Der Teufel in dir / Balzano & Byrne Bd.6
Thriller
Ein nackter Mann sitzt blutüberströmt auf einem Stuhl. Rostiger Stacheldraht verursacht tiefe Wunden in seinem Fleisch. Dampf steigt aus seinen Verletzungen auf, als sein warmes Blut auf die eisige Februarluft trifft. Er lebt noch, als Jessica...
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Produktinformationen zu „Der Teufel in dir / Balzano & Byrne Bd.6 “
Ein nackter Mann sitzt blutüberströmt auf einem Stuhl. Rostiger Stacheldraht verursacht tiefe Wunden in seinem Fleisch. Dampf steigt aus seinen Verletzungen auf, als sein warmes Blut auf die eisige Februarluft trifft. Er lebt noch, als Jessica Balzano und Kevin Byrne am Tatort eintreffen. Aber nicht mehr lange. Seine letzten Worte sind: "Er lebt." Danny bleibt nicht das letzte Opfer des Killers. Und bei der Jagd auf ihn werden die beiden Detectives selbst zum Spielball...
Klappentext zu „Der Teufel in dir / Balzano & Byrne Bd.6 “
"Schmackhafte Krimi-Kost" Krimi-CouchDer nervenaufreibendste Fall des Ermittlerduo Kevin Byrne und Jessica Balzano aus Philadelphia.
Ein nackter Mann sitzt blutüberströmt auf einem Stuhl. Rostiger Stacheldraht verursacht tiefe Wunden in seinem Fleisch. Dampf steigt aus seinen Verletzungen auf, als sein warmes Blut auf die eisige Februarluft trifft. Er lebt noch, als Jessica Balzano und Kevin Byrne am Tatort eintreffen. Aber nicht mehr lange. Seine letzten Worte sind: "Er lebt.".
Danny bleibt nicht das letzte Opfer des Killers. Und bei der Jagd auf ihn werden die beiden Detectives selbst zum Spielball ...
Lese-Probe zu „Der Teufel in dir / Balzano & Byrne Bd.6 “
Der Teufel in dir von Richard MontanariAus dem amerikanischen Englisch von Karin Meddekis
Wenn du an diese Nacht zurückdenkst, an diese seltenen Augenblicke der Gnade, wenn das Gewicht deiner Sünden unerträglich wird und dein Herz sich vor dem Licht verstecken will, rasen die Bilder mit höllischem Lärm vorbei, als hättest du alles von einem vorbeifahrenden Zug aus gesehen und gehört. Es kommt dir so vor, als wärst du nur ein Beobachter der Schrecken, die sich in dem feuchten, blutigen Keller zugetragen haben, und nicht an einer Tat beteiligt, bei der zwei Menschen starben.
Wenn du an diese Nacht zurückdenkst, wird dir die volle Schuld der Lebenden bewusst.
In der Kirche halten sich zu dieser frühen Stunde nur drei weitere Büßer auf: ein älterer Mann in einem zerknitterten grauen Anzug, der in der ersten Bankreihe sitzt und dessen Einkaufstasche geduldig in der Reihe hinter ihm wartet; ein Mann und eine Frau Anfang zwanzig, beide kniend, mit geschlossenen Augen und flehend gefalteten Händen. Die Aura der Trauer und des Verlusts, die sie umhüllt, ist beinahe sichtbar.
Du hast die Geschichte so oft wiederholt, dass sie allmählich einer Fabel ähnelt, deshalb möchtest du sie nicht erzählen. Es war ein brutaler Albtraum, und nun, da du weißt, dass du die Worte zum ersten Mal laut sagen wirst, spürst du, dass sich etwas in dir regt.
Du hältst einen Rosenkranz in der Hand, betest aber nicht, lässt die Perlen nur durch die Finger gleiten, damit die Hände etwas zu tun haben, damit sie nicht zittern.
Dreißig Jahre.
Wie können dreißig Jahre in einem einzigen Sonnenaufgang verglühen?
... mehr
Nun stehst du im Herbst des Lebens, deine Kinder sind schon lange aus dem Haus, deine Freunde tot oder liegen im Sterben, und die Liebe deines Lebens ruht seit drei kalten Wintern unter der Erde.
Vielleicht wird dies der Tag deiner Beichte sein, deiner Absolution, ein Tag, der dich in eine Zeit zurückführen wird, als alles noch möglich schien, als du eine geachtete Mitarbeiterin des Philadelphia Police Departments warst und auf Erden noch nicht die Hölle ausgebrochen war.
Erster Teil
Die ungehorsamen Kinder
Und aus der Hand des Engels stieg der Weihrauch
mit den Gebeten der Heiligen zu Gott empor.
Offenbarung des Johannes 8,4
1.
Ehe die Nacht das junge Mädchen mit ihren großen, schwarzen Flügeln umschloss und das Blut sein heiliger Wein wurde, war es in jeder Beziehung ein Kind des Lichts. Jenen, die das Mädchen in diesen Jahren kannten, schien sie ein fleißiges, ruhiges und höfliches Kind zu sein. Manchmal beobachtete sie stundenlang die Wolken und war - wie nur ganz junge Menschen es können - blind für die schreckliche Armut ringsum, die Ketten, die sie und ihresgleichen über fünf Generationen zu Sklaven gemacht hatten.
Das Mädchen war sechs Jahre alt, ehe es ein eigenes Paar Schuhe trug. Ihr erstes Kleid bekam sie mit acht.
Die meiste Zeit lebte das Mädchen innerhalb der hohen Steinmauern seiner Gedanken, einem Ort, an dem es keine Schatten und keine Dämonen gab.
Als sie dreizehn war, begegnete sie in einer mondlosen Nacht, als die Kerzen gelöscht waren, zum ersten Mal der Dunkelheit. Es war nicht die Dunkelheit, die auf den Tag folgt und die sich mit einem schwarzvioletten Schimmer auf die Erde senkt - es war die Dunkelheit, die in jenen Menschen lebt, die auf abgelegenen Straßen reisen und die Verrückte, Gefallene und Unredliche um sich sammeln, deren Leben sich in der Gosse abspielt.
In dieser Nacht wurde ein Samen im Geist und im Körper des Mädchens gesät.
Und nun, viele Jahre später, weiß die junge Frau, dass sie an diesen Ort des Elends und der Erbärmlichkeit, in dieses Haus der sieben Kirchen gehört.
Hier gibt es keine Engel.
Auf diesen Straßen wandelt der Teufel. Sie kennt ihn gut - sein Gesicht, seine Berührung, seinen Geruch -, denn nach ihrem dreizehnten Geburtstag, als Gott sich abwandte, wurde sie dem Teufel übergeben.
Sie hatte den jungen Mann über eine Woche beobachtet. Zum ersten Mal sah sie ihn in der Broad Street, eine hagere Gestalt, die sich vor einer Granitmauer abzeichnete. Er war Bettler. An seinem ausgezehrten, beinahe skelettartigen Körper und seiner gespenstischen Gestalt war nichts Bedrohliches. Er murmelte wirres Zeug, wenn er Passanten und Pendler ansprach, die den Bahnhof betraten oder verließen. Zweimal wurde er von Polizisten begleitet. Er leistete keinen Widerstand, gab keine Antworten. Sein Verstand schien von Rauschgift zerfressen zu sein, sodass er den Versuchungen der Straße hilflos ausgesetzt war.
Nach der abendlichen Rushhour lief er meistens die Market Street hinunter Richtung Delaware River. Dann sprach er die Leute an, die aussahen, als würden sie sich erweichen lassen, ihm ein paar Münzen oder eine Zigarette zu schenken.
Die junge Frau folgte ihm stets in sicherem Abstand. Wie die meisten Bettler nahm man ihn kaum wahr, abgesehen von denen, die sein Schicksal teilten oder die ihn benutzen wollten. Wenn er gelegentlich in einem Obdachlosenasyl eine Unterkunft fand, blieb er über Nacht. Doch jeden Tag um halb sieben nahm er seinen Platz vor der Market East Station ein, und der tägliche Kreislauf der Verzweiflung und Erniedrigung begann von Neuem.
Einmal folgte sie ihm in ein Lebensmittelgeschäft in der Dritten Straße und schaute zu, als er sich verpackte Hefeteilchen, Donuts und Brownies in die Taschen stopfte, wobei er aus den Winkeln seiner gelblich verfärbten Augen unverwandt auf den gewölbten Spiegel am Ende des Gangs spähte. Sie beobachtete, wie er in einer Gasse in der Nähe alles verschlang, um sich kurz darauf zu erbrechen.
Als die Wettervorhersage an diesem Tag Temperaturen weit unter dem Gefrierpunkt ankündigte, wusste sie, dass es an der Zeit war.
Der junge Mann steht zitternd in einem Hauseingang an der Achten Straße. Er trägt vier dünne Pullover übereinander und darüber eine Cabanjacke, deren Schulternähte aufgerissen sind.
Sie nähert sich ihm, bleibt ein paar Schritte entfernt im Schatten stehen.
Er hebt den Blick. In seinen wässrigen Augen sieht sie sich selbst.
»Haben Sie ein bisschen Kleingeld übrig?«, fragt er.
Er ist Mitte zwanzig und furchtbar abgemagert. Die Haut um seine Augen ist lila verfärbt, die Bartstoppeln in seinem Gesicht sind bereits grau, das Haar unter seiner Rollmütze ist fettig. Er hat sich die Fingernägel wund gekaut. Auf dem Handrücken haben sich Blasengebildet.
Sie bleibt im Schatten stehen und streckt die Hand aus, die in einem Handschuh steckt. Zuerst ist der junge Mann skeptisch, doch als sie ins Licht tritt, sodass er ihre Augen zum ersten Mal sieht, weiß er Bescheid. Er nimmt ihre Hand, wie ein Verhungernder ein Stück Brot entgegengenommen hätte.
»Erinnerst du dich an dein Versprechen?«, fragt sie.
Er zögert, ehe er antwortet. Das tun sie immer. In diesem Augenblick kann sie beinahe hören, wie sein Gehirn arbeitet, als er fieberhaft nachdenkt. Eine einsame Träne rinnt über seine errötete Wange, als es ihm schließlich einfällt.
»Ja.«
Sie senkt den Blick, sieht den dunklen Fleck vorne auf seiner Hose. Er hat sich eingenässt. Auch so etwas erlebt sie nicht zum ersten Mal. Viele von ihnen können den Urin nicht mehr halten.
»Komm mit«, sagt sie. »Ich zeige dir, was du tun musst.«
Der junge Mann tritt unsicheren Schrittes vor. Sie hilft ihm. Er ist furchtbar dürr, besteht fast nur noch aus Haut und Knochen.
Am Eingang der Gasse bleibt sie stehen und dreht den jungen Mann zu sich um, sodass er ihr ins Gesicht schaut. »Er muss deine Worte hören. Den genauen Wortlaut.«
Seine Lippen zittern. »Kann ich die Worte nicht zu Ihnen sagen?«
»Nein. Du hast den Pakt mit ihm geschlossen, nicht mit mir.«
Der junge Mann wischt sich mit dem Handrücken über die Augen. »Also gibt es ihn wirklich.«
»Natürlich.« Sie zeigt auf die dunkle Nische am Ende der Gasse. »Willst du ihn jetzt treffen?«
Der junge Mann schüttelt den Kopf. »Nein. Ich habe Angst.«
Sie mustert ihn schweigend. Ein kurzer Moment vergeht.
»Darf ich eine Frage stellen?«, murmelt er dann.
»Natürlich.«
Er atmet tief ein und langsam aus. Sein Atem ist warm, feucht und bitter. »Wie soll ich Sie nennen?«
Darauf gibt es viele Antworten. Früher hätte man sie Magdalena nennen können. Zu einer anderen Zeit Babylon. Zu wieder einer anderen Zeit Legion.
Anstatt die Frage zu beantworten, nimmt sie ihn in die Arme. Sie denkt an die kommenden Tage, die letzten Tage, und was sie jetzt tun werden. Ephesus, Smyrna, Pergamon. Alles hat eine Ordnung. Wenn es keine Ordnung gäbe, würde sie sicherlich verrückt werden und mittenunter den schlechten Menschen leben, den Gottlosen, den Vertriebenen, den vom Herrn Verlassenen.
Von einem langen, einsamen Schatten verfolgt, tauchen sie in der Stadt unter. Der Winterwind wirbelt um sie her, doch die junge Frau spürt die Kälte nicht mehr.
Es hat begonnen.
Der Same, das Fleisch. Der Knochen, der Staub.
Ordnung.
2.
Der schwarzhäutige Junge sah aus, als hätte er keine Chance.
Detective Kevin Francis Byrne hatte es schon oft gesehen, diesen leeren Blick, die verkrampften Schultern, die Hände, die sich bei der geringsten Provokation zu Fäusten ballten. Byrne wusste, dass diese Anspannung durch einen chronisch verhärteten Muskelstrang in der Rückenmitte verursacht wurde. Der Junge hatte traurige Augen, und seine Schultern waren vor Angst gebeugt.
Für diesen Jungen - wie für Millionen andere wie ihn - lauerten an jeder Ecke Feinde. Jedes Geräusch bedeutete eine Gefahr, und in der Nacht hörten sie überall leise Stimmen flüstern:
Was mir gehört, gehört mir. Was dir gehört, gehört mir auch. Du weißt es nur noch nicht.
Der Junge war elf Jahre alt, hatte aber die Augen eines alten Mannes. Er trug einen dunkelblauen Kapuzenpullover mit ausgefransten Bündchen an den Ärmeln und eine weite, ausgebeulte Jeans, die längst aus der Mode war. Seine rostfarbenen Timberlands waren ausgelatscht und zu groß für seine Füße. Byrne fiel auf, dass die Boots mit zwei verschiedenen Schnürsenkeln zugebunden waren. Einer war aus Leder, der andere aus Nylon. Byrne fragte sich, ob der Junge damit irgendeinem modischen Trend folgte, oder ob es aus der Not heraus geschah.
Der Junge lehnte sich gegen die schmutzige rote Ziegelsteinmauer eines Türeingangs, wartete und beobachtete alles - ein weiteres Gespenst, das durch die Straßen Philadelphias geisterte.
Als Byrne die Zwölfte Straße überquerte und den Kragen um den Hals straffzog, um sich vor dem kalten Februarwind zu schützen, dachte er an das, was er gleich tun würde. Kürzlich hatte er sich bereiterklärt, an einem Mentoring-Programm namens »Philly Brothers« teilzunehmen. Heute war sein erstes Treffen mit dem Jungen.
In all seinen Dienstjahren hatte Kevin Byrne einige der schlimmsten Ungeheuer zur Strecke gebracht, die sich jemals auf den Straßen dieser Stadt herumgetrieben hatten, doch vor dem heutigen Treffen fürchtete er sich. Es ging um mehr, um viel mehr als nur darum, dass ein Mann sich mit einem Jungen traf, der auf die schiefe Bahn zu geraten drohte.
Byrne hatte ein Foto des Jungen in der Jackentasche, eine zwei Jahre alte Aufnahme aus der Schule. Er beschloss, das Foto nicht aus der Tasche zu ziehen. Es würde den Jungen nur in Verlegenheit bringen.
Als Byrne sich dem Türeingang näherte, in dem der Junge stand, verstärkte sich die Anspannung in seinen Schultern. Der Junge hob den Blick, schaute Byrne aber nicht in die Augen. Stattdessen richtete er den Blick auf eine Stelle ungefähr in der Mitte von Byrnes Stirn. Das war ein alter Verkäufertrick. Byrne fragte sich, wo der Junge das gelernt hatte und ob es ihm überhaupt bewusst war.
»Bist du Gabriel?«, fragte Byrne.
»Man nennt mich G-Flash«, sagte der schwarze Junge, als wäre das allgemein bekannt, während er von einem Bein aufs andere trat.
»Okay, G-Flash«, sagte Byrne. »Ich heiße Kevin, und ich bin dein Philly . . .«
»Brother«, fiel der Junge ihm ins Wort, verzog das Gesicht und steckte die Hände in die Taschen seines Kapuzenshirts, um Byrne nicht die Hand geben zu müssen. Der hatte die Hand schon ausgestreckt. Jetzt schwebte sie zwischen ihm und dem Jungen in der Luft, und er wusste nicht, wohin damit.
»Ich hatte einen richtigen Bruder«, fügte der Junge leise, beinahe flüsternd hinzu.
Byrne zog die Hand zurück, schaute sich um und überlegte, was er sagen sollte. »Hat es mit dem Bus hierher gut geklappt?«, fragte er schließlich.
Der Junge grinste abfällig. »Ich saß nur drin. Hab die Karre nicht gefahren.«
Ehe Byrne etwas erwidern konnte, schaltete ein Streifenwagen des Philadelphia Police Departments das Blaulicht und die Sirene ein. Der Wagen stand einen halben Block entfernt. Die einzigen beiden Menschen in weitem Umkreis, die nicht den Blick hoben, als der Streifenwagen losjagte, waren Byrne und der Junge. Beide kannten Blaulicht und Sirenen nur zu gut.
Byrne schaute auf die Uhr, obwohl er genau wusste, wie spät es war. »Sollen wir was essen gehen?«
Der Junge zuckte mit den Schultern.
»Worauf hast du Appetit?«, fragte Byrne.
Wieder ein Schulterzucken.
»Chinesisch? Hühnchen? Ein Riesenbaguette?«
Der Junge warf einen Blick über die Schulter. Er schien sich zu Tode zu langweilen. »Hört sich alles ganz toll an.«
»Was ist mit Schweinebraten?«, fragte Byrne. »Magst du Schweinebraten?«
Byrne sah, dass der Junge beinahe unmerklich einen Mundwinkel verzog. Der Hauch eines Lächelns? Gott bewahre. Der Junge mochte Schweinebraten.
»Komm«, sagte Byrne. »Ich weiß, wo es die besten Schweinebraten- Baguettes der Stadt gibt.«
»Ich hab kein Geld.«
»Ich lade dich ein.«
Der Junge trat gegen einen imaginären Kieselstein. »Ich will nicht, dass Sie mich zu irgendwas einladen.«
Byrne seufzte. »Ich sag dir was. Heute bezahle ich das Essen. Wenn wir uns mögen - aber dafür gibt es keine Garantie, ich mag nicht viele Menschen -, bezahlst du bei unserem nächsten Treffen. Wenn nicht, schicke ich dir eine Rechnung über den halben Betrag.«
Jetzt deutete der Junge tatsächlich ein Lächeln an. Um es zu überspielen, blickte er die Filbert Street hinunter. Die Zeit dehnte sich, doch jetzt war Byrne gewappnet. Der Junge hatte keine Ahnung, mit wem er es zu tun hatte. Byrne hatte die letzten zwanzig Jahre seines Lebens als Detective bei der Mordkommission verbracht, die Hälfte davon bei Beschattungen. Er hatte mehr Geduld als ein Betonklotz.
»Okay«, sagte der Junge schließlich. »Hier draußen ist es sowieso arschkalt.«
Als Byrne und der Junge in der Schlange bei DiNic's warteten, sagte keiner von beiden ein Wort. Trotz der vielen Hintergrundgeräusche - ein halbes Dutzend verschiedener Sprachen, das Klappern der Teller, das Surren der Schneidemaschinen, das Kratzen der Pfannenwender auf den Bratrosten - empfand Byrne das Schweigen zwischen ihm und dem Jungen als Belastung. Er wusste aber nicht, was er sagen sollte. Seine Tochter Colleen, die ihr Studium an der Gallaudet University begonnen hatte, war mit vielen Vorteilen aufgewachsen, die dieser Junge nicht besaß - sofern man es als Vorteil bezeichnen konnte, Kevin Byrne zum Vater zu haben.
Der Junge, der neben ihm stand, mit ungerührtem Blick, die Hände noch immer in den Taschen vergraben, war in der Hölle aufgewachsen.
Byrne wusste, dass Gabriels Vater im Leben seines Sohnes nie eine Rolle gespielt hatte. Seine Mutter, Tanya Wilkins, war gestorben, als Gabriel drei Jahre alt gewesen war. Tanya, eine Prostituierte und Drogensüchtige, war in einer eisigen Januarnacht in einer Gasse in Grays Ferry erfroren, nachdem sie das Bewusstsein verloren hatte. Und Gabriels einziger Bruder Terrell hatte vor zwei Jahren Selbstmord begangen.
Seitdem wurde Gabriel von einer Pflegefamilie zur anderen weitergereicht. Ein paar Mal war er mit dem Gesetz in Konflikt gekommen, meist wegen kleinerer Ladendiebstähle, doch es gab keinen Zweifel, in welche Richtung der Weg führte.
Als sie an der Theke standen, bestellte Byrne für jeden ein Riesenbaguette. Die Baguettes von DiNic's waren so groß, dass Byrne erst wenige Male eins ganz geschafft hatte. Trotzdem bestellte er für jeden eins und bedauerte es sogleich, denn er begriff, dass er angeben wollte.
Der Junge riss die Augen auf, als er das riesige Baguette sah, das er mit niemandem teilen musste. Dazu gab es eine Portion Pommes und eine Limo. Doch er setzte sofort wieder eine kühle Miene auf, als könnte ihn nichts und niemand beeindrucken.
Sie suchten sich einen Tisch, setzten sich und machten sich über die Baguettes her.
Während sie schweigend aßen, überlegte Byrne, worüber er sich mit dem Jungen unterhalten könnte. Sport? Die Flyers, die Eishockeymannschaft der Stadt? Die Sixers, das Basketballteam? Das wäre ein unverfängliches Thema gewesen. Stattdessen schwieg er.
Zehn Minuten später hob er den Blick zu Gabriel, der bereits das halbe Sandwich verdrückt hatte. Byrne fragte sich, wann der Junge zum letzten Mal etwas gegessen hatte.
»Das schmeckt, stimmt's?«, sagte Byrne.
Gabriel zuckte mit den Schultern. Byrne nahm an, dass der Junge mitten in seiner Trotzphase steckte. Mit vierzehn, fünfzehn Jahren war Byrne ihm ähnlich gewesen. Alles war ein Rätsel, jede Frage ein Verhör. Doch die Zeiten hatten sich geändert. Die Elfjährigen schienen die neuen Fünfzehnjährigen zu sein.
Als sie fertig gegessen hatten, schob Gabriel die Ärmel seines Kapuzenshirts hoch. Byrnes Blick huschte unwillkürlich über Arme, Hände und Hals des Jungen auf der Suche nach Tattoos, Brandnarben oder anderen Wunden, die der Beweis für die Aufnahme in eine Straßengang hätten sein können. Wenn es jemals einen Jungen gegeben hatte, der prädestiniert dafür war, in eine Gang aufgenommen zu werden, dann war es Gabriel Hightower.
Doch Byrne sah weder Tätowierungen noch Wunden.
Nach dem Essen saßen sie sich wieder schweigend gegenüber, und das Ende des ersten Treffens nahte bereits. Zwischen ihnen stand ein kleines Boot auf dem Tisch, das Gabriel mit flinken Fingern aus dem Papier gefaltet hatte, in das die Baguettes gewickelt waren.
»Darf ich es mir mal angucken?«, fragte Byrne.
Der Junge stieß es mit dem Zeigefinger in Byrnes Richtung.
Byrne nahm das Papierboot in die Hand. Es war geschickt und säuberlich gefaltet. Gabriel schien so etwas nicht zum ersten Mal gemacht zu haben. »Das ist cool.«
»Man nennt es Origami«, erklärte Gabriel. »Ist Chinesisch oder so.«
»Du hast Talent«, sagte Byrne. »Das ist richtig gut.«
Der Junge zuckte wieder mit den Schultern.
Byrne fragte sich, wo der Weltrekord im Schulterzucken lag.
Als sie auf die Straße traten, hatten die meisten Leute ihre Mittagspause beendet, und es waren nicht mehr so viele Menschen unterwegs. Byrne hatte den Rest des Tages frei und überlegte kurz, ob er dem Jungen vorschlagen sollte, noch etwas anderes zu unternehmen, ließ es dann aber. Er nahm an, dass Gabriel nach dem heutigen Treffen erst einmal genug von ihm hatte.
»Komm«, sagte Byrne. »Ich fahr dich nach Hause.«
Gabriel trat einen halben Schritt zurück. »Ich hab Geld für den Bus.«
»Ich muss sowieso in die Richtung«, log Byrne. »Ist kein Umweg für mich.«
Der Junge wühlte in seinen Taschen nach dem Geld.
»Ich fahre keinen Streifenwagen, wenn es das ist«, sagte Byrne. »Ich fahre 'ne alte Scheißkarre, einen klapprigen Taurus mit ausgeleierten Stoßdämpfern, und das Radio kann man auch in der Pfeife rauchen.«
Bei dem Wort »Scheißkarre« lächelte der Junge.
Byrne zog den Schlüssel aus der Tasche. »Komm. Das Geld für den Bus kannst du dir sparen.«
Byrne ging voraus und überquerte die Straße. Er nahm sich vor, sich nicht umzudrehen, um zu sehen, ob Gabriel ihm folgte.
Als er die Filbert schon ein ganzes Stück hinuntergegangen war, sah er einen kleinen Schatten neben sich auftauchen.
Das Wohnviertel, in dem Gabriel Hightower lebte, lag in der Indian Avenue zwischen der Dritten und Vierten Straße, versteckt in einer verwahrlosten Gegend von North Philly, den sogenannten Badlands. Byrne fuhr die Dritte Straße Richtung Norden. Auf der ganzen Fahrt sprach keiner von beiden ein Wort. Erst als Byrne in die Indiana Avenue einbog, sagte Gabriel: »Sie können mich hier rauslassen.«
Das Haus war noch einen ganzen Block entfernt.
»Ich fahre dich bis vor die Tür. Kein Problem. Okay?«
Der Junge erwiderte nichts.
»Dann eben nicht.« Byrne gab nach und hielt an. Sie waren jetzt einen halben Block von einer der berüchtigtsten Drogengegenden der Stadt entfernt. Es dauerte nicht lange, bis Byrne zwei junge Burschen sah, die nach Polizisten Ausschau hielten. Einer der beiden, ein Jugendlicher von vielleicht achtzehn Jahren, versuchte, sich möglichst unauffällig zu verhalten. Byrne starrte ihn an, woraufhin der junge Bursche ein Handy aus der Tasche zog und in die andere Richtung davonschlenderte. Vermutlich hatte er Byrne als Polizisten identifiziert.
Byrne legte den Leerlauf ein.
»Okay, G-Flash«, sagte er und schaute zu Gabriel hinüber. Der verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf. Byrne verstand den Wink. Es war schon schlimm genug, sich mit einem älteren weißen Mann herumzutreiben, erst recht mit einem älteren weißen Cop. Noch schlimmer war allerdings, wenn dieser ältere weiße Typ auch noch den nur in Insiderkreisen gebräuchlichen Spitznamen laut aussprach.
»Gabriel reicht, okay?«
»Abgemacht«, sagte Byrne.
Sie schwiegen wieder. Byrne hatte das Gefühl, dass sie den Rest des Tages im Wagen sitzen würden, wenn er nicht bald etwas sagte. »Normalerweise ist es so, dass man sich drei Mal trifft, um zu sehen, wie es läuft. Wie sieht's aus? Hast du Lust, mit mir noch mal was zu unternehmen?«
Anstatt die Frage zu beantworten, starrte Gabriel auf seine Hände.
Byrne beschloss, ihm die Entscheidung zu erleichtern. »Ich sag dir was. Ich ruf dich in den nächsten Wochen an, und wir überlegen gemeinsam, was wir machen. Wir können es ja erst mal offenlassen. Einverstanden?«
Er hielt Gabriel die Hand hin. Entweder schüttelte der Junge sie diesmal, oder er ließ es wieder bleiben, was einer endgültigen Abfuhr gleichkam.
Gabriel zögerte einen Augenblick, ehe er Byrnes Hand ergriff. Es war kein richtiger Händedruck, eher die Andeutung. Dann schob Gabriel sich die Kapuze auf den Kopf und stieg aus dem Wagen. Ehe er die Tür zuschlug, blickte er Byrne mit seinen jungen, alten Augen an. »John's ist auch gut«, sagte er.
Im ersten Moment wusste Byrne nicht, was er meinte. Wer ist John? Dann fiel es ihm ein: Gabriel sprach über John's Roast Pork.
»John's? Du meinst in der Synder?«
Der Junge nickte.
»Stimmt«, sagte Byrne. »John's ist wirklich gut. Wenn du willst, können wir da mal hingehen.«
Gabriel schickte sich an, die Tür zu schließen, verharrte dann aber und dachte nach. Schließlich beugte er sich in den Wagen, als wollte er Byrne ein Geheimnis anvertrauen. Byrne stellte fest, dass er unwillkürlich den Atem anhielt.
»Ich weiß, dass Sie über mich Bescheid wissen«, sagte Gabriel.
»Was soll ich über dich wissen?«
»Oh, Mann.« Gabriel schüttelte den Kopf. »Die Weißen haben immer 'ne Akte, wenn sie mit mir reden. Sozialarbeiter, Anwälte, Lehrer, Leute, die für die Stadtverwaltung arbeiten. Leute vom Jugendamt. Die schauen alle in die Akte, bevor sie mit mir sprechen. Da muss doch irgendwas drinstehen.«
»Ja«, sagte Byrne und versuchte ein Lächeln zurückzuhalten. »Ein paar Dinge weiß ich.«
»Hm, es gibt da aber noch etwas, was Sie wissen sollten. Das steht allerdings nicht in der Akte.«
»Und was ist das?«
»Er hat sich nicht weggeknallt.«
»Was soll das heißen?«, fragte Byrne. »Wer hat sich nicht weggeknallt?«
Gabriel blickte die Straße in beide Richtungen hinunter und drehte sich kurz um. »Mein Bruder Terrell«, sagte er dann. »Er hat sich nicht weggeknallt, wie alle sagen.«
Nach diesen Worten schlug er die Tür zu und ging mit schnellen Schritten über eine schneebedeckte Brachfläche davon. Geschickt wich er einem ausrangierten Kühlschrank und anderem Gerümpel aus.
Kurz darauf sah Byrne nur noch den ausgeblichenen Kapuzenpullover des Jungen, dann war Gabriel Hightower verschwunden.
Abends machte Byrne sich ein Fertiggericht in der Mikrowelle warm: Hühnchen, für seinen Geschmack zu süß, mit faden Erbsenschoten. Nach dem Essen wurde er unruhig und verließ das Haus. Er fuhr zum American Pub im Centre Square Building. Ein freier Tag warf ihn jedes Mal regelrecht aus der Bahn. Oft arbeitete er sieben, acht Tage hintereinander. Hinzu kamen die unvermeidlichen Überstunden, die der Job als Detective bei der Mordkommission des Philadelphia Police Departments verlangte. Wenn er dann endlich mal Zeit hatte, auszuschlafen, zu lesen oder die Wäsche zu waschen, wurde er nervös und interessierte sich mehr für seine aktuellen Fälle als für das Entspannen. Byrne gab es nicht gerne zu, aber der Job war sein Leben. Er war mit Herz und Seele Polizist.
An diesem Abend fragte er sich, ob sich in einem aktuellen Fall bereits Zeugen gemeldet hatten.
Gegenhalbzwölf verließ erden Pub.
Anstatt nach Hause zu fahren, fuhr er Richtung Norden.
Am frühen Abend hatte Byrne im Büro angerufen und ein paar Informationen darüber erhalten, was Gabriels Bruder Terrell zugestoßen war.
Nach dem Tod ihrer Mutter waren die beiden Jungen bei zwei verschiedenen Pflegefamilien untergebracht worden. Terrell, der die Central Highschool besucht hatte, war dem Vernehmen nach ein guter Schüler gewesen, wenngleich er unter Hyperaktivitätsstörungen gelitten hatte - ein Begriff, der zu der Zeit allerdings kaum benutzt worden war.
Mit fünfzehn fand Terrell ein Ventil für seine nervöse Energie: die Leichtathletik. Nachdem er eine volle Saison trainiert hatte, war er ein Klassesprinter über die 100 und 200 Meter, gefürchtet von der Konkurrenz. In seinem zweiten Jahr auf der Highschool gewann er sämtliche Titel in Philadelphia, im dritten Jahr führte er seine Mannschaft bei den Landesmeisterschaften zum Sieg. Sogar von der fernen University of California in Los Angeles kamen Scouts, um das Talent zu beobachten.
Eines Abends, als Terrell die Werkstatt fegte - er jobbte in Teilzeit bei einer Autolackiererei -, kamen zwei Männer herein. Sie feuerten auf den Besitzer James DuBois und schossen Terrell zwei Kugeln in den Bauch. DuBois war auf der Stelle tot. Terrell wurde mit dem Rettungswagen ins Jefferson Hospital gebracht. Nach vier Stunden galt sein Zustand wieder als stabil.
Die Polizei nahm die Ermittlungen auf. Wie nicht anders zu erwarten, hatten die Nachbarn nichts gesehen und gehört. Noch ein Phantomkiller in Philadelphia.
Doch es kursierte das Gerücht, dass ein Drogendealer namens DeRon Wilson aus North Philly den Anschlag aus Rache verübt hatte, weil Terrell seiner Gang nicht beitreten wollte. Dadurch fühlte Wilson sich in seiner Ehre gekränkt.
Eine Woche später wurde Terrell im Rollstuhl aus dem Jefferson Hospital entlassen. Er ging wieder zur Schule, war aber nicht mehr mit dem Herzen dabei, denn seine Sprinterkarriere war zu Ende, bevor sie richtig angefangen hatte. Zwar konnte er mithilfe eines Stocks wieder gehen, doch sein Traum von einem Sportstipendium löste sich in Wohlgefallen auf.
Nach der Highschool arbeitete Terrell kurzfristig als Mechaniker in Camden und nahm später andere Jobs an, hielt es aber bei keinem lange aus. Auf Niedriglohnjobs folgte die Erwerbsunfähigkeit.
Dann kamen die Drogen.
Kurz nach Mitternacht an seinem neunzehnten Geburtstag steckte Terrell Hightower sich den Lauf einer 9-mm-Pistole in den Mund und drückte ab. An seinem Hals hingen zwei Dutzend Medaillen, die er bei Wettkämpfen im Südosten Pennsylvanias gewonnen hatte.
Mit diesen Bildern im Kopf hielt Byrne an der Ecke Dritte und Indiana. Er wusste, dass man ihn von allen Seitensehen konnte und dass er bereits entdeckt worden war. Er wollte gesehen werden.
Byrne griff ins Handschuhfach, nahm einen 38er-Colt-Revolver heraus und überprüfte die Trommel.
In dieser Stadt war man entweder der Jäger oder der Gejagte, wie in allen Städten.
Byrne legte die Waffe auf den Beifahrersitz. Ein Satz ging ihm nicht aus dem Kopf:
Terrell hat sich nicht weggeknallt, wie alle sagen.
Für die deutschsprachige Ausgabe: Copyright . 2014 by Bastei Lübbe AG, Köln.
Nun stehst du im Herbst des Lebens, deine Kinder sind schon lange aus dem Haus, deine Freunde tot oder liegen im Sterben, und die Liebe deines Lebens ruht seit drei kalten Wintern unter der Erde.
Vielleicht wird dies der Tag deiner Beichte sein, deiner Absolution, ein Tag, der dich in eine Zeit zurückführen wird, als alles noch möglich schien, als du eine geachtete Mitarbeiterin des Philadelphia Police Departments warst und auf Erden noch nicht die Hölle ausgebrochen war.
Erster Teil
Die ungehorsamen Kinder
Und aus der Hand des Engels stieg der Weihrauch
mit den Gebeten der Heiligen zu Gott empor.
Offenbarung des Johannes 8,4
1.
Ehe die Nacht das junge Mädchen mit ihren großen, schwarzen Flügeln umschloss und das Blut sein heiliger Wein wurde, war es in jeder Beziehung ein Kind des Lichts. Jenen, die das Mädchen in diesen Jahren kannten, schien sie ein fleißiges, ruhiges und höfliches Kind zu sein. Manchmal beobachtete sie stundenlang die Wolken und war - wie nur ganz junge Menschen es können - blind für die schreckliche Armut ringsum, die Ketten, die sie und ihresgleichen über fünf Generationen zu Sklaven gemacht hatten.
Das Mädchen war sechs Jahre alt, ehe es ein eigenes Paar Schuhe trug. Ihr erstes Kleid bekam sie mit acht.
Die meiste Zeit lebte das Mädchen innerhalb der hohen Steinmauern seiner Gedanken, einem Ort, an dem es keine Schatten und keine Dämonen gab.
Als sie dreizehn war, begegnete sie in einer mondlosen Nacht, als die Kerzen gelöscht waren, zum ersten Mal der Dunkelheit. Es war nicht die Dunkelheit, die auf den Tag folgt und die sich mit einem schwarzvioletten Schimmer auf die Erde senkt - es war die Dunkelheit, die in jenen Menschen lebt, die auf abgelegenen Straßen reisen und die Verrückte, Gefallene und Unredliche um sich sammeln, deren Leben sich in der Gosse abspielt.
In dieser Nacht wurde ein Samen im Geist und im Körper des Mädchens gesät.
Und nun, viele Jahre später, weiß die junge Frau, dass sie an diesen Ort des Elends und der Erbärmlichkeit, in dieses Haus der sieben Kirchen gehört.
Hier gibt es keine Engel.
Auf diesen Straßen wandelt der Teufel. Sie kennt ihn gut - sein Gesicht, seine Berührung, seinen Geruch -, denn nach ihrem dreizehnten Geburtstag, als Gott sich abwandte, wurde sie dem Teufel übergeben.
Sie hatte den jungen Mann über eine Woche beobachtet. Zum ersten Mal sah sie ihn in der Broad Street, eine hagere Gestalt, die sich vor einer Granitmauer abzeichnete. Er war Bettler. An seinem ausgezehrten, beinahe skelettartigen Körper und seiner gespenstischen Gestalt war nichts Bedrohliches. Er murmelte wirres Zeug, wenn er Passanten und Pendler ansprach, die den Bahnhof betraten oder verließen. Zweimal wurde er von Polizisten begleitet. Er leistete keinen Widerstand, gab keine Antworten. Sein Verstand schien von Rauschgift zerfressen zu sein, sodass er den Versuchungen der Straße hilflos ausgesetzt war.
Nach der abendlichen Rushhour lief er meistens die Market Street hinunter Richtung Delaware River. Dann sprach er die Leute an, die aussahen, als würden sie sich erweichen lassen, ihm ein paar Münzen oder eine Zigarette zu schenken.
Die junge Frau folgte ihm stets in sicherem Abstand. Wie die meisten Bettler nahm man ihn kaum wahr, abgesehen von denen, die sein Schicksal teilten oder die ihn benutzen wollten. Wenn er gelegentlich in einem Obdachlosenasyl eine Unterkunft fand, blieb er über Nacht. Doch jeden Tag um halb sieben nahm er seinen Platz vor der Market East Station ein, und der tägliche Kreislauf der Verzweiflung und Erniedrigung begann von Neuem.
Einmal folgte sie ihm in ein Lebensmittelgeschäft in der Dritten Straße und schaute zu, als er sich verpackte Hefeteilchen, Donuts und Brownies in die Taschen stopfte, wobei er aus den Winkeln seiner gelblich verfärbten Augen unverwandt auf den gewölbten Spiegel am Ende des Gangs spähte. Sie beobachtete, wie er in einer Gasse in der Nähe alles verschlang, um sich kurz darauf zu erbrechen.
Als die Wettervorhersage an diesem Tag Temperaturen weit unter dem Gefrierpunkt ankündigte, wusste sie, dass es an der Zeit war.
Der junge Mann steht zitternd in einem Hauseingang an der Achten Straße. Er trägt vier dünne Pullover übereinander und darüber eine Cabanjacke, deren Schulternähte aufgerissen sind.
Sie nähert sich ihm, bleibt ein paar Schritte entfernt im Schatten stehen.
Er hebt den Blick. In seinen wässrigen Augen sieht sie sich selbst.
»Haben Sie ein bisschen Kleingeld übrig?«, fragt er.
Er ist Mitte zwanzig und furchtbar abgemagert. Die Haut um seine Augen ist lila verfärbt, die Bartstoppeln in seinem Gesicht sind bereits grau, das Haar unter seiner Rollmütze ist fettig. Er hat sich die Fingernägel wund gekaut. Auf dem Handrücken haben sich Blasengebildet.
Sie bleibt im Schatten stehen und streckt die Hand aus, die in einem Handschuh steckt. Zuerst ist der junge Mann skeptisch, doch als sie ins Licht tritt, sodass er ihre Augen zum ersten Mal sieht, weiß er Bescheid. Er nimmt ihre Hand, wie ein Verhungernder ein Stück Brot entgegengenommen hätte.
»Erinnerst du dich an dein Versprechen?«, fragt sie.
Er zögert, ehe er antwortet. Das tun sie immer. In diesem Augenblick kann sie beinahe hören, wie sein Gehirn arbeitet, als er fieberhaft nachdenkt. Eine einsame Träne rinnt über seine errötete Wange, als es ihm schließlich einfällt.
»Ja.«
Sie senkt den Blick, sieht den dunklen Fleck vorne auf seiner Hose. Er hat sich eingenässt. Auch so etwas erlebt sie nicht zum ersten Mal. Viele von ihnen können den Urin nicht mehr halten.
»Komm mit«, sagt sie. »Ich zeige dir, was du tun musst.«
Der junge Mann tritt unsicheren Schrittes vor. Sie hilft ihm. Er ist furchtbar dürr, besteht fast nur noch aus Haut und Knochen.
Am Eingang der Gasse bleibt sie stehen und dreht den jungen Mann zu sich um, sodass er ihr ins Gesicht schaut. »Er muss deine Worte hören. Den genauen Wortlaut.«
Seine Lippen zittern. »Kann ich die Worte nicht zu Ihnen sagen?«
»Nein. Du hast den Pakt mit ihm geschlossen, nicht mit mir.«
Der junge Mann wischt sich mit dem Handrücken über die Augen. »Also gibt es ihn wirklich.«
»Natürlich.« Sie zeigt auf die dunkle Nische am Ende der Gasse. »Willst du ihn jetzt treffen?«
Der junge Mann schüttelt den Kopf. »Nein. Ich habe Angst.«
Sie mustert ihn schweigend. Ein kurzer Moment vergeht.
»Darf ich eine Frage stellen?«, murmelt er dann.
»Natürlich.«
Er atmet tief ein und langsam aus. Sein Atem ist warm, feucht und bitter. »Wie soll ich Sie nennen?«
Darauf gibt es viele Antworten. Früher hätte man sie Magdalena nennen können. Zu einer anderen Zeit Babylon. Zu wieder einer anderen Zeit Legion.
Anstatt die Frage zu beantworten, nimmt sie ihn in die Arme. Sie denkt an die kommenden Tage, die letzten Tage, und was sie jetzt tun werden. Ephesus, Smyrna, Pergamon. Alles hat eine Ordnung. Wenn es keine Ordnung gäbe, würde sie sicherlich verrückt werden und mittenunter den schlechten Menschen leben, den Gottlosen, den Vertriebenen, den vom Herrn Verlassenen.
Von einem langen, einsamen Schatten verfolgt, tauchen sie in der Stadt unter. Der Winterwind wirbelt um sie her, doch die junge Frau spürt die Kälte nicht mehr.
Es hat begonnen.
Der Same, das Fleisch. Der Knochen, der Staub.
Ordnung.
2.
Der schwarzhäutige Junge sah aus, als hätte er keine Chance.
Detective Kevin Francis Byrne hatte es schon oft gesehen, diesen leeren Blick, die verkrampften Schultern, die Hände, die sich bei der geringsten Provokation zu Fäusten ballten. Byrne wusste, dass diese Anspannung durch einen chronisch verhärteten Muskelstrang in der Rückenmitte verursacht wurde. Der Junge hatte traurige Augen, und seine Schultern waren vor Angst gebeugt.
Für diesen Jungen - wie für Millionen andere wie ihn - lauerten an jeder Ecke Feinde. Jedes Geräusch bedeutete eine Gefahr, und in der Nacht hörten sie überall leise Stimmen flüstern:
Was mir gehört, gehört mir. Was dir gehört, gehört mir auch. Du weißt es nur noch nicht.
Der Junge war elf Jahre alt, hatte aber die Augen eines alten Mannes. Er trug einen dunkelblauen Kapuzenpullover mit ausgefransten Bündchen an den Ärmeln und eine weite, ausgebeulte Jeans, die längst aus der Mode war. Seine rostfarbenen Timberlands waren ausgelatscht und zu groß für seine Füße. Byrne fiel auf, dass die Boots mit zwei verschiedenen Schnürsenkeln zugebunden waren. Einer war aus Leder, der andere aus Nylon. Byrne fragte sich, ob der Junge damit irgendeinem modischen Trend folgte, oder ob es aus der Not heraus geschah.
Der Junge lehnte sich gegen die schmutzige rote Ziegelsteinmauer eines Türeingangs, wartete und beobachtete alles - ein weiteres Gespenst, das durch die Straßen Philadelphias geisterte.
Als Byrne die Zwölfte Straße überquerte und den Kragen um den Hals straffzog, um sich vor dem kalten Februarwind zu schützen, dachte er an das, was er gleich tun würde. Kürzlich hatte er sich bereiterklärt, an einem Mentoring-Programm namens »Philly Brothers« teilzunehmen. Heute war sein erstes Treffen mit dem Jungen.
In all seinen Dienstjahren hatte Kevin Byrne einige der schlimmsten Ungeheuer zur Strecke gebracht, die sich jemals auf den Straßen dieser Stadt herumgetrieben hatten, doch vor dem heutigen Treffen fürchtete er sich. Es ging um mehr, um viel mehr als nur darum, dass ein Mann sich mit einem Jungen traf, der auf die schiefe Bahn zu geraten drohte.
Byrne hatte ein Foto des Jungen in der Jackentasche, eine zwei Jahre alte Aufnahme aus der Schule. Er beschloss, das Foto nicht aus der Tasche zu ziehen. Es würde den Jungen nur in Verlegenheit bringen.
Als Byrne sich dem Türeingang näherte, in dem der Junge stand, verstärkte sich die Anspannung in seinen Schultern. Der Junge hob den Blick, schaute Byrne aber nicht in die Augen. Stattdessen richtete er den Blick auf eine Stelle ungefähr in der Mitte von Byrnes Stirn. Das war ein alter Verkäufertrick. Byrne fragte sich, wo der Junge das gelernt hatte und ob es ihm überhaupt bewusst war.
»Bist du Gabriel?«, fragte Byrne.
»Man nennt mich G-Flash«, sagte der schwarze Junge, als wäre das allgemein bekannt, während er von einem Bein aufs andere trat.
»Okay, G-Flash«, sagte Byrne. »Ich heiße Kevin, und ich bin dein Philly . . .«
»Brother«, fiel der Junge ihm ins Wort, verzog das Gesicht und steckte die Hände in die Taschen seines Kapuzenshirts, um Byrne nicht die Hand geben zu müssen. Der hatte die Hand schon ausgestreckt. Jetzt schwebte sie zwischen ihm und dem Jungen in der Luft, und er wusste nicht, wohin damit.
»Ich hatte einen richtigen Bruder«, fügte der Junge leise, beinahe flüsternd hinzu.
Byrne zog die Hand zurück, schaute sich um und überlegte, was er sagen sollte. »Hat es mit dem Bus hierher gut geklappt?«, fragte er schließlich.
Der Junge grinste abfällig. »Ich saß nur drin. Hab die Karre nicht gefahren.«
Ehe Byrne etwas erwidern konnte, schaltete ein Streifenwagen des Philadelphia Police Departments das Blaulicht und die Sirene ein. Der Wagen stand einen halben Block entfernt. Die einzigen beiden Menschen in weitem Umkreis, die nicht den Blick hoben, als der Streifenwagen losjagte, waren Byrne und der Junge. Beide kannten Blaulicht und Sirenen nur zu gut.
Byrne schaute auf die Uhr, obwohl er genau wusste, wie spät es war. »Sollen wir was essen gehen?«
Der Junge zuckte mit den Schultern.
»Worauf hast du Appetit?«, fragte Byrne.
Wieder ein Schulterzucken.
»Chinesisch? Hühnchen? Ein Riesenbaguette?«
Der Junge warf einen Blick über die Schulter. Er schien sich zu Tode zu langweilen. »Hört sich alles ganz toll an.«
»Was ist mit Schweinebraten?«, fragte Byrne. »Magst du Schweinebraten?«
Byrne sah, dass der Junge beinahe unmerklich einen Mundwinkel verzog. Der Hauch eines Lächelns? Gott bewahre. Der Junge mochte Schweinebraten.
»Komm«, sagte Byrne. »Ich weiß, wo es die besten Schweinebraten- Baguettes der Stadt gibt.«
»Ich hab kein Geld.«
»Ich lade dich ein.«
Der Junge trat gegen einen imaginären Kieselstein. »Ich will nicht, dass Sie mich zu irgendwas einladen.«
Byrne seufzte. »Ich sag dir was. Heute bezahle ich das Essen. Wenn wir uns mögen - aber dafür gibt es keine Garantie, ich mag nicht viele Menschen -, bezahlst du bei unserem nächsten Treffen. Wenn nicht, schicke ich dir eine Rechnung über den halben Betrag.«
Jetzt deutete der Junge tatsächlich ein Lächeln an. Um es zu überspielen, blickte er die Filbert Street hinunter. Die Zeit dehnte sich, doch jetzt war Byrne gewappnet. Der Junge hatte keine Ahnung, mit wem er es zu tun hatte. Byrne hatte die letzten zwanzig Jahre seines Lebens als Detective bei der Mordkommission verbracht, die Hälfte davon bei Beschattungen. Er hatte mehr Geduld als ein Betonklotz.
»Okay«, sagte der Junge schließlich. »Hier draußen ist es sowieso arschkalt.«
Als Byrne und der Junge in der Schlange bei DiNic's warteten, sagte keiner von beiden ein Wort. Trotz der vielen Hintergrundgeräusche - ein halbes Dutzend verschiedener Sprachen, das Klappern der Teller, das Surren der Schneidemaschinen, das Kratzen der Pfannenwender auf den Bratrosten - empfand Byrne das Schweigen zwischen ihm und dem Jungen als Belastung. Er wusste aber nicht, was er sagen sollte. Seine Tochter Colleen, die ihr Studium an der Gallaudet University begonnen hatte, war mit vielen Vorteilen aufgewachsen, die dieser Junge nicht besaß - sofern man es als Vorteil bezeichnen konnte, Kevin Byrne zum Vater zu haben.
Der Junge, der neben ihm stand, mit ungerührtem Blick, die Hände noch immer in den Taschen vergraben, war in der Hölle aufgewachsen.
Byrne wusste, dass Gabriels Vater im Leben seines Sohnes nie eine Rolle gespielt hatte. Seine Mutter, Tanya Wilkins, war gestorben, als Gabriel drei Jahre alt gewesen war. Tanya, eine Prostituierte und Drogensüchtige, war in einer eisigen Januarnacht in einer Gasse in Grays Ferry erfroren, nachdem sie das Bewusstsein verloren hatte. Und Gabriels einziger Bruder Terrell hatte vor zwei Jahren Selbstmord begangen.
Seitdem wurde Gabriel von einer Pflegefamilie zur anderen weitergereicht. Ein paar Mal war er mit dem Gesetz in Konflikt gekommen, meist wegen kleinerer Ladendiebstähle, doch es gab keinen Zweifel, in welche Richtung der Weg führte.
Als sie an der Theke standen, bestellte Byrne für jeden ein Riesenbaguette. Die Baguettes von DiNic's waren so groß, dass Byrne erst wenige Male eins ganz geschafft hatte. Trotzdem bestellte er für jeden eins und bedauerte es sogleich, denn er begriff, dass er angeben wollte.
Der Junge riss die Augen auf, als er das riesige Baguette sah, das er mit niemandem teilen musste. Dazu gab es eine Portion Pommes und eine Limo. Doch er setzte sofort wieder eine kühle Miene auf, als könnte ihn nichts und niemand beeindrucken.
Sie suchten sich einen Tisch, setzten sich und machten sich über die Baguettes her.
Während sie schweigend aßen, überlegte Byrne, worüber er sich mit dem Jungen unterhalten könnte. Sport? Die Flyers, die Eishockeymannschaft der Stadt? Die Sixers, das Basketballteam? Das wäre ein unverfängliches Thema gewesen. Stattdessen schwieg er.
Zehn Minuten später hob er den Blick zu Gabriel, der bereits das halbe Sandwich verdrückt hatte. Byrne fragte sich, wann der Junge zum letzten Mal etwas gegessen hatte.
»Das schmeckt, stimmt's?«, sagte Byrne.
Gabriel zuckte mit den Schultern. Byrne nahm an, dass der Junge mitten in seiner Trotzphase steckte. Mit vierzehn, fünfzehn Jahren war Byrne ihm ähnlich gewesen. Alles war ein Rätsel, jede Frage ein Verhör. Doch die Zeiten hatten sich geändert. Die Elfjährigen schienen die neuen Fünfzehnjährigen zu sein.
Als sie fertig gegessen hatten, schob Gabriel die Ärmel seines Kapuzenshirts hoch. Byrnes Blick huschte unwillkürlich über Arme, Hände und Hals des Jungen auf der Suche nach Tattoos, Brandnarben oder anderen Wunden, die der Beweis für die Aufnahme in eine Straßengang hätten sein können. Wenn es jemals einen Jungen gegeben hatte, der prädestiniert dafür war, in eine Gang aufgenommen zu werden, dann war es Gabriel Hightower.
Doch Byrne sah weder Tätowierungen noch Wunden.
Nach dem Essen saßen sie sich wieder schweigend gegenüber, und das Ende des ersten Treffens nahte bereits. Zwischen ihnen stand ein kleines Boot auf dem Tisch, das Gabriel mit flinken Fingern aus dem Papier gefaltet hatte, in das die Baguettes gewickelt waren.
»Darf ich es mir mal angucken?«, fragte Byrne.
Der Junge stieß es mit dem Zeigefinger in Byrnes Richtung.
Byrne nahm das Papierboot in die Hand. Es war geschickt und säuberlich gefaltet. Gabriel schien so etwas nicht zum ersten Mal gemacht zu haben. »Das ist cool.«
»Man nennt es Origami«, erklärte Gabriel. »Ist Chinesisch oder so.«
»Du hast Talent«, sagte Byrne. »Das ist richtig gut.«
Der Junge zuckte wieder mit den Schultern.
Byrne fragte sich, wo der Weltrekord im Schulterzucken lag.
Als sie auf die Straße traten, hatten die meisten Leute ihre Mittagspause beendet, und es waren nicht mehr so viele Menschen unterwegs. Byrne hatte den Rest des Tages frei und überlegte kurz, ob er dem Jungen vorschlagen sollte, noch etwas anderes zu unternehmen, ließ es dann aber. Er nahm an, dass Gabriel nach dem heutigen Treffen erst einmal genug von ihm hatte.
»Komm«, sagte Byrne. »Ich fahr dich nach Hause.«
Gabriel trat einen halben Schritt zurück. »Ich hab Geld für den Bus.«
»Ich muss sowieso in die Richtung«, log Byrne. »Ist kein Umweg für mich.«
Der Junge wühlte in seinen Taschen nach dem Geld.
»Ich fahre keinen Streifenwagen, wenn es das ist«, sagte Byrne. »Ich fahre 'ne alte Scheißkarre, einen klapprigen Taurus mit ausgeleierten Stoßdämpfern, und das Radio kann man auch in der Pfeife rauchen.«
Bei dem Wort »Scheißkarre« lächelte der Junge.
Byrne zog den Schlüssel aus der Tasche. »Komm. Das Geld für den Bus kannst du dir sparen.«
Byrne ging voraus und überquerte die Straße. Er nahm sich vor, sich nicht umzudrehen, um zu sehen, ob Gabriel ihm folgte.
Als er die Filbert schon ein ganzes Stück hinuntergegangen war, sah er einen kleinen Schatten neben sich auftauchen.
Das Wohnviertel, in dem Gabriel Hightower lebte, lag in der Indian Avenue zwischen der Dritten und Vierten Straße, versteckt in einer verwahrlosten Gegend von North Philly, den sogenannten Badlands. Byrne fuhr die Dritte Straße Richtung Norden. Auf der ganzen Fahrt sprach keiner von beiden ein Wort. Erst als Byrne in die Indiana Avenue einbog, sagte Gabriel: »Sie können mich hier rauslassen.«
Das Haus war noch einen ganzen Block entfernt.
»Ich fahre dich bis vor die Tür. Kein Problem. Okay?«
Der Junge erwiderte nichts.
»Dann eben nicht.« Byrne gab nach und hielt an. Sie waren jetzt einen halben Block von einer der berüchtigtsten Drogengegenden der Stadt entfernt. Es dauerte nicht lange, bis Byrne zwei junge Burschen sah, die nach Polizisten Ausschau hielten. Einer der beiden, ein Jugendlicher von vielleicht achtzehn Jahren, versuchte, sich möglichst unauffällig zu verhalten. Byrne starrte ihn an, woraufhin der junge Bursche ein Handy aus der Tasche zog und in die andere Richtung davonschlenderte. Vermutlich hatte er Byrne als Polizisten identifiziert.
Byrne legte den Leerlauf ein.
»Okay, G-Flash«, sagte er und schaute zu Gabriel hinüber. Der verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf. Byrne verstand den Wink. Es war schon schlimm genug, sich mit einem älteren weißen Mann herumzutreiben, erst recht mit einem älteren weißen Cop. Noch schlimmer war allerdings, wenn dieser ältere weiße Typ auch noch den nur in Insiderkreisen gebräuchlichen Spitznamen laut aussprach.
»Gabriel reicht, okay?«
»Abgemacht«, sagte Byrne.
Sie schwiegen wieder. Byrne hatte das Gefühl, dass sie den Rest des Tages im Wagen sitzen würden, wenn er nicht bald etwas sagte. »Normalerweise ist es so, dass man sich drei Mal trifft, um zu sehen, wie es läuft. Wie sieht's aus? Hast du Lust, mit mir noch mal was zu unternehmen?«
Anstatt die Frage zu beantworten, starrte Gabriel auf seine Hände.
Byrne beschloss, ihm die Entscheidung zu erleichtern. »Ich sag dir was. Ich ruf dich in den nächsten Wochen an, und wir überlegen gemeinsam, was wir machen. Wir können es ja erst mal offenlassen. Einverstanden?«
Er hielt Gabriel die Hand hin. Entweder schüttelte der Junge sie diesmal, oder er ließ es wieder bleiben, was einer endgültigen Abfuhr gleichkam.
Gabriel zögerte einen Augenblick, ehe er Byrnes Hand ergriff. Es war kein richtiger Händedruck, eher die Andeutung. Dann schob Gabriel sich die Kapuze auf den Kopf und stieg aus dem Wagen. Ehe er die Tür zuschlug, blickte er Byrne mit seinen jungen, alten Augen an. »John's ist auch gut«, sagte er.
Im ersten Moment wusste Byrne nicht, was er meinte. Wer ist John? Dann fiel es ihm ein: Gabriel sprach über John's Roast Pork.
»John's? Du meinst in der Synder?«
Der Junge nickte.
»Stimmt«, sagte Byrne. »John's ist wirklich gut. Wenn du willst, können wir da mal hingehen.«
Gabriel schickte sich an, die Tür zu schließen, verharrte dann aber und dachte nach. Schließlich beugte er sich in den Wagen, als wollte er Byrne ein Geheimnis anvertrauen. Byrne stellte fest, dass er unwillkürlich den Atem anhielt.
»Ich weiß, dass Sie über mich Bescheid wissen«, sagte Gabriel.
»Was soll ich über dich wissen?«
»Oh, Mann.« Gabriel schüttelte den Kopf. »Die Weißen haben immer 'ne Akte, wenn sie mit mir reden. Sozialarbeiter, Anwälte, Lehrer, Leute, die für die Stadtverwaltung arbeiten. Leute vom Jugendamt. Die schauen alle in die Akte, bevor sie mit mir sprechen. Da muss doch irgendwas drinstehen.«
»Ja«, sagte Byrne und versuchte ein Lächeln zurückzuhalten. »Ein paar Dinge weiß ich.«
»Hm, es gibt da aber noch etwas, was Sie wissen sollten. Das steht allerdings nicht in der Akte.«
»Und was ist das?«
»Er hat sich nicht weggeknallt.«
»Was soll das heißen?«, fragte Byrne. »Wer hat sich nicht weggeknallt?«
Gabriel blickte die Straße in beide Richtungen hinunter und drehte sich kurz um. »Mein Bruder Terrell«, sagte er dann. »Er hat sich nicht weggeknallt, wie alle sagen.«
Nach diesen Worten schlug er die Tür zu und ging mit schnellen Schritten über eine schneebedeckte Brachfläche davon. Geschickt wich er einem ausrangierten Kühlschrank und anderem Gerümpel aus.
Kurz darauf sah Byrne nur noch den ausgeblichenen Kapuzenpullover des Jungen, dann war Gabriel Hightower verschwunden.
Abends machte Byrne sich ein Fertiggericht in der Mikrowelle warm: Hühnchen, für seinen Geschmack zu süß, mit faden Erbsenschoten. Nach dem Essen wurde er unruhig und verließ das Haus. Er fuhr zum American Pub im Centre Square Building. Ein freier Tag warf ihn jedes Mal regelrecht aus der Bahn. Oft arbeitete er sieben, acht Tage hintereinander. Hinzu kamen die unvermeidlichen Überstunden, die der Job als Detective bei der Mordkommission des Philadelphia Police Departments verlangte. Wenn er dann endlich mal Zeit hatte, auszuschlafen, zu lesen oder die Wäsche zu waschen, wurde er nervös und interessierte sich mehr für seine aktuellen Fälle als für das Entspannen. Byrne gab es nicht gerne zu, aber der Job war sein Leben. Er war mit Herz und Seele Polizist.
An diesem Abend fragte er sich, ob sich in einem aktuellen Fall bereits Zeugen gemeldet hatten.
Gegenhalbzwölf verließ erden Pub.
Anstatt nach Hause zu fahren, fuhr er Richtung Norden.
Am frühen Abend hatte Byrne im Büro angerufen und ein paar Informationen darüber erhalten, was Gabriels Bruder Terrell zugestoßen war.
Nach dem Tod ihrer Mutter waren die beiden Jungen bei zwei verschiedenen Pflegefamilien untergebracht worden. Terrell, der die Central Highschool besucht hatte, war dem Vernehmen nach ein guter Schüler gewesen, wenngleich er unter Hyperaktivitätsstörungen gelitten hatte - ein Begriff, der zu der Zeit allerdings kaum benutzt worden war.
Mit fünfzehn fand Terrell ein Ventil für seine nervöse Energie: die Leichtathletik. Nachdem er eine volle Saison trainiert hatte, war er ein Klassesprinter über die 100 und 200 Meter, gefürchtet von der Konkurrenz. In seinem zweiten Jahr auf der Highschool gewann er sämtliche Titel in Philadelphia, im dritten Jahr führte er seine Mannschaft bei den Landesmeisterschaften zum Sieg. Sogar von der fernen University of California in Los Angeles kamen Scouts, um das Talent zu beobachten.
Eines Abends, als Terrell die Werkstatt fegte - er jobbte in Teilzeit bei einer Autolackiererei -, kamen zwei Männer herein. Sie feuerten auf den Besitzer James DuBois und schossen Terrell zwei Kugeln in den Bauch. DuBois war auf der Stelle tot. Terrell wurde mit dem Rettungswagen ins Jefferson Hospital gebracht. Nach vier Stunden galt sein Zustand wieder als stabil.
Die Polizei nahm die Ermittlungen auf. Wie nicht anders zu erwarten, hatten die Nachbarn nichts gesehen und gehört. Noch ein Phantomkiller in Philadelphia.
Doch es kursierte das Gerücht, dass ein Drogendealer namens DeRon Wilson aus North Philly den Anschlag aus Rache verübt hatte, weil Terrell seiner Gang nicht beitreten wollte. Dadurch fühlte Wilson sich in seiner Ehre gekränkt.
Eine Woche später wurde Terrell im Rollstuhl aus dem Jefferson Hospital entlassen. Er ging wieder zur Schule, war aber nicht mehr mit dem Herzen dabei, denn seine Sprinterkarriere war zu Ende, bevor sie richtig angefangen hatte. Zwar konnte er mithilfe eines Stocks wieder gehen, doch sein Traum von einem Sportstipendium löste sich in Wohlgefallen auf.
Nach der Highschool arbeitete Terrell kurzfristig als Mechaniker in Camden und nahm später andere Jobs an, hielt es aber bei keinem lange aus. Auf Niedriglohnjobs folgte die Erwerbsunfähigkeit.
Dann kamen die Drogen.
Kurz nach Mitternacht an seinem neunzehnten Geburtstag steckte Terrell Hightower sich den Lauf einer 9-mm-Pistole in den Mund und drückte ab. An seinem Hals hingen zwei Dutzend Medaillen, die er bei Wettkämpfen im Südosten Pennsylvanias gewonnen hatte.
Mit diesen Bildern im Kopf hielt Byrne an der Ecke Dritte und Indiana. Er wusste, dass man ihn von allen Seitensehen konnte und dass er bereits entdeckt worden war. Er wollte gesehen werden.
Byrne griff ins Handschuhfach, nahm einen 38er-Colt-Revolver heraus und überprüfte die Trommel.
In dieser Stadt war man entweder der Jäger oder der Gejagte, wie in allen Städten.
Byrne legte die Waffe auf den Beifahrersitz. Ein Satz ging ihm nicht aus dem Kopf:
Terrell hat sich nicht weggeknallt, wie alle sagen.
Für die deutschsprachige Ausgabe: Copyright . 2014 by Bastei Lübbe AG, Köln.
... weniger
Autoren-Porträt von Richard Montanari
Richard Montanari was born in Cleveland, Ohio, to a traditional Italian-American family. After university, he travelled Europe extensively and lived in London, selling clothing in Chelsea and foreign language encyclopedias door-to-door in Hampstead Heath. Returning to the US, he started working as a freelance writer for the Chicago Tribune, the Detroit Free Press, the Seattle Times, and many others. He wrote his first book, Deviant Way, in 1996 and it won the OLMA for Best First Mystery. His novels have now been published in more than twenty-five languages.
Bibliographische Angaben
- Autor: Richard Montanari
- 2014, 2. Aufl., 448 Seiten, Maße: 12,5 x 18,6 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Übersetzung: Meddekis, Karin
- Übersetzer: Karin Meddekis
- Verlag: Bastei Lübbe
- ISBN-10: 340416931X
- ISBN-13: 9783404169313
- Erscheinungsdatum: 17.01.2014
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