Der Schlitzer
Als Inspektor Damen Brook nach Derby zieht, glaubt er, die schlimmen Zeiten endlich hinter sich lassen zu können: die Jahre mit seiner Exfrau, seiner rebellischen Tochter Tara, dem Alkoholproblem. Vor allem aber die ungelöste Mordserie, die London...
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Produktinformationen zu „Der Schlitzer “
Als Inspektor Damen Brook nach Derby zieht, glaubt er, die schlimmen Zeiten endlich hinter sich lassen zu können: die Jahre mit seiner Exfrau, seiner rebellischen Tochter Tara, dem Alkoholproblem. Vor allem aber die ungelöste Mordserie, die London seit langem in Angst und Schrecken versetzt. Dann wird Brook eines Winterabends an den Schauplatz eines grauenhaften Verbrechens gerufen. Und er weiß sofort: Der Schlitzer ist ihm gefolgt.
Lese-Probe zu „Der Schlitzer “
Der Schlitzer von Steven DunneAus dem Englischen von Edith Beleites
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Prolog
Statt zu fliehen, blieb die Katze reglos sitzen und blinzelte durch die Nebelschwaden in die Richtung, aus der die Schritte kamen. Das sichere Versteck zu verlassen konnte ein tödlicher Fehler sein. Ein Fehler, den ihre Beute immer wieder beging. Sie brauchte bloß darauf zu warten. Plötzlich erschien eine Figur aus der Dunkelheit, als hätte die Erde sie ausgespuckt. Ein Jugendlicher. Er war groß und wirkte kompakt, aber als ihm ein kalter Windstoß die weite, tief im Schritt hängende Hose um die Beine schlottern ließ, sah man, wie dünn er in Wirklichkeit war. Er schlurfte mit seinen Nike-Turnschuhen über den Asphalt, als wollte er etwas von den Sohlen abstreifen. Dann blieb er stehen und schaute sich misstrauisch um. Er schob sich die schmutzige Baseballkappe aus der Stirn, um besser sehen zu können. Offenbar spürte er, dass ein lebendes Wesen in der Nähe war. Er zog seine lässig herabhängenden Schultern hoch, als er die Katze sah, und einen Moment lang blieb er reglos stehen. Dann gab er ein rasselndes Geräusch von sich, das er irgendwo zwischen Hals und Nase produzierte, ehe er ausspuckte. Das Geschoss aus Schleim und Spucke landete unmittelbar vor den Vorderpfoten der Katze. Erschrocken sprang sie zur Seite. Um klarzumachen, was er meinte, setzte der Junge zu einem Tritt an, aber die Katze hatte sich schon weit genug entfernt. Er bückte sich, schnipste mit den Fingern und flüsterte: »Miez-Miez-Miez.« Dabei suchte er den Boden nach Wurfgeschossen ab, konnte aber keine finden. Komisch! Sollte er die einzige Stelle im Drayfin Estate am Stadtrand von Derby erwischt haben, an der das Pflaster nicht aufgerissen war? Seine Finger tasteten die Straße ab, aber bald gab er es fluchend auf. »Shit!« Er war sauer, dass die Straßenlaternen nicht funktionierten. Dabei vergaß er, dass er und seine Gang erst vor ein paar Wochen einen ganzen Abend damit verbracht hatten, so viele wie möglich kaputt zu machen. Die einzige Lichtquelle war schwach leuchtender Weihnachtsschmuck, der hier und da an Fenstern oder Türen hing. Niemand in dieser Gegend hatte viel dekoriert, denn das hätte nur noch mehr Zerstörungswut hervorgerufen. Der Junge richtete sich wieder auf und zuckte mit den Schultern. Egal. Die Katze hatte sich ohnehin aus dem Staub gemacht, und hinterherlaufen würde er dem Mistvieh bestimmt nicht. Außerdem war sein Feuerzeug leer, und Tiere abzufackeln machte keinen Spaß, wenn die Gang nicht zuschaute. Eine Kippe war alles, was er am Boden gefunden hatte, gerade eben lang genug, um sie aufzubewahren. Er steckte sie in die tiefe Tasche seiner Jacke. Dann pinkelte er in eine Pfütze - mit hartem Strahl selbstverständlich, denn sonst bekamen es die Anwohner ja nicht mit. Er zog sich die Baseballkappe wieder tiefer in die Stirn und zog die Schultern zusammen, um sich vor dem schneidenden Wind zu schützen. Außerdem war es die Körperhaltung, mit der er besonders angriffslustig zu wirken glaubte, genau wie andere desillusionierte Jugendliche überall auf der Welt. Gangsterhaltung. Jason Donovan Wallis wischte sich die tropfende Nase am Ärmel ab und starrte durch den Nebel in den Himmel. Nichts zu sehen. Schade. Er mochte den Nachthimmel, wenn Sterne, Planeten, Meteore und lauter so Zeug zu sehen waren. Nicht dass er etwas über das Universum lernen wollte. Schließlich war er keine Tucke. Aber er hoffte, eines Tages von Außerirdischen entführt zu werden. Mit einem Ufo, dessen Crew aus lauter Supermodels bestand, würden sie ins Weltall fliegen, um irgendeinen Stern zu kolonisieren. Wenn er später zur Erde zurückkehrte, und zwar nachdem hier nur Bruchteile von Sekunden vergangen waren, würden die Weiber Schlange stehen, um sich von ihm ficken zu lassen. Der Mann stellte Pizzaschachteln auf eine Wolldecke und wickelte sie dann ein, um sie warm zu halten. Dann warf er die Hecktür des Vans zu und ging zum Fahrersitz. Dabei behielt er die nähere Umgebung im Blick. Dass Nebel von den Hügeln kam, war perfekt. Auch dass es so kalt war. Da blieben die Leute zu Hause. Die Straßen waren wie ausgestorben. Kein Mensch würde ihn bemerken. Er schaute auf die Uhr und grinste. Gleich war es so weit. Er schaltete den CD-Player ein, schloss die Augen und horchte einen Moment lang auf die Musik. Dann zog er die Lederhandschuhe aus und legte sie aufs Armaturenbrett. Seine Hände schwitzten in den Latexhandschuhen, die er darunter trug. Er holte eine Puderdose aus einer Plastiktüte, streute etwas Puder auf die Handschuhe und verteilte es auf den Handflächen. Dann stellte er die Plastiktüte hinter sich auf die Ladefläche und griff nach einem Lederetui. Während er mit den Fingern darauf herumtrommelte, schaute er wieder auf die Uhr. Es war so weit. Er musste die Sache zu Ende bringen. In dem Moment, als er das Handy aus dem Etui holte, begann es zu klingeln. Er drückte auf die Antworttaste, hielt sich das Telefon ans Ohr und hörte kurz zu. Dann legte er auf, nahm Akku und SIM-Karte heraus und steckte die Einzelteile in das Lederetui, um es bei Gelegenheit zu entsorgen. Er drehte den Zündschlüssel, schaltete die Scheinwerfer an und fuhr los. Jason schaute immer noch in den verhangenen Himmel. Keine Außerirdischen in Sicht. Schade! Andererseits konnte man im Dunkeln besser einbrechen. Nur dass es in Drayfin kaum noch was zu holen gab. Er ging weiter Richtung Einkaufszentrum, das sich großspurig The Centre nannte und aus den sechziger Jahren stammte. Inzwischen waren die Schaufenster der interessanteren Geschäfte nachts mit Brettern zugenagelt. Dazwischen lagen trostlose Lebensmittelläden. Das alles in einem seelenlosen grauen Betonklotz zwischen dunklen, windigen Straßen - die Kopfgeburt eines Architekten, der bestimmt in einer efeuumrankten Villa in den Hügeln am Stadtrand wohnte. Jason schaute sich genervt um. Was sollte er hier noch? Alles, was sich zu zerstören lohnte, hatte er schon zerstört, und die Stadtverwaltung verzichtete neuerdings sogar darauf, die demolierten Bushaltestellen zu erneuern. Eine Dröhnung wäre jetzt gut. Aber die kostenlosen Pillen, die Banger ihm zum Probieren gegeben hatte, waren von den Bullen einkassiert worden, und er hatte kein Geld, um sich neue zu kaufen. Alkohol war billiger, aber auch der kostete Geld. Deswegen hatte er sich einen Job bei einem japanischen Autohändler besorgt, wo er samstags Wagen wusch, aber das war ganz schön anstrengend. Sex war eine Alternative, den konnte er immer und überall haben. Schon letztes Jahr, mit vierzehn, hatte er eine Schlampe aus der Schule dazu gebracht, ihn ranzulassen, aber das war ziemlich abtörnend gewesen. Er hatte mehr erwartet. Und dann bezeichneten einen diese kleinen Nutten immer gleich als ihren Freund, kaum dass man sich den Schwanz gewaschen hatte! Nein, diese Pussys hatten einfach zu viel Spaß dabei. Jason stand mehr darauf, wenn sie sich zum Schein wehrten. In Wahrheit wollten sie es doch selber! Wie auf den Videos, die sein Vater ihm gezeigt hatte. Die waren spitze. Genau wie sein Vater. Das fand seine Gang auch. Die anderen Väter regten sich andauernd auf, wenn die Jungs spät nach Hause kamen. Sein Vater war da ganz anders. Jason war wirklich ein Glückspilz. Ein strenger Vater war das Letzte! Seine Mutter war schon schlimm genug. Typisch Frau! »Weiber sind nur für eins zu gebrauchen«, hatte sein Vater erst gestern wieder gesagt. Recht hatte er. »Und du kannst nicht mal das«, hatte seine Mutter losgebrüllt. Sein Dad hatte etwas zurückgebrüllt, und dann hatten beide noch eine Weile weitergebrüllt. Das Übliche halt. Trotzdem war irgendwas merkwürdig bei den beiden. Manchmal kam es Jason so vor, als sei seine Mom tougher als sein Dad. Aber das konnte natürlich gar nicht sein. Der Mann lenkte den Van langsam durch eine Straße, die er nicht kannte. Aber das machte nichts, denn es war sonst niemand unterwegs, der sich darüber aufgeregt hätte. Das einzige Lebewesen weit und breit war eine streunende Katze. Er schaute auf den Stadtplan und dann auf das nächste Straßenschild, das im Nebel kaum zu entziffern war. Der Mann nickte, atmete tief durch und bog nach links ab. Jetzt konnte es nicht mehr weit sein. Jason holte sein Handy gleich beim ersten Klingeln aus der Jackentasche. Als er sah, was auf dem Display stand, verzog er angewidert das Gesicht. »Was ist?« »Ich bin's, deine Mutter.« »Ich hab dir doch gesagt, dass du eine SMS schreiben sollst, wenn du was von mir willst, Alte. Stell dir vor, meine Freunde wären jetzt hier!« »Halt's Maul! Sonst hast du die längste Zeit ein Handy gehabt.« »Ach ja? Sag lieber, was du willst.« »Wir haben die Gutscheine eingelöst und Pizza bestellt.« »Was? Heute?« »Ja. Was ist, kommst du?« Jason überlegte kurz. Er fror, und Hunger hatte er auch. »Hebt mir was auf«, sagte er und legte auf, ohne eine Antwort abzuwarten. Im Weitergehen zog er die Jacke enger um sich. Er musste an den Film denken, den sein Vater ihm letzte Woche gezeigt hatte. Er merkte, wie sein Schwanz steif wurde. Wenigstens wurde ihm davon etwas wärmer. Die Schlampe, die die Hauptrolle spielte, hatte anfangs ziemlich herumgezickt. Aber als die ersten zwei oder drei Kerle es ihr besorgt hatten, kam sie langsam in Fahrt. Es waren ein paar richtig gute Ficks dabei. Die beste Nummer, die er je gehabt hatte, war ein Blowjob von einem Mädchen aus der Feine-Leute-Schule. Fatboy und Grets hatten ihr aufgelauert und sie zu ihm gebracht. Sie hatten ziemlich hart zupacken müssen, weil das Mädchen sich mit Händen und Füßen wehrte. Auch so eine, die zuerst so tat, als ob sie nicht wollte. Aber als es dann richtig zur Sache ging, konnte man ihr anmerken, dass es ihr Spaß machte. Dass sie dabei heulte, war normal. Weiber eben. »Das machen die immer«, sagte sein Dad ständig. »Damit man sie mehr beachtet. Das gibt ihnen das Gefühl, geliebt zu werden.« Jasons Lehrerin sah das anders. Aber sie war eine frustrierte Kuh. Sein Vater dagegen wusste, wo es langging, und er unterstützte Jason. Vor allem mit den Weibern kannte er sich aus. Mit siebzehn hatte er geheiratet. Jason war noch so klein gewesen, dass er sich an die Hochzeit nicht erinnern konnte. Jedenfalls meinte sein Vater, das Problem von Mrs. Ottoman sei einfach nur, dass sie mal einen ordentlichen Fick brauchte. Aber eine Lehrerin vergewaltigen? Sollte er das wirklich tun? Und wie? Es war leichter gesagt als getan. Als Jason sie dann überfallen hatte, hatte er sie nur ein bisschen befummelt. Und beweisen konnte sie sowieso nichts. Trotzdem war er für einen ganzen Monat der Schule verwiesen worden. Das war ein Rekord, hatte Mr. Wrexham, der Rektor, gesagt. Nicht dass es Jason wichtig gewesen wäre. Aber das ganze Theater war eine willkommene Abwechslung. Schule war doch sowieso nur was für Schwuchteln. Sobald er volljährig war, würde er Stütze beantragen, Lotto spielen und einen fetten Gewinn einfahren. Dann würden seine Lehrer dumm aus der Wäsche gucken. Er hätte ihnen bewiesen, dass ihre Ratschläge fürn Arsch waren. »Die Welt da draußen ist grausam«, hatte Jasons Vater einmal gesagt. Viel hatte er davon allerdings nicht gesehen. Bobby Wallis war nie aus Derby herausgekommen. »Hauptsache, du hast Spaß. Genieß deine Jugend, so lange du kannst. Und lass dich nicht von irgend so einer Schlampe reinlegen!« »Vielen Dank«, hatte seine Mutter dazwischengequatscht. »Hör auf, dem Jungen Mist einzutrichtern. Der ist jetzt schon schlauer als du.« Darauf hatte sein Vater ihn ganz merkwürdig angesehen, als wollte er sagen: Siehst du, was ich meine? Halt dir die Weiber vom Hals! Steck dein Ding rein, wo du willst, aber lass dich nicht an die Leine legen! Mach's wie ich. Ich könnte jederzeit abhauen, wenn ich wollte. »Jace!«, rief in diesem Moment Grets vom Eingang des Imbisses. Das einzige heile Schaufenster im Centre verbreitete ein warmes Licht. Der Pub hatte schon vor Wochen geschlossen. »Hey!«, rief Jason zurück und eilte auf den Freund zu, der die gleiche Baseballkappe, die gleiche Jacke und eine weite, tief im Schritt hängende Hose trug. Die Jungs wussten, wie man sich kleiden musste, um größer zu wirken. »Was geht, Mann?«, sagte Jason und versuchte, mit einem Brooklynakzent zu sprechen. Manchesterakzent war out. Sie begrüßten sich, indem sie die Fäuste aneinanderstießen. »Alles klar, Mann.« Grets hielt Jason seine Pommes hin, und der bediente sich. »Danke, Mann. Ich sterbe vor Hunger.« »Hey, Mann, unser Promi!«, sagte ein anderer aus der Gang, Stinger, als er aus dem Imbiss kam, und grinste Jason erfreut entgegen. Einen Moment lang drangen Licht und Wärme auf die Straße. »Du bist ein Star, hol mich hier raus!« Jason überlegte kurz, ob er bescheiden abwinken sollte, aber er hatte keinen Grund, bescheiden zu sein. Außerdem tat es gut, sich von den anderen dafür feiern zu lassen, dass er vor nichts zurückschreckte. Da lohnte es sich sogar, an einem arschkalten Dezemberabend loszuziehen. Er war eine Berühmtheit, wenigstens im Drayfin Estate, und das wollte er so lange wie möglich auskosten. Die Lokalzeitung hatte über seinen Schulausschluss geschrieben, aber das war schon zwei Wochen her. Der Verfasser hatte rumgejammert, wo das alles noch hinführen sollte, und dass es ein Fehler gewesen sei, die Prügelstrafe abzuschaffen. Als ob Jugendliche sich heute noch von Lehrern schlagen lassen würden! Schließlich kannten sie ihre Rechte. Auch in der East Midland Today hatte was darüber gestanden, aber Jasons Name war nicht erwähnt worden. Dabei hatte sein Dad so darauf gehofft, denn dann hätte er das Blatt auf Schadensersatz verklagt, und zwar nicht zu knapp. Auf die Familienehre ließ er nämlich nichts kommen. Aber den meisten Ruhm hatte ihm ein kurzer Beitrag des Lokalsenders eingebracht. Da hatte man ein paar Sekunden lang gesehen, wie er mit seinem Dad über den Schulhof ging. Natürlich hatten ihn alle in der Gegend erkannt. »Was geht, Alter? Stehen die Weiber immer noch Schlange bei dir?« »Quatsch nicht, Alter! Doch nicht bei dieser Kälte!« Jason war mit seiner Antwort zufrieden. Sie klang nicht bescheiden, sondern einfach nur cool. »Trotzdem ... Ich wär unheimlich gern dabei gewesen.« Stinger grinste und schüttelte den Kopf. »Erzähl doch nochmal von der Otto-Schlampe!« Jason tat so, als sei er es leid, die Geschichte zum xten Mal wiederzugeben. Doch dann sagte er: »Die ist total ausgeflippt. « »Kann ich mir vorstellen.« »Fing an rumzuheulen, total krank. Als ob ich mein Ding in ihre Drecksfotze stecken würde.« »Wer würde das schon?« Grets lachte und schlug noch einmal mit Jason die Fäuste zusammen. »Hat jemand 'ne Kippe?«, fragte Jason und spielte mit dem Zigarettenstummel in seiner Tasche. »Nee, wir sind alle total pleite, Mann. Aber ich weiß, wo wir welche kriegen. Banger hat Tabak und Blättchen für mich, weil ich ihm neulich bei 'nem Bruch geholfen habe.« »Geil«, sagte Jason. »Lasst uns gehen.« Der Van blieb vor einem Haus stehen, der Fahrer stieg aus und ging zur Hecktür. Er trug einen schwarzen Overall und eine schwarze Mütze. Im Haus wurde ein Vorhang zur Seite gezogen, und ein schmaler Lichtstrahl fiel auf den Van. Dann wurde es wieder dunkel. Leise schloss der Mann die Hecktür, dann bewegte er sich auf das Haus zu. Er selbst war in der Dunkelheit kaum zu sehen, wohl aber die weißen Pizzaschachteln in seiner Hand. Die Haustür wurde geöffnet. »Pizzaservice?«
Kapitel I
Inspektor Damen Brook wachte erschrocken auf und brauchte einen Moment, um zu sich zu kommen. Er hielt die Augen geschlossen und ballte die Hände zu Fäusten. Sein ganzer Körper war schweißgebadet. Er hatte etwas Schreckliches geträumt, und was ihn in der Realität erwartete, war nicht viel besser. In diesem Moment zwischen Schlafen und Wachen konnte er beidem entgehen. Ein Moment Ruhe. Ein Moment Seligkeit. Dann hob er den Kopf von der Schreibtischplatte, schaute sich in seinem spartanisch möblierten Büro um und horchte. Nichts zu sehen oder zu hören. Er setzte sich auf und massierte seinen verspannten Nacken. Dann stand er auf, um sich auch den schmerzenden Rücken zu reiben. Ein Blick auf die Uhr: nach Mitternacht. Seine Schicht war vor vier Stunden zu Ende gewesen, und er hätte längst zu Hause sein können. Aber was hätte er dort tun sollen? Zu Hause ... Ihm wurde schon übel, wenn er bloß daran dachte. Er griff zum Telefon und gähnte. »Taj Mahal.« »Ich möchte etwas bestellen.« »Hallo, Mr. Brook. Wie geht's Ihnen?« »Ging mir nie besser. Ich nehme das Hähnchenfilet Jalfrezi ...« »Mit Pilawreis. Brot dazu?« »Hatte ich das schon mal?« »Bis jetzt noch nicht.« »Na also. Wie lange?« »Zehn Minuten.« »Bin gleich da.« Brook legte auf und verließ das Büro. Schnell und leise ging er zum Hauptausgang des Gebäudes. Er hatte Glück. Sergeant Hendrickson stand mit dem Rücken zum Tresen, und Brook konnte unbemerkt durch den Empfangsbereich huschen. Er war fast schon an der Tür, als er Hendrickson etwas sagen hörte, das ihn anhalten ließ. »Dieser Bastard! Aufhängen sollte man ihn!« »Ganz meine Meinung«, sagte jemand anders. Brook erkannte die Stimme von PC Robinson. »Wenn er geschnappt wird, sollte man ihm die Eier abschneiden «, sagte Hendrickson. »Ich würde mich freiwillig als Erster dafür zur Verfügung stellen.« »Ich auch.« Jemand, den Brook nicht verstehen konnte, schien etwas zu sagen, das Hendrickson missfiel, denn der antwortete: »Natürlich nicht. Aber bestimmt fühle ich mich dann besser.« Brook stand immer noch da. Eigentlich wollte er endlich nach Hause, aber das hier konnte er nicht durchgehen lassen. Immerhin war er der leitende Inspektor. Er atmete tief durch, drehte sich um und ging an den Tresen zurück. »Sergeant?« Alle drehten sich zu ihm um. »Was, wenn ich ein ganz normaler Bürger dieser Stadt wäre, der hier reinkommt und so etwas hört?« Er versuchte, Autorität in seine Stimme zu legen. »Oder der Polizeichef ...« Brook stockte, als er sah, dass PC Wendy Jones die Person war, die er nicht verstanden hatte. Ihre Blicke trafen sich, und einen Moment lang schauten sie einander stumm an. Brook reckte das Kinn vor und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass er den Faden verloren hatte. Hätte er doch bloß nichts gesagt! Er hätte längst weg sein können. Seine Wut war verflogen, und weil er nicht wusste, wie er weitermachen sollte, tat er so, als unterzöge er die Weihnachtsgirlanden an den Wänden einer Inspektion, ehe er wieder Hendrickson ansah. »Sie sind ja noch da ... Sir.« Sergeant Harry Hendrickson setzte das spöttische Grinsen auf, das er für Brook reserviert hatte. Nur die kleine Pause vor der scheinbar höflichen Anrede war neu. Trotzdem war Brook bestens damit vertraut. Früher hatte er diesen kleinen Trick oft selbst benutzt, wenn er lästige Bürger auf Distanz halten wollte. Inzwischen war ihm alles viel zu gleichgültig, um sich noch diese Mühe zu machen. »Messerscharf kombiniert«, sagte Brook verächtlicher, als ihm zumute war. »Kein Wunder, dass die Kollegen sich fragen, warum Sie nicht schon längst zum Inspektor befördert worden sind.« Hendrickson hörte auf zu grinsen. Die anderen schauten betreten zu Boden. Brook merkte, dass er die Sache irgendwie zu Ende bringen musste, wenn er nicht das Gesicht verlieren wollte. »Nun?«, sagte er. »Nun, was? Sir?«, fragte Hendrickson. »Ihre Ausdrucksweise und die Androhung von Gewalt. Ich erwarte eine Erklärung.« Brook wusste, wie lahm das klang. Auch Hendrickson schien zu merken, dass Brook sein Eingreifen längst bereute, denn er setzte wieder sein spöttisches Grinsen auf und starrte ihn mit unverhohlener Verachtung an. PC Robinson versuchte, die Situation zu entschärfen. »Es hat einen Mord gegeben, Sir. Eine ältere Frau. Erwürgt und erschlagen.« »Verstehe ...« »Jeder, der noch eine Mutter hat, muss eine Stinkwut haben «, platzte Hendrickson heraus. »Dieser Abschaum tötet für ein paar lausige Pfund ... Sir.« Danach war es einen Moment lang still, und selbst PC Jones hob den Blick, um zu sehen, wie Brook reagieren würde. Was Brook dann tat, überraschte selbst Hendrickson. Er lächelte traurig, nickte und fragte: »Wer hat den Fall übernommen? « »Inspektor Greatorix«, antwortete Robinson. »Okay.« Brook wandte den Blick von Hendricksons triumphierendem Grinsen ab und überlegte einen Moment, ehe er ruhig und leise sagte: »Auch wer keine Mutter mehr hat, könnte darüber eine Stinkwut haben, Sergeant. Aber solche Gefühle hindern uns daran, unsere Arbeit anständig zu erledigen. Ihre aggressive Ausdrucksweise stört mich weniger als die Haltung, die dahintersteckt. Wir können uns keinen Kontrollverlust leisten, Sergeant.« Brook machte eine kurze Pause, ehe er hinzufügte: »Wir werden nämlich dafür bezahlt, dass wir die Kontrolle behalten.« Hendrickson grinste zwar immer noch, aber es war nur noch eine Fassade. Jetzt senkte Robinson den Blick, und Jones sah zu Brook auf. Er nahm es wahr und hielt ihren Blick einen Moment lang fest, denn er glaubte, ein Fünkchen Zustimmung darin zu erkennen. Dann schaute er wieder weg, wandte sich zum Gehen und warf ein »Gute Nacht« über die Schulter. Er zwang sich, langsamer zu gehen, als ihm lieb war, und lauschte auf das Gemurmel und Lachen hinter seinem Rücken. Natürlich würden sie sich wieder mal die Mäuler über ihn zerreißen. Auf dem Weg zum Parkplatz fluchte Brook leise vor sich hin und wünschte, er hätte sich nicht eingemischt. »Was glaubt der Kerl eigentlich, wer er ist?«, tobte Hendrickson. »Ich hasse diese Londoner Schnösel!« »Ursprünglich stammt er aus Yorkshire«, versuchte Jones die Wogen zu glätten, wagte aber nicht, die Kollegen dabei anzusehen. Bloß nicht näher auf dieses Thema eingehen! »Und was hatte er dann in der Hauptstadt zu suchen?« Jones holte tief Luft und sah Hendrickson an. Sie hatte angefangen, folglich war sie ihm eine Antwort schuldig. »Er galt als Naturtalent, der beste Profiler, den die Truppe je hatte. Dann ist er krank geworden.« Der massige Kollege PC Aktar kam herein. »Komm, Schätzchen, lass uns gehen«, sagte er zu Jones. »Die Stadt braucht uns.« »Bin bereit.« »Krank geworden ... dass ich nicht lache! Ich kenne seine Personalakte. Der Mistkerl hatte einen Nervenzusammenbruch. Warum mussten die ausgerechnet uns so einen Psychofritzen aufhalsen?« Hendrickson konnte sich nicht beruhigen. »Soll ich dir sagen, warum, Mädel?« »Ich bin nicht dein Mädel!« »Er war nicht gut genug für die Hauptstadt. Nur weil er auf dem College war, dachte er, dass er mehr kann als gewöhnliche Polizisten. Aber da hat er sich getäuscht. Er hat's nicht gepackt. Da mussten sie sich was einfallen lassen.« Er machte eine Pause, damit die anderen fragten, was dann passiert war. Als sie es nicht taten, sprach er trotzdem weiter. »Sie haben ihn abgeschoben, damit er keinen Schaden mehr anrichtet. Da haben sie an uns gedacht, weil wir Hinterwäldler sind und hier sowieso nichts passiert, was ein abgewrackter Spinner nicht in den Griff kriegen könnte. Hier kann er getrost seiner Pensionierung entgegenschnarchen. So sieht's nämlich aus. Aber er denkt immer noch, dass er was Besseres ist, dass wir vor ihm auf den Knien rutschen und ihm die Füße küssen sollten.« »Er sollte eine Dienstanweisung daraus machen«, sagte Robinson und lachte. »Die würden wir doch alle nur zu gerne befolgen.« Hendrickson konnte sich immer noch nicht beruhigen. »Ist doch wahr!«, sagte er. »Die Kollegen hier oben im Norden sehen das alle so.« »Er macht einfach nur seinen Job«, sagte Jones im Hinausgehen. Hendrickson grinste zynisch. »War ja klar, dass du ihn verteidigst!« »Was soll das heißen?« Jones drehte sich zu ihm um und merkte, dass sie rot wurde. Sie wusste nur zu gut, was es heißen sollte. Robinson hielt es trotzdem für nötig, es noch einmal klar und deutlich zu formulieren. »Wir wissen doch alle, dass er dein Lover ist, Wendy.« »Ist er nicht«, widersprach Jones mit zusammengepressten Zähnen. »Ich war einmal mit ihm tanzen, und anschließend hat er mich nach Hause gefahren. Es ist nichts passiert. Wie oft muss ich das noch sagen?« »Man kann es ja auch im Auto treiben«, grinste Hendrickson. Während er und Robinson sich vor Lachen ausschütteten, ging Jones mit großen Schritten auf die Tür zu. »Ihr könnt mich mal«, rief sie über die Schulter zurück. »Zügeln Sie Ihre Ausdrucksweise, Constable«, rief Hendrickson ihr hinterher. »Sie wollen doch wohl nicht, dass Ihr Lover Sie so reden hört!« Auf dem Weg zum Streifenwagen sah Aktar die junge Kollegin fragend an und wartete auf eine Erklärung. Sie versuchte ihn zu ignorieren, sagte aber nach ein paar Sekunden: »Alles bloß dummes Gerede. Glaub denen kein Wort!« Brook drückte die schwere Metalltür am Fuße der Treppe auf und betrat den gespenstisch beleuchteten Parkplatz. Es war kalt und dunkel, und der Boden war gefroren. Brook schüttelte sich vor Kälte und schlug den Mantelkragen hoch. Wie üblich näherte er sich seinem Wagen über die breite Mittelspur. Er konnte nicht an den anderen Wagen entlanggehen, weil er immer eine Menge Platz zwischen sich und größeren Gegenständen brauchte. Als er noch nicht darauf geachtet hatte, war er einmal von einer Ratte angesprungen worden. Er ging in der Mitte der Fahrspur, in gleichmäßiger Entfernung von den parkenden Fahrzeugen zu beiden Seiten. Während er sich seinem alten Sportwagen näherte, suchte er den Boden nach Bewegungen ab. Kaum hatte er die quietschende Tür aufgeschlossen, sprang er mit einem Satz in den Wagen, damit ihm nicht doch noch einer dieser widerlichen Nager den Knöchel anknabberte. Er musste an ein Kind denken, das abends ins Bett sprang, um nicht vom bösen Mann unterm Bett geschnappt zu werden. Als Brook den verbeulten Austin Healey Sprite vom Parkplatz fuhr, waren ihm die Fahrgeräusche des Wagens peinlich wie selten. Der Motor röhrte vor Anstrengung, und der Auspuff rasselte. Der Widerhall von den umliegenden Gebäuden des Polizeihauptquartiers machte die Sache nur noch schlimmer, zumal zu dieser nachtschlafenden Zeit sonst alles still war. Was an einem lauen Sonntagnachmittag auf einer Spritztour durch den Peak District wie Musik in seinen Ohren klang, kam ihm jetzt wie eine Kakophonie vor, die die Mauern von Jericho zum Einsturz gebracht hätte. Brook holte das bestellte Essen ab und war ein paar Minuten später zu Hause. Das war der Vorteil, wenn man in einer so kleinen Stadt wie Derby wohnte: Alle Wege waren kurz. Über die innere Ringstraße, am Eagle Centre und dem neuen Einkaufszentrum vorbei - und schon hatte er das heruntergekommene Haus in der Uttoxeter Road erreicht, in dem sich seine Mietwohnung befand. Es war keine besonders gute Adresse, aber auch keine besonders schlechte. Und es lag zentral. Brook brauchte kein Einfamilienhaus in einem Neubauviertel am Stadtrand, keinen Kamin. Er war ein Stadtmensch und zog es vor, anonym zu bleiben. Außer natürlich, wenn er mit seinem Sprite nach Mitternacht heimkam und die ganze Nachbarschaft es hörte. Er parkte direkt vor seiner Erdgeschosswohnung, drehte den Zündschlüssel und genoss das Geratter, mit dem der Keilriemen zur Ruhe kam. Noch als er mit seinem Hähnchen Jalfrezi ausstieg, hörte er, wie der Vorzünder arbeitete, ehe der Motor endgültig ausging. Die Autotür ließ er einfach zufallen, ohne sie abzuschließen. Einem Impuls folgend, schaute er zum Fenster der Nachbarwohnung im ersten Stock auf und sah gerade noch, wie jemand den Vorhang wieder schloss. Brook nickte zufrieden. Irgendwie war es ihm eine Genugtuung, dass die alte Mrs. Saunders noch schlechter zu schlafen schien als er. Wahrscheinlich würde sie sich morgen wieder über die nächtliche Ruhestörung beschweren. Ständig hatte sie alles im Blick und mischte sich überall ein. Das war beruhigend. Solange Mrs. Saunders da war, konnte nichts passieren. Nicht dass etwas Spezielles zu befürchten gewesen wäre. Brook besaß ohnehin nichts von Wert. Aber er war nun mal Polizist, und als solcher war er genau wie Mrs. Saunders am »Kommen und Gehen«, wie sie es ausdrückte, interessiert - und sei es nur aus voyeuristischer Neugier. Brook ging nicht gleich ins Haus. Erst wollte er eine Zigarette rauchen. Eigentlich hatte er vor zwei Tagen damit aufgehört. Im Kofferraum lag aber noch eine zerknitterte Schachtel. Er holte sie heraus. Nur noch eine Zigarette. Das war gut. Andererseits aber auch nicht. Wäre er noch in Battersea gewesen, hätte er sich schnell eine neue Schachtel holen können. War er aber nicht. Er war in Derby, und hier waren die Läden nachts geschlossen. Er zündete die Zigarette an und nahm einen tiefen Zug. Es kratzte im Hals, stach in der Lunge, und ihm wurde leicht schwindlig. Herrlich! Er stand neben seinem Wagen und schaute am Haus vorbei die Straße entlang. Es gab nicht viel zu sehen. Es war dunkel und neblig, und von den Hügeln her wehte ein kalter Wind. Zum ersten Mal seit seiner Versetzung vor drei Jahren betrachtete er die Skyline von Derby mit freundlichen Augen. Er hatte sich den Ort nicht ausgesucht, sondern einfach die erstbeste Versetzungsmöglichkeit ergriffen. Hätte es ihn nach Bagdad verschlagen, wäre es auch okay gewesen. Hauptsache, er konnte weg. Derby hatte ihn nicht enttäuscht. Es war eine angenehm unaufregende Stadt, in der man vergessen konnte. Maschinenbau und Ingenieurswesen hatten hier Tradition, was bedeutete, dass die Einwohner fleißige, anständige Leute waren. Der nicht unbeträchtliche Anteil asiatischer Einwanderer war gut integriert. Frank Whittle, ein Pionier des Flugzeugbaus und späterer Konstrukteur von Rolls-Royce, wurde hoch verehrt, denn die Autofirma war immer noch der größte Arbeitgeber der Stadt. Derby beherbergte auch eine der größten Eisenbahnfabriken der Welt. Transport und Verkehr war das große Thema der Stadt, die sich selbst so gar nicht bewegte. In den letzten Jahren waren am Stadtrand Einkaufszentren wie Pilze aus dem Boden geschossen, und viele Einwohner waren in deren Nähe gezogen. Alte Viertel wie das, in dem Brook wohnte, waren seither unattraktiver, dafür aber ruhiger geworden. Trotz des unvermeidlichen Niedergangs der Stadt im Zuge der Wirtschaftskrise hielt sich die Kriminalität in Grenzen, und Morde geschahen höchst selten. Das Beste an dieser Ecke der östlichen Midlands aber war der Peak District, ein paar Meilen weiter nordwestlich. Brook hatte sich regelrecht darin verliebt und nutzte jede Gelegenheit zu einem Ausflug in das malerische Hügelland. Alles war dort so friedlich, dass er innerlich ein wenig zur Ruhe kam. Ashbourne, Hartington, Buxton, Bakewell, Carsington Water ... Brook liebte all die kleinen Orte. Egal, wo er den Wagen stehen ließ - von überall konnte man zu stundenlangen Wanderungen aufbrechen und den Kopf frei bekommen. Dass er langsam anfing, sich hier heimisch zu fühlen, war ebenso unerwartet wie willkommen. Es würde ihm bei der größten Herausforderung helfen, die noch vor ihm lag: sich selbst wiederzufinden. Seit er als äußerst selbstbewusster dreiundzwanzigjähriger Grünschnabel in den Dienst der Metropolitan Police von London eingetreten war, hatte er jetzt zum ersten Mal das Gefühl, es sei tatsächlich möglich, alles wieder loszuwerden, was seinen Geist und Körper beschmutzte. Hier watete er sozusagen nur knöcheltief durch eine schmale Abwasserrinne, während er damals in London in einer Kloake zu ertrinken drohte.
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2010 by Rowohlt Verlag GmbH
Prolog
Statt zu fliehen, blieb die Katze reglos sitzen und blinzelte durch die Nebelschwaden in die Richtung, aus der die Schritte kamen. Das sichere Versteck zu verlassen konnte ein tödlicher Fehler sein. Ein Fehler, den ihre Beute immer wieder beging. Sie brauchte bloß darauf zu warten. Plötzlich erschien eine Figur aus der Dunkelheit, als hätte die Erde sie ausgespuckt. Ein Jugendlicher. Er war groß und wirkte kompakt, aber als ihm ein kalter Windstoß die weite, tief im Schritt hängende Hose um die Beine schlottern ließ, sah man, wie dünn er in Wirklichkeit war. Er schlurfte mit seinen Nike-Turnschuhen über den Asphalt, als wollte er etwas von den Sohlen abstreifen. Dann blieb er stehen und schaute sich misstrauisch um. Er schob sich die schmutzige Baseballkappe aus der Stirn, um besser sehen zu können. Offenbar spürte er, dass ein lebendes Wesen in der Nähe war. Er zog seine lässig herabhängenden Schultern hoch, als er die Katze sah, und einen Moment lang blieb er reglos stehen. Dann gab er ein rasselndes Geräusch von sich, das er irgendwo zwischen Hals und Nase produzierte, ehe er ausspuckte. Das Geschoss aus Schleim und Spucke landete unmittelbar vor den Vorderpfoten der Katze. Erschrocken sprang sie zur Seite. Um klarzumachen, was er meinte, setzte der Junge zu einem Tritt an, aber die Katze hatte sich schon weit genug entfernt. Er bückte sich, schnipste mit den Fingern und flüsterte: »Miez-Miez-Miez.« Dabei suchte er den Boden nach Wurfgeschossen ab, konnte aber keine finden. Komisch! Sollte er die einzige Stelle im Drayfin Estate am Stadtrand von Derby erwischt haben, an der das Pflaster nicht aufgerissen war? Seine Finger tasteten die Straße ab, aber bald gab er es fluchend auf. »Shit!« Er war sauer, dass die Straßenlaternen nicht funktionierten. Dabei vergaß er, dass er und seine Gang erst vor ein paar Wochen einen ganzen Abend damit verbracht hatten, so viele wie möglich kaputt zu machen. Die einzige Lichtquelle war schwach leuchtender Weihnachtsschmuck, der hier und da an Fenstern oder Türen hing. Niemand in dieser Gegend hatte viel dekoriert, denn das hätte nur noch mehr Zerstörungswut hervorgerufen. Der Junge richtete sich wieder auf und zuckte mit den Schultern. Egal. Die Katze hatte sich ohnehin aus dem Staub gemacht, und hinterherlaufen würde er dem Mistvieh bestimmt nicht. Außerdem war sein Feuerzeug leer, und Tiere abzufackeln machte keinen Spaß, wenn die Gang nicht zuschaute. Eine Kippe war alles, was er am Boden gefunden hatte, gerade eben lang genug, um sie aufzubewahren. Er steckte sie in die tiefe Tasche seiner Jacke. Dann pinkelte er in eine Pfütze - mit hartem Strahl selbstverständlich, denn sonst bekamen es die Anwohner ja nicht mit. Er zog sich die Baseballkappe wieder tiefer in die Stirn und zog die Schultern zusammen, um sich vor dem schneidenden Wind zu schützen. Außerdem war es die Körperhaltung, mit der er besonders angriffslustig zu wirken glaubte, genau wie andere desillusionierte Jugendliche überall auf der Welt. Gangsterhaltung. Jason Donovan Wallis wischte sich die tropfende Nase am Ärmel ab und starrte durch den Nebel in den Himmel. Nichts zu sehen. Schade. Er mochte den Nachthimmel, wenn Sterne, Planeten, Meteore und lauter so Zeug zu sehen waren. Nicht dass er etwas über das Universum lernen wollte. Schließlich war er keine Tucke. Aber er hoffte, eines Tages von Außerirdischen entführt zu werden. Mit einem Ufo, dessen Crew aus lauter Supermodels bestand, würden sie ins Weltall fliegen, um irgendeinen Stern zu kolonisieren. Wenn er später zur Erde zurückkehrte, und zwar nachdem hier nur Bruchteile von Sekunden vergangen waren, würden die Weiber Schlange stehen, um sich von ihm ficken zu lassen. Der Mann stellte Pizzaschachteln auf eine Wolldecke und wickelte sie dann ein, um sie warm zu halten. Dann warf er die Hecktür des Vans zu und ging zum Fahrersitz. Dabei behielt er die nähere Umgebung im Blick. Dass Nebel von den Hügeln kam, war perfekt. Auch dass es so kalt war. Da blieben die Leute zu Hause. Die Straßen waren wie ausgestorben. Kein Mensch würde ihn bemerken. Er schaute auf die Uhr und grinste. Gleich war es so weit. Er schaltete den CD-Player ein, schloss die Augen und horchte einen Moment lang auf die Musik. Dann zog er die Lederhandschuhe aus und legte sie aufs Armaturenbrett. Seine Hände schwitzten in den Latexhandschuhen, die er darunter trug. Er holte eine Puderdose aus einer Plastiktüte, streute etwas Puder auf die Handschuhe und verteilte es auf den Handflächen. Dann stellte er die Plastiktüte hinter sich auf die Ladefläche und griff nach einem Lederetui. Während er mit den Fingern darauf herumtrommelte, schaute er wieder auf die Uhr. Es war so weit. Er musste die Sache zu Ende bringen. In dem Moment, als er das Handy aus dem Etui holte, begann es zu klingeln. Er drückte auf die Antworttaste, hielt sich das Telefon ans Ohr und hörte kurz zu. Dann legte er auf, nahm Akku und SIM-Karte heraus und steckte die Einzelteile in das Lederetui, um es bei Gelegenheit zu entsorgen. Er drehte den Zündschlüssel, schaltete die Scheinwerfer an und fuhr los. Jason schaute immer noch in den verhangenen Himmel. Keine Außerirdischen in Sicht. Schade! Andererseits konnte man im Dunkeln besser einbrechen. Nur dass es in Drayfin kaum noch was zu holen gab. Er ging weiter Richtung Einkaufszentrum, das sich großspurig The Centre nannte und aus den sechziger Jahren stammte. Inzwischen waren die Schaufenster der interessanteren Geschäfte nachts mit Brettern zugenagelt. Dazwischen lagen trostlose Lebensmittelläden. Das alles in einem seelenlosen grauen Betonklotz zwischen dunklen, windigen Straßen - die Kopfgeburt eines Architekten, der bestimmt in einer efeuumrankten Villa in den Hügeln am Stadtrand wohnte. Jason schaute sich genervt um. Was sollte er hier noch? Alles, was sich zu zerstören lohnte, hatte er schon zerstört, und die Stadtverwaltung verzichtete neuerdings sogar darauf, die demolierten Bushaltestellen zu erneuern. Eine Dröhnung wäre jetzt gut. Aber die kostenlosen Pillen, die Banger ihm zum Probieren gegeben hatte, waren von den Bullen einkassiert worden, und er hatte kein Geld, um sich neue zu kaufen. Alkohol war billiger, aber auch der kostete Geld. Deswegen hatte er sich einen Job bei einem japanischen Autohändler besorgt, wo er samstags Wagen wusch, aber das war ganz schön anstrengend. Sex war eine Alternative, den konnte er immer und überall haben. Schon letztes Jahr, mit vierzehn, hatte er eine Schlampe aus der Schule dazu gebracht, ihn ranzulassen, aber das war ziemlich abtörnend gewesen. Er hatte mehr erwartet. Und dann bezeichneten einen diese kleinen Nutten immer gleich als ihren Freund, kaum dass man sich den Schwanz gewaschen hatte! Nein, diese Pussys hatten einfach zu viel Spaß dabei. Jason stand mehr darauf, wenn sie sich zum Schein wehrten. In Wahrheit wollten sie es doch selber! Wie auf den Videos, die sein Vater ihm gezeigt hatte. Die waren spitze. Genau wie sein Vater. Das fand seine Gang auch. Die anderen Väter regten sich andauernd auf, wenn die Jungs spät nach Hause kamen. Sein Vater war da ganz anders. Jason war wirklich ein Glückspilz. Ein strenger Vater war das Letzte! Seine Mutter war schon schlimm genug. Typisch Frau! »Weiber sind nur für eins zu gebrauchen«, hatte sein Vater erst gestern wieder gesagt. Recht hatte er. »Und du kannst nicht mal das«, hatte seine Mutter losgebrüllt. Sein Dad hatte etwas zurückgebrüllt, und dann hatten beide noch eine Weile weitergebrüllt. Das Übliche halt. Trotzdem war irgendwas merkwürdig bei den beiden. Manchmal kam es Jason so vor, als sei seine Mom tougher als sein Dad. Aber das konnte natürlich gar nicht sein. Der Mann lenkte den Van langsam durch eine Straße, die er nicht kannte. Aber das machte nichts, denn es war sonst niemand unterwegs, der sich darüber aufgeregt hätte. Das einzige Lebewesen weit und breit war eine streunende Katze. Er schaute auf den Stadtplan und dann auf das nächste Straßenschild, das im Nebel kaum zu entziffern war. Der Mann nickte, atmete tief durch und bog nach links ab. Jetzt konnte es nicht mehr weit sein. Jason holte sein Handy gleich beim ersten Klingeln aus der Jackentasche. Als er sah, was auf dem Display stand, verzog er angewidert das Gesicht. »Was ist?« »Ich bin's, deine Mutter.« »Ich hab dir doch gesagt, dass du eine SMS schreiben sollst, wenn du was von mir willst, Alte. Stell dir vor, meine Freunde wären jetzt hier!« »Halt's Maul! Sonst hast du die längste Zeit ein Handy gehabt.« »Ach ja? Sag lieber, was du willst.« »Wir haben die Gutscheine eingelöst und Pizza bestellt.« »Was? Heute?« »Ja. Was ist, kommst du?« Jason überlegte kurz. Er fror, und Hunger hatte er auch. »Hebt mir was auf«, sagte er und legte auf, ohne eine Antwort abzuwarten. Im Weitergehen zog er die Jacke enger um sich. Er musste an den Film denken, den sein Vater ihm letzte Woche gezeigt hatte. Er merkte, wie sein Schwanz steif wurde. Wenigstens wurde ihm davon etwas wärmer. Die Schlampe, die die Hauptrolle spielte, hatte anfangs ziemlich herumgezickt. Aber als die ersten zwei oder drei Kerle es ihr besorgt hatten, kam sie langsam in Fahrt. Es waren ein paar richtig gute Ficks dabei. Die beste Nummer, die er je gehabt hatte, war ein Blowjob von einem Mädchen aus der Feine-Leute-Schule. Fatboy und Grets hatten ihr aufgelauert und sie zu ihm gebracht. Sie hatten ziemlich hart zupacken müssen, weil das Mädchen sich mit Händen und Füßen wehrte. Auch so eine, die zuerst so tat, als ob sie nicht wollte. Aber als es dann richtig zur Sache ging, konnte man ihr anmerken, dass es ihr Spaß machte. Dass sie dabei heulte, war normal. Weiber eben. »Das machen die immer«, sagte sein Dad ständig. »Damit man sie mehr beachtet. Das gibt ihnen das Gefühl, geliebt zu werden.« Jasons Lehrerin sah das anders. Aber sie war eine frustrierte Kuh. Sein Vater dagegen wusste, wo es langging, und er unterstützte Jason. Vor allem mit den Weibern kannte er sich aus. Mit siebzehn hatte er geheiratet. Jason war noch so klein gewesen, dass er sich an die Hochzeit nicht erinnern konnte. Jedenfalls meinte sein Vater, das Problem von Mrs. Ottoman sei einfach nur, dass sie mal einen ordentlichen Fick brauchte. Aber eine Lehrerin vergewaltigen? Sollte er das wirklich tun? Und wie? Es war leichter gesagt als getan. Als Jason sie dann überfallen hatte, hatte er sie nur ein bisschen befummelt. Und beweisen konnte sie sowieso nichts. Trotzdem war er für einen ganzen Monat der Schule verwiesen worden. Das war ein Rekord, hatte Mr. Wrexham, der Rektor, gesagt. Nicht dass es Jason wichtig gewesen wäre. Aber das ganze Theater war eine willkommene Abwechslung. Schule war doch sowieso nur was für Schwuchteln. Sobald er volljährig war, würde er Stütze beantragen, Lotto spielen und einen fetten Gewinn einfahren. Dann würden seine Lehrer dumm aus der Wäsche gucken. Er hätte ihnen bewiesen, dass ihre Ratschläge fürn Arsch waren. »Die Welt da draußen ist grausam«, hatte Jasons Vater einmal gesagt. Viel hatte er davon allerdings nicht gesehen. Bobby Wallis war nie aus Derby herausgekommen. »Hauptsache, du hast Spaß. Genieß deine Jugend, so lange du kannst. Und lass dich nicht von irgend so einer Schlampe reinlegen!« »Vielen Dank«, hatte seine Mutter dazwischengequatscht. »Hör auf, dem Jungen Mist einzutrichtern. Der ist jetzt schon schlauer als du.« Darauf hatte sein Vater ihn ganz merkwürdig angesehen, als wollte er sagen: Siehst du, was ich meine? Halt dir die Weiber vom Hals! Steck dein Ding rein, wo du willst, aber lass dich nicht an die Leine legen! Mach's wie ich. Ich könnte jederzeit abhauen, wenn ich wollte. »Jace!«, rief in diesem Moment Grets vom Eingang des Imbisses. Das einzige heile Schaufenster im Centre verbreitete ein warmes Licht. Der Pub hatte schon vor Wochen geschlossen. »Hey!«, rief Jason zurück und eilte auf den Freund zu, der die gleiche Baseballkappe, die gleiche Jacke und eine weite, tief im Schritt hängende Hose trug. Die Jungs wussten, wie man sich kleiden musste, um größer zu wirken. »Was geht, Mann?«, sagte Jason und versuchte, mit einem Brooklynakzent zu sprechen. Manchesterakzent war out. Sie begrüßten sich, indem sie die Fäuste aneinanderstießen. »Alles klar, Mann.« Grets hielt Jason seine Pommes hin, und der bediente sich. »Danke, Mann. Ich sterbe vor Hunger.« »Hey, Mann, unser Promi!«, sagte ein anderer aus der Gang, Stinger, als er aus dem Imbiss kam, und grinste Jason erfreut entgegen. Einen Moment lang drangen Licht und Wärme auf die Straße. »Du bist ein Star, hol mich hier raus!« Jason überlegte kurz, ob er bescheiden abwinken sollte, aber er hatte keinen Grund, bescheiden zu sein. Außerdem tat es gut, sich von den anderen dafür feiern zu lassen, dass er vor nichts zurückschreckte. Da lohnte es sich sogar, an einem arschkalten Dezemberabend loszuziehen. Er war eine Berühmtheit, wenigstens im Drayfin Estate, und das wollte er so lange wie möglich auskosten. Die Lokalzeitung hatte über seinen Schulausschluss geschrieben, aber das war schon zwei Wochen her. Der Verfasser hatte rumgejammert, wo das alles noch hinführen sollte, und dass es ein Fehler gewesen sei, die Prügelstrafe abzuschaffen. Als ob Jugendliche sich heute noch von Lehrern schlagen lassen würden! Schließlich kannten sie ihre Rechte. Auch in der East Midland Today hatte was darüber gestanden, aber Jasons Name war nicht erwähnt worden. Dabei hatte sein Dad so darauf gehofft, denn dann hätte er das Blatt auf Schadensersatz verklagt, und zwar nicht zu knapp. Auf die Familienehre ließ er nämlich nichts kommen. Aber den meisten Ruhm hatte ihm ein kurzer Beitrag des Lokalsenders eingebracht. Da hatte man ein paar Sekunden lang gesehen, wie er mit seinem Dad über den Schulhof ging. Natürlich hatten ihn alle in der Gegend erkannt. »Was geht, Alter? Stehen die Weiber immer noch Schlange bei dir?« »Quatsch nicht, Alter! Doch nicht bei dieser Kälte!« Jason war mit seiner Antwort zufrieden. Sie klang nicht bescheiden, sondern einfach nur cool. »Trotzdem ... Ich wär unheimlich gern dabei gewesen.« Stinger grinste und schüttelte den Kopf. »Erzähl doch nochmal von der Otto-Schlampe!« Jason tat so, als sei er es leid, die Geschichte zum xten Mal wiederzugeben. Doch dann sagte er: »Die ist total ausgeflippt. « »Kann ich mir vorstellen.« »Fing an rumzuheulen, total krank. Als ob ich mein Ding in ihre Drecksfotze stecken würde.« »Wer würde das schon?« Grets lachte und schlug noch einmal mit Jason die Fäuste zusammen. »Hat jemand 'ne Kippe?«, fragte Jason und spielte mit dem Zigarettenstummel in seiner Tasche. »Nee, wir sind alle total pleite, Mann. Aber ich weiß, wo wir welche kriegen. Banger hat Tabak und Blättchen für mich, weil ich ihm neulich bei 'nem Bruch geholfen habe.« »Geil«, sagte Jason. »Lasst uns gehen.« Der Van blieb vor einem Haus stehen, der Fahrer stieg aus und ging zur Hecktür. Er trug einen schwarzen Overall und eine schwarze Mütze. Im Haus wurde ein Vorhang zur Seite gezogen, und ein schmaler Lichtstrahl fiel auf den Van. Dann wurde es wieder dunkel. Leise schloss der Mann die Hecktür, dann bewegte er sich auf das Haus zu. Er selbst war in der Dunkelheit kaum zu sehen, wohl aber die weißen Pizzaschachteln in seiner Hand. Die Haustür wurde geöffnet. »Pizzaservice?«
Kapitel I
Inspektor Damen Brook wachte erschrocken auf und brauchte einen Moment, um zu sich zu kommen. Er hielt die Augen geschlossen und ballte die Hände zu Fäusten. Sein ganzer Körper war schweißgebadet. Er hatte etwas Schreckliches geträumt, und was ihn in der Realität erwartete, war nicht viel besser. In diesem Moment zwischen Schlafen und Wachen konnte er beidem entgehen. Ein Moment Ruhe. Ein Moment Seligkeit. Dann hob er den Kopf von der Schreibtischplatte, schaute sich in seinem spartanisch möblierten Büro um und horchte. Nichts zu sehen oder zu hören. Er setzte sich auf und massierte seinen verspannten Nacken. Dann stand er auf, um sich auch den schmerzenden Rücken zu reiben. Ein Blick auf die Uhr: nach Mitternacht. Seine Schicht war vor vier Stunden zu Ende gewesen, und er hätte längst zu Hause sein können. Aber was hätte er dort tun sollen? Zu Hause ... Ihm wurde schon übel, wenn er bloß daran dachte. Er griff zum Telefon und gähnte. »Taj Mahal.« »Ich möchte etwas bestellen.« »Hallo, Mr. Brook. Wie geht's Ihnen?« »Ging mir nie besser. Ich nehme das Hähnchenfilet Jalfrezi ...« »Mit Pilawreis. Brot dazu?« »Hatte ich das schon mal?« »Bis jetzt noch nicht.« »Na also. Wie lange?« »Zehn Minuten.« »Bin gleich da.« Brook legte auf und verließ das Büro. Schnell und leise ging er zum Hauptausgang des Gebäudes. Er hatte Glück. Sergeant Hendrickson stand mit dem Rücken zum Tresen, und Brook konnte unbemerkt durch den Empfangsbereich huschen. Er war fast schon an der Tür, als er Hendrickson etwas sagen hörte, das ihn anhalten ließ. »Dieser Bastard! Aufhängen sollte man ihn!« »Ganz meine Meinung«, sagte jemand anders. Brook erkannte die Stimme von PC Robinson. »Wenn er geschnappt wird, sollte man ihm die Eier abschneiden «, sagte Hendrickson. »Ich würde mich freiwillig als Erster dafür zur Verfügung stellen.« »Ich auch.« Jemand, den Brook nicht verstehen konnte, schien etwas zu sagen, das Hendrickson missfiel, denn der antwortete: »Natürlich nicht. Aber bestimmt fühle ich mich dann besser.« Brook stand immer noch da. Eigentlich wollte er endlich nach Hause, aber das hier konnte er nicht durchgehen lassen. Immerhin war er der leitende Inspektor. Er atmete tief durch, drehte sich um und ging an den Tresen zurück. »Sergeant?« Alle drehten sich zu ihm um. »Was, wenn ich ein ganz normaler Bürger dieser Stadt wäre, der hier reinkommt und so etwas hört?« Er versuchte, Autorität in seine Stimme zu legen. »Oder der Polizeichef ...« Brook stockte, als er sah, dass PC Wendy Jones die Person war, die er nicht verstanden hatte. Ihre Blicke trafen sich, und einen Moment lang schauten sie einander stumm an. Brook reckte das Kinn vor und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass er den Faden verloren hatte. Hätte er doch bloß nichts gesagt! Er hätte längst weg sein können. Seine Wut war verflogen, und weil er nicht wusste, wie er weitermachen sollte, tat er so, als unterzöge er die Weihnachtsgirlanden an den Wänden einer Inspektion, ehe er wieder Hendrickson ansah. »Sie sind ja noch da ... Sir.« Sergeant Harry Hendrickson setzte das spöttische Grinsen auf, das er für Brook reserviert hatte. Nur die kleine Pause vor der scheinbar höflichen Anrede war neu. Trotzdem war Brook bestens damit vertraut. Früher hatte er diesen kleinen Trick oft selbst benutzt, wenn er lästige Bürger auf Distanz halten wollte. Inzwischen war ihm alles viel zu gleichgültig, um sich noch diese Mühe zu machen. »Messerscharf kombiniert«, sagte Brook verächtlicher, als ihm zumute war. »Kein Wunder, dass die Kollegen sich fragen, warum Sie nicht schon längst zum Inspektor befördert worden sind.« Hendrickson hörte auf zu grinsen. Die anderen schauten betreten zu Boden. Brook merkte, dass er die Sache irgendwie zu Ende bringen musste, wenn er nicht das Gesicht verlieren wollte. »Nun?«, sagte er. »Nun, was? Sir?«, fragte Hendrickson. »Ihre Ausdrucksweise und die Androhung von Gewalt. Ich erwarte eine Erklärung.« Brook wusste, wie lahm das klang. Auch Hendrickson schien zu merken, dass Brook sein Eingreifen längst bereute, denn er setzte wieder sein spöttisches Grinsen auf und starrte ihn mit unverhohlener Verachtung an. PC Robinson versuchte, die Situation zu entschärfen. »Es hat einen Mord gegeben, Sir. Eine ältere Frau. Erwürgt und erschlagen.« »Verstehe ...« »Jeder, der noch eine Mutter hat, muss eine Stinkwut haben «, platzte Hendrickson heraus. »Dieser Abschaum tötet für ein paar lausige Pfund ... Sir.« Danach war es einen Moment lang still, und selbst PC Jones hob den Blick, um zu sehen, wie Brook reagieren würde. Was Brook dann tat, überraschte selbst Hendrickson. Er lächelte traurig, nickte und fragte: »Wer hat den Fall übernommen? « »Inspektor Greatorix«, antwortete Robinson. »Okay.« Brook wandte den Blick von Hendricksons triumphierendem Grinsen ab und überlegte einen Moment, ehe er ruhig und leise sagte: »Auch wer keine Mutter mehr hat, könnte darüber eine Stinkwut haben, Sergeant. Aber solche Gefühle hindern uns daran, unsere Arbeit anständig zu erledigen. Ihre aggressive Ausdrucksweise stört mich weniger als die Haltung, die dahintersteckt. Wir können uns keinen Kontrollverlust leisten, Sergeant.« Brook machte eine kurze Pause, ehe er hinzufügte: »Wir werden nämlich dafür bezahlt, dass wir die Kontrolle behalten.« Hendrickson grinste zwar immer noch, aber es war nur noch eine Fassade. Jetzt senkte Robinson den Blick, und Jones sah zu Brook auf. Er nahm es wahr und hielt ihren Blick einen Moment lang fest, denn er glaubte, ein Fünkchen Zustimmung darin zu erkennen. Dann schaute er wieder weg, wandte sich zum Gehen und warf ein »Gute Nacht« über die Schulter. Er zwang sich, langsamer zu gehen, als ihm lieb war, und lauschte auf das Gemurmel und Lachen hinter seinem Rücken. Natürlich würden sie sich wieder mal die Mäuler über ihn zerreißen. Auf dem Weg zum Parkplatz fluchte Brook leise vor sich hin und wünschte, er hätte sich nicht eingemischt. »Was glaubt der Kerl eigentlich, wer er ist?«, tobte Hendrickson. »Ich hasse diese Londoner Schnösel!« »Ursprünglich stammt er aus Yorkshire«, versuchte Jones die Wogen zu glätten, wagte aber nicht, die Kollegen dabei anzusehen. Bloß nicht näher auf dieses Thema eingehen! »Und was hatte er dann in der Hauptstadt zu suchen?« Jones holte tief Luft und sah Hendrickson an. Sie hatte angefangen, folglich war sie ihm eine Antwort schuldig. »Er galt als Naturtalent, der beste Profiler, den die Truppe je hatte. Dann ist er krank geworden.« Der massige Kollege PC Aktar kam herein. »Komm, Schätzchen, lass uns gehen«, sagte er zu Jones. »Die Stadt braucht uns.« »Bin bereit.« »Krank geworden ... dass ich nicht lache! Ich kenne seine Personalakte. Der Mistkerl hatte einen Nervenzusammenbruch. Warum mussten die ausgerechnet uns so einen Psychofritzen aufhalsen?« Hendrickson konnte sich nicht beruhigen. »Soll ich dir sagen, warum, Mädel?« »Ich bin nicht dein Mädel!« »Er war nicht gut genug für die Hauptstadt. Nur weil er auf dem College war, dachte er, dass er mehr kann als gewöhnliche Polizisten. Aber da hat er sich getäuscht. Er hat's nicht gepackt. Da mussten sie sich was einfallen lassen.« Er machte eine Pause, damit die anderen fragten, was dann passiert war. Als sie es nicht taten, sprach er trotzdem weiter. »Sie haben ihn abgeschoben, damit er keinen Schaden mehr anrichtet. Da haben sie an uns gedacht, weil wir Hinterwäldler sind und hier sowieso nichts passiert, was ein abgewrackter Spinner nicht in den Griff kriegen könnte. Hier kann er getrost seiner Pensionierung entgegenschnarchen. So sieht's nämlich aus. Aber er denkt immer noch, dass er was Besseres ist, dass wir vor ihm auf den Knien rutschen und ihm die Füße küssen sollten.« »Er sollte eine Dienstanweisung daraus machen«, sagte Robinson und lachte. »Die würden wir doch alle nur zu gerne befolgen.« Hendrickson konnte sich immer noch nicht beruhigen. »Ist doch wahr!«, sagte er. »Die Kollegen hier oben im Norden sehen das alle so.« »Er macht einfach nur seinen Job«, sagte Jones im Hinausgehen. Hendrickson grinste zynisch. »War ja klar, dass du ihn verteidigst!« »Was soll das heißen?« Jones drehte sich zu ihm um und merkte, dass sie rot wurde. Sie wusste nur zu gut, was es heißen sollte. Robinson hielt es trotzdem für nötig, es noch einmal klar und deutlich zu formulieren. »Wir wissen doch alle, dass er dein Lover ist, Wendy.« »Ist er nicht«, widersprach Jones mit zusammengepressten Zähnen. »Ich war einmal mit ihm tanzen, und anschließend hat er mich nach Hause gefahren. Es ist nichts passiert. Wie oft muss ich das noch sagen?« »Man kann es ja auch im Auto treiben«, grinste Hendrickson. Während er und Robinson sich vor Lachen ausschütteten, ging Jones mit großen Schritten auf die Tür zu. »Ihr könnt mich mal«, rief sie über die Schulter zurück. »Zügeln Sie Ihre Ausdrucksweise, Constable«, rief Hendrickson ihr hinterher. »Sie wollen doch wohl nicht, dass Ihr Lover Sie so reden hört!« Auf dem Weg zum Streifenwagen sah Aktar die junge Kollegin fragend an und wartete auf eine Erklärung. Sie versuchte ihn zu ignorieren, sagte aber nach ein paar Sekunden: »Alles bloß dummes Gerede. Glaub denen kein Wort!« Brook drückte die schwere Metalltür am Fuße der Treppe auf und betrat den gespenstisch beleuchteten Parkplatz. Es war kalt und dunkel, und der Boden war gefroren. Brook schüttelte sich vor Kälte und schlug den Mantelkragen hoch. Wie üblich näherte er sich seinem Wagen über die breite Mittelspur. Er konnte nicht an den anderen Wagen entlanggehen, weil er immer eine Menge Platz zwischen sich und größeren Gegenständen brauchte. Als er noch nicht darauf geachtet hatte, war er einmal von einer Ratte angesprungen worden. Er ging in der Mitte der Fahrspur, in gleichmäßiger Entfernung von den parkenden Fahrzeugen zu beiden Seiten. Während er sich seinem alten Sportwagen näherte, suchte er den Boden nach Bewegungen ab. Kaum hatte er die quietschende Tür aufgeschlossen, sprang er mit einem Satz in den Wagen, damit ihm nicht doch noch einer dieser widerlichen Nager den Knöchel anknabberte. Er musste an ein Kind denken, das abends ins Bett sprang, um nicht vom bösen Mann unterm Bett geschnappt zu werden. Als Brook den verbeulten Austin Healey Sprite vom Parkplatz fuhr, waren ihm die Fahrgeräusche des Wagens peinlich wie selten. Der Motor röhrte vor Anstrengung, und der Auspuff rasselte. Der Widerhall von den umliegenden Gebäuden des Polizeihauptquartiers machte die Sache nur noch schlimmer, zumal zu dieser nachtschlafenden Zeit sonst alles still war. Was an einem lauen Sonntagnachmittag auf einer Spritztour durch den Peak District wie Musik in seinen Ohren klang, kam ihm jetzt wie eine Kakophonie vor, die die Mauern von Jericho zum Einsturz gebracht hätte. Brook holte das bestellte Essen ab und war ein paar Minuten später zu Hause. Das war der Vorteil, wenn man in einer so kleinen Stadt wie Derby wohnte: Alle Wege waren kurz. Über die innere Ringstraße, am Eagle Centre und dem neuen Einkaufszentrum vorbei - und schon hatte er das heruntergekommene Haus in der Uttoxeter Road erreicht, in dem sich seine Mietwohnung befand. Es war keine besonders gute Adresse, aber auch keine besonders schlechte. Und es lag zentral. Brook brauchte kein Einfamilienhaus in einem Neubauviertel am Stadtrand, keinen Kamin. Er war ein Stadtmensch und zog es vor, anonym zu bleiben. Außer natürlich, wenn er mit seinem Sprite nach Mitternacht heimkam und die ganze Nachbarschaft es hörte. Er parkte direkt vor seiner Erdgeschosswohnung, drehte den Zündschlüssel und genoss das Geratter, mit dem der Keilriemen zur Ruhe kam. Noch als er mit seinem Hähnchen Jalfrezi ausstieg, hörte er, wie der Vorzünder arbeitete, ehe der Motor endgültig ausging. Die Autotür ließ er einfach zufallen, ohne sie abzuschließen. Einem Impuls folgend, schaute er zum Fenster der Nachbarwohnung im ersten Stock auf und sah gerade noch, wie jemand den Vorhang wieder schloss. Brook nickte zufrieden. Irgendwie war es ihm eine Genugtuung, dass die alte Mrs. Saunders noch schlechter zu schlafen schien als er. Wahrscheinlich würde sie sich morgen wieder über die nächtliche Ruhestörung beschweren. Ständig hatte sie alles im Blick und mischte sich überall ein. Das war beruhigend. Solange Mrs. Saunders da war, konnte nichts passieren. Nicht dass etwas Spezielles zu befürchten gewesen wäre. Brook besaß ohnehin nichts von Wert. Aber er war nun mal Polizist, und als solcher war er genau wie Mrs. Saunders am »Kommen und Gehen«, wie sie es ausdrückte, interessiert - und sei es nur aus voyeuristischer Neugier. Brook ging nicht gleich ins Haus. Erst wollte er eine Zigarette rauchen. Eigentlich hatte er vor zwei Tagen damit aufgehört. Im Kofferraum lag aber noch eine zerknitterte Schachtel. Er holte sie heraus. Nur noch eine Zigarette. Das war gut. Andererseits aber auch nicht. Wäre er noch in Battersea gewesen, hätte er sich schnell eine neue Schachtel holen können. War er aber nicht. Er war in Derby, und hier waren die Läden nachts geschlossen. Er zündete die Zigarette an und nahm einen tiefen Zug. Es kratzte im Hals, stach in der Lunge, und ihm wurde leicht schwindlig. Herrlich! Er stand neben seinem Wagen und schaute am Haus vorbei die Straße entlang. Es gab nicht viel zu sehen. Es war dunkel und neblig, und von den Hügeln her wehte ein kalter Wind. Zum ersten Mal seit seiner Versetzung vor drei Jahren betrachtete er die Skyline von Derby mit freundlichen Augen. Er hatte sich den Ort nicht ausgesucht, sondern einfach die erstbeste Versetzungsmöglichkeit ergriffen. Hätte es ihn nach Bagdad verschlagen, wäre es auch okay gewesen. Hauptsache, er konnte weg. Derby hatte ihn nicht enttäuscht. Es war eine angenehm unaufregende Stadt, in der man vergessen konnte. Maschinenbau und Ingenieurswesen hatten hier Tradition, was bedeutete, dass die Einwohner fleißige, anständige Leute waren. Der nicht unbeträchtliche Anteil asiatischer Einwanderer war gut integriert. Frank Whittle, ein Pionier des Flugzeugbaus und späterer Konstrukteur von Rolls-Royce, wurde hoch verehrt, denn die Autofirma war immer noch der größte Arbeitgeber der Stadt. Derby beherbergte auch eine der größten Eisenbahnfabriken der Welt. Transport und Verkehr war das große Thema der Stadt, die sich selbst so gar nicht bewegte. In den letzten Jahren waren am Stadtrand Einkaufszentren wie Pilze aus dem Boden geschossen, und viele Einwohner waren in deren Nähe gezogen. Alte Viertel wie das, in dem Brook wohnte, waren seither unattraktiver, dafür aber ruhiger geworden. Trotz des unvermeidlichen Niedergangs der Stadt im Zuge der Wirtschaftskrise hielt sich die Kriminalität in Grenzen, und Morde geschahen höchst selten. Das Beste an dieser Ecke der östlichen Midlands aber war der Peak District, ein paar Meilen weiter nordwestlich. Brook hatte sich regelrecht darin verliebt und nutzte jede Gelegenheit zu einem Ausflug in das malerische Hügelland. Alles war dort so friedlich, dass er innerlich ein wenig zur Ruhe kam. Ashbourne, Hartington, Buxton, Bakewell, Carsington Water ... Brook liebte all die kleinen Orte. Egal, wo er den Wagen stehen ließ - von überall konnte man zu stundenlangen Wanderungen aufbrechen und den Kopf frei bekommen. Dass er langsam anfing, sich hier heimisch zu fühlen, war ebenso unerwartet wie willkommen. Es würde ihm bei der größten Herausforderung helfen, die noch vor ihm lag: sich selbst wiederzufinden. Seit er als äußerst selbstbewusster dreiundzwanzigjähriger Grünschnabel in den Dienst der Metropolitan Police von London eingetreten war, hatte er jetzt zum ersten Mal das Gefühl, es sei tatsächlich möglich, alles wieder loszuwerden, was seinen Geist und Körper beschmutzte. Hier watete er sozusagen nur knöcheltief durch eine schmale Abwasserrinne, während er damals in London in einer Kloake zu ertrinken drohte.
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2010 by Rowohlt Verlag GmbH
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Autoren-Porträt von Steven Dunne
Steven Dunnes Interesse für die Literatur wurde während seines Studiums an der Kent University geweckt. Seitdem schreibt er, zunächst als Journalist für die Times, den Independent und den Guardian. Heute lebt er in Derby und unterrichtet Englisch.
Bibliographische Angaben
- Autor: Steven Dunne
- 2014, 1, 608 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863654129
- ISBN-13: 9783863654122
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