kurzen Blick zu.
»Es hat gar keinen Zweck, mich zu hetzen, ich packe diese Sachen trotzdem noch ein.«
Während sie in der Küche mit Tupperdosen hantierte, ging ich schon mal mit ihrer Tasche zum Auto.
...
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»Komm. Nur zwei Wochen. Danach hast du auch wieder bessere Laune.« Meine Schwester säuselte in diesem schmeichelnden Ton, den sie schon ihr Leben lang benutzt hatte, wenn sie etwas von mir wollte. Ich wollte aber nichts von ihr.
»Nein. Ich habe keine Lust, und ich habe kein Geld. Und übrigens auch keine schlechte Laune.«
Das war natürlich gelogen, Ines ging gar nicht darauf ein.
»Los, Christine, jetzt sag Ja. Dänemark ist ganz toll im September. Das Haus ist riesig, mit Sauna und Kamin und offener Küche. Wir nehmen uns stapelweise Krimis mit, gehen jeden Tag am Strand spazieren, unterhalten uns bei Rotwein und Kaminfeuer, schlafen aus, essen sooft wir wollen rote Würstchen und Backfisch, das wird super.«
»Nein.« Ich hatte momentan keine gute Zeit und wollte einfach meine Ruhe. Ferien mit meiner kleinen Schwester standen wirklich ganz unten auf meiner Liste. »Wir können die Diskussion an dieser Stelle beenden.«
Meine Schwester interessierte kein Nein. Das hatte sie noch nie interessiert. Sie kannte es auch kaum, zumindest nicht aus ihrer Kindheit. Es gab nur ein lässiges: »Ach, lass sie doch« oder: »Christine, andere Kinder wünschen sich eine kleine Schwester, sei froh, dass du sie hast und nimm sie mit« oder: »Vertragt euch, die Ältere ist die Klügere und gibt nach«. Das Wort »Nein« gab es nicht. Und wenn, dann kam ich nicht damit durch. Sie dafür immer. Und jetzt hatte ich dazu keine Lust mehr. Ich atmete tief durch, Ines war schneller: »Ich komme heute Abend bei dir vorbei und bringe einen Prospekt von dem Haus mit. Du wirst begeistert sein. Möchtest du Pizza mit Schinken oder Salami? Oder Thunfisch? Ich finde die mit Thunfisch und Schinken ja auch super.«
»Ich möchte gar keine Pizza. Ich kann nicht schlafen, wenn ich abends so viel esse.«
»Seit wann das denn?« Ines lachte. »Ich fahre doch sowieso beim Italiener vorbei. Also, ich bestelle eine große mit allem drauf, und die teilen wir dann. Gegen sieben?«
»Ich will keine und außerdem habe ich heute Abend überhaupt ...«
»Christine, mein anderes Telefon klingelt, ich bin ja noch im Büro. Bis später dann, tschüss.«
Warum hörte sie mir eigentlich nie zu?
Ich legte das Telefon zurück auf die Station und ging in die Küche, um mir einen Kaffee zu kochen. Meine Schwester hatte öfter idiotische Ideen. Sie war so furchtbar spontan, ich nicht. Von mir aus sollte sie doch mit ihrer Pizza vorbeikommen, ihre Dänemarkkataloge könnte sie danach ins Altpapier werfen. Zwei Wochen Ferien in Dänemark mit meiner kleinen Schwester, das war auch genau das, was mir im Moment gerade noch gefehlt hatte. Nur weil ihr geplanter Segeltörn kurzfristig geplatzt war, sollte ich jetzt als Lückenbüßer einspringen. Dabei waren die Zeiten, in denen ich ihren Babysitter spielen musste, wirklich vorbei.
Das Telefon klingelte erneut. Vermutlich war das wieder Ines, die wissen wollte, welches Dressing ich auf dem Beilagensalat haben wollte. Weil eine Familienpizza mit Salat dann ein Menü und drei Euro billiger ist. Ines liebte Schnäppchen und Aktionsangebote. Weil ihre ältere Schwester nie mit Geld umgehen konnte. Deswegen hatte sie das schon früh gelernt.
Sie handelte immer wie auf einem türkischen Basar, egal ob sie sich ein Auto, eine Kiste Wein oder eine Pizza kaufte. Hauptsache, man konnte noch was am Preis drehen.
Die Nummer auf dem Display hatte eine schwedische Vorwahl, kein Mensch konnte ermessen, wie ich sie mittlerweile hasste. Ich nahm das Telefon hoch.
»Hallo, Johann.«
»Na? Was machst du gerade?«
Er hatte ein Lächeln in der Stimme, das mich aus irgendeinem Grund wieder schlecht gelaunt machte. Wieso ging es ihm gut und mir nicht? Er müsste sich mit vor Sehnsucht brüchiger Stimme melden, dann könnte ich ihn wenigstens trösten und sagen, dass doch alles nicht so schlimm sei. Schließlich würde dieser blöde Job in Stockholm ja nur noch etwa zwei Monate dauern. Aber so war nur meine Stimme gefühlt brüchig, und zwar wahrlich nicht mehr vor Sehnsucht, sondern vor Ärger, weil er diesen Job in Stockholm nämlich überhaupt nicht blöde fand. Mit einer unglaublichen Begeisterung und Euphorie sanierte Johann eine schwedische Zeitung. Als ob das niemand anders als der berühmte Johann Thiess konnte, der dafür natürlich sofort den geplanten Umzug nach Hamburg in eine gemeinsame Wohnung mit mir verschob: »Christine, das ist eine ganz große Chance. Der Verlag hat mich extra angefordert, weil ich mit Verlagen Erfahrung und auch schon mal in Schweden gearbeitet habe. Und ich spreche die Sprache. Das ist ein sensationeller Job. Und was sind denn schon drei Monate? Sobald ich wieder da bin, ziehen wir um.«
Ganz klar, nur dass mittlerweile die drei Monate schon fast um waren und Johanns Auslandsaufenthalt auf fünf Monate verlängert worden war. Und da Johann offiziell auch noch in Bremen wohnte und nicht bei mir in Hamburg, musste er an den wenigen Wochenenden, an denen ihn die Schweden mal raus ließen, auch noch zwischen seiner und meiner Wohnung hin- und herfahren. Das wäre vielleicht alles gar nicht so schlimm gewesen, wenn auch ich einen sensationellen Job gehabt hätte. Nur leider hielten sich zurzeit die Sensationen bei mir in Grenzen. Nachdem einer von Johanns Berufskollegen den Verlag, in dem ich seit Jahren gearbeitet hatte, mit ähnlicher Euphorie saniert hatte, war ich meinen Job los und hielt mich jetzt mit dem Schreiben kleiner Kolumnen für eine Frauenzeitschrift über Wasser. Aber wirklich nur eine Handbreit über der Wasseroberfläche. Alles in allem war meine Situation im Moment höchst anstrengend, und ich gab Johann die Schuld dafür. Das war leichter, als einfach nur niedergeschlagen zu sein.
»Christine? Bist du noch dran? Die Verbindung ist so schlecht.«
»Das kommt davon, dass du in Schweden bist. Und ich in Hamburg.«
Johann ignorierte meinen bissigen Ton. »Was machst du gerade?«
»Nichts weiter.«
»Aha. Hast du schlechte Laune?«
»Nein.«
»Das ist gut. Hast du deine Kolumne fertig?«
»Wie soll ich bitte eine lustige Kolumne schreiben, bei der das Thema der Urlaub eines Paares ist? Ich hatte keinen Urlaub mit dir, du bist in Schweden.«
»Ich weiß.« Er lachte. Es war nicht zu glauben. »Nimm doch unseren Sylt-Urlaub aus dem letzten Jahr.«
»Sehr witzig. Das war kein Urlaub, das war eine Katastrophe.«
»So schlimm war es auch wieder nicht. Lass ein paar Dinge weg, dann wird das doch ganz lustig. Du, hör mal, nächstes Wochenende kann ich hier eigentlich nicht weg. Wir kriegen das zeitlich sonst nicht hin, der Bericht für den Aufsichtsrat muss übernächste Woche fertig sein. Dafür komme ich danach für eine ganze Woche. Das ist doch schön, oder?«
Na, toll! Wieder mal ein einsames Wochenende. Ich wollte zurückschlagen.
»Da fahre ich mit Ines für zwei Wochen nach Dänemark.«
Was redete ich eigentlich? Das war reinster Blödsinn. Ich konnte mich doch nicht ernsthaft bei der Wahl zwischen einer Woche Johann und zwei Wochen Ines für meine Schwester entscheiden. Johann schien aber bereit, es zu glauben.
»Das ist doch nett«, sagte er in einem Ton, als ginge es ums Eisessen und nicht darum, dass wir uns noch länger nicht sehen würden, »Dänemark ist ganz toll im September. Das tut dir bestimmt gut.«
In diesem Moment bezweifelte ich, dass er eine vage Ahnung von dem hätte, was mir guttat. Ich war einfach sauer. Auf ihn, auf mich, auf das Leben und auf die Schweden. Und weil ich schon mal dabei war, auch noch auf Dänemark.
Meine Schwester balancierte einen Pizzakarton, auf dem noch eine Tüte hin und her rutschte, eine Flasche Rotwein und ihre überdimensionale Schultertasche das Treppenhaus hinauf. An den Türrahmen gelehnt, sah ich ihr entgegen, sie atmete schwer und blickte zu mir hoch.
»Dieses Treppenhaus macht mich wahnsinnig. Es wird wirklich Zeit, dass du umziehst.«
Sie hatte keine Ahnung, wie recht sie damit hatte. Oben angekommen, reichte sie mir den Karton und die Tüte.
»Mittwochs ist bei der großen Pizza immer ein Salat dabei. Gut, oder? Und den Rotwein gab es für sechs Euro. Apulienwoche oder so, habe ich gleich mitgekauft.«
»Ich habe noch zehn Flaschen im Schrank. Und auch gute.«
»Na ja«, sie ging an mir vorbei und warf ihre Tasche in den Flur, »wenn der Wein nicht schmeckt, machen wir einen von deinen auf.«
Ich schob ihre Tasche mit dem Fuß an die Seite und folgte ihr in die Küche. Ines kramte Besteck aus der Schublade, holte Gläser und Teller aus dem Schrank und deckte den Tisch.
Dann nahm sie mir den Pizzakarton aus der Hand.
»Wo ist denn dein großes Messer?«
»Fühl dich wie zu Hause«, antwortete ich, während ich mich setzte und dabei auf die Spüle deutete, »und das Messer liegt in der Spüle, weil ich eigentlich vorhatte, heute Abend ein bisschen Amok zu laufen.«
Ines wischte die Klinge mit einem Spültuch ab und begann, die Pizza in Viertel zu schneiden.
»Gibt es was Neues vom Schwedenhappen?«
»Wenn du Johann damit meinst, der hat mir vorhin gesagt, dass er am Wochenende nicht kommen kann, dafür aber danach eine Woche freihat. Also hat sich dein Dänemarkplan für mich erledigt.«
»Wolltest du deshalb Amok laufen? Weil dein Süßer nicht kommt?«
»Unsinn.« Ich sah ihr zu, wie sie mit gleichmäßigen Bewegungen aus den Vierteln Achtel schnitt. »Aber mir geht dieses ganze Hin und Her auf die Nerven. Man kann überhaupt nichts mehr planen.«
Ines ließ das Messer zurück in die Spüle fallen und setzte sich mir gegenüber.
»Du könntest planen. Du machst dich nur so abhängig von Johann. Der spricht sich ja auch nicht immer mit dir ab. Und du musst doch nicht hier rum sitzen und warten, was der große Meister sagt. Ich finde das albern.«
Sie nahm das größte Stück und biss ab. Mit vollem Mund sagte sie: »Nimm doch, ist super.«
»Wozu hast du eigentlich Besteck hingelegt, wenn du jetzt mit den Fingern isst?«
»Esskultur! Aber Pizza geht besser mit der Hand.«
Eine Zeit lang kauten wir schweigend. Ines hatte recht, Thunfisch mit Schinken war wirklich gut. Außerdem hatte sie doppelt Käse bestellt. Von gesunder Ernährung konnte hierbei nicht die Rede sein, aber es schmeckte.
Nach dem dritten Stück stand Ines auf und holte einen Prospekt aus der Tasche. »Ferienhäuser Dänemark.« Sie hatte die Seite, auf der das Haus abgebildet war, mit einem gelben Klebezettel markiert.
»Guck mal. Ist das nicht schön? Und der Preis geht auch.«
Ich warf nur einen flüchtigen Blick auf das rote Holzhaus mit dem hübschen Garten und schob den Prospekt sofort wieder zurück.
»Ich habe weder Lust noch Geld. Und außerdem kommt Johann ja in der Zeit. Wir sehen uns doch sowieso kaum noch.«
Ines fuhr sich mit der Hand durch ihre Haare, ein kleines Stück Käse blieb an einer Ponysträhne hängen.
»Und wenn doch wieder was dazwischenkommt? Dann hängst du weiterhin schlecht gelaunt hier herum?«
»Ich weiß gar nicht, was du immer mit meiner schlechten Laune hast. Und ich hänge auch nicht herum.«
Mit einem weiteren Pizzastück in der Hand betrachtete Ines mich nachdenklich.
»Ich war am Wochenende zu Hause.«
»Ich weiß. Hat Mama mir erzählt. Und? War es nett?«
»Papa hat gesagt, ich soll mich um dich kümmern. Du wärst in einer schlechten Verfassung.«
Deshalb also Dänemark. Weil mein Vater mal wieder seine Hausfrauenpsychologie betrieb. Am Wochenende vorher war ich auf Sylt bei meinen Eltern gewesen. Bereits da war es mir auf die Nerven gegangen, dass mein Vater mich ständig mit zusammengekniffenen Augen beobachtet hatte. Bei einem Strandspaziergang hatte er mich gefragt, wie ich mir eigentlich meine Zukunft vorstellen würde.
»Christine, du musst doch Pläne haben. Sowohl beruflich als auch privat. Also auch, was du mal werden möchtest.«
»Papa, ich bin 47. Ich habe einen Job, wenn auch nicht besonders gut bezahlt. Und ich werde auch wieder was anderes finden. Und ich habe einen Freund, den du kennst. Ich weiß gar nicht, von welchen Plänen du redest.«
»Aber das läuft doch alles nicht rund bei dir. Da darf man sich als Vater doch wohl mal Gedanken machen.«
»Ja, natürlich. Mach dir Gedanken, aber erzähle sie mir nicht.«
Jetzt hatte er sie also Ines erzählt. Das war ja klar. Sie sah mich mit ernstem Gesichtsausdruck an.
»Papa hat einen Artikel gelesen, in dem stand, dass statistisch gesehen eine Wochenendbeziehung nicht länger als zwei Jahre hält.«
»Aha. Statistisch gesehen. Und weiter?«
Ines probierte den Rotwein und rümpfte die Nase. »Ich glaube, wir müssen doch eine von deinen Flaschen öffnen. Der schmeckt nicht.«
»Das Stichwort war ›Wochenendbeziehung‹.«
»Ja, sicher. Also, er meinte, dass dir dann mit Johann nur noch ein Dreivierteljahr bliebe. Wobei man das aber schlecht rechnen kann, weil Johann im Moment ja noch nicht einmal jedes Wochenende da ist. Wie das jetzt geht, wusste er auch nicht. Auf jeden Fall musst du aber etwas tun. Wobei ich dir die Idee, nach Schweden umzuziehen, ausreden soll.«
»Ich hatte noch nie im Leben die Idee, nach Schweden umzuziehen.«
»Soll ich jetzt einen anderen Wein holen, oder machst du das?«
Ines sah sich suchend um, blieb aber sitzen. Der Wein war wirklich ziemlich schlecht, Apulienwochen hin oder her. Ich schob mein Glas zur Seite und stand auf.
»Was hat Papa noch gesagt?«
Ines sammelte die Gurkenscheiben aus ihrem Salat und legte sie mir ungefragt auf den Teller. Sie hasste Gurken, ich mochte sie auch nicht besonders gern, aß sie aber trotzdem für sie. Seit sie wusste, was eine Gurke ist, machten wir das so.
»Papa findet die Situation hoch kompliziert. Er hat erklärt, dass er Johann ja ganz nett findet, aber sein Ehrgeiz wäre doch ein bisschen eigenartig. Fast schon krankhaft.«
»Meine Güte. Ich glaube, mehr will ich von seinen Überlegungen gar nicht wissen. Sonst kommen gleich Johanns ›tückische Augen‹ wieder ins Spiel.«
Ich öffnete die neue Weinflasche und holte zwei frische Gläser aus dem Schrank. Statt über unseren Vater zu reden, sollten wir uns lieber gepflegt betrinken. Das würde vieles einfacher machen.
Ines drückte den Korken in den Sonderangebotswein und meinte: »Damit kannst du jetzt Rotweinkuchen backen. Den musst du ja nicht wegschütten. Im Kuchen merkt man überhaupt nicht, wie schlecht der ist. Du nimmst einfach ein bisschen mehr Schokolade. Das geht bestimmt.«
Manchmal fragte ich mich, was Ines antrieb, alles an Getränken und Lebensmitteln, was ihr unter die Finger kam, zu konservieren oder zu verarbeiten. Sie war doch kein Flüchtlingskind, das drei Jahre lang durch halb Europa zu Fuß unterwegs gewesen war, immer auf der Suche nach Beeren und Blättern, getrieben vom Hunger und Überlebenskampf. Sie tat aber so. Es war mir ein Rätsel. Aber es war zwecklos, darüber mit ihr zu diskutieren.
Ich arbeitete mich durch die Gurkenschicht auf meinem Salat und hoffte, dass Ines das Thema wechseln würde. Sie tat es nicht.
»Jedenfalls hat Papa dann die glorreiche Idee gehabt, dass wir beide doch ein paar Tage zusammen verreisen könnten. Du kannst dir in aller Ruhe Gedanken über deine Zukunft machen, und ich vertreibe dir dabei die Zeit. Papa zahlt auch was dazu.«
»Er macht was?« Ich glaubte, mich verhört zu haben.
Ines hatte das Glas schon fast ausgetrunken. »Der schmeckt besser. Der ist sogar richtig gut. Kann ich noch was haben?«
»Trink doch erst mal aus.«
Sie tat es mit einem Schluck und hielt mir das leere Glas hin. Bei Katzen nannte man das Futterneid. Bei Ines war es wohl etwas anderes. Ich ertappte mich dabei, dass auch ich mein Tempo beim Essen und Trinken beschleunigte. Aber eigentlich waren wir bei einem anderen Thema.
»Was meintest du jetzt mit ›Papa zahlt was dazu‹?«
Treuherzig sah Ines mich an. »Na ja, habe ich doch erzählt: Er hat gesagt, ich soll mit dir ein paar Tage wegfahren, damit du auf andere Gedanken kommst. Daraufhin habe ich geantwortet, dass du bestimmt sagen wirst, du hättest kein Geld. Und ich sehe ja nicht ein, dass ich so ein Rettungspaket bezahlen soll.«
»Ines!«
»Genau dasselbe hat Papa auch gesagt.« Sie grinste. »Ich habe ihm aber ganz freundlich erklärt, dass ich mein Geld zum Segeln bräuchte. Der Törn ist nämlich teuer. Deswegen habe ich ihm vorgeschlagen, dass er das ja sponsern kann. Wollte er dann auch. Wobei er immer nur von ein paar Tagen geredet hat.«
»Aber doch keine zwei Wochen?«
Mein Glas war jetzt auch leer. Wir griffen gleichzeitig zur Flasche, ich war schneller und schenkte mir nach. Ines hob ihr halb volles Glas und musterte kurz den Inhalt der Flasche.
»Prost. Ich habe ihn gestern Abend angerufen und ihm erzählt, dass mein Segeltörn geplatzt ist, weil das Boot einen Motorschaden hat. Ich könnte jetzt aber mit dir zwei Wochen Urlaub machen. Und da wäre Dänemark doch sehr schön, das würde ihn aber ein bisschen was kosten.« Sie trank aus und zog die Flasche zu sich.
»Und?«
Während sie lächelnd ihr Glas sehr voll goss, antwortete sie: »Er hat gesagt, wir sollen es machen. Hauptsache, es hilft. Und wir könnten ja Lebensmittel mitnehmen und bräuchten nicht jeden Tag essen zu gehen.« Sie sah mich gut gelaunt an und legte den Kopf schief. »Wir können dein Auto nehmen. Mein Kofferraum ist so klein.«
Das war typisch für meine Schwester. Ich schob die letzten Gurken zur Seite.
»Das heißt, du sparst dein Urlaubsgeld für den nächsten Segeltörn und lässt dir von Papa den Ersatzurlaub bezahlen, weil du mich auf andere Gedanken bringen sollst?«
Ines nickte. »So ungefähr. Das ist doch nett von ihm.«
»Du fährst nur mit mir, weil er das bezahlt?«
»Nein«, mit hochgerecktem Kinn sah sie mich an. »Weil er das will. Ist die Flasche schon wieder leer?«
Eine weitere Flasche und eine Stunde später verkündete ich, schon leicht lallend: »Papa, Geld, Dänemark, alles egal, ich fahre nicht mit dir in Urlaub. So. Und das mit meinem Schwedenhappen löse ich wie folgt ...«
Das Klingeln des Telefons unterbrach mich mitten in meinem Plädoyer. Ines fing albern an zu lachen und brüllte: »Wetten, das ist Papa? Oder ... haha, noch besser, Johann, haha, der will mit dir nach Dänemark!«
Ich riss mich zusammen, meldete mich betont sachlich und hörte - ein Rauschen. Und ein Knacken und Knistern. Sonst nichts.
»Hallo? Wer ist denn da?«
»...«
»Hallo? Johann?«
»...«
Ines schlug sich vor Lachen schon fast auf die Schenkel und spülte mit Wein nach.
»Christine? ... Hallo?«
Die Stimme klang wie die von Marleen, aber auch irgendwie anders. Ganz anders. Außerdem war Marleen im Urlaub. In Dubai, mit einer neuen Liebe. Beneidenswerte Marleen.
Ich presste den Hörer ans Ohr, gab Ines ein Zeichen, leiser zu sein.
»Hallo? Ich verstehe Sie nicht.«
»Ach, Gott sei Dank, du bist zu Hause. Christine, hör zu, es ist was Blödes passiert, ich ...«
Es war tatsächlich Marleen.
Es rauschte und knisterte, ihre Stimme war wieder weg.
Dann ein Knacken. Wieder das Rauschen. Ines beobachtete mich und hörte auf zu lachen. Sie schob mir mein Glas zu. Ich hatte plötzlich ein ungutes Gefühl und stellte das Telefon auf Lautsprecher.
»Marleen?«
»Ja.« Ihre Stimme klang gehetzt und ganz anders als sonst. »Ich kann nicht lange reden. Christine, ich sitze blöderweise in Dubai fest und kann am Wochenende nicht zurückfliegen. Du musst nach Norderney und mich in der Pension vertreten, ich erkläre dir alles später. Du kannst doch, oder?«
»Ich?« Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken. »Was ist denn passiert? Sag doch mal, was los ist. Du klingst so komisch. Was heißt, du sitzt fest? Bis wann denn?«
Das Rauschen wurde etwas leiser. »Christine, mach bitte, was ich sage. Ruf meinen Anwalt Kühlke an, Ralf Kühlke, Anwalt in Oldenburg, und fahr nach Norderney. Und frag jetzt nicht. Ich kann nicht.«
Weinte sie etwa? Sie hatte so eine komische Stimme. Ich verstand gar nichts mehr.
»Marleen? Wo bist du denn?«
»Ich muss Schluss machen. Und du fährst nach Norderney, ja? Und bitte, sage keinem, wohin und mit wem ich verreist bin. Das ist ganz wichtig. Denk dir was aus.«
Ines nickte, während ich verwirrt wartete. Und dann rief sie in Richtung des Telefons: »Marleen, hier ist Ines. Wir fahren nach Norderney und schmeißen deinen Laden. Wir wollten sowieso mal raus.«
Das Rauschen und Knistern wurde wieder lauter, plötzlich hörten wir kurz Marleens erleichterte Stimme: »Danke und ...« Dann war die Leitung tot.
»Wie? Denk dir was aus! Was soll ich mir denn ausdenken? Wieso denn?«
Aber die Leitung war tot. Meine Schwester und ich starrten uns an. Mit einem Schlag waren wir wieder nüchtern.
»Das ist ja schräg. Und so was von Marleen«, sagte Ines und fuhr sich durch die Haare, »... das ist ja völlig verrückt. Na gut, dann fahren wir eben nach Norderney, statt vorm dänischen Kamin Krimis zu lesen. Aber die Sache klingt nach Notfall. Was ist denn da nun passiert?«
»Keine Ahnung.« Ich ließ mich auf das Sofa sinken. »Das ist doch ein Witz, oder? Sie ist in Dubai und schickt mich nach Norderney?«
Ines trank den restlichen Wein aus der Flasche. Sie dachte kurz nach.
»Das hörte sich aber nicht an, als würde sie da freiwillig bleiben. Vielleicht haben sie ihr die Papiere geklaut. Aber wieso sollen wir diesen Anwalt anrufen? Na ja, die Nummer kriegen wir wohl von der Auskunft. Was anderes fällt mir im Moment auch nicht ein.«
Ich sah meine Schwester an, die mit vor der Brust verschränkten Armen vor mir stand.
»Das ist doch völlig idiotisch.«
Ich war mir nicht sicher, ob ich jetzt sauer auf Marleen oder besorgt sein sollte. So etwas passte überhaupt nicht zu ihr.
»Und was soll das mit dem Anwalt?«
Ines schob ihre Hände in die Jeanstaschen und zuckte mit den Schultern.
»Was weiß ich? Vielleicht fällt ihm etwas ein. Keine Ahnung. Ich war noch nie in Dubai. Ich habe keinen blassen Schimmer davon, was einem da passieren kann.«
»Toll.« Ich massierte mir die Schläfen, um besser denken zu können. »Aber irgendetwas Blödes muss ja passiert sein, sonst halten die einen doch nicht fest. Und wieso soll ich mir was ausdenken? Großer Gott, das ist ja völlig verquer. Aber dann muss ich wohl nach Norderney. Es hilft ja nichts. Willst du wirklich mit?«
Ines betrachtete mich verwundert. »Natürlich komme ich mit. Du hast doch noch nie eine Pension geleitet.«
»Du etwa?«
»Natürlich nicht. Aber zusammen kriegen wir das bestimmt irgendwie hin. Du weißt ein bisschen was, ich weiß ein bisschen was anderes, und in der Summe muss das dann reichen. Nur du alleine, Schwesterherz, das wird nichts. Du wirst doch immer so schnell hektisch.«
Man konnte meiner kleinen Schwester alle möglichen Dinge nachsagen, aber ganz bestimmt nicht, dass sie unter zu wenig Selbstvertrauen litt. Und so nervenschwach, wie sie meinte, war ich auch nicht.
»Ich habe die Pension damals mit umgebaut. Und außerdem fast drei Wochen lang den gesamten Frühstücksdienst gemacht. Das hat ziemlich gut geklappt.«
»Sag ich doch«, zufrieden sah sie mich an, »ein bisschen was weißt du, das andere ich. Aber du musst morgen früh erst mal mit diesem Anwalt telefonieren. Dann wissen wir vielleicht, wie lange das dauert. Wer arbeitet denn noch in der Pension? Ist die jetzt geschlossen?«
»Nein.« Ich überlegte, was mir Marleen alles am Telefon erzählt hatte, bevor sie in den Urlaub geflogen war. »Marleens Tante Theda hat die Urlaubsvertretung gemacht. Aber nur bis zum Wochenende. Ansonsten ist Gesa da, das ist die Nachbarstochter, die in den Semesterferien immer dort jobbt. Ich kenne sie noch vom Umbau. Und außerdem gibt es eine ältere Frau, eine Adelheid, die arbeitet da vormittags. Aber erst seit einem halben Jahr.«
»Dann musst du morgen Gesa anrufen. Wer war denn noch in der Umbauzeit dabei? Wer könnte zusätzlich mithelfen?«
Ein hysterischer Lachkoller stieg in mir auf. Die Truppe damals bestand aus Marleen, meiner Freundin Dorothea, deren Sommerflirt Nils und vier Rentnern. Der Anführer war mein Vater Heinz. Noch einmal würde ich diese Konstellation nicht überleben.
Ines schien meine Gedanken zu erraten. »Ach je, Papa war ja dabei. Und noch ein paar ältere Männer, oder?«
Ich nickte. »Ja. Und dann noch dieser unsägliche Inselreporter Gisbert von Meyer. Der hing auch jeden Tag auf der Baustelle herum. Vergiss es, die Einzige, die wir anrufen können, ist Gesa. Und im Moment habe ich keine Ahnung, was wir uns für eine harmlose Geschichte ausdenken sollen. Wieso darf denn keiner wissen, wo Marleen ist?«
Meine Schwester starrte lange auf die Wand hinter mir. Dann kehrte ihr Blick zu mir zurück. Leise sagte sie: »Kalli wohnt auf Norderney.«
Ich hielt kurz die Luft an, dann griff ich nach ihrem Handgelenk.
»Ines, wir müssen uns eine ganz wasserdichte Geschichte ausdenken. Wenn wir Kalli zufällig treffen, soll er denken, wir machen da ein paar Tage Ferien oder so etwas Ähnliches. Aber bitte, egal was passiert, kein Wort zu Papa! Sonst ist er mit der nächsten Fähre da. Und das halte ich nicht aus, ich schwöre es dir. Das halten wir beide nicht aus!«
Wir sahen uns lange an. Ines nickte ernst und rieb ihr Handgelenk.
Am nächsten Mittag stand ich zum dritten Mal im Bad, um irgendetwas zu holen, und hatte schon wieder vergessen, was es eigentlich war. Ich hatte ein ganz warmes Ohr vom stundenlangen Telefonieren und war vollkommen neben der Spur. Nachdem ich mein Spiegelbild erschrocken gemustert hatte, beschloss ich, mir einen Kaffee zu kochen, mich damit auf den Balkon zu setzen und eine Liste zu schreiben, um das Durcheinander in meinem Kopf einigermaßen zu sortieren. Ich schrieb in Krisensituationen immer Listen. Meine Schwester fand das albern, sie meinte, in der Zeit, die ich darauf verwendete, alles aufzulisten, hätte sie die gesamte Problematik schon zweimal gelöst. Ich hielt das für Unsinn.
Mit einem Blick auf den Kirchturm vor meinem Haus und einem kleinen Stoßgebet in dieselbe Richtung strich ich das Blatt Papier glatt und begann:
1.) Meine langjährige und beste Freundin Marleen hat eine Reise nach Dubai gebucht, zusammen mit ihrem neuen Freund Björn, von dem außer mir noch niemand weiß. Von dieser Reise sollte sie eigentlich diese Woche zurückkehren, das tut sie aber nicht.
2.) Stattdessen sitzt sie jetzt aus Gründen, die mir völlig schleierhaft sind, dort fest.
3.) Rechtsanwalt Kühlke aus Oldenburg blieb ganz locker, als ich ihn heute Morgen anrief, und hat sofort etwas unternommen.
4.) Die deutsche Botschaft wurde eingeschaltet, die wiederum einen Anwalt aus Dubai mit deutschen Sprachkenntnissen beauftragt hat, sich um den Fall zu kümmern. Der wiederum hat Marleen geraten, sich auch einen deutschen Anwalt zu nehmen, das haben wir ja nun schon erledigt. Es muss ein riesiges Missverständnis sein.
5.) Am Samstag ist Bettenwechsel und die Pension »Haus Theda« fast ausgebucht. Marleen wollte am Freitag wieder zurück sein. Das ist morgen, und daraus wird nun nichts.
6.) Deshalb fahren meine Schwester und ich heute Nachmittag nach Norderney. Gesa gibt uns den Schlüssel, bis dahin müssen wir uns noch eine unglaublich gute Geschichte ausdenken, die auf charmante Weise Marleens Fernbleiben erklärt. In dieser Geschichte dürfen drei Wörter keinesfalls vorkommen: »Dubai«, »Björn« und »Schwierigkeiten«.
7.) Ines und ich haben noch nie eine Pension geführt.
8.) Johann ist den ganzen Tag nicht zu erreichen gewesen und hat deswegen keine Ahnung, zu welchem Abenteuer ich gleich aufbrechen werde.
9.) Niemand, wirklich niemand, darf erfahren, was mit Marleen los ist, Anwalt Kühlke hat es strikt angeordnet. Aus diplomatischen und was weiß ich noch für Gründen.
10.) Die Idee mit Dänemark war eigentlich gar nicht so schlecht.
Ich las mir alles noch mal in Ruhe durch und kam zu dem Schluss, dass die Situation geschrieben noch schlimmer war als gedacht. Gut, ich hatte jetzt die Dinge in die Wege geleitet, die Marleen mir in diesem überraschenden Telefonat aufgetragen hatte. Aber wie ich das alles ernsthaft bewerkstelligen sollte, war mir im Moment noch ein Rätsel. Wobei ich auch niemanden kannte, der mit so etwas Erfahrung gehabt hätte. Niemand, den man anrufen konnte, um die lockeren Fragen zu stellen: »Sag mal, als deine Freundin in den Arabischen Emiraten verschollen war, wie lange hat das eigentlich gedauert?
Das war doch nicht dramatisch, oder? Und die Pension hast du mit links geschmissen? Alles halb so wild?« Geschweige denn, die Antworten zu hören: »Du, das war nicht lange, ein, zwei Tage. Das hat ihr gut gefallen, sie hat dort ganz nette Leute kennengelernt. So eine Pension ist ein Kinderspiel, nach einer Stunde hast du das Gefühl, du hättest nie etwas anderes gemacht. Da musst du dich überhaupt nicht verrückt machen, das kriegst du alles hin. Und wenn deine Schwester mitkommt, wird das sein, als hättet ihr Ferien.«
Leider konnte mir hierbei niemand helfen. Also würde ich das allein hinkriegen müssen. Nein, nicht ganz allein, schließlich hatte ich eine kleine Schwester.
Als ich gerade mit geballter Kraft versuchte, den Reißverschluss meiner Tasche zu schließen, rief meine Mutter an. Ich bekam eine Hitzewelle. Ines und ich hatten uns noch nicht auf eine offizielle Geschichte geeinigt, jetzt würde ich improvisieren müssen.
»Hallo, Mama.«
»Na, Kind? Was machst du gerade?«
Ich zerrte weiter am Reißverschluss und klemmte mir den Finger ein. »Aua, ach, nichts weiter. Ich räume hier so ein bisschen herum.«
»Was räumst du denn? Ich denke, du willst sowieso bald umziehen.«
»Ja, sicher. Was wolltest du denn wirklich?«
»Ich wollte nur mal hören, was du so machst. Hast du schon was von deiner Bewerbung bei diesem Zeitungsverlag gehört?«
Ehrlich gesagt hatte ich die sogar schon ganz vergessen.
»Nein. Aber ich glaube, die Bewerbungsfrist läuft auch noch vier Wochen.«
»Was heißt, du glaubst? Christine, du musst dich doch mal kümmern.«
»Mama, bitte. Ich bin erwachsen.«
Meine Mutter klang jetzt schnippisch. »Ich meine es nur gut. Und? Wie geht es Johann? Wann kommt er denn mal wieder?«
Aus dem Schnippischen war jetzt etwas Lauerndes geworden. Aber das kannte ich ja. Meine Antwort war sehr freundlich.
»Übernächste Woche. Dann auch für ein paar Tage.«
Es folgte ein schweres, fast schon theatralisches Atmen.
»Das ist doch auch komisch. Am Anfang hieß es, er kommt jedes Wochenende nach Hause, aber je länger dieser Job dauert, desto seltener bekommst du diesen Mann zu sehen.«
»Mama! Er hat viel zu tun!«
Jetzt wurde ich giftig. Ich durfte mich über Johann aufregen und schlecht über ihn denken, meine Mutter nicht. Das konnte ich nicht leiden. Sie trat den Rückzug an. »Das ist auch eine anstrengende Arbeit, die er macht. Na ja, wird bestimmt alles klappen. Sag
mal, hast du schon mit Ines gesprochen?«
Jetzt wurde es gefährlich.
»Worüber?«
»Dass ihr beide zusammen ein paar Tage nach Dänemark fahrt. Ines hat doch so ein Pech mit ihrem geplanten Urlaub und du ja auch, wegen Johann und so, da hatte Papa diese tolle Idee gehabt, ihr beiden Schwestern mal ganz alleine. Das ist doch nett von ihm. Er will euch das unbedingt schenken.«
Wegen Johann und so. Es ging eigentlich niemanden außer mir etwas an. Warum wurde bloß alles immer gleich ein Familiendrama?
»Ich fahre aber nicht nach Dänemark. Auch wenn Papa das will. Und es sogar bezahlt.«
»Jetzt sei doch nicht so stur. Er macht sich Sorgen. Du hast ja nicht die beste deiner Lebensphasen.«
»Mama, bitte! Ich bin alt genug, um das selbst zu entscheiden. Und wenn Papa anfängt, sich Sorgen zu machen, geht sowieso wieder alles schief.« Ich hielt inne, wenn ich weiter ausholen würde, käme gleich der Satz, dass sie nicht wüsste, von wem ich das hätte, und außerdem würde ich was Falsches sagen. Also zählte ich bis drei und fuhr betont ruhig fort:
»Und im Übrigen haben Ines und ich gestern Abend beschlossen, ein paar Tage nach ... Norderney zu fahren.«
Am anderen Ende blieb es einen Moment ruhig. Nur einen Moment. Dann kam die erstaunte Frage: »Zu Marleen?«
Ich hätte es mir denken können, trotzdem zuckte ich zusammen.
»Nein, nicht zu Marleen. Sie hat uns ein ganz tolles Hotel empfohlen, den ›Seesteg‹, ganz schön, mit Wellness, super Küche, schönen Zimmern und allem Drum und Dran. Und wir haben gedacht, wenn Papa so spendabel ist, dann können wir es uns dort auch nett machen. Und deshalb haben wir sofort gebucht, gestern Abend noch, die hatten nämlich gerade eine Absage, und deshalb klappte das. Toll, oder? Und wir freuen uns ja so.«
Ich biss mir auf die Unterlippe, wieso faselte ich eigentlich so viel Blödsinn? Weil ich einfach nicht gut lügen konnte. Hoffentlich nahm meine Mutter mir diese Rede ab.
Sie tat es. »Das ist eine gute Idee. Und ihr könnt Marleen ja besuchen, wenn ihr schon nicht bei ihr wohnt. Ach, und dann guckt doch auch bei Hanna und Kalli vorbei. Sie sind unsere ältesten Freunde und freuen sich, wenn ihr mal zum Essen kommt.«
Erleichtert antwortete ich: »Ja, mal sehen. Erst mal machen wir keine Pläne, sondern Urlaub. Und wir melden uns auch nicht. Wir wollen eigentlich unsere Ruhe haben.«
»Natürlich.« Die Stimme meiner Mutter klang sehr weich, sofort bekam ich ein schlechtes Gewissen. »Aber Papa will sowieso nachher noch Kalli anrufen, er kann euch ja schon mal ankündigen. Für irgendwann.«
»Nein, Mama, bitte nicht. Du kennst doch Kalli. Wir gehen da einfach mal vorbei. Du, ich muss jetzt auch Schluss machen.«
»Ja, klar. Also dann, viel Spaß. Ach so, wie lange bleibt ihr denn im ›Seesteg‹?«
Ich schluckte trocken. »Ines hat ja zwei Wochen Urlaub. Ich komme dann mit ihr zurück.«
Hoffentlich, dachte ich inbrünstig und klopfte dreimal auf meinen Holztisch.
Nachdem ich ein letztes Mal erfolglos versucht hatte, Johann zu erreichen, packte ich mein Auto und machte mich auf den Weg zu meiner Schwester.
»Ist es schon so spät?« Erschrocken sah Ines auf die Uhr, als ich ihre Wohnung betrat. »Tatsächlich. Ich bin noch gar nicht ganz fertig.«
Das war nichts Neues, das hatte sogar eine beruhigende Tradition. Die Welt ging unter, aber meine Schwester kam trotzdem zu spät. Als sie noch zur Schule ging, fuhr meine Mutter das Kind durchschnittlich dreimal in der Woche mit dem Auto zum Unterricht, so oft verpasste Ines nämlich den Bus. Meine Mutter trug bei diesen Fahrten immer einen verschossenen gelben Bademantel, der ihr etwas zu klein war. Erst nach einer sehr peinlichen Polizeikontrolle wurden diese Privatfahrten eingeschränkt und Ines morgens auch schon mal angebrüllt. Geholfen hatte es nichts.
»Ich habe auch nicht damit gerechnet, dass du schon fertig bist.« Ich stieg über ihre Tasche, die mitten im Flur stand, und ging in die Küche. »Beeile dich, die Fähre wartet nicht auf uns.
Hast du noch einen Kaffee?«
»In der Kanne«, antwortete sie und verschwand in ihrem Schlafzimmer. Während ich den Kaffee trank, ihre Spülmaschine ausräumte, den Tisch abwischte und das ›Hamburger Abendblatt‹ von vorn bis hinten las, packte sie ihre Sachen zusammen und stand wieder vor mir.
»So, fertig. Ging doch ruck, zuck. Ich weiß gar nicht, warum du immer so hetzt. Hast du diesen Anwalt erreicht?«
»Ja. Erzähle ich dir dann auf der Fahrt. Wir müssen los, hast du jetzt alles?«
»Ich muss nur noch meine restlichen Lebensmittel einpacken, das wird ja alles schlecht, bis ich nach Hause komme. Wer weiß, wie lange die ganze Rettungsaktion dauert. Und das kann man doch nicht wegschmeißen.«
Ich stellte mich demonstrativ an die Haustür. Sie warf mir nur einen kurzen Blick zu.
»Es hat gar keinen Zweck, mich zu hetzen, ich packe diese Sachen trotzdem noch ein.«
Während sie in der Küche mit Tupperdosen hantierte, ging ich schon mal mit ihrer Tasche zum Auto.
...
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
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Autoren-Porträt von Dora Heldt
Dora Heldt, 1961 auf Sylt geboren, hat sich mit ihren Romanen und Krimis auf die Spitzenplätze der Bestsellerlisten und in die Herzen von Millionen von Leserinnen und Lesern geschrieben. Wie kaum eine andere Autorin in Deutschland kennt sie den Buchmarkt von allen Seiten: Die gelernte Buchhändlerin war über 30 Jahre lang Verlagsvertreterin für einen großen Publikumsverlag. Neben humorvollen Familien- und Frauenromanen (u.a. 'Urlaub mit Papa', 'Bei Hitze ist es wenigstens nicht kalt' oder 'Drei Frauen am See', 'Drei Frauen, vier Leben') begeistert sie ihr Publikum mit lustig-skurrilen Sylt-Krimis, Erzählungen und Kolumnen. Die Liebe zu ihrer norddeutschen Heimat ebenso wie die zu den Menschen dort fängt Dora Heldt auf unnachahmliche Weise in all ihren Büchern ein.
Bibliographische Angaben
- Autor: Dora Heldt
- 2012, 1. Auflage, 384 Seiten, Maße: 12 x 19,1 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: DTV
- ISBN-10: 3423213620
- ISBN-13: 9783423213622
- Erscheinungsdatum: 20.04.2012
Rezension zu „Kein Wort zu Papa “
»Familienklamauk mit Lügenkartenhäusern, die nach und nach zusammenstürzen - und zu Tränen rühren.« Alles für die Frau 18.05.2012
Pressezitat
Dora Heldt schreibt über das, was Frauen bewegt und worüber sie schmunzeln. Roger Lindhorst NDR 1 Niedersachsen 20170903
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