Inspector Jack Caffery Band 6: Die Puppe
Psychothriller
In der Psychiatrie von Bristol wird eine Patientin tot aufgefunden. Ist sie dem "Geist von Beechway" zum Opfer gefallen? AJ, der verantwortliche Pfleger, stellt Nachforschungen an, doch die Klinikleitung bremst ihn aus. AJ bittet Det. Inspector Jack Caffery...
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Produktinformationen zu „Inspector Jack Caffery Band 6: Die Puppe “
In der Psychiatrie von Bristol wird eine Patientin tot aufgefunden. Ist sie dem "Geist von Beechway" zum Opfer gefallen? AJ, der verantwortliche Pfleger, stellt Nachforschungen an, doch die Klinikleitung bremst ihn aus. AJ bittet Det. Inspector Jack Caffery um Unterstützung - und der glaubt ganz und gar nicht an Geister
Klappentext zu „Inspector Jack Caffery Band 6: Die Puppe “
Als Zelda Lornton in der psychiatrischen Klinik von Bristol tot aufgefunden wird, glauben alle zu wissen, wer daran schuld ist - der Geist von Beechway, von dem erzählt wird, dass er nachts die Patienten in ihren Zimmern heimsucht und sie dazu treibt, sich selbst zu verletzen, manchmal sogar tödlich. AJ, der verantwortliche Pfleger, will an diese Gerüchte nicht glauben, doch die Klinikleitung hält ihn strikt an, die mysteriösen Vorkommnisse für sich zu behalten. Als dann der psychisch schwer kranke Isaac Handel unerwartet entlassen wird, hat AJ einen Verdacht. Isaac ist ein verurteilter Mörder, der seine Eltern auf brutale Weise umgebracht hat. Nach seiner Entlassung ist er plötzlich unauffindbar. Plant er erneut zuzuschlagen? AJ sucht Hilfe bei Detective Inspector Jack Caffery, der ganz und gar nicht an Geister glaubt ...
"Großes Kino!"
Bücher
"Atmosphärisch und psychologisch brillanter Thriller"
Kölnische Rundschau
"Die zahlreichenWendungen, die die Handlung insbesondere gegen Ende erfährt, sorgen für fassungsloses Staunen."Rhein-Neckar-Zeitung
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Lese-Probe zu „Inspector Jack Caffery Band 6: Die Puppe “
Die Puppe von Mo HayderIns Deutsche übertragen von Rainer Schmidt
Unsichtbar
Monster Mother sitzt auf dem Bett, als das helle Dreieck unter der Tür flackert. Es bewegt sich, tanzt ein kleines Stück weit zur Seite und kommt wieder zur Ruhe.
Sie starrt es an, und ihr Herz beginnt wie wild zu rasen. Da draußen ist etwas und wartet.
Lautlos stemmt Monster Mother sich vom Bett hoch und schleicht in die hinterste Ecke des Zimmers - so weit weg von der Tür, wie sie nur kann. Zitternd vor Angst presst sie den Rücken in das Dreieck zwischen den Wänden, und ihre Augen füllen sich mit Tränen. Durch das Fenster hinter ihr wirft die Außenbeleuchtung Baumschatten auf den Boden, und die bewegen und krümmen sich, wandern wie kratzende Finger durch das Zimmer, finden und berühren den Lichtfleck unter der Tür. Sie lässt den Blick durch den Raum wandern - über die Wände, das Bett, den Kleiderschrank. Überprüft jede Ecke, jeden Riss im Putz. Jede einzelne Stelle, an der »Maude« hereinkriechen kann. Monster Mother weiß mehr über »Maude« als irgendjemand sonst hier. Aber sie wird niemals erzählen, was sie weiß. Dazu hat sie viel zu viel Angst.
... mehr
Es ist still da draußen. Bewegt sich kaum - doch genug, um den Lichtfleck zu verschieben. Monster Mother kann jetzt etwas atmen hören. Sie möchte weinen, aber das darf sie nicht. Vorsichtig und geräuschlos schiebt sie die zitternde Hand unter das rote Negligé und fährt mit den Fingerspitzen über die Haut zwischen den Brüsten. Sie tastet nach dem Gegenstand, den sie braucht. Als sie ihn findet, zieht sie daran. Der Schmerz ist stärker als alles, woran sie sich erinnern kann. Sich den eigenen Arm abzuschneiden, täte nicht so weh - oder ein Kind zu gebären (was sie mehrmals getan hat). Doch sie macht weiter und zieht den Reißverschluss herunter, vom Brustbein bis zum Schambein. Mit nassem Schmatzen springen die Bauchmuskeln aus der Haut.
Sie packt die Ränder der Öffnung, windet sich weinend, zerrt sie auseinander. Die Haut löst sich von Rippen und Brüsten und schält sich über die Schultern herunter, reißt, blutet, aber sie macht weiter, bis sie von ihren Hüften hängt wie tropfendes Wachs. Sie atmet ein paarmal tief durch und zieht sie sich von den Beinen.
Die Haut sammelt sich wie eine Pfütze um ihre Füße. Eine Gummihülle, aus der die Luft entwichen ist.
Monster Mother sammelt sich. Sie richtet sich auf - unerschütterlich und tapfer -, und ihre entblößten Muskeln glitzern im Licht der hellen Außenleuchten. Sie wendet sich zur Tür, stolz und trotzig.
»Maude« wird sie jetzt niemals finden.
Browns Brasserie, Triangle, Bristol
Das Restaurant war früher die Mensa der Universität - und noch immer geht es hier laut zu, und der Laden ist stark bevölkert. Hohe Decken, eine hallende Akustik. Aber heutzutage sitzen die Studenten nicht mehr da und essen, sondern sie tragen schwarze Schürzen, laufen mit Tellern in den Händen im Slalom um die Tische herum und murmeln sich gegenseitig Bestellungen und Tischnummern zu. Arbeiten ihre Darlehen ab. Eine Neonschrift - »Low Cal Cocktails« - blinkt über der Bar aus poliertem Beton, und die Akkorde eines Gotye-Songs driften aus den Lautsprechern, die hoch oben unter den Deckenträgern hängen.
Die meisten Gäste haben sich dieses Lokal als Treffpunkt ausgesucht; die Rechnung am Ende liegt deutlich oberhalb dessen, was Laufkundschaft bezahlt. Leute, die allein an ihrem Tisch sitzen, sind befangen - manche halten einen Kindle über ihre Borschtsch-Suppe, andere nippen an ihrem Weinglas oder schauen beiläufig auf die Uhr, als warteten sie auf Dates oder Freunde. Aus britischer Höflichkeit starrt niemand sie an; man nimmt sie gar nicht zur Kenntnis.
Nur ein Gast zieht die Blicke seiner Nachbarn auf sich. An den Tischen in seiner Umgebung haben die Leute ihre Sitzpositionen sogar leicht verändert - als sei sein Anblick bedrohlich oder aufregend. Ein dunkelhaariger Mann, Anfang vierzig, der gegen zahllose unausgesprochene Regeln verstößt. Nicht nur durch seine Kleidung - eine schwarze Windjacke über einem Straßenanzug, ohne Krawatte, mit offenem Hemdkragen -, sondern auch durch sein Verhalten.
Er isst wie jemand, der hierhergekommen ist, weil er Hunger hat, nicht, weil er gesehen werden will. Er nimmt keine Pose ein und schaut auch nicht interessiert im Lokal herum, sondern beißt in seinen Hamburger, den Blick auf keinen besonderen Punkt gerichtet. Das ist ein grobes Fehlverhalten an einem Ort wie diesem, und es verschafft den anderen so etwas wie Genugtuung, als es zu der peinlichen Szene kommt. Bei sich denken sie, es ist genau das, was einem wie ihm passieren muss.
Es ist halb neun, und eine Gruppe von zwanzig Gästen ist hereingekommen. Sie haben reserviert, und man hat ihnen Tische im hinteren Teil zusammengeschoben, wo sie die übrigen Leute nicht stören werden. Vielleicht feiern sie eine Verlobungsparty; ein paar Frauen tragen Cocktailkleider, und zwei Männer sind im Anzug. Die Frau am Ende der Gruppe - sie ist blond, Ende fünfzig, sonnengebräunt und trägt eine Jeans mit Steppnähten und ein Hollister-Hoodie - scheint auf den ersten Blick dazuzugehören. Erst als alle sich setzen und sie es nicht tut, wird klar, dass sie nur hinter ihnen hergegangen ist, aber nicht zu ihnen gehört.
Ihre Bewegungen sind unsicher. Ein tief ausgeschnittenes T-Shirt unter dem Hoodie stellt ihre Brüste zur Schau. Auf dem Weg durch das Restaurant stößt sie gegen einen Kellner. Sie bleibt stehen, um sich zu entschuldigen, doch das »sorry« geht ihr nur schwer über die Zunge. Beim Reden legt sie die Hände an die Brust des jungen Mannes und lächelt vertraulich. Er wirft einen hilflosen Blick zur Bar und weiß nicht recht, was er tun soll - aber bevor er Einwände machen kann, ist sie schon weitergegangen. Sie prallt wie eine Flipperkugel von Tisch zu Tisch und hat ihr Ziel fest im Blick.
Den Mann in der North-Face-Jacke.
Er blickt von seinem halb verzehrten Hamburger auf. Sieht sie. Und als wüsste er, dass sie Ärger machen wird, lässt er langsam Messer und Gabel sinken. Die Gespräche an den Nachbartischen geraten ins Stocken und ersterben. Der Mann greift zu seiner Serviette und wischt sich den Mund ab.
»Hallo, Jacqui.« Er legt die Serviette säuberlich auf den Tisch. »Wie schön, Sie zu sehen.«
»Fuck you.« Sie legt die Hände auf den Tisch und stiert ihn herausfordernd an. »Fuck you von hier bis übermorgen, du Drecksack.«
Er nickt, als wolle er bestätigen, dass er tatsächlich ein Drecksack sei. Aber er sagt nichts, und das macht die Frau nur noch wütender. Sie schlägt mit beiden Händen auf den Tisch, sodass alles in die Höhe springt. Eine Gabel und eine Serviette fallen auf den Boden.
»Sieh mal einer an! Der Kerl sitzt da und isst einfach. Isst und lässt es sich gut gehen. Scheiße, Sie sind wirklich das Allerletzte, was?«
»Hallo?« Der Kellner berührt ihren Arm. »Madam? Könnten Sie vielleicht versuchen, dieses Gespräch etwas leiser zu führen? Sonst ...«
»Verpiss dich.« Sie schlägt seine Hand beiseite. »Aber sofort. Du hast doch keine Ahnung, wovon du redest.« Sie schwankt zur Seite und greift nach dem erstbesten Glas, das sie sieht. Es steht auf dem Nachbartisch, ein volles Glas Rotwein. Der Gast, der es bestellt hatte, versucht vergebens, es festzuhalten. Sie schwenkt es herüber und schleudert den Wein auf den Mann in der Windjacke. Der Wein hat sein eigenes Leben, und er scheint den Weg überallhin zu finden. Er landet auf seinem Gesicht, auf seinem Hemd, auf dem Teller und auf dem Tisch. Andere Gäste springen erschrocken auf, nur der Mann bleibt sitzen. Absolut kühl.
»Fuck, wo ist sie?«, kreischt die Frau. »Wo ist sie? Scheiße, Sie sagen mir jetzt, was Sie in der Sache unternehmen, oder ich bringe Sie um ... fuck, ich bringe Sie ...«
Zwei Sicherheitsleute sind erschienen. Ein großer Schwarzer in einem grünen T-Shirt und mit einem Headset hat das Kommando. Er legt ihr eine Hand auf den Arm. »Schätzchen«, sagt er, »das bringt Sie nicht weiter. Lassen Sie uns irgendwo hingehen und ein bisschen plaudern.«
»Ihr glaubt, ich bin zum Plaudern hier?« Sie stößt seinen Arm weg. »O ja. Ich werde plaudern. Ich werde euch so lange was plaudern, bis ihr tot umfallt. Ich plaudere, bis ihr kotzt.«
Der große Mann nickt beinahe unmerklich, und sein Kollege packt ihre Arme und drückt sie an ihren Körper. Sie sträubt sich und schreit weiter aus voller Lunge, als sie durch das Restaurant zurück zur Tür geschoben wird. »Er weiß, wo sie ist.« Sie richtet ihre Wut gegen den Sicherheitschef, den das einen Scheißdreck interessiert. »Es ist ihm egal. Es ist ihm EGAL. Das ist das Problem. Fuck, es ist ihm einfach ...«
Die Männer schieben sie zur Tür hinaus. Sie schließen die Tür und bleiben davor stehen, den Blick nach außen gewandt, die Arme verschränkt. Sie wälzt sich auf dem Pflaster. Der Mann in der Windjacke steht nicht auf und schaut auch nicht zur Tür. Wenn jemand ihn fragen wollte, wie er so kühl bleiben kann, würde er die Schultern zucken. Vielleicht liegt es in seiner Natur, vielleicht hat es mit seinem Job zu tun. Er ist schließlich Polizist, und da hilft so etwas. Er ist ziviler Ermittler in der Major Crime Investigation Unit, dem Dezernat für Schwerverbrechen bei der Bristol Police. Detective Inspector Jack Caffery, 42. Er hat schon Schlimmeres erlebt und ertragen. Viel Schlimmeres.
Stumm schüttelt er eine Serviette aus und fängt an, sich den Rotwein von Gesicht und Hals zu tupfen.
Büro der Pflegedienstleitung, Psychiatrische Hochsicherheitsklinik Beechway, Bristol
Gegen elf erwacht AJ LeGrande, der Pflegedienstleiter der psychiatrischen Klinik Beechway, jählings aus einem Alptraum. Sein Herz pocht, und er braucht eine ganze Weile, um sich zu orientieren und zu erkennen, dass er vollbekleidet und mit den Füßen auf dem Schreibtisch in seinem Bürosessel sitzt. Die Berichte, die er gelesen hat, liegen verstreut auf dem Boden.
Er reibt sich voller Unbehagen die Brust. Blinzelt ein paarmal und richtet sich auf. Es ist dunkel im Zimmer; nur unter der Tür schimmert ein wenig Licht. Auf seiner Netzhaut tanzt der verschwommene Nachglanz einer kleinen Gestalt, die auf ihm hockt, rittlings auf seiner Brust, das glatte Gesicht dicht vor seinem. Die verkürzten Arme ruhen zart auf seinen Schlüsselbeinen. AJ streicht mit der Zunge im Mund herum und lässt den Blick durch das Büro wandern. Er stellt sich vor, wie das Ding durch die geschlossene Tür entkommt. Sich durch den Spalt untendurch windet und auf den Korridor gleitet, von dort weiter zu den Stationen läuft.
Seine Kehle fühlt sich eng an. Er ist es nicht gewohnt, den Hemdkragen bis oben hin zuzuknöpfen - er ist erst seit einem Monat Pflegedienstleiter, und an den Anzug muss er sich noch gewöhnen. Gleiches gilt für die Ansteckkrawatten, die er zu seiner eigenen Sicherheit tragen muss. Anscheinend kriegt er den Bogen niemals raus. Sie sitzen nie richtig, fühlen sich nie richtig an. Er nimmt die Füße vom Tisch, stellt sie auf den Boden und zieht die Krawatte herunter. Das eingeschnürte Gefühl in seiner Lunge lässt ein wenig nach. Er steht auf und geht zur Tür. Als seine Finger auf dem Türgriff liegen, zögert er. Wenn er die Tür öffnet, wird er eine kleine Gestalt im Kittel sehen, wie sie durch den leeren Korridor davonwieselt.
Drei tiefe Atemzüge. Dann öffnet er die Tür. Späht durch den Korridor, nach links, nach rechts. Da ist nichts. Nur das Übliche, an das er sich im Laufe der Jahre gewöhnt hat: der grün geflieste Fußboden, das Schild mit der Aufschrift »Feueralarm-Sammelstelle « und darunter der Grundriss der Station, der gepolsterte Handlauf an der Wand. Kein wehender Kittel auf der Flucht, der um die nächste Ecke verschwindet.
Er lehnt sich für einen Moment an den Türrahmen und bemüht sich, einen klaren Kopf zu bekommen. Zwerge auf seiner Brust? Kleine Gestalten in Nachthemden? Das leise Trippeln kleiner Füße? Und das Wort, an das er nicht einmal denken möchte: »Maude«.
Herrgott. Er schlägt sich mit dem Fingerknöchel an den Kopf.
Das kommt davon, wenn man Doppelschichten arbeitet und mit einer zu engen Krawatte einschläft. Wirklich, das ist verrückt. Er ist hier der Leiter. Wie kommt es da, dass er jetzt die zweite Schicht für eine Nachtschwester übernommen hat? Unglaublich, denn der Nachtdienst war immer begehrt, weil man Gelegenheit hatte, verpasste Fernsehsendungen oder Schlaf nachzuholen. Aber nach dem, was letzte Woche auf der Station Löwenzahn passiert ist, hat sich das geändert. Plötzlich haben alle, die für den Nachtdienst eingeteilt waren, sich verdrückt wie Ratten, die ein sinkendes Schiff verlassen, und sich unter allen möglichen Vorwänden krankgemeldet. Niemand will die Nacht in der Klinik verbringen - als wäre hier etwas Unirdisches aufgetaucht.
Und jetzt hat es sogar ihn erwischt. Sogar er halluziniert. Keinesfalls möchte er jetzt in sein Büro zurückkehren und diesen Traum noch einmal erleben. Er schließt die Tür und nimmt durch eine Sicherheitsschleuse Kurs auf die Station. Vielleicht holt er sich einen Kaffee, spricht mit ein paar Schwestern, findet ein bisschen Normalität wieder. Die Leuchtstofflampen flackern, als er unter ihnen hindurchgeht. Draußen vor den großen Fenstern des Hauptkorridors heult der Sturm. In den letzten Jahren ist der Herbst so merkwürdig geworden: zu Anfang so warm und Mitte Oktober dann so windig. Die Bäume im Hof biegen sich und schwanken, und Blätter und Zweige wirbeln durch die Luft, aber seltsamerweise ist der Himmel klar, und der Mond ist groß und hell.
Der Verwaltungsblock drüben liegt im Dunkeln, und die beiden Stationen, die er von hier aus sehen kann, sind kaum beleuchtet. Nur im Schwesternzimmer brennt Licht und auf den Fluren die Nachtbeleuchtung. Beechway war ursprünglich ein viktorianisches Armenhaus, das im Laufe der Jahre unterschiedlichen Zwecken diente; zunächst war es ein Gemeindekrankenhaus, dann ein Waisenhaus und schließlich eine Irrenanstalt. In den 1980ern wurde es schließlich zur »Hochsicheren geschlossenen psychiatrischen Klinik« erklärt und mit Patienten belegt, die eine extrem hohe Gefahr für sich und andere darstellen. Mörder, Vergewaltiger, zum Selbstmord Entschlossene - sie sind alle hier. AJ ist schon seit Jahren in diesem Beruf, und es wird niemals einfacher oder entspannter. Schon gar nicht, wenn ein Patient auf der Station stirbt. Plötzlich und vorzeitig wie Zelda Lornton letzte Woche.
Er geht weiter, und an jeder Ecke des Korridors rechnet er damit, einen Blick auf die kleine Gestalt zu erhaschen, die krummbeinig vor ihm durch die Dunkelheit watschelt. Aber er sieht niemanden. Auf Station Löwenzahn ist es still, das Licht ist gedämpft. Er macht sich einen Kaffee in der Personalküche und geht damit auf die Station, wo ein oder zwei Pfleger schläfrig vor dem Fernseher sitzen. »Hey, AJ«, sagen sie träge und heben die Hand. »Gibt's 'n? Alles okay?«
Er überlegt, ob er ein Gespräch anfangen soll - sie vielleicht fragen, warum sich die Kollegen alle krankmelden, obwohl man nichts weiter tun muss, als hier vor dem Fernseher zu sitzen -, aber sie schauen so konzentriert auf den Bildschirm, dass er sich die Mühe spart. Stattdessen bleibt er hinten stehen und trinkt seinen Kaffee, während im Fernsehen die Men in Black Aliens erschießen. Will Smith sieht megagut aus, und Tommy Lee Jones ist megabrummig. Dem Schurken fehlt ein Arm, und in seiner gesunden Hand wohnt etwas, das halb wie ein Krebs, halb wie ein Skorpion aussieht. Bravo. Genau das, was man hier braucht.
Der Kaffee hat seine Wirkung getan. AJ ist jetzt wach. Er sollte nun wieder in sein Büro zurückgehen und sehen, ob er es schafft, den langweiligsten Bericht der Welt zu Ende zu lesen. Aber der Alptraum klingt immer noch nach, und er braucht Ablenkung.
»Ich übernehme die Mitternachtsrunde«, teilt er den Pflegern mit. »Lassen Sie sich von mir nicht in Ihrem Schönheitsschlaf stören.«
Müde Witzeleien hallen hinter ihm her. Er spült in der Küche seinen Becher aus, zieht seinen Schlüsselbund aus der Tasche, geht lautlos den Korridor hinunter und öffnet mit seiner Magnetkarte den Eingang zum Schlafbereich.
Seit seiner Beförderung zum Pflegedienstleiter gehört es zu seinen Aufgaben, an Organisationssitzungen teilzunehmen, Referate zu halten und Mitarbeiter auszubilden. Den ganzen Nachmittag hat er auf dem Strafrechtsforum verbracht, einer Tagung mit Kommunalpolitikern und Polizisten - und das ist, wie er allmählich begreift, sein Los im Leben. Meetings und Akten. Und Anzüge, in die er sich jeden Tag zwingen muss. Nicht einen Moment lang hat er geglaubt, dass ihm der Pflegedienst fehlen könnte, doch jetzt merkt er, dass ihm tatsächlich etwas abgeht: dieser nächtliche Rundgang. Es war immer irgendwie befriedigend zu wissen, dass alle schliefen. Dass alles in Ordnung war. Diese Art von Befriedigung findet man nicht in einem Stapel Berichte.
Im unteren Korridor ist es still bis auf das gedämpfte Schnarchen, das aus einigen Zimmern kommt. Er öffnet eine oder zwei Sichtscheiben und schaut in die Zimmer, aber das Einzige, was sich dort rührt, sind die schwankenden Schatten der rauschenden Bäume auf den dünnen Vorhängen. Mondlicht fällt auf die schlafenden Gestalten der Patienten.
Auf der nächsten Etage ist es anders. Das spürt er, als er oben auf dem Treppenabsatz ankommt. Jemand fühlt sich nicht wohl. Es ist kaum mehr als ein Empfinden - ein Unbehagen, das auf jahrelange Erfahrung zurückgeht. Ein Vibrieren in der Wand.
Hier ist Zelda letzte Woche gestorben. Ihr Zimmer ist das erste auf der rechten Seite, und die Tür steht offen. Ein Warnschild der Hausmeisterei steht in der Öffnung. Das Bett ist ab gezogen, die Vorhänge sind offen. Das Mondlicht flutet hell und blau ins Zimmer. Eine Farbwanne mit einer Malerwalze lehnt an der Wand. Morgens und abends, wenn die Patienten in den Tagesbereich und zurück auf ihre Zimmer geführt werden, muss man sie dazu ermuntern, an dem Zimmer vorbeizugehen, ohne hineinzuschauen, und sie weinen und zittern. Selbst AJ fällt es schwer, daran zu denken, was diesen Monat hier passiert ist.
Vor ungefähr drei Wochen hat es angefangen. Es war zehn Uhr abends, und AJ machte Überstunden und arbeitete ein paar Personalunterlagen durch. Er saß deshalb noch im Büro, als der Strom ausfiel und das Licht ausging. Er und der diensthabende Haustechniker suchten nach Taschenlampen, und bald darauf hatten sie die Ursache des Problems gefunden: Ein Trockner im Wäscheraum hatte einen Kurzschluss. Die meisten Patienten merkten gar nichts davon; viele schliefen, und diejenigen, die wach waren, nahmen kaum Notiz. Innerhalb von vierzig Minuten brannte das Licht wieder, und alles war wie immer. Nur Zelda nicht. Sie war in ihrem Zimmer am oberen Korridor auf der Station Löwenzahn, und die Schreie, die sie ausstieß, als das Licht wieder anging, waren so schrill, dass AJ im ersten Moment glaubte, durch das Einschalten des Stroms sei ein Alarm ausgelöst worden.
Die Mitarbeiter der Nachtschicht waren so sehr an Zeldas Geschrei und Gejammer gewöhnt, dass sie nicht gleich zu ihr hinaufliefen. Sie hatten inzwischen gelernt, dass es einfacher war, mit ihr fertigzuwerden, wenn man ihr Zeit ließ, sich auszutoben. Aber diese Entscheidung erwies sich als Fehler. Als AJ schließlich zusammen mit einem Pfleger oben ankam, um nach ihr zu sehen, stellten sie fest, dass sie nicht die Ersten waren. Die Zimmertür stand offen, und die Klinikdirektorin, Melanie Arrow, saß auf dem Bett und hielt Zeldas Hände umfasst, als wären es zerbrechliche Eier. Zelda war im Nachthemd und hatte ein Handtuch um die Schultern gelegt. Ihre Arme waren blutüberströmt, und sie weinte. Zitterte, bebte.
AJ war bestürzt. Sie hätten sehr viel schneller reagiert, wenn sie gewusst hätten, dass so etwas passiert war. Zumal wenn sie gewusst hätten, dass die Direktorin im Gebäude war und die Sache miterlebte. Ihr Gesichtsausdruck ließ keinen Zweifel daran, dass sie über diese Situation nicht glücklich war. Überhaupt nicht.
»Wo sind Sie gewesen?« Ihre Stimme klang beherrscht. »Warum war niemand auf der Station? Steht das nicht in der Dienstvorschrift? Dass auf jeder Station jemand zu sein hat?«
Der Oberarzt wurde aus dem Bereitschaftsdienst gerufen, und man brachte Zelda ins Untersuchungszimmer neben AJs Büro. AJ hatte sie noch nie so kleinlaut gesehen, so ehrlich erschüttert. Beide Arme bluteten an den Innenseiten, und als man die Wunden untersuchte, stellte man fest, dass sie mit einem Kugelschreiber zerschnitten worden waren. Die Innenseiten ihrer Arme waren von oben bis unten mit Schriftzeichen bedeckt. Melanie Arrow und der Oberarzt steckten die Köpfe zusammen und berieten sich im grellen Licht der Leuchtstofflampen, und AJ lehnte mit verschränkten Armen an der Wand und trat beklommen von einem Fuß auf den anderen. Der Oberarzt hatte noch vor zwanzig Minuten geschlafen und gähnte ständig. Er hatte die falsche Brille mitgebracht und musste sie sich zwei Handbreit vor die Augen halten, um Zeldas Arme zu untersuchen.
»Zelda?«, fragte Melanie. »Haben Sie sich verletzt?«
»Nein. Ich habe mich nicht verletzt.«
»Aber jemand hat es getan. Oder?« Melanie ließ den Satz in der Schwebe und wartete auf eine Antwort. »Zelda?«
Sie rutschte voller Unbehagen hin und her und rieb sich die Brust, als sei sie zu eng. »Jemand hat mich verletzt. Oder etwas.«
»Wie bitte? Etwas?«
Zelda fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und schaute in die Runde der besorgten Gesichter. Sie war rot im Gesicht - ein Spinnennetz von Adern zog sich über ihre Wangen -, aber ihre sonst so kämpferische Haltung war dahin. Völlig weg. Sie war ratlos.
»Hundert Milligramm Acuphase«, murmelte der Arzt. »Und Beobachtungsstufe eins bis morgen früh - in doppelter Besetzung, bitte. Vielleicht können wir morgen auf Stufe zwei heruntergehen. «
Jetzt schiebt AJ den Kopf durch die Tür und sieht sich im Zimmer um, und er fragt sich, was hier wirklich passiert ist. Was hat Zelda in der Nacht wirklich gesehen? Hat etwas auf ihrer Brust gesessen? Etwas Kleines, Entschlossenes? Das dann unter der Tür hindurch davongehuscht ist?
Ein Geräusch. Er hebt den Kopf. Es kommt aus dem letzten Zimmer auf der rechten Seite. Monster Mother. Er geht hin, klopft leise an die Tür und lauscht.
Monster Mother - oder Gabriella Jackson, wie sie mit richtigem Namen heißt - ist eine von AJs Lieblingspatienten. Die meiste Zeit ist sie eine sanftmütige Seele. Und wenn sie nicht sanftmütig ist, lässt sie es meistens an sich selbst aus. Sie hat Schnittwunden an Waden und Schenkeln, die nie mehr ganz verheilen werden, und ihr linker Unterarm fehlt. Den hat sie sich eines Nachts mit einem elektrischen Tranchiermesser abgeschnitten. Sie hat ganz ruhig in der Küche ihrer noblen Villa gestanden und das Gemüseschneidebrett benutzt, um den Arm darauf zu legen. Sie wollte ihrem begriffsstutzigen Ehemann beweisen, wie ernst, wie furchtbar ernst es ihr damit war, dass er keine neue Affäre eingehen sollte.
Der abgeschnittene Arm ist der Hauptgrund dafür, dass Monster Mother in Beechway ist - er und ein paar andere »Macken« in ihrer Wahrnehmung der Wirklichkeit. Zum Beispiel ihre Überzeugung, sie habe alle anderen Patienten geboren. Sie seien allesamt Monster und hätten abscheuliche Taten begangen, weil sie ihrem vergifteten Schoß entsprungen seien. Den Namen »Monster Mother« hat sie sich selbst gegeben, und wenn man lange genug mit ihr redet, wird man einen detaillierten Bericht über die Geburt eines jeden Patienten der Klinik bekommen - wie lang und beschwerlich die Wehen waren und wie sie auf den ersten Blick hat sehen können, dass das Baby böse war.
Die zweite Macke ist ihre Überzeugung, sie könne ihre Haut abziehen. Und wenn sie es tut, ist sie unsichtbar.
AJ klopft noch einmal. »Gabriella?«
Die Dienstvorschrift verlangt, dass der Patient immer mit seinem richtigen Namen angeredet wird, ganz gleich, welche Fantasien er zu seiner Identität entwickelt.
»Gabriella?«
Nichts.
Leise öffnet er die Tür und schaut ins Zimmer. Sie liegt im Bett, zugedeckt bis zum Hals, und starrt ihn an. Ihre Augen sind groß wie Untertassen. AJ weiß, was das bedeutet: Sie »versteckt sich«. Ihre »Haut« ist irgendwo anders im Zimmer, wo sie die Aufmerksamkeit von ihr ablenkt. Er reagiert nicht auf diesen Wahn; zwar darf er behutsame Zweifel zum Ausdruck bringen, muss aber jeden direkten Widerspruch vermeiden. (Dienstvorschrift.)
Ohne Blickkontakt herzustellen, tritt er ein, setzt sich hin und wartet. Schweigen. Nicht mal ein Murmeln. Aber AJ kennt Monster Mother, und er weiß, sie kann nicht ewig still sein.
Und richtig, schließlich setzt sie sich auf und flüstert: »AJ. Ich bin hier.«
Er nickt langsam, sieht sie aber immer noch nicht direkt an. »Alles okay?«
»Nein. Machen Sie die Tür zu?«
Bei den meisten Patienten im Haus würde er die Tür hinter sich nicht schließen, aber Monster Mother kennt er seit Jahren, und er ist jetzt Pflegedienstleiter und hat Verantwortung. Also steht er auf und drückt die Tür zu. Sie rutscht in ihrem Bett nach oben. Siebenundfünfzig ist sie, aber ihre Haut ist faltenlos und weiß wie eine Eierschale, und ihr Haar ist eine rote Explosion. Sie hat außergewöhnliche Augen - ein strahlendes Blau mit dunklen Wimpern. Es sieht aus, als brauchte sie Stunden, um Wimperntusche aufzulegen. Sie gibt ihr ganzes Taschengeld für Kleidung aus, und ihre Sachen würden eher zu einer Sechsjährigen auf einer Märchenparty passen: nichts als schwebender Tüll in allen Farben des Regenbogens, Ballettröcke, Rosen im Haar.
Die Farbe, für die sie sich entscheidet, verrät, wie sie die Welt an diesem Tag sieht. An guten Tagen sind es Pastelltöne: Pink, Babyblau, Schlüsselblumengelb, Flieder. An schlechten Tagen sind es dunkle Grundfarben: Weinrot, Tiefblau, Schwarz. Heute hängt ein rotes Spitzennegligé über dem Fußende, und das vermittelt AJ eine Ahnung von ihrer Stimmung. Rot bedeutet Gefahr. Es verrät ihm auch, dass ihre Haut über dem Fußende hängt. Sein Blick schweift ungefähr in die Mitte zwischen dem Negligé und ihrem Gesicht. Irgendwo auf die Wand über ihrem Bett. Neutrales Terrain.
»Was ist denn, Gabriella? Was bedrückt Sie?«
»Ich musste sie abnehmen. Es ist nicht sicher hier.«
AJ widersteht dem Drang, die Augen zu verdrehen. Monster Mother ist lieb und sanft und, jawohl, verrückt, aber meistens lustig verrückt, nicht aggressiv verrückt. Er lässt sich Zeit mit der Antwort, und wieder vermeidet er es, ihrem Wahn zu widersprechen oder sie darin zu bestätigen. »Gabriella - haben Sie heute Abend Ihre Medikamente genommen? Sie haben sie doch genommen, oder? Sie wissen, ich kann die Leute von der Medikamentenausgabe fragen, ob sie es gesehen haben. Und wenn sie es nicht gesehen haben ... na, ich muss doch nicht das Zimmer durchsuchen, oder?«
»Ich habe sie genommen, AJ. Wirklich. Ich kann nur nicht schlafen.«
»Wann ist Ihr Depot zu Ende? Ich habe nicht nachgesehen, aber ich glaube, es ist noch lange nicht aufgebraucht.«
»Noch zehn Tage. Ich bin nicht verrückt, Mr AJ. Wirklich nicht.«
»Natürlich nicht.«
»Aber es ist wieder da, AJ - es ist auf dem Korridor. Es läuft schon die ganze Nacht herum.«
AJ schließt die Augen und atmet langsam. Was hat er erwartet, als er hier heraufgekommen ist? Hat er wirklich gedacht, es werde seinen Alptraum vertreiben? Hat er fröhliches Gelächter erwartet, Leute, die Witze erzählen, um ihn abzulenken?
»Hören Sie zu, Gabriella. Darüber haben wir doch schon gesprochen. Erinnern Sie sich an all die Gespräche, die wir auf der Akutstation geführt haben?«
»Ja. Ich habe alle diese Gespräche in einem Kasten in meinem Kopf eingeschlossen, wie die Ärzte es mir gesagt haben.«
»Wir haben vereinbart, dass Sie nicht wieder davon anfangen. Wissen Sie das noch?«
»Aber, AJ, es ist wieder da. Es ist zurückgekommen. Es hat Zelda erwischt.«
»Wissen Sie nicht mehr, was Sie auf der Überwachungsstation gesagt haben? Ich erinnere mich noch: ›Es existiert nicht. Es ist alles erfunden - wie im Kino.‹ Erinnern Sie sich?«
Sie nickt, aber die Angst in ihren Augen geht nicht weg.
»Das ist gut, Gabriella. Und Sie haben nicht mit den andern darüber gesprochen, oder?«
»Nein.«
»Gut - das ist gut. Sie haben es richtig gemacht. Sie behalten es für sich. Ich weiß, das können Sie. Ich weiß, dass Sie es schaffen. Morgen früh haben wir Ihre Pflegeplanbesprechung. Ich werde es dem Oberarzt gegenüber erwähnen; mal sehen, was er sagt. Und ich setze Sie auf Beobachtungsstufe vier, nur für heute Nacht, okay? Ich sehe dann selbst nach Ihnen. Aber, Gabriella ...?«
»Ja?«
»Sie müssen dieses ... dieses Ding vergessen, meine Liebe. Wirklich.«
Sicher
Für die Monster Mother ist es komisch, dass AJ nicht sehen kann, was hier vorgeht. Er kann nicht mal das Wort aussprechen: »Maude«. AJ ist freundlich, und er ist gescheit, aber er hat das Extra-Auge nicht, und er sieht nicht, was in diesem Haus wirklich vorgeht. Er glaubt ihr nicht, dass »Maude« da draußen ist. Und noch jemandem wehtun will.
AJ sieht nicht, welchen Aufwand Monster Mother getrieben hat, nur um sicher zu sein. Wenn er es sähe, würde er vielleicht begreifen, wie ernst es ist. Aber er kann ihre entblößten Muskeln und Sehnen nicht sehen. Er sieht das Weiß des Schädels nicht und auch nicht das Glitzern der beiden Augäpfel ohne Lider. Er ist blind für das, was hier geschieht. »Gute Nacht«, sagt er. »Ich werde nach Ihnen sehen - versprochen.«
Sie zieht die Decke wieder über sich. Raschelnd scharrt sie über ihre blanken Nerven und hautlosen Muskeln. Der rohe Schädel sinkt auf das Kissen, und sie versucht, mit den Wangenmuskeln zu lächeln. »AJ?«
»Ja?«
»Bitte seien Sie vorsichtig.«
»Natürlich.«
Er wartet noch einen Augenblick, als ob er nachdächte, und dann geht er hinaus und schließt die Tür. In der Klinik ist es still. Sie kann die Augen nicht schließen, denn sie hat keine Lider. Aber wenigstens ist sie sicher vor »Maude«. Wenn es hereinkommt, wird es geradewegs zu ihrer Haut auf dem Bettpfosten gehen.
Niemand wird heute Nacht auf Monster Mothers Brust hocken.
Browns Brasserie, Triangle
Jeder im Restaurant, das weiß Detective Inspector Caffery, wartet nur darauf, dass er irgendeine Reaktion auf die Weinattacke der Frau zeigt. Er spürt die allgemeine Enttäuschung, als er sich nicht so leicht provozieren lässt.
Er nimmt sich Zeit für seinen Hamburger und lässt sich nicht drängen oder hetzen. Während er kaut, wandert sein Blick ab und zu beiläufig zur Tür und zu den Rücken der beiden Rausschmeißer, die breitbeinig und mit verschränkten Armen vor der Glastür stehen. Dahinter torkelt die Frau, die inzwischen wieder auf die Beine gekommen ist, auf dem Gehweg herum und beschimpft die beiden Türsteher.
Caffery hat einen endlos langweiligen Nachmittag auf einem Strafjustizforum verbracht und über die Zusammenarbeit zwischen Polizeigewahrsam und psychiatrischen Aufnahmestationen diskutiert. Er hat die Nase voll davon, über Dinge zu labern, die ihn nicht interessieren, und mit Leuten zu reden, die er nicht mag. Immerhin hat diese Frau - sie heißt Jacqui Kitson - es geschafft, diesen langweiligen Tag doch noch interessant zu machen.
Interessant. Nicht angenehm. Er hat halb damit gerechnet, und zwar schon lange.
Sie hat aufgehört, auf die Türsteher einzureden, und sitzt jetzt auf dem Bordstein. Sie hat den Kopf in die Hände gelegt und weint. Als Caffery schließlich seine Rechnung bezahlt hat, haben die beiden Wachleute die Tür wieder freigegeben und die Gäste hereingelassen, die draußen gewartet haben. Sie werfen vorsichtige Blicke auf die Frau, als sie sich hineinzwängen, und treten nur kurz beiseite, um Caffery nach draußen zu lassen.
Er schiebt seine Brieftasche unter die Jacke. Vierzig Pfund hat er bezahlen müssen. Ganz schön happig für ein einsames Mahl, aber er hat in letzter Zeit kaum etwas, wofür er sein Geld ausgeben kann. Er ist ständig auf der Suche nach einem Hobby, das ihn von der Arbeit ablenken könnte, doch es ist gar nicht so leicht, etwas zu finden. Alleine essen zu gehen, das weiß er, ist jedenfalls nicht die Lösung. Vielleicht, wenn es jemanden gäbe, der ihn begleitete? Es gibt da eine Frau, die er gern fragen würde, aber davor türmt sich ein Berg von Komplikationen. Und was Jacqui Kitson nicht weiß - zwischen ihr und diesen Komplikationen besteht ein enger Zusammenhang.
»Jacqui«, sagt er und bleibt bei ihr stehen. »Sie wollen reden.«
Sie dreht den Kopf und betrachtet seine Schuhe. Dann hebt sie das Gesicht - halb blind. Ihre Augen sind ganz verquollen, die Wimperntusche hat schwarze Streifen auf ihren Wangen hinterlassen. Ihr Kopf sitzt wacklig auf dem Hals. Sie hat sich in die Gosse erbrochen, ihre Handtasche liegt halb auf der Straße, quer über der doppelten gelben Linie. Sie sieht völlig fertig aus.
Er setzt sich neben sie. »Jetzt bin ich hier. Sie können mich anschreien.«
»Will nicht schreien«, murmelt sie. »Will sie nur wiederhaben.«
»Ich weiß - das wollen wir alle. Wir alle wollen sie wiederhaben. « Er klopft seine Taschen ab und zieht eins der silberschwarzen Röhrchen heraus, die er seit Monaten mit sich herumschleppt. E-Zigaretten. Er hat versucht, seine alte, schlechte Gewohnheit loszuwerden, und nach jahrelangem Druck von Staat und Freunden ist es ihm endlich gelungen: Stattdessen benutzt er jetzt diesen stählernen Ersatz. Klickend steckt er den Verdampfer in das Akku-Gehäuse. Die technischen Mätzchen der E-Zigarette sind ihm immer noch ein bisschen peinlich, und wenn er neben sich säße und zusähe, wäre die Versuchung groß, eine ätzende Bemerkung zu machen. Die Blicke von Autofahrern und Passanten streifen kurz über das Paar, das da auf dem Randstein sitzt. Eine pinkfarbene Hummer-Stretch-Limo gleitet im Schritttempo vorbei. Angeheftete L-Schilder weisen auf einen Führerscheinneuling hin. Die schwarz getönten Fenster sind offen. Eine Frau mit einem pinkfarbenen Cowboyhut lehnt sich heraus und winkt Caffery zu.
»Liebe ich dich«, schreit sie, als der Hummer vorbeizieht. »Wirklich!!!!«
Caffery saugt den Nikotindampf ein, hält ihn in der Lunge und bläst ihn dann in dünnem Strahl wieder aus. »Jacqui, Sie sind weit weg von zu Hause. Wie sind Sie hergekommen - allein?«
»Ich bin doch jetzt immer allein, oder? Fuck, ich bin immer allein.«
»Und wie kriege ich Sie dann nach Hause? Sind Sie mit dem Auto da?«
»Ja.«
»Den ganzen Weg von Essex hierher?«
»Was sind Sie doch für ein gottverdammter Idiot! Ich wohne heute Nacht hier ... in einem Hotel. Mein Auto ist ...« Sie wedelt unbestimmt über die Straße bergab. »Keine Ahnung.«
»Sie sind doch nicht in dem Zustand gefahren, oder?«
Sie starrt benebelt auf die E-Zigarette. »Kann ich auch eine haben?«
»Das ist keine richtige.«
»Geben Sie mir eine aus meiner ...« Mit schmalen Augen sucht sie nach ihrer Handtasche. Dann schlägt sie mit beiden Händen auf den Boden und tastet panisch umher.
»Hier.« Caffery hebt die Tasche von der Straße auf und reicht sie ihr. Sie hält inne, runzelt vorwurfsvoll die Stirn und reißt die Tasche an sich, als sei er dabei gewesen, sie zu stehlen. Sie fängt an, darin herumzuwühlen, aber immer wenn sie den Kopf senkt, bringt der Alkohol sie aus dem Gleichgewicht, und sie muss den Kopf zurücklegen und tief durchatmen.
»Oh«, sagt sie, »alles dreht sich. Ich bin besoffen, was?«
»Machen Sie die Tasche zu, Jacqui. Sie verlieren sonst Ihr ganzes Zeug. Kommen Sie.« Er steht auf. Hält ihr eine Hand entgegen. »Ich fahre Sie zu Ihrem Hotel.«
Das alte Armenhaus
Das Herz von Beechway sind die Überreste des Armenhauses - umfassend neugestaltet, befreit von all den Dingen, die an den ursprünglichen Zweck des Gebäudes erinnern. Der alte Wasserturm - eine übliche Sicherheitseinrichtung, die verhindern sollte, dass eine Anstalt von den Insassen in Brand gesetzt wurde - wurde umgebaut und bekam eine große Uhr, die als Rechtfertigung für seine Existenz dienen sollte. Der Grundriss der Stationen, der von oben betrachtet absichtlich oder zufällig einem Kreuz entsprach, wurde als zu religiös empfunden, und so kam ein heller Kopf im Kuratorium auf die Idee, das Kreuz in ein vierblättriges Kleeblatt zu verwandeln. Viel organischer.
Die Arme des Kreuzes wurden zur Seite hin zur Form eines Kleeblatts verlängert, und Beechway bekam die Gestalt, die es heute hat. Jedes »Blatt« ist eine zweigeschossige Station mit Patientenzimmern. Auf der einen Seite liegen verglaste Gemeinschaftsräume, auf der anderen die Dienst- und Therapiezimmer. Die Fenster sind groß und glatt, die Ecken gerundet. Der »Stiel«, ein gläserner Korridor, führt von den Stationen im Kleeblatt durch einen zentralen Garten, den »Hof«, zu dem langgestreckten, gewölbten Block mit den Verwaltungsbüros. Alles - jede Station, jeder Korridor, jedes Zimmer, jedes Bad - trägt den Namen einer Blume.
Es ist eindeutig organisch.
Als er Monster Mother verlassen hat, geht AJ langsam in jedes Blatt, kontrolliert jede Station, jeden Korridor - Butterblume, Myrte, Glockenblume - und vergewissert sich, dass die anderen Patienten nicht gestört worden sind. Die meisten schlafen tief oder sind kurz davor, fest in den Klauen ihrer Medikamente. Bei manchen bleibt er stehen, um leise mit ihnen zu sprechen. Monster Mother und ihre Haut erwähnt er nirgends.
Er kommt am Fernsehzimmer vorbei, wo die Pfleger immer noch über Men in Black lachen, und geht durch den Stiel und weiter in den Verwaltungstrakt und zurück zu seinem Büro. Er will eben die Tür öffnen, als er zwanzig Meter weiter hinten im Korridor einen der Wachmänner sieht. Es ist der riesenhafte Jamaikaner, den sie wegen seiner schwerfälligen Körpermassen nur Big Lurch nennen. Er steht mit den Händen in den Taschen da und ist in einen gerahmten Druck an der Wand vertieft. Etwas in seinem Gesicht veranlasst AJ, stehen zu bleiben. Big Lurch wirft einen Blick zur Seite, sieht ihn und lächelt. »Hey, AJ.«
»Hey.«
»Die Fraggles schlafen?«
Big Lurch meint die Patienten. Niemand würde den Ausdruck vor einem Kuratoriumsmitglied benutzen, aber die Mitarbeiter nennen die Patienten Fraggles, nach der alten Puppenserie aus dem Fernsehen. »O ja, sie schlafen. Der Zauber ist immer da, solange wir danach suchen.« Er geht den Korridor hinunter. »Was machst du da?«
»Ach, keine Ahnung.« Ein bisschen verlegen deutet Big Lurch auf den Druck an der Wand. »Seh mir das gerade an. Hab mir anscheinend nie die Mühe gemacht.«
AJ macht schmale Augen und betrachtet das gerahmte Bild. Es ist ein Aquarell aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, und es zeigt das Armenhaus, als es neu war. Solche Drucke hängen hier überall und zeigen die Hochsicherheitsklinik Beechway in verschiedenen Inkarnationen. Auf Kupferstichen sieht man sie als Armenhaus, gerahmte Zeitungsartikel bilden die Ernennung eines neuen Direktors in den fünfziger Jahren ab, und es gibt sogar ein Gemälde, das die Klinik nach dem Umbau mit ihrer Rundumverglasung zeigt. Er fühlt sich in das Bild hineingezogen und sieht die einzelnen noch wiedererkennbaren Teile des Gebäudes - Teile, die mehr als hundertfünfzig Jahre überstanden haben. Hier ist der Hof, da der Turm, dort die Achse des Kreuzes, das jetzt das Kernstück des Kleeblatts bildet.
»Bei Unwetter ist mir hier nie so recht wohl«, sagt Big Lurch plötzlich. »Dann muss ich an die Schwachstellen denken.«
»Schwachstellen?«
Er nickt. »Die Stellen, die diese Architekten in den Achtzigern nicht richtig durchdacht haben.«
AJ schaut Big Lurch von der Seite an. Was er sieht, ist die Angst, der Ausdruck des Unbehagens, der ihm in den letzten paar Tagen in der Klinik so vertraut geworden ist. Nicht zu glauben, einfach nicht zu glauben. Er hat längst begriffen, dass er nicht allzu freundschaftlich mit den Mitarbeitern umgehen darf, aber bei Big Lurch macht er eine Ausnahme. Er mag diesen Kerl.
Er hat schon etwas getrunken mit ihm - hat seine Frau und die beiden kleinen Töchter kennengelernt -, und in der ganzen Zeit hat er nie das Gefühl gehabt, der Mann sei leicht zu beeinflussen.
»Hör auf, Kollege. Ich habe genug Probleme mit den Patienten, ohne dass das verdammte Sicherheitspersonal jetzt zu Heulsusen wird.«
Big Lurch lächelt schief und legt einen Finger an die Stirn, als wolle er seine Verlegenheit verbergen. Er will eben eine schlagfertige Antwort geben, als das Licht flackert. Beide Männer legen den Kopf in den Nacken und schauen zur Decke. Das Licht flackert noch einmal. Dann beruhigt es sich, und der Korridor sieht normal wie immer aus. AJ mustert Big Lurch mit schmalen Augen. Vor einer Woche hat es einen Stromausfall gegeben, und noch einer wäre das Letzte, was sie gebrauchen können. Die Patienten würden durch die Decke gehen.
»Duu duu duu duu, duu duu duu duu.« Er singt die Titelmusik von Twilight Zone und wackelt mit Gespensterfingern vor Big Lurchs Gesicht herum. »Komm, Scooby, wir verstecken uns unter dem Sofa.«
Der Wachmann grinst betreten und schiebt AJs Hände weg. »Siehst du, deshalb reden Männer nicht gern über Gefühle. Wegen Wichsern wie dir.«
AJ seufzt. Mit einem Lachen kann er das hier nicht abtun. Big Lurch macht wirklich, wirklich keine Witze.
»Ist es dir nicht aufgefallen, AJ? Dass alle sich krankmelden?«
»Doch. Zufällig ist es mir aufgefallen. Man arbeitet eine Doppelschicht, um Leute zu vertreten, und das prägt sich irgendwie ein.«
»Ja. Und weißt du, was sie sagen?«
»Wir müssen darüber jetzt nicht reden.«
Big Lurch tritt voller Unbehagen von einem Bein auf das andere. Streicht sich mit dem Zeigefinger unter dem Kragen entlang. »Einer von ihnen ist vorgestern Nacht kurz eingenickt. Auf Station Löwenzahn. Er sagt, er hat etwas in seinem Zimmer gesehen, als er aufwachte.«
AJ lacht. Zu laut. Das Lachen hallt durch den Korridor und kommt als Echo zurück. »Ach komm, das war ein Angina-Pectoris- Anfall. Sie haben ihn zum Arzt gebracht, und der hat es bestätigt.« Er schüttelt den Kopf. »Dieses ... diese ganze ... Sache ... das ist einfach ...«
»AJ, du weißt, wovon ich rede. Ich habe Mühe, irgendeinen der Jungs dazu zu bringen, die Nachtschicht zu übernehmen. Wenn ich sie dafür einplane, weiß ich schon, dass sie anrufen und sagen, sie sind krank oder haben eine Autopanne oder so was.«
AJ schiebt die Hände in die Taschen und schaut auf seine Füße. Er weiß, wo das hinführt. Zu einer Massenhysterie nämlich. Nach jahrelangem Schweigen zum Thema Geister und Spuk sind die Geschichten und Gerüchte plötzlich alle wieder da. Leute melden sich krank, Monster Mother gerät in Panik, Big Lurch ist schwer nervös. Und sogar er selbst, AJ, hat sich davon anstecken lassen. Träumt von diesem verdammten Ding.
Er schaut im Korridor hin und her. Alles ist still und leer. Das einzige Licht kommt von der Sicherheitsbeleuchtung in Knie- höhe, und das einzige Geräusch ist das Ticken und Rascheln von Zweigen und Blättern an den Fenstern. Der Augenblick ist gekommen. Er wird es amtlich machen und gleich morgen früh mit der Klinikdirektorin sprechen müssen. Die Sache muss im Keim erstickt werden, bevor die ganze Klinik den Bach hinuntergeht.
Hotel du Vin, Sugar House, Bristol
Während der Fahrt wird klar, dass Jacqui Kitson ihn schon den ganzen Tag verfolgt hat. Sie schwankt hin und her zwischen betrunkenem Flirten und unflätigem, wütendem Weinen.
»Sie sind so beschissen fit«, erklärt sie und zieht erbost an ihrer Zigarette. »Ich würde Ihnen eine abgeben, wenn ich Sie nicht so sehr hassen würde. Sie hässlicher Scheißkerl.«
Soweit er sie verstanden hat, hat sie ihr Auto in der Nähe seines Büros in St. Philips abgestellt und ist ihm seitdem zu Fuß gefolgt. Morgen hat sie ein Interview bei einer überregionalen Zeitung, die ihr das Hotel bezahlt, und wahrscheinlich hat sie es so geplant, dass sie gleichzeitig Caffery überfallen konnte. Sie hat am Mittag angefangen zu trinken.
Da Jacqui Kitson ist, wer sie ist, hat sie sich für das Hotel du Vin entschieden, denn hier steigen gelegentlich Prominente ab, und es hat einen gewissen luxuriösen Glamour. Das Personal lächelt gequält, als sie hereinkommt, zerzaust und nach Erbrochenem riechend. Jemand mit der Haltung eines Security-Beauftragten, aber mit roten Flecken auf Hemd und Kragen, führt sie durch die Lobby.
Sie hat eine Suite unter dem Dach: Eine der vier Wände ist mit einem sich wiederholenden Muster in Bronze und Schwarz tapeziert, davor tiefe, bequeme Ledersessel und überall die lackierten gusseisernen Säulen, die noch aus der Zeit stammen, als das Gebäude ein Zuckerspeicher war. Von hier aus hat man einen Blick über das Stadtzentrum, und in Augenhöhe ragt die Baptistenkirche St. John, die nachts angestrahlt wird, in den Himmel.
Jacqui holt sich sofort einen Wodka-Orange aus der Minibar. Sie geht ins Bad, und Caffery kippt den Drink aus dem Fenster und füllt das Glas mit Orangensaft. Er stellt es auf den Nachttisch und bleibt am offenen Fenster stehen. Es ist eiskalt draußen, und er hört das klingende Gelächter der Gäste in den Bars unten an der Straße, das in Wellen zu ihm heraufweht.
Er ist seit mehr als drei Jahren in diesem Teil des Landes, und allmählich kennt er Bristol genauso gut wie South London, wo er aufgewachsen ist. Er kennt die Bars und die Verbrechen, die in der Stadt begangen worden sind - er kann all die vergangenen Kneipenschlägereien und Morde im Kopf rückwärts abspulen. Die Barfrau in einem Lokal, nur ein paar hundert Meter von hier, vor acht Jahren erstochen von einem Gast, der gewartet hat, bis der Laden leer war und er mit seinem Opfer allein sein konnte. Eine Prügelei ein paar Meter weiter unten an der Straße, die damit geendet hat, dass einem Achtzehnjährigen das Gesicht zerschnitten wurde. Gleich daneben ein Imbiss, der eines Tages vor neunzehn Monaten dichtgemacht wurde, weil dort nicht nur Kebab, sondern auch Crack und Ketamin verkauft wurden.
Es ist Cafferys Aufgabe, die Geheimnisse aufzuspüren, die sich hinter den Fassaden verbergen. Sein Dezernat - MCIT, das Major Crime Investigation Team - ist zuständig für Mord- und andere komplizierte Fälle. Die Fälle, die höchste Aufmerksamkeit erfordern. Wie der, über den Jacqui so wütend ist.
Die Toilettenspülung rauscht, und sie kommt wieder heraus. Sie ignoriert das Glas und wirft sich bäuchlings auf das Bett.
»Alles okay?«
Sie nickt ins Kopfkissen. »Ich habe eine Schlaftablette genommen. «
»Ist das eine gute Idee?«
»Ist die einzige Idee.«
Caffery sieht auf die Uhr. Er wird also bei ihr warten und aufpassen müssen, dass sie sich nicht übergibt und erstickt. Oder ins Koma fällt. Er sieht sich um. Da steht ein weiches braunes Sofa mit goldenen Kissen, auf dem er es sich bequem machen kann. Er zieht die Tagesdecke über Jacqui und geht ins Bad. Steckt den Stöpsel in den Abfluss im Waschbecken und dreht die Wasserhähne auf. Während das Becken vollläuft, durchstöbert er die Medikamentenschachteln, die sie ringsum verstreut hat. Da ist nichts Verschreibungspflichtiges dabei, nur freiverkäufliche Mittel: Tabletten gegen zu viel Magensäure, Paracetamol, etwas zur Gewichtsabnahme. Und eine Schachtel Schlaftabletten. Nytol. Er macht sie auf. Eine der Blasen in der Durchdrückpackung ist leer. Er wirft einen Blick in den Mülleimer und sieht keine leere Tablettenschachtel. Sie hat also nicht überdosiert.
Er durchwühlt die Designer-Toilettenartikel und findet ein Duschgel, das er ins Waschbecken spritzt, bis er Schaum machen kann. Dann zieht er sein Hemd aus und wirft es ins Wasser. Er reibt es mit Seife ein und schrubbt den vom Wein durchtränkten Kragen. Schließlich spült er es aus und hängt es über den großen Duschkopf.
Er geht zurück ins Zimmer und trocknet sich die Hände an seinem Handtuch ab. Jacqui liegt noch so, wie er sie verlassen hat: auf dem Bauch, die Arme weit ausgebreitet, den Kopf zur Seite gedreht. Er bleibt bei ihr stehen und legt den Kopf schräg, wartet und lauscht. Sie hat die Augen geschlossen und schnarcht leise.
Er setzt sich in einen der tiefen Ledersessel und lässt den Blick durch den Raum wandern. Es gibt einen Fernseher, aber damit würde er sie wecken. Ein paar Illustrierte. Er blättert darin, doch sie geben nichts her. Ein Artikel über ein Designerhotel am Stadtrand von Bristol findet kurz seine Aufmerksamkeit, weil er um die Mittagszeit in ebendiesem Hotel war - als Teilnehmer bei dem mörderisch langweiligen Strafrechtsforum. Er erkennt die kupfernen Waschbecken unter den Deckenstrahlern auf der Herrentoilette wieder, die langgedehnte, aus Beton gegossene Rezeptionstheke. Er hat ein paar Minuten mit einer hübschen, sehr professionellen Frau an dieser Theke gestanden - einer Blonden in einer hohen Position bei irgendeiner lokalen Gesundheitseinrichtung - und gefachsimpelt, und die ganze Zeit über hat sein primitives Gehirn unbestimmte, theoretische Spekulationen darüber angestellt, ob er sie ins Bett kriegen könnte oder nicht. Sie war das einzig Interessante bei der ganzen Veranstaltung. Den Rest kann man wirklich vergessen.
Er versucht noch ein wenig zu lesen, kann sich allerdings nicht konzentrieren. Er lässt die Zeitschrift fallen und sieht sich noch einmal im Zimmer um. Ein dicker, handgebundener Blumenstrauß steht in einem Eiskübel auf dem Tisch mit den Getränken. Caffery steht auf, geht hin und liest, was auf der Karte in dem Strauß steht. Die Blumen sind von der Zeitung, der Jacqui morgen ein Interview geben soll. Misty, ihre Tochter, ein fünfundzwanzigjähriges Model, ist vor anderthalb Jahren aus einer Entzugsklinik an der Grenze nach Wiltshire hinausspaziert. Sie war drogensüchtig und hatte Beziehungsprobleme mit ihrem Boyfriend, einem Fußballspieler, aber nichts davon erklärte, warum man sie nie wiedergesehen hat. Man hat in alle Richtungen gesucht, immer wieder - doch die Polizei tappt weiterhin im Dunklen. Eben war sie noch da, und am nächsten Tag war sie weg. Jedes Jahr verschwinden Tausende Personen, und wenn es sich um normale, erwachsene, vernünftige Menschen handelt, verwendet die Polizei bestürzend wenig Zeit auf die Suche nach ihnen. Aber Misty war so etwas wie eine Prominente, sie war jung und hübsch. Die Medien haben das Interesse noch lange wachgehalten, als die Polizei längst aufgegeben hätte. Jacqui Kitsons Gesicht erscheint regelmäßig in der Boulevardpresse - auf Bildern, die sie dort zeigen, wo Misty zuletzt gesehen wurde: Sie steht auf der breiten, weißen Freitreppe der Klinik und starrt nachdenklich hinauf zu dem Gebäude, in dem ihre Tochter ihre letzten Tage verbracht hat. Sie posiert mit einem Foto von Misty in der Hand und einem Taschentuch, das sie sich ans Gesicht hält. Sie beschimpft die Polizei auf jede nur erdenkliche Art und Weise, wirft ihr Inkompetenz vor.
Jedes Wort von ihr ist ein Messer zwischen Cafferys Rippen. Er ist als leitender Ermittler für die Suche nach Misty verantwortlich. Der Fall verfolgt ihn seit einer Ewigkeit und wandert zwischen MCIT und der Revisionsabteilung hin und her, und Mistys Name hat mittlerweile ein Loch in seinen Schädel gebrannt. Aber das ist längst noch nicht die ganze Wahrheit: Seit über einem Jahr verkleistert er das Problem, passt auf wie ein Schießhund und tut so, als arbeite er an der Aufklärung des Falls, während er das Dezernat gleichzeitig von dem ablenkt, was er in Wirklichkeit über Mistys Verschwinden weiß - denn das ist mehr, viel mehr, als irgendein Cop wissen dürfte. Es ist ein riesengroßes Geheimnis, das er da bewahrt, und er kann nichts ändern.
Behutsam schiebt er die Karte wieder zwischen die bunten Blumen. Kann nicht? Oder will nicht? Oder ist er nur noch nicht ganz bereit? Eine Sache muss er noch hinter sich bringen, und davor drückt er sich seit Monaten.
»Ich weiß es«, sagt Jacqui plötzlich vom Bett her. »Ich weiß es wirklich.«
Caffery hat gedacht, sie schlafe. Er steht auf und geht langsam hinüber. Sie öffnet die Augen nicht, aber sie nickt und zeigt damit, dass sie ihn zur Kenntnis nimmt. Sie hat sich nicht bewegt. Ihre Augen sind geschlossen, die Stimme klingt gedämpft.
»Ich weiß es.«
»Was, Jacqui? Was wissen Sie?«
»Ich weiß, dass sie tot ist.«
Dass Misty noch leben könnte, ist für die Polizisten, die den Fall bearbeiten, keine realistische Annahme mehr - schon seit vielen Monaten nicht. Caffery ist ein wenig erschüttert, als ihm klar wird, dass es Jacqui Zeit und Anstrengung gekostet hat, zu demselben Schluss zu kommen.
»Und ich kann damit zurechtkommen«, fährt sie fort. Ihre Augen sind immer noch geschlossen, und nur ihr Mund bewegt sich. »Ich komme damit zurecht, dass sie tot ist. Ich brauche nur eins.«
»Nämlich?«
»Ich muss sie zurückbekommen. Sie wissen nicht, wie es ist, wenn man keinen Leichnam hat, den man begraben kann. Das ist alles, was ich will.«
»Maude«
Der Legende nach ist »Maude« der Geist einer Oberin aus den 1860er Jahren. Von Geburt an kleinwüchsig, war sie durch blanke Entschlossenheit und Zielstrebigkeit zu einer leitenden Position im Armenhaus aufgestiegen. Und sie missbrauchte diese Stellung. Es heißt, wenn Kinder ungezogen waren, setzte Schwester Maude sich auf ihre Brust und löffelte ihnen »Medizin « in den Mund, bis sie fast erstickten. Oder sie zwang die Kinder, Bibeltexte abzuschreiben - Zeile um Zeile, bis ihre Finger bluteten. Manche Versionen des Mythos behaupten, Schwester Maude habe etwas unter ihren Gewändern gehabt, das sie niemandem gezeigt habe: Sie sei in Wirklichkeit gar keine Schwester gewesen, sondern ein männlicher Zwerg, verkleidet als Frau.
Vor viereinhalb Jahren, kurz bevor AJ hier angefangen hat, hatte eine anorektische Patientin namens Pauline Scott sich eingeredet, nachts komme etwas zu ihr ins Zimmer. Sie behauptete, es setze sich auf ihre Brust und versuche sie zu ersticken, und sie zeigte den Ärzten ihre blutverschmierten Schenkel. Die Worte Sei keine von denen, die begehen ruchlose Taten waren tief ins Bein eingeritzt. In Paulines Papierkorb fand man zwei auseinandergebogene, blutige Büroklammern - aber sie bestritt, etwas darüber zu wissen. Niemand konnte Pauline besonders gut leiden, und so fand man die eingeritzte Schrift an ihren Beinen passend. Sie kam zurück auf die Akutstation und wurde dort drei Wochen lang beobachtet.
Als AJ kurz danach seine Stellung antrat, sprachen die Kollegen von nichts anderem. Nachts wurde im Dienstzimmer geflüstert und gescherzt, und die Leute versteckten sich in dunklen Türen und erschreckten einander. Manche glaubten auch daran - eine Aushilfsschwester, die in der Nachtschicht arbeitete, schwor, sie habe kratzende Fingernägel an einer Fensterscheibe gehört, und weigerte sich, je wieder einen Fuß in die Klinik zu setzen. Eine etwas überspannte Sozialarbeiterin behauptete, sie habe aus dem Fenster geschaut und einen Zwerg in einem weißen viktorianischen Gewand auf dem Rasen hocken sehen. Der Zwerg habe nichts getan, nur das Haus beobachtet. Sein Gesicht war glatt und hell im Mondlicht.
AJ gehörte zu denen, die es ganz unterhaltsam fanden. Es war eine Ablenkung. Dann stattete »Maude« der Anstalt noch einmal einen Besuch ab. Und diesmal verging allen das Lachen.
Moses Jackson war ein Langzeitpatient - ein grauhaariger, unscheinbarer Mann mit dürren Gliedmaßen und einer unangenehmen Persönlichkeit. Ein richtig fieser kleiner Scheißer mit allem, was dazugehört. Bösartig, hinterhältig, rüpelhaft. Die weiblichen Mitarbeiter nannte er »Ritzen«, und dauernd zog er seine Hose herunter, um ihnen seinen Penis zu zeigen. Sie durften nicht mit ihm allein sein, was seine Versorgung kompliziert und noch zeitraubender machte. Wenn man ihm gegenüber etwas davon erwähnte, schrie er natürlich sofort »Rassismus!« und verlangte, dass die Vorstandsmitglieder des Kuratoriums kamen und ihm erklärten, was sie dagegen zu tun gedächten.
Damals war AJ noch Pfleger. Er war am Morgen zur Frühschicht erschienen, und im Haus hatte Chaos geherrscht: Schwestern rannten von Station zu Station, rafften Unterlagen an sich, griffen nach Telefonen. Handwerker mit Werkzeugkästen schlichen ein und aus, und ein unirdisches Geschrei kam aus der Station Butterblume. Die zuständigen Ruhigstellungspfleger waren auf einer anderen Station, und als AJ den Lärm nicht mehr ertragen konnte, beschloss er, selbst hinzugehen und sich darum zu kümmern. Moses stand mitten in seinem Zimmer, hatte die Arme um sich geschlungen und starrte weinend die Wand an. Jeder Zollbreit war mit rotem Filzstift bekritzelt. Hunderte und Aberhunderte von Wörtern - an den Wänden, den Fußleisten, sogar an der Decke.
AJ hatte vor Beechway schon in verschiedenen Einrichtungen gearbeitet und die schlimmsten und verrücktesten Dinge gesehen, aber das hier war mehr als bizarr. Einen Moment lang stand er stumm da und bestaunte das schiere Ausmaß des Schadens.
»Moses.« Er schüttelte den Kopf. Halb wollte er lachen, halb weinen. »Moses, Alter, warum haben Sie das gemacht?«
»Das war ich nicht.«
»Haben die Ärzte Ihre Medikamente geändert?« AJ musterte Moses aufmerksam. Er konnte sich nicht erinnern, dass in der Pflegeakte ein Vermerk gestanden hatte. Normalerweise bekam das Pflegepersonal klare Anweisungen, wenn sich etwas änderte, vor allem bei den Medikamenten. »Haben Sie gestern was anderes bekommen? Gestern Abend?«
»Ich war das nicht!«
»Okay«, sagte AJ geduldig. Es roch im Zimmer kaum merklich nach etwas wie verbranntem Fisch, und er öffnete einen der Lüftungsschlitze am Fenster. Sein Blick fiel auf die Genitalien des alten Knaben, die vor seinen dürren grau behaarten Beinen baumelten. »Wie wär's, wenn Sie Ihre Hose wieder anziehen, Alter? Die Ärzte werden Sie untersuchen müssen - und da wollen Sie doch nicht, dass Ihr ganzer Männerladen da heraushängt.«
»Die hab ich gar nicht ausgezogen.«
»Na, wie wär's, wenn Sie sie einfach trotzdem wieder anziehen? « Er reichte ihm die Schlafanzughose. »Hier, bitte.«
Während Moses sich anzog, wanderte AJ mit schräggelegtem Kopf im Zimmer umher und las die Worte an den Wänden.
Wer ein Weib ansieht, ihrer zu begehren, der hat schon mit ihr die Ehe gebrochen in seinem Herzen.
Und anderswo stand: Ärgert dich aber dein rechtes Auge, so reiß es aus und wirf es von dir.
Die Zeilen wurden ein paar Dutzend Mal wiederholt. Man würde sie abschrubben oder übermalen müssen.
»Moses«, sagte AJ geduldig, ohne die Aufmerksamkeit auf die Schrift zu lenken, »wollen wir frühstücken gehen?« Aus langer Erfahrung als Pfleger in der Psychiatrie wusste er, dass nichts so wirkungsvoll war wie die Rede vom Essen, wenn es darum ging, das Thema zu wechseln oder einen Patienten abzulenken. »Heute gibt's Waffeln mit Sirup.«
Moses ging bereitwillig mit in den Speisesaal, obwohl er aussah wie jemand, der sich immer weiter von der Realität entfernte. Es war, als arbeiteten die Medikamente, die er normalerweise fast ohne Nebenwirkungen vertrug, plötzlich gegen ihn. Seine Hose hatte einen nassen Fleck, und Speichelfäden hingen wie schwere Perlenschnüre an seinem Mund. Die anderen Patienten machten einen weiten Bogen um ihn. In sich zurückgezogen, stand er still in der Schlange, presste eine Faust auf das rechte Auge und rieb es wie verrückt.
Isaac Handel, ein knirpshafter Langzeitpatient mit einer Topffrisur, war der Erste, der bemerkte, dass die Sache ernst wurde.
»Hey«, sagte er zu einer der Schwestern, »schauen Sie mal, schauen Sie.«
Die Schwestern schauten hin. Moses hatte sich aus der Schlange gelöst und stand mit dem Rücken zum Raum, leicht vorgebeugt. Es sah aus, als kämpfe er mit seinem Gesicht. AJ begriff nicht gleich, was da vor sich ging. Statt sofort zu reagieren, bahnte er sich in Schlangenlinien umständlich seinen Weg durch den Speisesaal und lächelte dabei halb. Eher neugierig als beunruhigt, wollte er sehen, was Moses da tat.
»Moses, mein Freund? Alles in Ordnung?«
»Ein Löffel«, sagte Handel. »Er hat einen Löffel.«
Die Patienten auf den Entlassungsstationen durften Löffel haben. Man hatte darin noch nie eine Gefahr oder Bedrohung gesehen. AJ näherte sich Moses von hinten. Er wollte ihm eben beruhigend die Hand auf den Rücken legen, als er sah, dass etwas vom Kiefer des Mannes baumelte. Genauer gesagt, es baumelte nicht, es tropfte. Es war Blut, und es floss in einem so gleichmäßigen Strom, dass er es für eine herabhängende Schnur gehalten hatte.
»Ruhigstellung!«, schrie er und riss automatisch den Ring an seinem Panikalarm heraus. »Ruhigstellung, in den Speisesaal! Sanitäter! « Drei andere Pfleger kamen angerannt und versuchten, Moses zu packen und auf den Boden zu drücken. Aber er hatte die Kraft von zehn Männern. Er riss sich von AJ los und mühte sich weiter mit dem, was immer er da mit seinem Gesicht tat.
»Ich hab den Kopf!«, schrie einer der Pfleger. »Linker Arm, linkes Bein!«, schrie ein anderer. »SCHAFFT ALLE HIER RAUS!«, schrie AJ.
Weitere Mitarbeiter kamen im Laufschritt herein, und überall im Gebäude gellten die Panikalarme. Von Moses' Gesicht kam ein seltsam scharfes, ploppendes Geräusch - kompakt und klar inmitten des chaotischen Lärms ringsum. Als AJ später seinen Bericht schrieb, musste er sich überlegen, wie er dieses Geräusch am besten beschreiben sollte, und er fand, es habe geklungen wie das Reißen einer Sehne und das fettige Schmatzen einer weißen Gelenkkapsel beim Auseinanderbrechen einer gegrillten Hühnerkeule (seit dem Tag isst er kein Hühnchen mehr). Aber natürlich kam das Geräusch nicht von einer Hühnerkeule. Eine Art Kugel, wie ein Ei mit blutigem Eiweiß, rutschte an feuchten Fäden auf Moses' Wange herunter. Der Löffel landete klappernd auf dem Boden. Moses fiel auf die Knie und kippte dann halb ohnmächtig auf die linke Hand.
»Sanitäter!«, brüllte AJ. »Holt doch schon einen verdammten Sanitäter! Sanitäter, Sanitäter, Sanitäter ...!«
Durchschnittlich
Die Nachtschicht scheint kein Ende zu nehmen. AJ hat versucht, zu arbeiten wie immer; er hat seine Berichte fertiggestellt, noch ein paar Rundgänge über die Stationen gemacht und drei Mal zu Monster Mother hineingeschaut, und jede einzelne Minute war ihm zuwider. Vor allem das Alleinsein in seinem Büro. Es ist überheizt, und die Fenster machen tickende Geräusche, wenn sie sich bei Temperaturwechseln ausdehnen oder zusammenziehen. Immer wenn er versucht hat, ein bisschen zu dösen, hallten Worte wie ein Sonar in seinem Kopf. Sanitäter. Holt einen verdammten Sanitäter ... Boing boing boing. Ärgert dich aber dein rechtes Auge, so reiß es aus und wirf's von dir ... Ein Strudel von Bildern, die über die Wände kriechen. Blut und Knorpel auf den Warmhalteplatten der Kantine, brutzelnd zwischen den Waffeln.
Die Sanitäter sind schnell gekommen, aber Moses' Auge konnten sie nicht retten. Zwei Wochen später kam er mit einem Glasauge und einer veränderten, kleinlauten Haltung zurück in die Klinik. Die Leute gingen ihm aus dem Weg, und zwar auf Zehen spitzen. Die Patienten tuschelten über das, was Moses an diesem Morgen gesehen hatte - es hatte ihn offenbar dazu gebracht, sich mit dem Löffel das Auge aus der Höhle zu stechen. Und was war mit der Schrift an seinen Wänden? Es blieb bei dem Getuschel, bis Pauline, die wieder in den Rehabilitationszyklus einsteigen durfte und sukzessive auf ihre Entlassung hinarbeitete, eines Tages während ihres »unbeaufsichtigten Geländefreigangs « verschwand. Die Polizei wurde hinzugezogen, Suchtrupps kamen und gingen, eine Untersuchung wurde eingeleitet. Zur großen Verlegenheit des Kuratoriums wurde der verweste Leichnam erst mehrere Monate später unter einem Laubhaufen in einer entlegenen Ecke des Geländes entdeckt, unmittelbar außerhalb des Suchperimeters. Die Verwesung war so weit fortgeschritten, dass die Todesursache bei der Obduktion nicht mehr festgestellt werden konnte. Kuratorium, Polizei, Patho loge und Rechtsmediziner einigten sich auf den Befund »Todesursache unbekannt«.
Danach breitete sich das Getuschel noch schneller aus. Hysterie griff um sich wie ein Lauffeuer, und alle redeten über »Maude« und die Spukerscheinungen. Bis dahin stabile Patienten gerieten in einen kritischen Zustand, Schreie hallten über die Stationen, Ruhigstellungsteams rannten durch die Korridore. Die Hälfte der Patienten auf der Entlassungsvorbereitungsstation wurde wieder auf die Akutstation verfrachtet, den Übrigen wurden die gemeinsamen Freizeitstunden, Urlaubstage und Privilegien gestrichen. Es kam zu Personalmangel und langen, verwickelten Besprechungen zwischen den verschiedenen Abteilungen, es gab neue Dienstanweisungen und allgemeines Chaos.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2014 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Es ist still da draußen. Bewegt sich kaum - doch genug, um den Lichtfleck zu verschieben. Monster Mother kann jetzt etwas atmen hören. Sie möchte weinen, aber das darf sie nicht. Vorsichtig und geräuschlos schiebt sie die zitternde Hand unter das rote Negligé und fährt mit den Fingerspitzen über die Haut zwischen den Brüsten. Sie tastet nach dem Gegenstand, den sie braucht. Als sie ihn findet, zieht sie daran. Der Schmerz ist stärker als alles, woran sie sich erinnern kann. Sich den eigenen Arm abzuschneiden, täte nicht so weh - oder ein Kind zu gebären (was sie mehrmals getan hat). Doch sie macht weiter und zieht den Reißverschluss herunter, vom Brustbein bis zum Schambein. Mit nassem Schmatzen springen die Bauchmuskeln aus der Haut.
Sie packt die Ränder der Öffnung, windet sich weinend, zerrt sie auseinander. Die Haut löst sich von Rippen und Brüsten und schält sich über die Schultern herunter, reißt, blutet, aber sie macht weiter, bis sie von ihren Hüften hängt wie tropfendes Wachs. Sie atmet ein paarmal tief durch und zieht sie sich von den Beinen.
Die Haut sammelt sich wie eine Pfütze um ihre Füße. Eine Gummihülle, aus der die Luft entwichen ist.
Monster Mother sammelt sich. Sie richtet sich auf - unerschütterlich und tapfer -, und ihre entblößten Muskeln glitzern im Licht der hellen Außenleuchten. Sie wendet sich zur Tür, stolz und trotzig.
»Maude« wird sie jetzt niemals finden.
Browns Brasserie, Triangle, Bristol
Das Restaurant war früher die Mensa der Universität - und noch immer geht es hier laut zu, und der Laden ist stark bevölkert. Hohe Decken, eine hallende Akustik. Aber heutzutage sitzen die Studenten nicht mehr da und essen, sondern sie tragen schwarze Schürzen, laufen mit Tellern in den Händen im Slalom um die Tische herum und murmeln sich gegenseitig Bestellungen und Tischnummern zu. Arbeiten ihre Darlehen ab. Eine Neonschrift - »Low Cal Cocktails« - blinkt über der Bar aus poliertem Beton, und die Akkorde eines Gotye-Songs driften aus den Lautsprechern, die hoch oben unter den Deckenträgern hängen.
Die meisten Gäste haben sich dieses Lokal als Treffpunkt ausgesucht; die Rechnung am Ende liegt deutlich oberhalb dessen, was Laufkundschaft bezahlt. Leute, die allein an ihrem Tisch sitzen, sind befangen - manche halten einen Kindle über ihre Borschtsch-Suppe, andere nippen an ihrem Weinglas oder schauen beiläufig auf die Uhr, als warteten sie auf Dates oder Freunde. Aus britischer Höflichkeit starrt niemand sie an; man nimmt sie gar nicht zur Kenntnis.
Nur ein Gast zieht die Blicke seiner Nachbarn auf sich. An den Tischen in seiner Umgebung haben die Leute ihre Sitzpositionen sogar leicht verändert - als sei sein Anblick bedrohlich oder aufregend. Ein dunkelhaariger Mann, Anfang vierzig, der gegen zahllose unausgesprochene Regeln verstößt. Nicht nur durch seine Kleidung - eine schwarze Windjacke über einem Straßenanzug, ohne Krawatte, mit offenem Hemdkragen -, sondern auch durch sein Verhalten.
Er isst wie jemand, der hierhergekommen ist, weil er Hunger hat, nicht, weil er gesehen werden will. Er nimmt keine Pose ein und schaut auch nicht interessiert im Lokal herum, sondern beißt in seinen Hamburger, den Blick auf keinen besonderen Punkt gerichtet. Das ist ein grobes Fehlverhalten an einem Ort wie diesem, und es verschafft den anderen so etwas wie Genugtuung, als es zu der peinlichen Szene kommt. Bei sich denken sie, es ist genau das, was einem wie ihm passieren muss.
Es ist halb neun, und eine Gruppe von zwanzig Gästen ist hereingekommen. Sie haben reserviert, und man hat ihnen Tische im hinteren Teil zusammengeschoben, wo sie die übrigen Leute nicht stören werden. Vielleicht feiern sie eine Verlobungsparty; ein paar Frauen tragen Cocktailkleider, und zwei Männer sind im Anzug. Die Frau am Ende der Gruppe - sie ist blond, Ende fünfzig, sonnengebräunt und trägt eine Jeans mit Steppnähten und ein Hollister-Hoodie - scheint auf den ersten Blick dazuzugehören. Erst als alle sich setzen und sie es nicht tut, wird klar, dass sie nur hinter ihnen hergegangen ist, aber nicht zu ihnen gehört.
Ihre Bewegungen sind unsicher. Ein tief ausgeschnittenes T-Shirt unter dem Hoodie stellt ihre Brüste zur Schau. Auf dem Weg durch das Restaurant stößt sie gegen einen Kellner. Sie bleibt stehen, um sich zu entschuldigen, doch das »sorry« geht ihr nur schwer über die Zunge. Beim Reden legt sie die Hände an die Brust des jungen Mannes und lächelt vertraulich. Er wirft einen hilflosen Blick zur Bar und weiß nicht recht, was er tun soll - aber bevor er Einwände machen kann, ist sie schon weitergegangen. Sie prallt wie eine Flipperkugel von Tisch zu Tisch und hat ihr Ziel fest im Blick.
Den Mann in der North-Face-Jacke.
Er blickt von seinem halb verzehrten Hamburger auf. Sieht sie. Und als wüsste er, dass sie Ärger machen wird, lässt er langsam Messer und Gabel sinken. Die Gespräche an den Nachbartischen geraten ins Stocken und ersterben. Der Mann greift zu seiner Serviette und wischt sich den Mund ab.
»Hallo, Jacqui.« Er legt die Serviette säuberlich auf den Tisch. »Wie schön, Sie zu sehen.«
»Fuck you.« Sie legt die Hände auf den Tisch und stiert ihn herausfordernd an. »Fuck you von hier bis übermorgen, du Drecksack.«
Er nickt, als wolle er bestätigen, dass er tatsächlich ein Drecksack sei. Aber er sagt nichts, und das macht die Frau nur noch wütender. Sie schlägt mit beiden Händen auf den Tisch, sodass alles in die Höhe springt. Eine Gabel und eine Serviette fallen auf den Boden.
»Sieh mal einer an! Der Kerl sitzt da und isst einfach. Isst und lässt es sich gut gehen. Scheiße, Sie sind wirklich das Allerletzte, was?«
»Hallo?« Der Kellner berührt ihren Arm. »Madam? Könnten Sie vielleicht versuchen, dieses Gespräch etwas leiser zu führen? Sonst ...«
»Verpiss dich.« Sie schlägt seine Hand beiseite. »Aber sofort. Du hast doch keine Ahnung, wovon du redest.« Sie schwankt zur Seite und greift nach dem erstbesten Glas, das sie sieht. Es steht auf dem Nachbartisch, ein volles Glas Rotwein. Der Gast, der es bestellt hatte, versucht vergebens, es festzuhalten. Sie schwenkt es herüber und schleudert den Wein auf den Mann in der Windjacke. Der Wein hat sein eigenes Leben, und er scheint den Weg überallhin zu finden. Er landet auf seinem Gesicht, auf seinem Hemd, auf dem Teller und auf dem Tisch. Andere Gäste springen erschrocken auf, nur der Mann bleibt sitzen. Absolut kühl.
»Fuck, wo ist sie?«, kreischt die Frau. »Wo ist sie? Scheiße, Sie sagen mir jetzt, was Sie in der Sache unternehmen, oder ich bringe Sie um ... fuck, ich bringe Sie ...«
Zwei Sicherheitsleute sind erschienen. Ein großer Schwarzer in einem grünen T-Shirt und mit einem Headset hat das Kommando. Er legt ihr eine Hand auf den Arm. »Schätzchen«, sagt er, »das bringt Sie nicht weiter. Lassen Sie uns irgendwo hingehen und ein bisschen plaudern.«
»Ihr glaubt, ich bin zum Plaudern hier?« Sie stößt seinen Arm weg. »O ja. Ich werde plaudern. Ich werde euch so lange was plaudern, bis ihr tot umfallt. Ich plaudere, bis ihr kotzt.«
Der große Mann nickt beinahe unmerklich, und sein Kollege packt ihre Arme und drückt sie an ihren Körper. Sie sträubt sich und schreit weiter aus voller Lunge, als sie durch das Restaurant zurück zur Tür geschoben wird. »Er weiß, wo sie ist.« Sie richtet ihre Wut gegen den Sicherheitschef, den das einen Scheißdreck interessiert. »Es ist ihm egal. Es ist ihm EGAL. Das ist das Problem. Fuck, es ist ihm einfach ...«
Die Männer schieben sie zur Tür hinaus. Sie schließen die Tür und bleiben davor stehen, den Blick nach außen gewandt, die Arme verschränkt. Sie wälzt sich auf dem Pflaster. Der Mann in der Windjacke steht nicht auf und schaut auch nicht zur Tür. Wenn jemand ihn fragen wollte, wie er so kühl bleiben kann, würde er die Schultern zucken. Vielleicht liegt es in seiner Natur, vielleicht hat es mit seinem Job zu tun. Er ist schließlich Polizist, und da hilft so etwas. Er ist ziviler Ermittler in der Major Crime Investigation Unit, dem Dezernat für Schwerverbrechen bei der Bristol Police. Detective Inspector Jack Caffery, 42. Er hat schon Schlimmeres erlebt und ertragen. Viel Schlimmeres.
Stumm schüttelt er eine Serviette aus und fängt an, sich den Rotwein von Gesicht und Hals zu tupfen.
Büro der Pflegedienstleitung, Psychiatrische Hochsicherheitsklinik Beechway, Bristol
Gegen elf erwacht AJ LeGrande, der Pflegedienstleiter der psychiatrischen Klinik Beechway, jählings aus einem Alptraum. Sein Herz pocht, und er braucht eine ganze Weile, um sich zu orientieren und zu erkennen, dass er vollbekleidet und mit den Füßen auf dem Schreibtisch in seinem Bürosessel sitzt. Die Berichte, die er gelesen hat, liegen verstreut auf dem Boden.
Er reibt sich voller Unbehagen die Brust. Blinzelt ein paarmal und richtet sich auf. Es ist dunkel im Zimmer; nur unter der Tür schimmert ein wenig Licht. Auf seiner Netzhaut tanzt der verschwommene Nachglanz einer kleinen Gestalt, die auf ihm hockt, rittlings auf seiner Brust, das glatte Gesicht dicht vor seinem. Die verkürzten Arme ruhen zart auf seinen Schlüsselbeinen. AJ streicht mit der Zunge im Mund herum und lässt den Blick durch das Büro wandern. Er stellt sich vor, wie das Ding durch die geschlossene Tür entkommt. Sich durch den Spalt untendurch windet und auf den Korridor gleitet, von dort weiter zu den Stationen läuft.
Seine Kehle fühlt sich eng an. Er ist es nicht gewohnt, den Hemdkragen bis oben hin zuzuknöpfen - er ist erst seit einem Monat Pflegedienstleiter, und an den Anzug muss er sich noch gewöhnen. Gleiches gilt für die Ansteckkrawatten, die er zu seiner eigenen Sicherheit tragen muss. Anscheinend kriegt er den Bogen niemals raus. Sie sitzen nie richtig, fühlen sich nie richtig an. Er nimmt die Füße vom Tisch, stellt sie auf den Boden und zieht die Krawatte herunter. Das eingeschnürte Gefühl in seiner Lunge lässt ein wenig nach. Er steht auf und geht zur Tür. Als seine Finger auf dem Türgriff liegen, zögert er. Wenn er die Tür öffnet, wird er eine kleine Gestalt im Kittel sehen, wie sie durch den leeren Korridor davonwieselt.
Drei tiefe Atemzüge. Dann öffnet er die Tür. Späht durch den Korridor, nach links, nach rechts. Da ist nichts. Nur das Übliche, an das er sich im Laufe der Jahre gewöhnt hat: der grün geflieste Fußboden, das Schild mit der Aufschrift »Feueralarm-Sammelstelle « und darunter der Grundriss der Station, der gepolsterte Handlauf an der Wand. Kein wehender Kittel auf der Flucht, der um die nächste Ecke verschwindet.
Er lehnt sich für einen Moment an den Türrahmen und bemüht sich, einen klaren Kopf zu bekommen. Zwerge auf seiner Brust? Kleine Gestalten in Nachthemden? Das leise Trippeln kleiner Füße? Und das Wort, an das er nicht einmal denken möchte: »Maude«.
Herrgott. Er schlägt sich mit dem Fingerknöchel an den Kopf.
Das kommt davon, wenn man Doppelschichten arbeitet und mit einer zu engen Krawatte einschläft. Wirklich, das ist verrückt. Er ist hier der Leiter. Wie kommt es da, dass er jetzt die zweite Schicht für eine Nachtschwester übernommen hat? Unglaublich, denn der Nachtdienst war immer begehrt, weil man Gelegenheit hatte, verpasste Fernsehsendungen oder Schlaf nachzuholen. Aber nach dem, was letzte Woche auf der Station Löwenzahn passiert ist, hat sich das geändert. Plötzlich haben alle, die für den Nachtdienst eingeteilt waren, sich verdrückt wie Ratten, die ein sinkendes Schiff verlassen, und sich unter allen möglichen Vorwänden krankgemeldet. Niemand will die Nacht in der Klinik verbringen - als wäre hier etwas Unirdisches aufgetaucht.
Und jetzt hat es sogar ihn erwischt. Sogar er halluziniert. Keinesfalls möchte er jetzt in sein Büro zurückkehren und diesen Traum noch einmal erleben. Er schließt die Tür und nimmt durch eine Sicherheitsschleuse Kurs auf die Station. Vielleicht holt er sich einen Kaffee, spricht mit ein paar Schwestern, findet ein bisschen Normalität wieder. Die Leuchtstofflampen flackern, als er unter ihnen hindurchgeht. Draußen vor den großen Fenstern des Hauptkorridors heult der Sturm. In den letzten Jahren ist der Herbst so merkwürdig geworden: zu Anfang so warm und Mitte Oktober dann so windig. Die Bäume im Hof biegen sich und schwanken, und Blätter und Zweige wirbeln durch die Luft, aber seltsamerweise ist der Himmel klar, und der Mond ist groß und hell.
Der Verwaltungsblock drüben liegt im Dunkeln, und die beiden Stationen, die er von hier aus sehen kann, sind kaum beleuchtet. Nur im Schwesternzimmer brennt Licht und auf den Fluren die Nachtbeleuchtung. Beechway war ursprünglich ein viktorianisches Armenhaus, das im Laufe der Jahre unterschiedlichen Zwecken diente; zunächst war es ein Gemeindekrankenhaus, dann ein Waisenhaus und schließlich eine Irrenanstalt. In den 1980ern wurde es schließlich zur »Hochsicheren geschlossenen psychiatrischen Klinik« erklärt und mit Patienten belegt, die eine extrem hohe Gefahr für sich und andere darstellen. Mörder, Vergewaltiger, zum Selbstmord Entschlossene - sie sind alle hier. AJ ist schon seit Jahren in diesem Beruf, und es wird niemals einfacher oder entspannter. Schon gar nicht, wenn ein Patient auf der Station stirbt. Plötzlich und vorzeitig wie Zelda Lornton letzte Woche.
Er geht weiter, und an jeder Ecke des Korridors rechnet er damit, einen Blick auf die kleine Gestalt zu erhaschen, die krummbeinig vor ihm durch die Dunkelheit watschelt. Aber er sieht niemanden. Auf Station Löwenzahn ist es still, das Licht ist gedämpft. Er macht sich einen Kaffee in der Personalküche und geht damit auf die Station, wo ein oder zwei Pfleger schläfrig vor dem Fernseher sitzen. »Hey, AJ«, sagen sie träge und heben die Hand. »Gibt's 'n? Alles okay?«
Er überlegt, ob er ein Gespräch anfangen soll - sie vielleicht fragen, warum sich die Kollegen alle krankmelden, obwohl man nichts weiter tun muss, als hier vor dem Fernseher zu sitzen -, aber sie schauen so konzentriert auf den Bildschirm, dass er sich die Mühe spart. Stattdessen bleibt er hinten stehen und trinkt seinen Kaffee, während im Fernsehen die Men in Black Aliens erschießen. Will Smith sieht megagut aus, und Tommy Lee Jones ist megabrummig. Dem Schurken fehlt ein Arm, und in seiner gesunden Hand wohnt etwas, das halb wie ein Krebs, halb wie ein Skorpion aussieht. Bravo. Genau das, was man hier braucht.
Der Kaffee hat seine Wirkung getan. AJ ist jetzt wach. Er sollte nun wieder in sein Büro zurückgehen und sehen, ob er es schafft, den langweiligsten Bericht der Welt zu Ende zu lesen. Aber der Alptraum klingt immer noch nach, und er braucht Ablenkung.
»Ich übernehme die Mitternachtsrunde«, teilt er den Pflegern mit. »Lassen Sie sich von mir nicht in Ihrem Schönheitsschlaf stören.«
Müde Witzeleien hallen hinter ihm her. Er spült in der Küche seinen Becher aus, zieht seinen Schlüsselbund aus der Tasche, geht lautlos den Korridor hinunter und öffnet mit seiner Magnetkarte den Eingang zum Schlafbereich.
Seit seiner Beförderung zum Pflegedienstleiter gehört es zu seinen Aufgaben, an Organisationssitzungen teilzunehmen, Referate zu halten und Mitarbeiter auszubilden. Den ganzen Nachmittag hat er auf dem Strafrechtsforum verbracht, einer Tagung mit Kommunalpolitikern und Polizisten - und das ist, wie er allmählich begreift, sein Los im Leben. Meetings und Akten. Und Anzüge, in die er sich jeden Tag zwingen muss. Nicht einen Moment lang hat er geglaubt, dass ihm der Pflegedienst fehlen könnte, doch jetzt merkt er, dass ihm tatsächlich etwas abgeht: dieser nächtliche Rundgang. Es war immer irgendwie befriedigend zu wissen, dass alle schliefen. Dass alles in Ordnung war. Diese Art von Befriedigung findet man nicht in einem Stapel Berichte.
Im unteren Korridor ist es still bis auf das gedämpfte Schnarchen, das aus einigen Zimmern kommt. Er öffnet eine oder zwei Sichtscheiben und schaut in die Zimmer, aber das Einzige, was sich dort rührt, sind die schwankenden Schatten der rauschenden Bäume auf den dünnen Vorhängen. Mondlicht fällt auf die schlafenden Gestalten der Patienten.
Auf der nächsten Etage ist es anders. Das spürt er, als er oben auf dem Treppenabsatz ankommt. Jemand fühlt sich nicht wohl. Es ist kaum mehr als ein Empfinden - ein Unbehagen, das auf jahrelange Erfahrung zurückgeht. Ein Vibrieren in der Wand.
Hier ist Zelda letzte Woche gestorben. Ihr Zimmer ist das erste auf der rechten Seite, und die Tür steht offen. Ein Warnschild der Hausmeisterei steht in der Öffnung. Das Bett ist ab gezogen, die Vorhänge sind offen. Das Mondlicht flutet hell und blau ins Zimmer. Eine Farbwanne mit einer Malerwalze lehnt an der Wand. Morgens und abends, wenn die Patienten in den Tagesbereich und zurück auf ihre Zimmer geführt werden, muss man sie dazu ermuntern, an dem Zimmer vorbeizugehen, ohne hineinzuschauen, und sie weinen und zittern. Selbst AJ fällt es schwer, daran zu denken, was diesen Monat hier passiert ist.
Vor ungefähr drei Wochen hat es angefangen. Es war zehn Uhr abends, und AJ machte Überstunden und arbeitete ein paar Personalunterlagen durch. Er saß deshalb noch im Büro, als der Strom ausfiel und das Licht ausging. Er und der diensthabende Haustechniker suchten nach Taschenlampen, und bald darauf hatten sie die Ursache des Problems gefunden: Ein Trockner im Wäscheraum hatte einen Kurzschluss. Die meisten Patienten merkten gar nichts davon; viele schliefen, und diejenigen, die wach waren, nahmen kaum Notiz. Innerhalb von vierzig Minuten brannte das Licht wieder, und alles war wie immer. Nur Zelda nicht. Sie war in ihrem Zimmer am oberen Korridor auf der Station Löwenzahn, und die Schreie, die sie ausstieß, als das Licht wieder anging, waren so schrill, dass AJ im ersten Moment glaubte, durch das Einschalten des Stroms sei ein Alarm ausgelöst worden.
Die Mitarbeiter der Nachtschicht waren so sehr an Zeldas Geschrei und Gejammer gewöhnt, dass sie nicht gleich zu ihr hinaufliefen. Sie hatten inzwischen gelernt, dass es einfacher war, mit ihr fertigzuwerden, wenn man ihr Zeit ließ, sich auszutoben. Aber diese Entscheidung erwies sich als Fehler. Als AJ schließlich zusammen mit einem Pfleger oben ankam, um nach ihr zu sehen, stellten sie fest, dass sie nicht die Ersten waren. Die Zimmertür stand offen, und die Klinikdirektorin, Melanie Arrow, saß auf dem Bett und hielt Zeldas Hände umfasst, als wären es zerbrechliche Eier. Zelda war im Nachthemd und hatte ein Handtuch um die Schultern gelegt. Ihre Arme waren blutüberströmt, und sie weinte. Zitterte, bebte.
AJ war bestürzt. Sie hätten sehr viel schneller reagiert, wenn sie gewusst hätten, dass so etwas passiert war. Zumal wenn sie gewusst hätten, dass die Direktorin im Gebäude war und die Sache miterlebte. Ihr Gesichtsausdruck ließ keinen Zweifel daran, dass sie über diese Situation nicht glücklich war. Überhaupt nicht.
»Wo sind Sie gewesen?« Ihre Stimme klang beherrscht. »Warum war niemand auf der Station? Steht das nicht in der Dienstvorschrift? Dass auf jeder Station jemand zu sein hat?«
Der Oberarzt wurde aus dem Bereitschaftsdienst gerufen, und man brachte Zelda ins Untersuchungszimmer neben AJs Büro. AJ hatte sie noch nie so kleinlaut gesehen, so ehrlich erschüttert. Beide Arme bluteten an den Innenseiten, und als man die Wunden untersuchte, stellte man fest, dass sie mit einem Kugelschreiber zerschnitten worden waren. Die Innenseiten ihrer Arme waren von oben bis unten mit Schriftzeichen bedeckt. Melanie Arrow und der Oberarzt steckten die Köpfe zusammen und berieten sich im grellen Licht der Leuchtstofflampen, und AJ lehnte mit verschränkten Armen an der Wand und trat beklommen von einem Fuß auf den anderen. Der Oberarzt hatte noch vor zwanzig Minuten geschlafen und gähnte ständig. Er hatte die falsche Brille mitgebracht und musste sie sich zwei Handbreit vor die Augen halten, um Zeldas Arme zu untersuchen.
»Zelda?«, fragte Melanie. »Haben Sie sich verletzt?«
»Nein. Ich habe mich nicht verletzt.«
»Aber jemand hat es getan. Oder?« Melanie ließ den Satz in der Schwebe und wartete auf eine Antwort. »Zelda?«
Sie rutschte voller Unbehagen hin und her und rieb sich die Brust, als sei sie zu eng. »Jemand hat mich verletzt. Oder etwas.«
»Wie bitte? Etwas?«
Zelda fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und schaute in die Runde der besorgten Gesichter. Sie war rot im Gesicht - ein Spinnennetz von Adern zog sich über ihre Wangen -, aber ihre sonst so kämpferische Haltung war dahin. Völlig weg. Sie war ratlos.
»Hundert Milligramm Acuphase«, murmelte der Arzt. »Und Beobachtungsstufe eins bis morgen früh - in doppelter Besetzung, bitte. Vielleicht können wir morgen auf Stufe zwei heruntergehen. «
Jetzt schiebt AJ den Kopf durch die Tür und sieht sich im Zimmer um, und er fragt sich, was hier wirklich passiert ist. Was hat Zelda in der Nacht wirklich gesehen? Hat etwas auf ihrer Brust gesessen? Etwas Kleines, Entschlossenes? Das dann unter der Tür hindurch davongehuscht ist?
Ein Geräusch. Er hebt den Kopf. Es kommt aus dem letzten Zimmer auf der rechten Seite. Monster Mother. Er geht hin, klopft leise an die Tür und lauscht.
Monster Mother - oder Gabriella Jackson, wie sie mit richtigem Namen heißt - ist eine von AJs Lieblingspatienten. Die meiste Zeit ist sie eine sanftmütige Seele. Und wenn sie nicht sanftmütig ist, lässt sie es meistens an sich selbst aus. Sie hat Schnittwunden an Waden und Schenkeln, die nie mehr ganz verheilen werden, und ihr linker Unterarm fehlt. Den hat sie sich eines Nachts mit einem elektrischen Tranchiermesser abgeschnitten. Sie hat ganz ruhig in der Küche ihrer noblen Villa gestanden und das Gemüseschneidebrett benutzt, um den Arm darauf zu legen. Sie wollte ihrem begriffsstutzigen Ehemann beweisen, wie ernst, wie furchtbar ernst es ihr damit war, dass er keine neue Affäre eingehen sollte.
Der abgeschnittene Arm ist der Hauptgrund dafür, dass Monster Mother in Beechway ist - er und ein paar andere »Macken« in ihrer Wahrnehmung der Wirklichkeit. Zum Beispiel ihre Überzeugung, sie habe alle anderen Patienten geboren. Sie seien allesamt Monster und hätten abscheuliche Taten begangen, weil sie ihrem vergifteten Schoß entsprungen seien. Den Namen »Monster Mother« hat sie sich selbst gegeben, und wenn man lange genug mit ihr redet, wird man einen detaillierten Bericht über die Geburt eines jeden Patienten der Klinik bekommen - wie lang und beschwerlich die Wehen waren und wie sie auf den ersten Blick hat sehen können, dass das Baby böse war.
Die zweite Macke ist ihre Überzeugung, sie könne ihre Haut abziehen. Und wenn sie es tut, ist sie unsichtbar.
AJ klopft noch einmal. »Gabriella?«
Die Dienstvorschrift verlangt, dass der Patient immer mit seinem richtigen Namen angeredet wird, ganz gleich, welche Fantasien er zu seiner Identität entwickelt.
»Gabriella?«
Nichts.
Leise öffnet er die Tür und schaut ins Zimmer. Sie liegt im Bett, zugedeckt bis zum Hals, und starrt ihn an. Ihre Augen sind groß wie Untertassen. AJ weiß, was das bedeutet: Sie »versteckt sich«. Ihre »Haut« ist irgendwo anders im Zimmer, wo sie die Aufmerksamkeit von ihr ablenkt. Er reagiert nicht auf diesen Wahn; zwar darf er behutsame Zweifel zum Ausdruck bringen, muss aber jeden direkten Widerspruch vermeiden. (Dienstvorschrift.)
Ohne Blickkontakt herzustellen, tritt er ein, setzt sich hin und wartet. Schweigen. Nicht mal ein Murmeln. Aber AJ kennt Monster Mother, und er weiß, sie kann nicht ewig still sein.
Und richtig, schließlich setzt sie sich auf und flüstert: »AJ. Ich bin hier.«
Er nickt langsam, sieht sie aber immer noch nicht direkt an. »Alles okay?«
»Nein. Machen Sie die Tür zu?«
Bei den meisten Patienten im Haus würde er die Tür hinter sich nicht schließen, aber Monster Mother kennt er seit Jahren, und er ist jetzt Pflegedienstleiter und hat Verantwortung. Also steht er auf und drückt die Tür zu. Sie rutscht in ihrem Bett nach oben. Siebenundfünfzig ist sie, aber ihre Haut ist faltenlos und weiß wie eine Eierschale, und ihr Haar ist eine rote Explosion. Sie hat außergewöhnliche Augen - ein strahlendes Blau mit dunklen Wimpern. Es sieht aus, als brauchte sie Stunden, um Wimperntusche aufzulegen. Sie gibt ihr ganzes Taschengeld für Kleidung aus, und ihre Sachen würden eher zu einer Sechsjährigen auf einer Märchenparty passen: nichts als schwebender Tüll in allen Farben des Regenbogens, Ballettröcke, Rosen im Haar.
Die Farbe, für die sie sich entscheidet, verrät, wie sie die Welt an diesem Tag sieht. An guten Tagen sind es Pastelltöne: Pink, Babyblau, Schlüsselblumengelb, Flieder. An schlechten Tagen sind es dunkle Grundfarben: Weinrot, Tiefblau, Schwarz. Heute hängt ein rotes Spitzennegligé über dem Fußende, und das vermittelt AJ eine Ahnung von ihrer Stimmung. Rot bedeutet Gefahr. Es verrät ihm auch, dass ihre Haut über dem Fußende hängt. Sein Blick schweift ungefähr in die Mitte zwischen dem Negligé und ihrem Gesicht. Irgendwo auf die Wand über ihrem Bett. Neutrales Terrain.
»Was ist denn, Gabriella? Was bedrückt Sie?«
»Ich musste sie abnehmen. Es ist nicht sicher hier.«
AJ widersteht dem Drang, die Augen zu verdrehen. Monster Mother ist lieb und sanft und, jawohl, verrückt, aber meistens lustig verrückt, nicht aggressiv verrückt. Er lässt sich Zeit mit der Antwort, und wieder vermeidet er es, ihrem Wahn zu widersprechen oder sie darin zu bestätigen. »Gabriella - haben Sie heute Abend Ihre Medikamente genommen? Sie haben sie doch genommen, oder? Sie wissen, ich kann die Leute von der Medikamentenausgabe fragen, ob sie es gesehen haben. Und wenn sie es nicht gesehen haben ... na, ich muss doch nicht das Zimmer durchsuchen, oder?«
»Ich habe sie genommen, AJ. Wirklich. Ich kann nur nicht schlafen.«
»Wann ist Ihr Depot zu Ende? Ich habe nicht nachgesehen, aber ich glaube, es ist noch lange nicht aufgebraucht.«
»Noch zehn Tage. Ich bin nicht verrückt, Mr AJ. Wirklich nicht.«
»Natürlich nicht.«
»Aber es ist wieder da, AJ - es ist auf dem Korridor. Es läuft schon die ganze Nacht herum.«
AJ schließt die Augen und atmet langsam. Was hat er erwartet, als er hier heraufgekommen ist? Hat er wirklich gedacht, es werde seinen Alptraum vertreiben? Hat er fröhliches Gelächter erwartet, Leute, die Witze erzählen, um ihn abzulenken?
»Hören Sie zu, Gabriella. Darüber haben wir doch schon gesprochen. Erinnern Sie sich an all die Gespräche, die wir auf der Akutstation geführt haben?«
»Ja. Ich habe alle diese Gespräche in einem Kasten in meinem Kopf eingeschlossen, wie die Ärzte es mir gesagt haben.«
»Wir haben vereinbart, dass Sie nicht wieder davon anfangen. Wissen Sie das noch?«
»Aber, AJ, es ist wieder da. Es ist zurückgekommen. Es hat Zelda erwischt.«
»Wissen Sie nicht mehr, was Sie auf der Überwachungsstation gesagt haben? Ich erinnere mich noch: ›Es existiert nicht. Es ist alles erfunden - wie im Kino.‹ Erinnern Sie sich?«
Sie nickt, aber die Angst in ihren Augen geht nicht weg.
»Das ist gut, Gabriella. Und Sie haben nicht mit den andern darüber gesprochen, oder?«
»Nein.«
»Gut - das ist gut. Sie haben es richtig gemacht. Sie behalten es für sich. Ich weiß, das können Sie. Ich weiß, dass Sie es schaffen. Morgen früh haben wir Ihre Pflegeplanbesprechung. Ich werde es dem Oberarzt gegenüber erwähnen; mal sehen, was er sagt. Und ich setze Sie auf Beobachtungsstufe vier, nur für heute Nacht, okay? Ich sehe dann selbst nach Ihnen. Aber, Gabriella ...?«
»Ja?«
»Sie müssen dieses ... dieses Ding vergessen, meine Liebe. Wirklich.«
Sicher
Für die Monster Mother ist es komisch, dass AJ nicht sehen kann, was hier vorgeht. Er kann nicht mal das Wort aussprechen: »Maude«. AJ ist freundlich, und er ist gescheit, aber er hat das Extra-Auge nicht, und er sieht nicht, was in diesem Haus wirklich vorgeht. Er glaubt ihr nicht, dass »Maude« da draußen ist. Und noch jemandem wehtun will.
AJ sieht nicht, welchen Aufwand Monster Mother getrieben hat, nur um sicher zu sein. Wenn er es sähe, würde er vielleicht begreifen, wie ernst es ist. Aber er kann ihre entblößten Muskeln und Sehnen nicht sehen. Er sieht das Weiß des Schädels nicht und auch nicht das Glitzern der beiden Augäpfel ohne Lider. Er ist blind für das, was hier geschieht. »Gute Nacht«, sagt er. »Ich werde nach Ihnen sehen - versprochen.«
Sie zieht die Decke wieder über sich. Raschelnd scharrt sie über ihre blanken Nerven und hautlosen Muskeln. Der rohe Schädel sinkt auf das Kissen, und sie versucht, mit den Wangenmuskeln zu lächeln. »AJ?«
»Ja?«
»Bitte seien Sie vorsichtig.«
»Natürlich.«
Er wartet noch einen Augenblick, als ob er nachdächte, und dann geht er hinaus und schließt die Tür. In der Klinik ist es still. Sie kann die Augen nicht schließen, denn sie hat keine Lider. Aber wenigstens ist sie sicher vor »Maude«. Wenn es hereinkommt, wird es geradewegs zu ihrer Haut auf dem Bettpfosten gehen.
Niemand wird heute Nacht auf Monster Mothers Brust hocken.
Browns Brasserie, Triangle
Jeder im Restaurant, das weiß Detective Inspector Caffery, wartet nur darauf, dass er irgendeine Reaktion auf die Weinattacke der Frau zeigt. Er spürt die allgemeine Enttäuschung, als er sich nicht so leicht provozieren lässt.
Er nimmt sich Zeit für seinen Hamburger und lässt sich nicht drängen oder hetzen. Während er kaut, wandert sein Blick ab und zu beiläufig zur Tür und zu den Rücken der beiden Rausschmeißer, die breitbeinig und mit verschränkten Armen vor der Glastür stehen. Dahinter torkelt die Frau, die inzwischen wieder auf die Beine gekommen ist, auf dem Gehweg herum und beschimpft die beiden Türsteher.
Caffery hat einen endlos langweiligen Nachmittag auf einem Strafjustizforum verbracht und über die Zusammenarbeit zwischen Polizeigewahrsam und psychiatrischen Aufnahmestationen diskutiert. Er hat die Nase voll davon, über Dinge zu labern, die ihn nicht interessieren, und mit Leuten zu reden, die er nicht mag. Immerhin hat diese Frau - sie heißt Jacqui Kitson - es geschafft, diesen langweiligen Tag doch noch interessant zu machen.
Interessant. Nicht angenehm. Er hat halb damit gerechnet, und zwar schon lange.
Sie hat aufgehört, auf die Türsteher einzureden, und sitzt jetzt auf dem Bordstein. Sie hat den Kopf in die Hände gelegt und weint. Als Caffery schließlich seine Rechnung bezahlt hat, haben die beiden Wachleute die Tür wieder freigegeben und die Gäste hereingelassen, die draußen gewartet haben. Sie werfen vorsichtige Blicke auf die Frau, als sie sich hineinzwängen, und treten nur kurz beiseite, um Caffery nach draußen zu lassen.
Er schiebt seine Brieftasche unter die Jacke. Vierzig Pfund hat er bezahlen müssen. Ganz schön happig für ein einsames Mahl, aber er hat in letzter Zeit kaum etwas, wofür er sein Geld ausgeben kann. Er ist ständig auf der Suche nach einem Hobby, das ihn von der Arbeit ablenken könnte, doch es ist gar nicht so leicht, etwas zu finden. Alleine essen zu gehen, das weiß er, ist jedenfalls nicht die Lösung. Vielleicht, wenn es jemanden gäbe, der ihn begleitete? Es gibt da eine Frau, die er gern fragen würde, aber davor türmt sich ein Berg von Komplikationen. Und was Jacqui Kitson nicht weiß - zwischen ihr und diesen Komplikationen besteht ein enger Zusammenhang.
»Jacqui«, sagt er und bleibt bei ihr stehen. »Sie wollen reden.«
Sie dreht den Kopf und betrachtet seine Schuhe. Dann hebt sie das Gesicht - halb blind. Ihre Augen sind ganz verquollen, die Wimperntusche hat schwarze Streifen auf ihren Wangen hinterlassen. Ihr Kopf sitzt wacklig auf dem Hals. Sie hat sich in die Gosse erbrochen, ihre Handtasche liegt halb auf der Straße, quer über der doppelten gelben Linie. Sie sieht völlig fertig aus.
Er setzt sich neben sie. »Jetzt bin ich hier. Sie können mich anschreien.«
»Will nicht schreien«, murmelt sie. »Will sie nur wiederhaben.«
»Ich weiß - das wollen wir alle. Wir alle wollen sie wiederhaben. « Er klopft seine Taschen ab und zieht eins der silberschwarzen Röhrchen heraus, die er seit Monaten mit sich herumschleppt. E-Zigaretten. Er hat versucht, seine alte, schlechte Gewohnheit loszuwerden, und nach jahrelangem Druck von Staat und Freunden ist es ihm endlich gelungen: Stattdessen benutzt er jetzt diesen stählernen Ersatz. Klickend steckt er den Verdampfer in das Akku-Gehäuse. Die technischen Mätzchen der E-Zigarette sind ihm immer noch ein bisschen peinlich, und wenn er neben sich säße und zusähe, wäre die Versuchung groß, eine ätzende Bemerkung zu machen. Die Blicke von Autofahrern und Passanten streifen kurz über das Paar, das da auf dem Randstein sitzt. Eine pinkfarbene Hummer-Stretch-Limo gleitet im Schritttempo vorbei. Angeheftete L-Schilder weisen auf einen Führerscheinneuling hin. Die schwarz getönten Fenster sind offen. Eine Frau mit einem pinkfarbenen Cowboyhut lehnt sich heraus und winkt Caffery zu.
»Liebe ich dich«, schreit sie, als der Hummer vorbeizieht. »Wirklich!!!!«
Caffery saugt den Nikotindampf ein, hält ihn in der Lunge und bläst ihn dann in dünnem Strahl wieder aus. »Jacqui, Sie sind weit weg von zu Hause. Wie sind Sie hergekommen - allein?«
»Ich bin doch jetzt immer allein, oder? Fuck, ich bin immer allein.«
»Und wie kriege ich Sie dann nach Hause? Sind Sie mit dem Auto da?«
»Ja.«
»Den ganzen Weg von Essex hierher?«
»Was sind Sie doch für ein gottverdammter Idiot! Ich wohne heute Nacht hier ... in einem Hotel. Mein Auto ist ...« Sie wedelt unbestimmt über die Straße bergab. »Keine Ahnung.«
»Sie sind doch nicht in dem Zustand gefahren, oder?«
Sie starrt benebelt auf die E-Zigarette. »Kann ich auch eine haben?«
»Das ist keine richtige.«
»Geben Sie mir eine aus meiner ...« Mit schmalen Augen sucht sie nach ihrer Handtasche. Dann schlägt sie mit beiden Händen auf den Boden und tastet panisch umher.
»Hier.« Caffery hebt die Tasche von der Straße auf und reicht sie ihr. Sie hält inne, runzelt vorwurfsvoll die Stirn und reißt die Tasche an sich, als sei er dabei gewesen, sie zu stehlen. Sie fängt an, darin herumzuwühlen, aber immer wenn sie den Kopf senkt, bringt der Alkohol sie aus dem Gleichgewicht, und sie muss den Kopf zurücklegen und tief durchatmen.
»Oh«, sagt sie, »alles dreht sich. Ich bin besoffen, was?«
»Machen Sie die Tasche zu, Jacqui. Sie verlieren sonst Ihr ganzes Zeug. Kommen Sie.« Er steht auf. Hält ihr eine Hand entgegen. »Ich fahre Sie zu Ihrem Hotel.«
Das alte Armenhaus
Das Herz von Beechway sind die Überreste des Armenhauses - umfassend neugestaltet, befreit von all den Dingen, die an den ursprünglichen Zweck des Gebäudes erinnern. Der alte Wasserturm - eine übliche Sicherheitseinrichtung, die verhindern sollte, dass eine Anstalt von den Insassen in Brand gesetzt wurde - wurde umgebaut und bekam eine große Uhr, die als Rechtfertigung für seine Existenz dienen sollte. Der Grundriss der Stationen, der von oben betrachtet absichtlich oder zufällig einem Kreuz entsprach, wurde als zu religiös empfunden, und so kam ein heller Kopf im Kuratorium auf die Idee, das Kreuz in ein vierblättriges Kleeblatt zu verwandeln. Viel organischer.
Die Arme des Kreuzes wurden zur Seite hin zur Form eines Kleeblatts verlängert, und Beechway bekam die Gestalt, die es heute hat. Jedes »Blatt« ist eine zweigeschossige Station mit Patientenzimmern. Auf der einen Seite liegen verglaste Gemeinschaftsräume, auf der anderen die Dienst- und Therapiezimmer. Die Fenster sind groß und glatt, die Ecken gerundet. Der »Stiel«, ein gläserner Korridor, führt von den Stationen im Kleeblatt durch einen zentralen Garten, den »Hof«, zu dem langgestreckten, gewölbten Block mit den Verwaltungsbüros. Alles - jede Station, jeder Korridor, jedes Zimmer, jedes Bad - trägt den Namen einer Blume.
Es ist eindeutig organisch.
Als er Monster Mother verlassen hat, geht AJ langsam in jedes Blatt, kontrolliert jede Station, jeden Korridor - Butterblume, Myrte, Glockenblume - und vergewissert sich, dass die anderen Patienten nicht gestört worden sind. Die meisten schlafen tief oder sind kurz davor, fest in den Klauen ihrer Medikamente. Bei manchen bleibt er stehen, um leise mit ihnen zu sprechen. Monster Mother und ihre Haut erwähnt er nirgends.
Er kommt am Fernsehzimmer vorbei, wo die Pfleger immer noch über Men in Black lachen, und geht durch den Stiel und weiter in den Verwaltungstrakt und zurück zu seinem Büro. Er will eben die Tür öffnen, als er zwanzig Meter weiter hinten im Korridor einen der Wachmänner sieht. Es ist der riesenhafte Jamaikaner, den sie wegen seiner schwerfälligen Körpermassen nur Big Lurch nennen. Er steht mit den Händen in den Taschen da und ist in einen gerahmten Druck an der Wand vertieft. Etwas in seinem Gesicht veranlasst AJ, stehen zu bleiben. Big Lurch wirft einen Blick zur Seite, sieht ihn und lächelt. »Hey, AJ.«
»Hey.«
»Die Fraggles schlafen?«
Big Lurch meint die Patienten. Niemand würde den Ausdruck vor einem Kuratoriumsmitglied benutzen, aber die Mitarbeiter nennen die Patienten Fraggles, nach der alten Puppenserie aus dem Fernsehen. »O ja, sie schlafen. Der Zauber ist immer da, solange wir danach suchen.« Er geht den Korridor hinunter. »Was machst du da?«
»Ach, keine Ahnung.« Ein bisschen verlegen deutet Big Lurch auf den Druck an der Wand. »Seh mir das gerade an. Hab mir anscheinend nie die Mühe gemacht.«
AJ macht schmale Augen und betrachtet das gerahmte Bild. Es ist ein Aquarell aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, und es zeigt das Armenhaus, als es neu war. Solche Drucke hängen hier überall und zeigen die Hochsicherheitsklinik Beechway in verschiedenen Inkarnationen. Auf Kupferstichen sieht man sie als Armenhaus, gerahmte Zeitungsartikel bilden die Ernennung eines neuen Direktors in den fünfziger Jahren ab, und es gibt sogar ein Gemälde, das die Klinik nach dem Umbau mit ihrer Rundumverglasung zeigt. Er fühlt sich in das Bild hineingezogen und sieht die einzelnen noch wiedererkennbaren Teile des Gebäudes - Teile, die mehr als hundertfünfzig Jahre überstanden haben. Hier ist der Hof, da der Turm, dort die Achse des Kreuzes, das jetzt das Kernstück des Kleeblatts bildet.
»Bei Unwetter ist mir hier nie so recht wohl«, sagt Big Lurch plötzlich. »Dann muss ich an die Schwachstellen denken.«
»Schwachstellen?«
Er nickt. »Die Stellen, die diese Architekten in den Achtzigern nicht richtig durchdacht haben.«
AJ schaut Big Lurch von der Seite an. Was er sieht, ist die Angst, der Ausdruck des Unbehagens, der ihm in den letzten paar Tagen in der Klinik so vertraut geworden ist. Nicht zu glauben, einfach nicht zu glauben. Er hat längst begriffen, dass er nicht allzu freundschaftlich mit den Mitarbeitern umgehen darf, aber bei Big Lurch macht er eine Ausnahme. Er mag diesen Kerl.
Er hat schon etwas getrunken mit ihm - hat seine Frau und die beiden kleinen Töchter kennengelernt -, und in der ganzen Zeit hat er nie das Gefühl gehabt, der Mann sei leicht zu beeinflussen.
»Hör auf, Kollege. Ich habe genug Probleme mit den Patienten, ohne dass das verdammte Sicherheitspersonal jetzt zu Heulsusen wird.«
Big Lurch lächelt schief und legt einen Finger an die Stirn, als wolle er seine Verlegenheit verbergen. Er will eben eine schlagfertige Antwort geben, als das Licht flackert. Beide Männer legen den Kopf in den Nacken und schauen zur Decke. Das Licht flackert noch einmal. Dann beruhigt es sich, und der Korridor sieht normal wie immer aus. AJ mustert Big Lurch mit schmalen Augen. Vor einer Woche hat es einen Stromausfall gegeben, und noch einer wäre das Letzte, was sie gebrauchen können. Die Patienten würden durch die Decke gehen.
»Duu duu duu duu, duu duu duu duu.« Er singt die Titelmusik von Twilight Zone und wackelt mit Gespensterfingern vor Big Lurchs Gesicht herum. »Komm, Scooby, wir verstecken uns unter dem Sofa.«
Der Wachmann grinst betreten und schiebt AJs Hände weg. »Siehst du, deshalb reden Männer nicht gern über Gefühle. Wegen Wichsern wie dir.«
AJ seufzt. Mit einem Lachen kann er das hier nicht abtun. Big Lurch macht wirklich, wirklich keine Witze.
»Ist es dir nicht aufgefallen, AJ? Dass alle sich krankmelden?«
»Doch. Zufällig ist es mir aufgefallen. Man arbeitet eine Doppelschicht, um Leute zu vertreten, und das prägt sich irgendwie ein.«
»Ja. Und weißt du, was sie sagen?«
»Wir müssen darüber jetzt nicht reden.«
Big Lurch tritt voller Unbehagen von einem Bein auf das andere. Streicht sich mit dem Zeigefinger unter dem Kragen entlang. »Einer von ihnen ist vorgestern Nacht kurz eingenickt. Auf Station Löwenzahn. Er sagt, er hat etwas in seinem Zimmer gesehen, als er aufwachte.«
AJ lacht. Zu laut. Das Lachen hallt durch den Korridor und kommt als Echo zurück. »Ach komm, das war ein Angina-Pectoris- Anfall. Sie haben ihn zum Arzt gebracht, und der hat es bestätigt.« Er schüttelt den Kopf. »Dieses ... diese ganze ... Sache ... das ist einfach ...«
»AJ, du weißt, wovon ich rede. Ich habe Mühe, irgendeinen der Jungs dazu zu bringen, die Nachtschicht zu übernehmen. Wenn ich sie dafür einplane, weiß ich schon, dass sie anrufen und sagen, sie sind krank oder haben eine Autopanne oder so was.«
AJ schiebt die Hände in die Taschen und schaut auf seine Füße. Er weiß, wo das hinführt. Zu einer Massenhysterie nämlich. Nach jahrelangem Schweigen zum Thema Geister und Spuk sind die Geschichten und Gerüchte plötzlich alle wieder da. Leute melden sich krank, Monster Mother gerät in Panik, Big Lurch ist schwer nervös. Und sogar er selbst, AJ, hat sich davon anstecken lassen. Träumt von diesem verdammten Ding.
Er schaut im Korridor hin und her. Alles ist still und leer. Das einzige Licht kommt von der Sicherheitsbeleuchtung in Knie- höhe, und das einzige Geräusch ist das Ticken und Rascheln von Zweigen und Blättern an den Fenstern. Der Augenblick ist gekommen. Er wird es amtlich machen und gleich morgen früh mit der Klinikdirektorin sprechen müssen. Die Sache muss im Keim erstickt werden, bevor die ganze Klinik den Bach hinuntergeht.
Hotel du Vin, Sugar House, Bristol
Während der Fahrt wird klar, dass Jacqui Kitson ihn schon den ganzen Tag verfolgt hat. Sie schwankt hin und her zwischen betrunkenem Flirten und unflätigem, wütendem Weinen.
»Sie sind so beschissen fit«, erklärt sie und zieht erbost an ihrer Zigarette. »Ich würde Ihnen eine abgeben, wenn ich Sie nicht so sehr hassen würde. Sie hässlicher Scheißkerl.«
Soweit er sie verstanden hat, hat sie ihr Auto in der Nähe seines Büros in St. Philips abgestellt und ist ihm seitdem zu Fuß gefolgt. Morgen hat sie ein Interview bei einer überregionalen Zeitung, die ihr das Hotel bezahlt, und wahrscheinlich hat sie es so geplant, dass sie gleichzeitig Caffery überfallen konnte. Sie hat am Mittag angefangen zu trinken.
Da Jacqui Kitson ist, wer sie ist, hat sie sich für das Hotel du Vin entschieden, denn hier steigen gelegentlich Prominente ab, und es hat einen gewissen luxuriösen Glamour. Das Personal lächelt gequält, als sie hereinkommt, zerzaust und nach Erbrochenem riechend. Jemand mit der Haltung eines Security-Beauftragten, aber mit roten Flecken auf Hemd und Kragen, führt sie durch die Lobby.
Sie hat eine Suite unter dem Dach: Eine der vier Wände ist mit einem sich wiederholenden Muster in Bronze und Schwarz tapeziert, davor tiefe, bequeme Ledersessel und überall die lackierten gusseisernen Säulen, die noch aus der Zeit stammen, als das Gebäude ein Zuckerspeicher war. Von hier aus hat man einen Blick über das Stadtzentrum, und in Augenhöhe ragt die Baptistenkirche St. John, die nachts angestrahlt wird, in den Himmel.
Jacqui holt sich sofort einen Wodka-Orange aus der Minibar. Sie geht ins Bad, und Caffery kippt den Drink aus dem Fenster und füllt das Glas mit Orangensaft. Er stellt es auf den Nachttisch und bleibt am offenen Fenster stehen. Es ist eiskalt draußen, und er hört das klingende Gelächter der Gäste in den Bars unten an der Straße, das in Wellen zu ihm heraufweht.
Er ist seit mehr als drei Jahren in diesem Teil des Landes, und allmählich kennt er Bristol genauso gut wie South London, wo er aufgewachsen ist. Er kennt die Bars und die Verbrechen, die in der Stadt begangen worden sind - er kann all die vergangenen Kneipenschlägereien und Morde im Kopf rückwärts abspulen. Die Barfrau in einem Lokal, nur ein paar hundert Meter von hier, vor acht Jahren erstochen von einem Gast, der gewartet hat, bis der Laden leer war und er mit seinem Opfer allein sein konnte. Eine Prügelei ein paar Meter weiter unten an der Straße, die damit geendet hat, dass einem Achtzehnjährigen das Gesicht zerschnitten wurde. Gleich daneben ein Imbiss, der eines Tages vor neunzehn Monaten dichtgemacht wurde, weil dort nicht nur Kebab, sondern auch Crack und Ketamin verkauft wurden.
Es ist Cafferys Aufgabe, die Geheimnisse aufzuspüren, die sich hinter den Fassaden verbergen. Sein Dezernat - MCIT, das Major Crime Investigation Team - ist zuständig für Mord- und andere komplizierte Fälle. Die Fälle, die höchste Aufmerksamkeit erfordern. Wie der, über den Jacqui so wütend ist.
Die Toilettenspülung rauscht, und sie kommt wieder heraus. Sie ignoriert das Glas und wirft sich bäuchlings auf das Bett.
»Alles okay?«
Sie nickt ins Kopfkissen. »Ich habe eine Schlaftablette genommen. «
»Ist das eine gute Idee?«
»Ist die einzige Idee.«
Caffery sieht auf die Uhr. Er wird also bei ihr warten und aufpassen müssen, dass sie sich nicht übergibt und erstickt. Oder ins Koma fällt. Er sieht sich um. Da steht ein weiches braunes Sofa mit goldenen Kissen, auf dem er es sich bequem machen kann. Er zieht die Tagesdecke über Jacqui und geht ins Bad. Steckt den Stöpsel in den Abfluss im Waschbecken und dreht die Wasserhähne auf. Während das Becken vollläuft, durchstöbert er die Medikamentenschachteln, die sie ringsum verstreut hat. Da ist nichts Verschreibungspflichtiges dabei, nur freiverkäufliche Mittel: Tabletten gegen zu viel Magensäure, Paracetamol, etwas zur Gewichtsabnahme. Und eine Schachtel Schlaftabletten. Nytol. Er macht sie auf. Eine der Blasen in der Durchdrückpackung ist leer. Er wirft einen Blick in den Mülleimer und sieht keine leere Tablettenschachtel. Sie hat also nicht überdosiert.
Er durchwühlt die Designer-Toilettenartikel und findet ein Duschgel, das er ins Waschbecken spritzt, bis er Schaum machen kann. Dann zieht er sein Hemd aus und wirft es ins Wasser. Er reibt es mit Seife ein und schrubbt den vom Wein durchtränkten Kragen. Schließlich spült er es aus und hängt es über den großen Duschkopf.
Er geht zurück ins Zimmer und trocknet sich die Hände an seinem Handtuch ab. Jacqui liegt noch so, wie er sie verlassen hat: auf dem Bauch, die Arme weit ausgebreitet, den Kopf zur Seite gedreht. Er bleibt bei ihr stehen und legt den Kopf schräg, wartet und lauscht. Sie hat die Augen geschlossen und schnarcht leise.
Er setzt sich in einen der tiefen Ledersessel und lässt den Blick durch den Raum wandern. Es gibt einen Fernseher, aber damit würde er sie wecken. Ein paar Illustrierte. Er blättert darin, doch sie geben nichts her. Ein Artikel über ein Designerhotel am Stadtrand von Bristol findet kurz seine Aufmerksamkeit, weil er um die Mittagszeit in ebendiesem Hotel war - als Teilnehmer bei dem mörderisch langweiligen Strafrechtsforum. Er erkennt die kupfernen Waschbecken unter den Deckenstrahlern auf der Herrentoilette wieder, die langgedehnte, aus Beton gegossene Rezeptionstheke. Er hat ein paar Minuten mit einer hübschen, sehr professionellen Frau an dieser Theke gestanden - einer Blonden in einer hohen Position bei irgendeiner lokalen Gesundheitseinrichtung - und gefachsimpelt, und die ganze Zeit über hat sein primitives Gehirn unbestimmte, theoretische Spekulationen darüber angestellt, ob er sie ins Bett kriegen könnte oder nicht. Sie war das einzig Interessante bei der ganzen Veranstaltung. Den Rest kann man wirklich vergessen.
Er versucht noch ein wenig zu lesen, kann sich allerdings nicht konzentrieren. Er lässt die Zeitschrift fallen und sieht sich noch einmal im Zimmer um. Ein dicker, handgebundener Blumenstrauß steht in einem Eiskübel auf dem Tisch mit den Getränken. Caffery steht auf, geht hin und liest, was auf der Karte in dem Strauß steht. Die Blumen sind von der Zeitung, der Jacqui morgen ein Interview geben soll. Misty, ihre Tochter, ein fünfundzwanzigjähriges Model, ist vor anderthalb Jahren aus einer Entzugsklinik an der Grenze nach Wiltshire hinausspaziert. Sie war drogensüchtig und hatte Beziehungsprobleme mit ihrem Boyfriend, einem Fußballspieler, aber nichts davon erklärte, warum man sie nie wiedergesehen hat. Man hat in alle Richtungen gesucht, immer wieder - doch die Polizei tappt weiterhin im Dunklen. Eben war sie noch da, und am nächsten Tag war sie weg. Jedes Jahr verschwinden Tausende Personen, und wenn es sich um normale, erwachsene, vernünftige Menschen handelt, verwendet die Polizei bestürzend wenig Zeit auf die Suche nach ihnen. Aber Misty war so etwas wie eine Prominente, sie war jung und hübsch. Die Medien haben das Interesse noch lange wachgehalten, als die Polizei längst aufgegeben hätte. Jacqui Kitsons Gesicht erscheint regelmäßig in der Boulevardpresse - auf Bildern, die sie dort zeigen, wo Misty zuletzt gesehen wurde: Sie steht auf der breiten, weißen Freitreppe der Klinik und starrt nachdenklich hinauf zu dem Gebäude, in dem ihre Tochter ihre letzten Tage verbracht hat. Sie posiert mit einem Foto von Misty in der Hand und einem Taschentuch, das sie sich ans Gesicht hält. Sie beschimpft die Polizei auf jede nur erdenkliche Art und Weise, wirft ihr Inkompetenz vor.
Jedes Wort von ihr ist ein Messer zwischen Cafferys Rippen. Er ist als leitender Ermittler für die Suche nach Misty verantwortlich. Der Fall verfolgt ihn seit einer Ewigkeit und wandert zwischen MCIT und der Revisionsabteilung hin und her, und Mistys Name hat mittlerweile ein Loch in seinen Schädel gebrannt. Aber das ist längst noch nicht die ganze Wahrheit: Seit über einem Jahr verkleistert er das Problem, passt auf wie ein Schießhund und tut so, als arbeite er an der Aufklärung des Falls, während er das Dezernat gleichzeitig von dem ablenkt, was er in Wirklichkeit über Mistys Verschwinden weiß - denn das ist mehr, viel mehr, als irgendein Cop wissen dürfte. Es ist ein riesengroßes Geheimnis, das er da bewahrt, und er kann nichts ändern.
Behutsam schiebt er die Karte wieder zwischen die bunten Blumen. Kann nicht? Oder will nicht? Oder ist er nur noch nicht ganz bereit? Eine Sache muss er noch hinter sich bringen, und davor drückt er sich seit Monaten.
»Ich weiß es«, sagt Jacqui plötzlich vom Bett her. »Ich weiß es wirklich.«
Caffery hat gedacht, sie schlafe. Er steht auf und geht langsam hinüber. Sie öffnet die Augen nicht, aber sie nickt und zeigt damit, dass sie ihn zur Kenntnis nimmt. Sie hat sich nicht bewegt. Ihre Augen sind geschlossen, die Stimme klingt gedämpft.
»Ich weiß es.«
»Was, Jacqui? Was wissen Sie?«
»Ich weiß, dass sie tot ist.«
Dass Misty noch leben könnte, ist für die Polizisten, die den Fall bearbeiten, keine realistische Annahme mehr - schon seit vielen Monaten nicht. Caffery ist ein wenig erschüttert, als ihm klar wird, dass es Jacqui Zeit und Anstrengung gekostet hat, zu demselben Schluss zu kommen.
»Und ich kann damit zurechtkommen«, fährt sie fort. Ihre Augen sind immer noch geschlossen, und nur ihr Mund bewegt sich. »Ich komme damit zurecht, dass sie tot ist. Ich brauche nur eins.«
»Nämlich?«
»Ich muss sie zurückbekommen. Sie wissen nicht, wie es ist, wenn man keinen Leichnam hat, den man begraben kann. Das ist alles, was ich will.«
»Maude«
Der Legende nach ist »Maude« der Geist einer Oberin aus den 1860er Jahren. Von Geburt an kleinwüchsig, war sie durch blanke Entschlossenheit und Zielstrebigkeit zu einer leitenden Position im Armenhaus aufgestiegen. Und sie missbrauchte diese Stellung. Es heißt, wenn Kinder ungezogen waren, setzte Schwester Maude sich auf ihre Brust und löffelte ihnen »Medizin « in den Mund, bis sie fast erstickten. Oder sie zwang die Kinder, Bibeltexte abzuschreiben - Zeile um Zeile, bis ihre Finger bluteten. Manche Versionen des Mythos behaupten, Schwester Maude habe etwas unter ihren Gewändern gehabt, das sie niemandem gezeigt habe: Sie sei in Wirklichkeit gar keine Schwester gewesen, sondern ein männlicher Zwerg, verkleidet als Frau.
Vor viereinhalb Jahren, kurz bevor AJ hier angefangen hat, hatte eine anorektische Patientin namens Pauline Scott sich eingeredet, nachts komme etwas zu ihr ins Zimmer. Sie behauptete, es setze sich auf ihre Brust und versuche sie zu ersticken, und sie zeigte den Ärzten ihre blutverschmierten Schenkel. Die Worte Sei keine von denen, die begehen ruchlose Taten waren tief ins Bein eingeritzt. In Paulines Papierkorb fand man zwei auseinandergebogene, blutige Büroklammern - aber sie bestritt, etwas darüber zu wissen. Niemand konnte Pauline besonders gut leiden, und so fand man die eingeritzte Schrift an ihren Beinen passend. Sie kam zurück auf die Akutstation und wurde dort drei Wochen lang beobachtet.
Als AJ kurz danach seine Stellung antrat, sprachen die Kollegen von nichts anderem. Nachts wurde im Dienstzimmer geflüstert und gescherzt, und die Leute versteckten sich in dunklen Türen und erschreckten einander. Manche glaubten auch daran - eine Aushilfsschwester, die in der Nachtschicht arbeitete, schwor, sie habe kratzende Fingernägel an einer Fensterscheibe gehört, und weigerte sich, je wieder einen Fuß in die Klinik zu setzen. Eine etwas überspannte Sozialarbeiterin behauptete, sie habe aus dem Fenster geschaut und einen Zwerg in einem weißen viktorianischen Gewand auf dem Rasen hocken sehen. Der Zwerg habe nichts getan, nur das Haus beobachtet. Sein Gesicht war glatt und hell im Mondlicht.
AJ gehörte zu denen, die es ganz unterhaltsam fanden. Es war eine Ablenkung. Dann stattete »Maude« der Anstalt noch einmal einen Besuch ab. Und diesmal verging allen das Lachen.
Moses Jackson war ein Langzeitpatient - ein grauhaariger, unscheinbarer Mann mit dürren Gliedmaßen und einer unangenehmen Persönlichkeit. Ein richtig fieser kleiner Scheißer mit allem, was dazugehört. Bösartig, hinterhältig, rüpelhaft. Die weiblichen Mitarbeiter nannte er »Ritzen«, und dauernd zog er seine Hose herunter, um ihnen seinen Penis zu zeigen. Sie durften nicht mit ihm allein sein, was seine Versorgung kompliziert und noch zeitraubender machte. Wenn man ihm gegenüber etwas davon erwähnte, schrie er natürlich sofort »Rassismus!« und verlangte, dass die Vorstandsmitglieder des Kuratoriums kamen und ihm erklärten, was sie dagegen zu tun gedächten.
Damals war AJ noch Pfleger. Er war am Morgen zur Frühschicht erschienen, und im Haus hatte Chaos geherrscht: Schwestern rannten von Station zu Station, rafften Unterlagen an sich, griffen nach Telefonen. Handwerker mit Werkzeugkästen schlichen ein und aus, und ein unirdisches Geschrei kam aus der Station Butterblume. Die zuständigen Ruhigstellungspfleger waren auf einer anderen Station, und als AJ den Lärm nicht mehr ertragen konnte, beschloss er, selbst hinzugehen und sich darum zu kümmern. Moses stand mitten in seinem Zimmer, hatte die Arme um sich geschlungen und starrte weinend die Wand an. Jeder Zollbreit war mit rotem Filzstift bekritzelt. Hunderte und Aberhunderte von Wörtern - an den Wänden, den Fußleisten, sogar an der Decke.
AJ hatte vor Beechway schon in verschiedenen Einrichtungen gearbeitet und die schlimmsten und verrücktesten Dinge gesehen, aber das hier war mehr als bizarr. Einen Moment lang stand er stumm da und bestaunte das schiere Ausmaß des Schadens.
»Moses.« Er schüttelte den Kopf. Halb wollte er lachen, halb weinen. »Moses, Alter, warum haben Sie das gemacht?«
»Das war ich nicht.«
»Haben die Ärzte Ihre Medikamente geändert?« AJ musterte Moses aufmerksam. Er konnte sich nicht erinnern, dass in der Pflegeakte ein Vermerk gestanden hatte. Normalerweise bekam das Pflegepersonal klare Anweisungen, wenn sich etwas änderte, vor allem bei den Medikamenten. »Haben Sie gestern was anderes bekommen? Gestern Abend?«
»Ich war das nicht!«
»Okay«, sagte AJ geduldig. Es roch im Zimmer kaum merklich nach etwas wie verbranntem Fisch, und er öffnete einen der Lüftungsschlitze am Fenster. Sein Blick fiel auf die Genitalien des alten Knaben, die vor seinen dürren grau behaarten Beinen baumelten. »Wie wär's, wenn Sie Ihre Hose wieder anziehen, Alter? Die Ärzte werden Sie untersuchen müssen - und da wollen Sie doch nicht, dass Ihr ganzer Männerladen da heraushängt.«
»Die hab ich gar nicht ausgezogen.«
»Na, wie wär's, wenn Sie sie einfach trotzdem wieder anziehen? « Er reichte ihm die Schlafanzughose. »Hier, bitte.«
Während Moses sich anzog, wanderte AJ mit schräggelegtem Kopf im Zimmer umher und las die Worte an den Wänden.
Wer ein Weib ansieht, ihrer zu begehren, der hat schon mit ihr die Ehe gebrochen in seinem Herzen.
Und anderswo stand: Ärgert dich aber dein rechtes Auge, so reiß es aus und wirf es von dir.
Die Zeilen wurden ein paar Dutzend Mal wiederholt. Man würde sie abschrubben oder übermalen müssen.
»Moses«, sagte AJ geduldig, ohne die Aufmerksamkeit auf die Schrift zu lenken, »wollen wir frühstücken gehen?« Aus langer Erfahrung als Pfleger in der Psychiatrie wusste er, dass nichts so wirkungsvoll war wie die Rede vom Essen, wenn es darum ging, das Thema zu wechseln oder einen Patienten abzulenken. »Heute gibt's Waffeln mit Sirup.«
Moses ging bereitwillig mit in den Speisesaal, obwohl er aussah wie jemand, der sich immer weiter von der Realität entfernte. Es war, als arbeiteten die Medikamente, die er normalerweise fast ohne Nebenwirkungen vertrug, plötzlich gegen ihn. Seine Hose hatte einen nassen Fleck, und Speichelfäden hingen wie schwere Perlenschnüre an seinem Mund. Die anderen Patienten machten einen weiten Bogen um ihn. In sich zurückgezogen, stand er still in der Schlange, presste eine Faust auf das rechte Auge und rieb es wie verrückt.
Isaac Handel, ein knirpshafter Langzeitpatient mit einer Topffrisur, war der Erste, der bemerkte, dass die Sache ernst wurde.
»Hey«, sagte er zu einer der Schwestern, »schauen Sie mal, schauen Sie.«
Die Schwestern schauten hin. Moses hatte sich aus der Schlange gelöst und stand mit dem Rücken zum Raum, leicht vorgebeugt. Es sah aus, als kämpfe er mit seinem Gesicht. AJ begriff nicht gleich, was da vor sich ging. Statt sofort zu reagieren, bahnte er sich in Schlangenlinien umständlich seinen Weg durch den Speisesaal und lächelte dabei halb. Eher neugierig als beunruhigt, wollte er sehen, was Moses da tat.
»Moses, mein Freund? Alles in Ordnung?«
»Ein Löffel«, sagte Handel. »Er hat einen Löffel.«
Die Patienten auf den Entlassungsstationen durften Löffel haben. Man hatte darin noch nie eine Gefahr oder Bedrohung gesehen. AJ näherte sich Moses von hinten. Er wollte ihm eben beruhigend die Hand auf den Rücken legen, als er sah, dass etwas vom Kiefer des Mannes baumelte. Genauer gesagt, es baumelte nicht, es tropfte. Es war Blut, und es floss in einem so gleichmäßigen Strom, dass er es für eine herabhängende Schnur gehalten hatte.
»Ruhigstellung!«, schrie er und riss automatisch den Ring an seinem Panikalarm heraus. »Ruhigstellung, in den Speisesaal! Sanitäter! « Drei andere Pfleger kamen angerannt und versuchten, Moses zu packen und auf den Boden zu drücken. Aber er hatte die Kraft von zehn Männern. Er riss sich von AJ los und mühte sich weiter mit dem, was immer er da mit seinem Gesicht tat.
»Ich hab den Kopf!«, schrie einer der Pfleger. »Linker Arm, linkes Bein!«, schrie ein anderer. »SCHAFFT ALLE HIER RAUS!«, schrie AJ.
Weitere Mitarbeiter kamen im Laufschritt herein, und überall im Gebäude gellten die Panikalarme. Von Moses' Gesicht kam ein seltsam scharfes, ploppendes Geräusch - kompakt und klar inmitten des chaotischen Lärms ringsum. Als AJ später seinen Bericht schrieb, musste er sich überlegen, wie er dieses Geräusch am besten beschreiben sollte, und er fand, es habe geklungen wie das Reißen einer Sehne und das fettige Schmatzen einer weißen Gelenkkapsel beim Auseinanderbrechen einer gegrillten Hühnerkeule (seit dem Tag isst er kein Hühnchen mehr). Aber natürlich kam das Geräusch nicht von einer Hühnerkeule. Eine Art Kugel, wie ein Ei mit blutigem Eiweiß, rutschte an feuchten Fäden auf Moses' Wange herunter. Der Löffel landete klappernd auf dem Boden. Moses fiel auf die Knie und kippte dann halb ohnmächtig auf die linke Hand.
»Sanitäter!«, brüllte AJ. »Holt doch schon einen verdammten Sanitäter! Sanitäter, Sanitäter, Sanitäter ...!«
Durchschnittlich
Die Nachtschicht scheint kein Ende zu nehmen. AJ hat versucht, zu arbeiten wie immer; er hat seine Berichte fertiggestellt, noch ein paar Rundgänge über die Stationen gemacht und drei Mal zu Monster Mother hineingeschaut, und jede einzelne Minute war ihm zuwider. Vor allem das Alleinsein in seinem Büro. Es ist überheizt, und die Fenster machen tickende Geräusche, wenn sie sich bei Temperaturwechseln ausdehnen oder zusammenziehen. Immer wenn er versucht hat, ein bisschen zu dösen, hallten Worte wie ein Sonar in seinem Kopf. Sanitäter. Holt einen verdammten Sanitäter ... Boing boing boing. Ärgert dich aber dein rechtes Auge, so reiß es aus und wirf's von dir ... Ein Strudel von Bildern, die über die Wände kriechen. Blut und Knorpel auf den Warmhalteplatten der Kantine, brutzelnd zwischen den Waffeln.
Die Sanitäter sind schnell gekommen, aber Moses' Auge konnten sie nicht retten. Zwei Wochen später kam er mit einem Glasauge und einer veränderten, kleinlauten Haltung zurück in die Klinik. Die Leute gingen ihm aus dem Weg, und zwar auf Zehen spitzen. Die Patienten tuschelten über das, was Moses an diesem Morgen gesehen hatte - es hatte ihn offenbar dazu gebracht, sich mit dem Löffel das Auge aus der Höhle zu stechen. Und was war mit der Schrift an seinen Wänden? Es blieb bei dem Getuschel, bis Pauline, die wieder in den Rehabilitationszyklus einsteigen durfte und sukzessive auf ihre Entlassung hinarbeitete, eines Tages während ihres »unbeaufsichtigten Geländefreigangs « verschwand. Die Polizei wurde hinzugezogen, Suchtrupps kamen und gingen, eine Untersuchung wurde eingeleitet. Zur großen Verlegenheit des Kuratoriums wurde der verweste Leichnam erst mehrere Monate später unter einem Laubhaufen in einer entlegenen Ecke des Geländes entdeckt, unmittelbar außerhalb des Suchperimeters. Die Verwesung war so weit fortgeschritten, dass die Todesursache bei der Obduktion nicht mehr festgestellt werden konnte. Kuratorium, Polizei, Patho loge und Rechtsmediziner einigten sich auf den Befund »Todesursache unbekannt«.
Danach breitete sich das Getuschel noch schneller aus. Hysterie griff um sich wie ein Lauffeuer, und alle redeten über »Maude« und die Spukerscheinungen. Bis dahin stabile Patienten gerieten in einen kritischen Zustand, Schreie hallten über die Stationen, Ruhigstellungsteams rannten durch die Korridore. Die Hälfte der Patienten auf der Entlassungsvorbereitungsstation wurde wieder auf die Akutstation verfrachtet, den Übrigen wurden die gemeinsamen Freizeitstunden, Urlaubstage und Privilegien gestrichen. Es kam zu Personalmangel und langen, verwickelten Besprechungen zwischen den verschiedenen Abteilungen, es gab neue Dienstanweisungen und allgemeines Chaos.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2014 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Autoren-Porträt von Mo Hayder
Mo Hayder, 1962 in Essex geboren, verließ mit fünfzehn ihr Zuhause, um in London das Abenteuer zu suchen. Sie hat später viele Jahre im Ausland verbracht, unter anderem auch in Tokio, wo sie eine Zeit lang in einem Nachtclub arbeitete und für eine englische Zeitung schrieb. Sie studierte Filmwissenschaften an der American University in Washington D.C. und später Creative Writing an der Bath Spa University. Die Autorin lebt heute mit ihrem Lebensgefährten und ihrer Tochter in der Nähe von Bath.
Bibliographische Angaben
- Autor: Mo Hayder
- 2014, 416 Seiten, Maße: 13,7 x 21,5 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Übersetzung: Schmidt, Rainer
- Übersetzer: Rainer Schmidt
- Verlag: Goldmann
- ISBN-10: 3442313066
- ISBN-13: 9783442313068
- Erscheinungsdatum: 17.02.2014
Rezension zu „Inspector Jack Caffery Band 6: Die Puppe “
"Großes Kino!" Bücher
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