Whisper Island - Wetterleuchten
Der zweite Band um die übersinnlich begabte Becca King: Vor Whisper Island macht sie eine ungeheuerliche Entdeckung
Teenager Becca King ist auf der Flucht vor ihrem Stiefvater. Mit ihren telepathischen Fähigkeiten hat sie...
Teenager Becca King ist auf der Flucht vor ihrem Stiefvater. Mit ihren telepathischen Fähigkeiten hat sie...
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Produktinformationen zu „Whisper Island - Wetterleuchten “
Der zweite Band um die übersinnlich begabte Becca King: Vor Whisper Island macht sie eine ungeheuerliche Entdeckung
Teenager Becca King ist auf der Flucht vor ihrem Stiefvater. Mit ihren telepathischen Fähigkeiten hat sie herausgefunden, dass dieser seine Geschäftspartner ermordet hat. Und er weiß, dass sie es weiß Nun ist sie auf dem abgeschiedenen Whisper Island untergetaucht. Dort sorgt gerade ein Neuankömmling für Aufregung: Meeresbiologin Annie sucht nach einer wissenschaftliche Sensation. Bei einem Tauchgang mit ihr macht Becca schließlich eine dramatische Entdeckung.
Sie muss eine Entscheidung auf Leben und Tod treffen...
Teenager Becca King ist auf der Flucht vor ihrem Stiefvater. Mit ihren telepathischen Fähigkeiten hat sie herausgefunden, dass dieser seine Geschäftspartner ermordet hat. Und er weiß, dass sie es weiß Nun ist sie auf dem abgeschiedenen Whisper Island untergetaucht. Dort sorgt gerade ein Neuankömmling für Aufregung: Meeresbiologin Annie sucht nach einer wissenschaftliche Sensation. Bei einem Tauchgang mit ihr macht Becca schließlich eine dramatische Entdeckung.
Sie muss eine Entscheidung auf Leben und Tod treffen...
Lese-Probe zu „Whisper Island - Wetterleuchten “
Whisper Island Wetterleuchten von Elizabeth George Aus dem Amerikanischen von Ann Lecker und Bettina Arlt
TEIL I
DECEPTION PASS
CILLAS WELT
... mehr
Ich war zwei Jahre alt, als ich zu meinen Eltern kam, und die einzigen Erinnerungen, die ich vor den Erinnerungen an sie habe, sind wie Träume. Ich werde getragen. In der Nähe ist Wasser. Mir ist kalt. Jemand hält mich in seinen Armen und rennt, und mein Kopf ist so fest an seine Schulter gedrückt, dass es bei jedem Schritt wehtut. Die Art, wie er mich hält, verrät mir, dass es ein Mann ist. Denn es ist Männern nicht von Natur aus gegeben, jemanden zu halten.
Es ist Nacht, und ich erinnere mich an Lichter. Ich erinnere mich an Stimmen. Ich erinnere mich daran, dass ich vor Angst und Nässe zittere. Dann wickelt man mich in etwas Warmes, und das Zittern hört auf, und dann schlafe ich ein.
In einem weiteren Traumfetzen sehe ich mich an einem anderen Ort. Eine Frau sagt mir, dass sie jetzt meine Mommy ist, und zeigt auf einen Mann, der sich über mich beugt und sagt, dass er jetzt mein Daddy ist. Aber sie sind nicht meine Eltern und werden es nie sein, ebenso wie die Worte, die sie benutzen, nicht meine Worte sind und es nie sein werden. Das ist die Ursache aller meiner Probleme.
Ich spreche nicht. Ich gehe nur umher, zeige auf etwas und beobachte. Solange ich tue, was man mir sagt, komme ich zurecht. Aber ich habe vor Dingen Angst, vor denen andere Kinder keine Angst haben.
Vor allem habe ich Angst vor Wasser, und das war von Anfang an ein Problem. Denn ich lebe mit der Mommy und dem Daddy in einem Haus hoch oben auf einer Klippe, unter der sich kilometerweit Wasser erstreckt, und von den Fenstern des Hauses aus kann ich nichts weiter sehen als Wasser. Deshalb würde ich mich am liebsten ständig im Haus verstecken, aber das geht nicht, denn ein Kind muss Zeit mit der Familie verbringen und in die Kirche und zur Schule gehen, wenn es älter wird.
All das tue ich nicht. Ich versuche es zu tun, die Mommy und der Daddy versuchen, mich dazu zu bringen, es zu tun, und andere Leute versuchen es auch. Aber alle scheitern.
Deshalb lande ich schließlich ganz weit weg an einem Ort, wo mich kein Wasser umgibt. Da sind Leute, die mich betasten. Sie schieben mich hierhin und dorthin. Sie reden über meinen Kopf hinweg. Sie beobachten mich auf Videos. Sie zeigen mir Bilder. Sie stellen mir Fragen. Während all das vor sich geht, höre ich: »Sie müssen irgendetwas mit ihr tun, deshalb haben wir sie hierhergebracht «, und diese Worte haben keine Bedeutung für mich. Aber in dem Klang dieser Worte erkenne ich eine Art Abschied.
Ich bleibe an diesem Ort ohne Wasser, wo man mir die Grundlagen beibringt, die für das menschliche Leben gelten. Ich lerne, mich zu waschen und zu essen. Mehr als das lerne ich nicht. Wenn man mir eine einfache Aufgabe stellt, kann ich sie erfüllen, sofern man mir ganz genau zeigt, was ich tun muss. Schließlich begreifen sie, dass mit meinem Gedächtnis alles in Ordnung ist. Das ist jedoch auch alles, was sie begreifen. Sie stempeln mich zum Rätsel ab. Es ist ein Segen, sagen sie, dass ich zumindest gehen und essen und mich waschen kann. Das, sagen sie, ist schon Grund zur Freude.
Am Ende werde ich zurück zu der Mommy und dem Daddy geschickt. Jemand erklärt: »Du bist jetzt achtzehn. Ist das nicht toll?«, und obwohl diese Worte keine Bedeutung für mich haben, wird mir klar, dass sich die Dinge verändern werden. Bleibt nur noch eine Fahrt an einem bitterkalten Januarmorgen und ein festliches Picknick, um meine Rückkehr zu feiern.
Wir sind unterwegs zu einem Park. Die Fahrt dorthin kommt mir ewig vor. Wir überqueren eine hohe Brücke, und die Mommy ruft: »Mach die Augen zu, Cilla! Da ist Wasser!« Ich tue, was sie sagt, und kurz darauf haben wir die Brücke auch schon hinter uns gelassen. Wir biegen in ein Waldstück mit Bäumen ein, die hoch in den Himmel ragen, und folgen einer sich windenden Straße, die immer weiter abwärts führt. Sie ist mit in Winterstürmen abgefallenen Zedernnadeln übersät.
Am Ende der Straße ist ein Parkplatz. Dort gibt es Picknicktische, und die Mommy sagt: »Ein idealer Tag für ein Picknick! Geh runter zum Strand, Cilla, während ich alles vorbereite. Ich weiß doch, wie gerne du den Strand betrachtest.«
Der Daddy sagt: »Ja, komm, Cill«, und als er auf dichtes, glänzendes Gestrüpp unter den Bäumen zumarschiert, folge ich ihm einem Pfad entlang, der direkt durch dieses Dickicht führt. Da ist ein Weg, teils Sand, teils Erde, auf dem wir unter Zedern und Tannen gehen und an Farne und Felsen streifen, bis wir endlich den Strand erreichen.
Ich habe keine Angst vor Stränden, nur vor dem Wasser, das sie säumt. Die Strände mit ihren salzigen Gerüchen und den dicken, gewundenen Meeresalgenschlangen, die immer wieder aufs Neue angespült werden, liebe ich. Hier liegt Treibholz herum, das vom Wasser glatt geschliffen wurde. Es gibt große Felsen, auf die man klettern kann. Ein Adler fliegt hoch oben in der Luft, und eine Möwe krächzt, und ein toter Seebarsch liegt in der kalten, grellen Sonne.
Ich bleibe vor dem Fisch stehen und beuge mich vor, um ihn genauer zu betrachten. Ich beuge mich noch weiter vor, um an ihm zu riechen. Davon brennen mir die Augen.
Die Möwe krächzt noch einmal, und der Adler kreischt. Er stößt herab und erhebt sich wieder in die Lüfte, und ich folge seinem Flug mit den Augen. Er fliegt gen Norden und verschwindet in der Ferne.
Ich warte darauf, dass er zurückkommt, aber das tut er nicht. Und auch der Daddy ist weg, stelle ich fest, der mich durch das Dickicht an diesen Strand geführt hat. Er ist an der Stelle stehen geblieben, wo der Sand auf den Weg trifft, auf dem wir gekommen sind. Er hat gesagt: »Ich rauch mir kurz 'nen Giftstängel. Erzähl's bloß nicht der Mommy, ja, Cill?«, aber ich bin weitergegangen. Vielleicht ist er zurück zu dem versprochenen Picknick, und jetzt bin ich allein. Die Einsamkeit und die Nähe zum Wasser mag ich nicht. Ich laufe zurück zu dem Platz, wo das Auto parkt.
Aber das ist auch weg, genau wie der Daddy. Und die Mommy. Da, wo das Picknick sein sollte, stehen nur zwei Dinge auf dem grauen und mit Flechten überzogenen Tisch unter den Bäumen. Ein in Folie verpacktes Sandwich. Und ein kleiner Rollkoffer.
Ich komme näher. Ich blicke mich um. Wie immer sehe, beobachte, deute ich. Aber hier ist niemand, der darauf reagieren könnte.
Ich bin allein. Und ich habe keine Ahnung, wo ich bin.
KAPITEL 1
Wenn Leute behaupteten: »Geld ist nicht alles«, wusste Jenn McDaniels sofort zwei Dinge über sie. Erstens, sie waren nie arm gewesen. Und zweitens, sie hatten keine Ahnung, wie es war, arm zu sein. Jenn war arm, sie war die ganzen fünfzehn Jahre ihres Lebens arm gewesen, und sie wusste nur zu gut, was man alles tun musste, wenn man kein Geld hatte. Man kaufte seine Klamotten in Secondhandläden, man kratzte sich seine kläglichen Mahlzeiten bei der städtischen Essensausgabe zusammen, und wenn sich einem auch nur die geringste Chance bot, einem Leben aus zweiter Hand mit Bettlaken als Vorhängen zu entrinnen, ergriff man sie, ganz gleich, was man dafür tun musste.
Genau damit war Jenn an dem Nachmittag beschäftigt, als Annie Taylor in ihr Leben brauste. Wenn ihr der Zustand des sehr schnittigen silbernen Honda Accord nicht verraten hätte, dass Annie Taylor nicht auf Whidbey Island gehörte - oh Mann, das Auto war tatsächlich sauber! -, hätte sie es an dem Kennzeichen aus Florida erkannt. Oder an Annie Taylors trendigem Outfit und ihrem supermodisch frisierten, gewollt struppigen roten Haar. Sie stieg aus dem Wagen, stemmte eine Hand in die Hüfte und fragte Jenn: »Das ist doch Possession Point, oder?«, während sie mit einem missbilligenden Blick den Hindernisparcours betrachtete, den Jenn entlang des Wegs aufgestellt hatte.
Dieser Hindernisparcours war Jenns Chance, den Bettlakenvorhängen und dem Leben aus zweiter Hand zu entrinnen. Es war auch ihre Chance, Whidbey Island ganz hinter sich zu lassen. Der Parcours bestand aus Mülltonnendeckeln, kaputten Klobrillen, Ködereimern, Schwimmern und zerrissenen Rettungswesten. Diese Gegenstände ersetzten die Leitkegel, die andere - reiche - Kids zum Trainieren benutzt hätten. Jenn hatte vorgehabt, diesen behelfsmäßigen Hindernisparcours mindestens eine Stunde lang auf und ab zu dribbeln. In ein paar Monaten fanden Testspiele für die All-Island-Mädchenfußballmannschaft statt, und Jenn wollte unbedingt den Sprung ins Team schaffen. Mittelfeldspielerin! Eine blitzschnelle Braut! Ihre Geschicklichkeit unumstritten! Ihre Zukunft gesichert! Universitätsstipendium, ich komme ... Nur stand ihr jetzt Annie Taylors Wagen im Weg. Oder Jenn stand Annie Taylor im Weg - je nachdem, von welcher Warte man es betrachtete.
Jenn bestätigte, dass dies Possession Point sei, machte aber keine Anstalten, ihre Sachen aus dem Weg zu räumen, damit Annie weiterfahren konnte. Offen gesagt, sah sie keinen Grund dazu. Der Rotschopf gehörte eindeutig nicht hierher, und wenn sie die Aussicht genießen wollte - die alles andere als grandios war -, würde sie ihren Hintern zu Fuß runter zum Wasser bewegen müssen.
Jenn dribbelte den Fußball auf einen kaputten Klodeckel zu und übte Ausweichmanöver und Finten. Sie wirbelte immer wieder geschickt herum, um ihre Gegenspielerinnen auszutricksen. Sie wollte den Ball gerade an einem Mülltonnendeckel vorbeiführen, als Annie Taylor ihr zurief: »Hey! 'tschuldige? Kannst du mir sagen ... wo ich Bruce McDaniels finde?«
Jenn blieb stehen und blickte über ihre Schulter. Annie fuhr fort: »Kennst du ihn? Er soll hier irgendwo wohnen. Er hat einen Schlüssel für mich. Ich bin übrigens Annie Taylor.«
Mit einem Seufzer hob Jenn den Ball auf. Natürlich kannte sie Bruce. Bruce war ihr Vater. Sie hatte ihn das letzte Mal auf der Veranda gesehen, wo er gerade der frühen Februarkälte zum Trotz fünf verschiedene selbst gebraute Biere probierte. Er hatte die Gläser auf dem Geländer aufgereiht, um die »Schaumkrone jedes einzelnen bewundern zu können«, bevor er sie hinunterkippte. Er braute sein eigenes Bier auf dem Grundstück in einem Schuppen, den er immer wie Fort Knox sicherte. Wenn er kein Bier braute, verkaufte er das Zeug unterm Tisch. Wenn er das nicht tat, verkaufte er Köder an Fischer, die das Risiko nicht scheuten, ihre Boote an seiner baufälligen Anlegestelle anzudocken.
Als Annie Taylor einen Schlüssel erwähnte, dachte Jenn zuerst, ihr Dad würde seine Fort-Knox-Brauerei einer Unbekannten überlassen. Aber dann fügte Annie hinzu: »Hier steht doch irgendwo ein Wohnwagen, oder? Also ich ziehe da ein. Und der Mann, der mir den Wohnwagen vermietet - Eddie Beddoe? - hat gesagt, Bruce würde mit dem Schlüssel auf mich warten. Ist er hier?« Sie gestikulierte am Hindernisparcours vorbei. Jenn nickte, dachte aber, dass Annie bestimmt von einem anderen Wohnwagen redete, weil absolut niemand in dem abgewrackten Ding wohnen könnte, das verlassen nicht weit von ihrem Haus gestanden hatte, solange sie denken konnte.
»Super«, sagte Annie. »Also wenn's dir nichts ausmacht ...? Kann ich ...? Kann ich das Zeug aus dem Weg räumen?«
Jenn fing an, ihre Hindernisse zur Seite zu kicken. Annie half ihr und ließ währenddessen den Motor ihres Hondas laufen. Sie war groß - aber bei einer Größe von 1,58 m erschien Jenn so ziemlich jeder groß - und hatte eine Menge Sommersprossen. Ihr Outfit hatte sie wohl auf dem Weg zur Insel in Bellevue gekauft: Skinny-Jeans, Stiefel, Rollkragenpulli, Parka, Schal. Sie sah aus wie eine wandelnde Reklame für das Leben in der freien Natur des Bundesstaates Washington, nur dass die Zusammenstellung viel zu gewollt wirkte. Ein echter Naturliebhaber würde nie so herumlaufen. Jenn drängte sich die Frage auf, was zum Teufel Annie Taylor hierher trieb, wenn sie nicht auf der Flucht vor dem Gesetz war.
Mit dem Fußball unterm Arm folgte sie Annies Auto bis kurz vor den Wohnwagen. Jenn malte sich aus, dass ihre Reaktion beim Anblick dieses Wracks viel interessanter sein würde als Dribbeln.
Als Jenn Annie einholte, stand dieser ein »Oh!« förmlich ins Gesicht geschrieben. Nicht im Sinne von »Oh, wie cool«, sondern mehr wie »Oh mein Gott, was habe ich getan?« Sie war aus ihrem Auto gestiegen und stand wie angewurzelt da, den Blick starr auf den einzigen Wohnwagen weit und breit gerichtet. »Äh ... Das ist er?«, fragte sie an Jenn gewandt.
»Echt cool, was?«, erwiderte Jenn sarkastisch. »Wenn Sie auf schwarzen Schimmel stehen, sind Sie hier genau richtig.«
»Possession Point«, murmelte Annie vor sich hin. Dann drehte sie sich wieder zu Jenn: »Das ist er ... ohne Jux? Das ist wirklich der Wohnwagen? Du wohnst doch nicht auch hier, oder?« Annie blickte sich um, aber natürlich gab es nicht viel zu sehen, das diesen trostlosen Ort in einem sympathischeren Licht hätte erscheinen lassen.
Jenn zeigte auf ihr Haus, das nicht allzu weit entfernt näher am Wasser lag. Auch wenn das Gebäude alt war, befand es sich doch in einem geringfügig besseren Zustand als der Wohnwagen. Es bestand aus grauen Schindeln und hatte ein bedenklich schiefes Dach, und gleich dahinter neigte sich am Rand des Wassers ein Köderschuppen gefährlich zu einer Anlegestelle hin. Beide Gebäude ragten gleichsam aus Bergen von Treibholz und alten Fischernetzen sowie den Anhäufungen diverser Gegenstände, von umgestürzten Aluminiumbooten bis hin zu umgedrehten Kloschüsseln, hervor.
Während Annie Taylor den Anblick des Ganzen verarbeitete, kam Jenns Vater Bruce aus dem Haus, ging die klapprigen Stufen der Veranda hinunter und rief: »Sind Sie Annie Taylor?«, worauf Annie wenig begeistert erwiderte: »Sie müssen Mr McDaniels sein.«
»Wie er leibt und lebt«, gab er zurück.
»Das ist ... äh ... Das ist klasse«, sagte Annie, obwohl ihre zögerliche Antwort eher das Gegenteil nahelegte.
Jenn konnte ihr das kaum übelnehmen. Vermutlich war Annie Taylor noch nie jemandem wie Bruce McDaniels begegnet. Er gefiel sich in der Rolle des komischen Kauzes und betonte jede Schrulle, die ihn exzentrisch erscheinen ließ. So trug er sein graues Haar schulterlang wie Benjamin Franklin. Seine suppenschüsselgroße Glatze verbarg er unter einer Second-Hand-Skimütze mit der Aufschrift SKI SQUAW VALLEY. Dabei war er in seinem ganzen Leben noch nie Ski gefahren. Auch körperlich war er in keiner guten Verfassung: Er war dürr wie eine Vogelscheuche, abgesehen von seiner Wampe, die ihm über den Hosenbund hing und mit der er aussah, als sei er im sechsten Monat schwanger.
Er kramte in seiner Hosentasche und sagte: »Hab Ihren Schlüssel gleich hier«, als die Haustür aufflog und Jenns kleine Brüder herausgestürmt kamen.
»Wer ist die denn?«, wollte Petey wissen.
»Dad, er hat 'nen Hot Dog gegessen, aber die waren fürs Abendessen!«, schrie Andy. »Jenny, sag's ihm! Du hast Mom gehört. «
»Ruhe, ihr kleinen Hosenscheißer«, trompetete Bruce McDaniels fröhlich. »Das ist Annie Taylor, unsere neue Nachbarin. Und das, Annie, sind die Früchte meiner Lenden: Jennifer, Petey und Andy. Jenn ist die mit dem Fußball.« Er gluckste, als hätte er einen tollen Witz gerissen, dabei hatte man Jenn wegen ihres Kurzhaarschnitts und Mangels an weiblichen Kurven schon mehr als einmal für einen Jungen gehalten.
Annie antwortete höflich, dass es sie freue, sie alle kennenzulernen. Dann überreichte ihr Bruce feierlich den Schlüssel zu ihrem neuen Zuhause und teilte ihr mit, dass er das Türschloss erst am Morgen geölt habe und sie den Wohnwagen in einwandfreiem Zustand und die ganze Ausstattung funktionstüchtig vorfinden würde.
Annie blickte wenig überzeugt, murmelte aber: »Wunderbar«, als sie den Schlüssel entgegennahm. Sie atmete tief ein, schloss die Tür auf, steckte den Kopf hinein und sagte: »Ach, du meine Güte.« Dann zog sie ihn genauso schnell wieder heraus, wie sie ihn hineingesteckt hatte. Den umherstehenden McDaniels warf sie ein Lächeln zu und fing an, ihr Auto zu entladen. Sie hatte ordentlich mit Klebeband verschlossene und beschriftete Kisten, einen Computer mit Drucker sowie eine spektakuläre Garnitur zusammenpassender Gepäckstücke. Sie fing an, alles in den Wohnwagen zu hieven.
Keiner der McDaniels-Truppe machte Anstalten, ihr zu helfen, aber man konnte es ihnen nicht übelnehmen. Sie waren alle davon überzeugt, dass Annie es nicht länger als eine Nacht darin aushalten würde.
Während der ersten vierundzwanzig Stunden von Annie Taylors Aufenthalt ging Jenn ihr aus dem Weg, hauptsächlich, weil sie sich schämte. Drei Stunden, nachdem Annie ihr Auto ausgeräumt hatte, war Jenns Mom in ihrem Subaru Forester, der als South-Whidbey-Taxiunternehmen fungierte, nach Hause gerumpelt. Bruce McDaniels hatte in den drei Stunden die sorgfältige Qualitätskontrolle seiner diversen Gebräue fortgeführt, und als seine Frau aus dem Subaru ausstieg und müde auf das Haus zuging, hatte er sie mit einem schmetternden »K-K-K-Katie! Meine wuun-deer-schöö-nee Katie!« begrüßt. Dann rannte er aus vollem Halse singend auf sie zu und fiel auf die Knie. »Wie kannst du nur! Schon wieder!«, hatte sie daraufhin geschrien und war sofort in Tränen ausgebrochen. Jenn versuchte, über diese entsetzliche Schmach hinwegzukommen, indem sie sich in ihr Zimmer verkroch und sich wünschte, ihre Eltern würden beide verschwinden und Andy und Petey gleich mitnehmen.
Von ihrem Fenster aus beobachtete sie heimlich Annie Taylor, die in regelmäßigen Abständen aus dem Wohnwagen kam, um entweder Holz für den Ofen zu holen oder auf dem mit Treibholz übersäten Strand spazieren zu gehen. Auf ihren Spaziergängen nahm sie jedes Mal ein Fernglas mit. Sie setzte sich auf eine angeschwemmte knorrige Baumwurzel und betrachtete damit die Oberfläche des Wassers. Jenn dachte zuerst, sie halte nach den hiesigen Orcas Ausschau. Killerwale tummelten sich zu jeder Jahreszeit im Possession Sound, und es lebten etwa siebzig Tiere im Umkreis von achtzig Kilometern um Whidbey Island herum. Für Jenn waren sie die einzigen interessanten Meerestiere.
Auf ihren dritten Strandspaziergang nahm Annie eine Kamera und ein Stativ mit. Jenn schloss daraus, dass sie wohl Naturfotografin war, und fragte ihren Vater am Tag nach Annies Ankunft beim Frühstück danach. Außer Jenn war er der Einzige, der schon wach war. Es war eiskalt draußen, und wie immer war es im Haus auch nicht viel wärmer. Der Rest der Familie hatte offensichtlich beschlossen, unter der Bettdecke auf wärmeres Wetter zu warten, aber da es nicht regnete, war Laufen angesagt, und genau das hatte Jenn vor. Da war noch die Sache mit Annie ...
»Woher soll ich das wissen?«, war Bruces Antwort auf Jenns Frage, ob die junge Frau Fotografin war. »Ich treibe die Miete ein, und mich interessiert nur Folgendes: dass sie nachts leise ist und die Heringe im Köderbecken nicht erschreckt. Frag Eddie, wenn du mehr wissen willst. Für mich gilt: Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß.« Er las gerade eine Ausgabe des South Whidbey Record, die eine Woche alt war. Aber als sie »bis später« sagte, sah er auf, bemerkte Jenns Aufmachung und fragte: »Was hast du vor, Jenn?«
»Kurzstreckenläufe«, erwiderte sie. »Bald finden die Testspiele statt. Für die All-Island-Mannschaft. Du weißt schon.«
»Dann sei um Himmels willen vorsichtig auf der Straße. Da draußen ist alles vereist, und wenn du dir ein Bein brichst ...«
»Ich werd mir kein Bein brechen«, versicherte sie ihm.
Vor dem Haus machte sie einige Dehnübungen auf den Treppenstufen und am Verandageländer. In der eiskalten Luft war ihr Atem die reinste Nebelmaschine.
Aus der Richtung des Wohnwagens war ein Knall zu hören, und Annie Taylor kam herausgestakst. Bei den vielen Kleider- schichten, die sie trug, war Jenn erstaunt, dass sie sich überhaupt so schnell bewegen konnte. Sie steuerte den Holzstapel an und schnappte sich einen Arm voll Scheite.
»Bescheuert, idiotisch, bekloppt, behämmert, zwecklos, ja, alles klar«, drang es über den Hof zu Jenn. »Als könnte das ... Na klar. Klasse. Vielen Dank auch.«
Jenn beobachtete, wie Annie die Scheite auftürmte und damit zurück zum Wohnwagen stolperte. Sie warf einen verwunderten Blick auf den Stapel Holz, der schon beträchtlich geschrumpft war. Nur ... Jenn bemerkte, dass kein Geruch von verbranntem Holz in der Morgenluft lag.
Sie marschierte zur Wohnwagentür, steckte den Kopf hinein und sagte: »Sie verbrauchen ganz schön viel Holz, was?«
Annie drehte sich von dem kleinen Holzofen, vor dem sie kniete, zu ihr um. »Oh, schön wär's«, gab sie zurück. »Es will einfach nicht brennen. Ich kann kein einziges verdammtes Scheit finden, das sich anzünden lässt.«
»Komisch«, meinte Jenn. »Es müsste eigentlich problemlos brennen.«
»Na ja, müsste brennen und brennt sind zwei verschiedene Dinge. Wenn du demnächst Rauch aus dem Wohnwagen kommen siehst, kommt er aus meinen Ohren, glaub's mir.«
»Soll ich mal nachschauen?«
»Nur zu. Wenn du es schaffst, diesen Scheiß zum Brennen zu bringen - entschuldige meine Ausdrucksweise, aber ich bin total fertig mit den Nerven und hab mir die ganze Nacht die Titten abgefroren -, dann lad ich dich zum Frühstück ein.«
Jenn lachte. »Gefrorene Titten, was?«, sagte sie. »Autsch. Lassen Sie mich mal 'nen Blick in den Ofen werfen.«
KAPITEL 2
Jenn sah sich im Innern des Wohnwagens um und sagte: »Ekelhaft. Warum mieten Sie dieses Ding überhaupt?« »Ich brauche das Wasser hier.« Annie schnappte sich neben dem Ofen eines der zwei Dutzend Scheite, die schon überall auf dem Boden verstreut lagen.
»Äh ... Das ist eine Insel«, bemerkte Jenn. »Als ich das letzte Mal geguckt habe, war da überall Wasser.«
»Ja. Klar. Aber ich brauche dieses Wasser.«
»Es ist überall dasselbe.«
»Eben nicht«, gab Annie zurück. Sie zeigte auf den Holzofen, der wie ein zahnloser schwarzer Mund offenstand. »Kennst du dich mit so was aus?«, fragte sie.
»Ich weiß, dass man die Asche ausputzen muss«, erklärte ihr Jenn, nachdem sie einen kurzen Blick hineingeworfen hatte. »Vorher brennt da gar nichts. Was ist mit den Ofenklappen? Sind die überhaupt offen? Ich wette, das Ofenrohr hat auch keiner überprüft, und der Schornstein ist bestimmt mit Vogelnestern verstopft.«
»Oh«, erwiderte Annie, machte aber keine Anstalten, das in Angriff zu nehmen. Stattdessen ließ sie sich auf einen dreckigen Küchenstuhl mit verchromten Beinen plumpsen und sah sich niedergeschlagen im Wohnwagen um.
Jenn kam der ganze Wohnwagen wie ein einziges großes Gesundheitsrisiko vor. Neben dem Stuhl, auf dem Annie saß, bestand die Einrichtung aus einem weiteren Stuhl, einer aufgerissenen Sitzbank, einem schiefen Tisch und einer verschimmelten Couch direkt unter einem völlig undichten Fenster, dessen Sims über und über mit etwas bedeckt war, das verdächtig nach Moos aussah. Dieser Wohnwagen war in mehr als einer Hinsicht lebensgefährlich. Jenn fragte sich, wie lange Annie vorhatte zu bleiben.
Sie kratzte sich am Kopf, seufzte und fragte: »Soll ich den Ofen für Sie zum Laufen bringen?«
»Oh, würdest du das tun?«, erwiderte Annie und war sofort besser gelaunt. »Dafür würde ich dir die Füße küssen. Aber ... ich hab gesehen, wie du dich gedehnt hast. Wolltest du gerade laufen gehen oder so was? Ich möchte nicht, dass du ...«
»Keine Sorge. Das ist im Handumdrehen erledigt.«
Jenn ging nach draußen und schnappte sich einen der Ködereimer, die sie für ihren Hindernisparcours benutzt hatte. Den stellte sie vor den Holzofen und fing an, die Asche hineinzuschaufeln. Annie war wohl davon ausgegangen, dass das Kamingeschirr neben dem Ofen rein zu Dekorationszwecken dort stand. Die dicke Staubschicht darauf ließ vermuten, dass es seit Jahren niemand angefasst hatte.
Während sie Asche schaufelte, sagte sie: »So lange ich hier lebe, hat da keiner mehr gewohnt. Sind Sie sicher, dass Sie hierbleiben wollen? Wenn Sie mich fragen, holen Sie sich nur 'ne schlimme Krankheit.«
»Hier muss noch Einiges gemacht werden, das steht fest«, stimmte Annie ihr zu. »Ich hatte irgendwie gehofft, dass ich das mit heißem Wasser, Ammoniak, Natron, Bleichmittel und Essig in den Griff kriege.«
»Wahrscheinlich jagen Sie den Wohnwagen dadurch eher in die Luft«, meinte Jenn.
»Was vielleicht gar keine so schlechte Idee wäre«, fügte Annie hinzu.
Sie lachten beide. Annie hatte ein nettes Lachen. Sie hatte gerade weiße Zähne und ein hübsches Gesicht. Jenn mochte sie und überlegte, wie alt sie wohl war. Mit Sicherheit um einiges älter als sie, aber vielleicht könnten sie trotzdem Freundinnen werden, dachte Jenn. Freunde waren auf diesem Teil der Insel nicht leicht zu finden.
Hinter ein paar Holzscheiten entdeckte sie Zeitungspapier, zog es heraus und zeigte Annie, wie man ein richtiges Feuer machte: zuerst zerknülltes Zeitungspapier, dann eine ordentliche Menge trockenes Anmachholz und zuletzt die Scheite obenauf. Sie warf Annie einen Blick zu, um zu sehen, ob sie aufpasste, und Annie lächelte sie an. Jenn musste aber auch zugeben, dass eine Frau mit einem Autokennzeichen aus Florida vermutlich nicht oft Feuer machte.
Sie stand auf und klopfte sich die Hände ab. Als Annie ihr die Streichhölzer hinhielt, sagte sie: »Ich muss mich erst um den Schornstein kümmern.« Dann ging sie nach draußen, kletterte auf das Dach des Wohnwagens, bahnte sich einen Weg durch den ganzen Abfall, den sie und ihre Brüder jahrelang hier hinaufgeworfen hatten, und fand ihn genau so vor, wie sie vermutet hatte: mit einem großen Vogelnest oben drauf. Sie entfernte es und rief dann den Schornstein hinunter: »Probieren Sie's jetzt mal, Annie.« Ein paar Augenblicke später schoss zu ihrer großen Zufriedenheit eine Rauchwolke in die Luft.
Als sie den Wohnwagen wieder betrat, kniete Annie vor dem Holzofen und wärmte sich die Hände, als bete sie zum Gott des Feuers. Jenn warf noch mehr Anmachholz ins Feuer und erklärte, wie man dafür sorgte, dass der Ofen im Laufe der Nacht nicht ausging. Annie nickte fast unmerklich und verlagerte ihr Gewicht auf die Fersen. Sie legte den Kopf schief und sagte zu Jenn: »Sag mal ... Brauchst du vielleicht einen Job?«
Jenn brauchte immer einen Job. Genau wie potenzielle Freunde waren Jobs auf der Insel nicht leicht zu finden. »Was für einen Job? Feuer anzünden?«
»Ha. Das auch.« Sie ließ vage die Hand durch den Wohnwagen schweifen. »Machen wir uns nichts vor, Jenn. Hier muss noch viel Arbeit reingesteckt werden. Um ein paar Sachen kann ich mich selbst kümmern, aber nicht um alles. Ich habe nämlich noch was anderes zu tun. Hast du Lust, mit anzupacken? Natürlich würde ich dich dafür bezahlen.«
Das mit der Bezahlung klang gut. Dass sie sich in der Nähe des Wohnwagens aufhalten musste, weniger. »Ich weiß nicht«, sagte Jenn. »Vielleicht. Ich meine, das ist die reinste Bruchbude, und eine Menge Zeit damit zu verbringen, sie wieder auf Vordermann zu bringen ...? Nichts für ungut, aber irgendwie finde ich das unheimlich. Wie viel Miete blechen Sie eigentlich?«
Als Annie es ihr sagte, starrte Jenn sie ungläubig an. »Die ziehen Sie so was von über den Tisch«, rief sie aus. »Das ist der totale Wucher. Sie müssen zu Eddie Beddoe gehen und was Besseres aushandeln.«
Annie blickte auf einmal verdrossen, als sie sich in dem heruntergekommenen Wohnwagen umsah. »Daran bin ich mehr oder weniger selbst schuld, weil ich's so eilig hatte.«
»Das ist kein Grund, jemanden auszunehmen wie 'ne Weihnachtsgans. «
»Stimmt. Aber ich habe mich auf den Preis eingelassen. Wenn ich versuche, die Miete neu auszuhandeln, sagt er mir vielleicht, dass ich mich woanders umschauen soll.«
»Keine so schlechte Idee, wenn Sie mich fragen.«
Annie schüttelte den Kopf. »Wie ich dir vorhin schon gesagt habe: Ich muss in Possession Point sein, und ich muss diesen Teil des Wassers beobachten.«
»Warum?«
»Es ... na ja, es ist einfach so.«
»Ist es ein Geheimnis? Schwimmt etwa Bigfoot im Possession Sound herum, und Sie sind hier, um ihn zu fotografieren?«
Als Annie einen Moment lang schwieg, dachte Jenn schon, sie hätte ins Schwarze getroffen, auch wenn es ihr völlig lächerlich vorkam. Sie fuhr fort: »Oder vielleicht irgendein prähistorisches Meerestier? So was wie das Ungeheuer von Loch Ness?«
Wie sich herausstellte, lag sie gar nicht einmal so falsch, denn Annie gab sich geschlagen und sagte: »Was soll's. Du wirst es wahrscheinlich sowieso irgendwann herausfinden. Vor allem, wenn du für mich arbeitest.«
»Was herausfinden?«
»Wirst du für mich arbeiten?«
»Okay. In Ordnung. Aber nur gegen Bezahlung.«
»Hab ich doch gesagt. Abgemacht? Und du kannst gerne du zu mir sagen.«
»Okay. Abgemacht. Also, warum bist du hier?«
Annie blickte zur Tür, als befürchte sie, belauscht zu werden. »Ich bin wegen der Robbe hier«, sagte sie.
Eine ganze Weile später dachte Jenn, dass sie schnell die Reißleine hätte ziehen sollen, als Annie Taylor die Robbe erwähnte. Es gab zwar alle möglichen Robben, aber Jenn wusste sofort, dass Annie nur eine ganz bestimmte Robbe meinen konnte. Sie hieß Nera, und sie war von Kopf bis zu den Flossen pechschwarz. Aus irgendeinem Grund, über den niemand reden wollte, egal, wie man die Leute zu dem Thema befragte, tauchte sie seit Jahren zur gleichen Jahreszeit in den Gewässern von Whidbey Island auf. Für gewöhnlich hielt sie sich an einem Ort namens Sandy Point sowie in der Nähe des kleinen Dorfs Langley auf, wo sie nicht weit vom Jachthafen im Wasser herumtollte und Touristen, Stadtbewohner und Fischer anbellte, als wollte sie auf sich aufmerksam machen. Das Merkwürdigste an ihrem Verhalten war, dass sie jedes Jahr zur selben Jahreszeit, im selben Monat und am selben Tag von Langley zum Possession Point schwamm. Dort blieb sie genau vierundzwanzig Stunden lang, schwamm rastlos hin und her und jaulte und bellte wie ein ausgesetzter Hund. Danach kehrte sie nach Langley zurück, verbrachte ein, zwei Monate in den Gewässern unterhalb vom Seawall Park und schwamm dann dorthin zurück, wo sie hergekommen war, bis sie im darauffolgenden Jahr wieder auftauchte und sich der Ablauf wiederholte. Ihr Kommen und Gehen war den Bewohnern am südlichen Ende von Whidbey Island ein völliges Rätsel und hatte für sie fast etwas Magisches. Und Jenn konnte sich ausrechnen, dass sie nicht froh darüber sein würden, wenn ihnen jemand diesen Zauber kaputtmachen wollte.
Deshalb sagte Jenn: »Eine Robbe? Welche Robbe? Was willst du mit einer Robbe?«, als wüsste sie nicht ganz genau, von welcher Robbe Annie redete.
»Komm schon«, erwiderte Annie. »Willst du mir wirklich weismachen, dass du noch nie was von ihr gehört hast? Langley hat ... Hier, warte mal ...« Sie ging zu einer Kiste und holte eine Aktenmappe heraus, die von herausgerissenen Zeitschriftenartikeln überquoll. Sie öffnete sie, blätterte die Ausschnitte durch und nahm einen Artikel mit einem knallbunten Foto heraus: ein Straßenfest, Eis essende Kinder, Bauerntrampel in merkwürdigen Robbenkostümen, Luftballons, Jahrmarktbuden und ein Transparent über dem Parkeingang mit der riesigen roten Aufschrift: »WILLKOMMEN, NERA!!«
Jenn konnte nicht so tun, als wüsste sie nicht, was das war: nämlich eines von Langleys vielen verrückten Festen. Die dämlichen Stadtväter veranstalteten Feste für alles und jedes, nur um Touristen in die ums Überleben ringenden Pensionen, Cafés und T-Shirt-Läden zu locken. Nera war praktisch maßgeschneidert für eine Stadt, in der man die Wale begrüßte, ein Seifenkistenrennen veranstaltete, zu Weihnachten Alpacas als Kamele benutzte und jedes Jahr während des Krimiwochenendes einen ihrer Bürger umbrachte.
Daher antwortete Jenn gezwungenermaßen: »Ach. Du meinst wohl Nera.«
»Äh, ja. Ich meine wohl Nera. Gibt's noch eine andere Robbe?«
»Na ja ... nein. Ich meine, nicht wirklich.«
»Was soll das heißen ›nicht wirklich‹?« Annie blickte nachdenklich, bevor ihre Augen aufleuchteten. Sie schrie: »Oh Gott, Jenn. Gibt es etwa mehr als eine? Mann, das wäre der absolute Wahnsinn!«
Jenn runzelte die Stirn. Die Frau hatte offensichtlich irgendetwas vor, etwas, das nicht nur mit Nera, sondern auch mit Possession Point zu tun hatte. Wenn es um Nera ging, würde sie in Langley bleiben: Neras Hauptrevier. Aber wenn sie den ganzen Weg nach Possession Point gekommen war und darauf bestand, dass sie diesen Teil des Wassers »brauchte« ...? Das kam Jenn verdächtig vor, und sie fragte ohne Umschweife: »Was hast du mit ihr vor?«
»Mit Nera?«
»Ja, mit Nera.«
»Nichts, eigentlich.« Und als Jenn sie misstrauisch ansah, fuhr Annie fort: »Okay, zwei Möglichkeiten. Entweder handelt es sich bei ihr um eine Genmutation. Oder - und das wäre noch besser - sie gehört einer neuen Robbenart an.«
»Und warum interessiert dich das?«, hakte Jenn nach.
»Ich bin Meeresbiologin«, erwiderte sie. »Jedenfalls werde ich es sein, wenn ich je meine verflixte Doktorarbeit fertig schreibe, und dazu brauche ich diese Robbe.«
»Damit sie sie für dich schreibt? Ich glaube nicht, dass sie das drauf hat.«
»Sehr witzig. Ich brauche sie, um meine These zu beweisen. Oder um der Welt eine neue Spezies zu präsentieren. So oder so, ich wäre eine gemachte Frau.«
Annie erklärte den Rest auf ihre typische Annie-Taylor-Art, die Jenn bald zur Genüge kennenlernen sollte. Sie schnitt ein Thema an, griff ein zweites auf und streifte ein drittes. Jenn war sich nicht sicher, was das über Annie verriet, außer dass sie, wenn sie etwas wollte, unglaublich schnell reden konnte, um es zu bekommen. Was sie in einem Wahnsinnstempo darlegte, war, dass Nera entweder an einem unglaublich seltenen Syndrom namens Melanismus litt - »tiefschwarz, also das genaue Gegenteil von einem Albino«, erklärte Annie - oder eine Genmutation aufwies oder eine ganz neue Robbenart war. »Sie ähnelt einer Rossrobbe, aber wenn sie das ist, bewegt sie sich weit außerhalb ihres eigentlichen Lebensraums. Deshalb nehme ich an, dass sie entweder einer neuen Spezies angehört oder ein Mutant ist.«
»Oder das Gegenteil eines Albinos«, ergänzte Jenn.
»Ja. Aber ich setze auf Mutant. Was für meine Zwecke fast genauso gut ist wie eine neue Robbenart.«
»Warum?«
»Weil die verdammten Erdölkonzerne überall auf der Welt weiterhin behaupten, dass ihre Ölverschmutzungen der Tierwelt nicht schaden. Nera ist meine Chance, das Gegenteil zu beweisen. Denk doch nur: Vor zwanzig Jahren hat es hier eine Ölkatastrophe gegeben, und jetzt haben wir hier eine Anomalie in Form einer schwarzen Robbe, die förmlich schreit: ›Seht mich an und führt ein paar Tests durch.‹«
Tests? Bei Jenn läuteten alle Alarmglocken. »Niemand wird dich auch nur in die Nähe von Nera lassen«, erklärte sie. »Nur damit du's weißt. Und wann hat es hier eigentlich eine Ölkatastrophe gegeben?«
»Hab ich doch schon gesagt. Vor zwanzig Jahren. Ungefähr. Ganz Possession Point war davon betroffen. Weißt du das etwa nicht? Na ja, woher auch. Wie lange wohnst du schon hier? Wie alt bist du überhaupt? Du siehst aus wie ... zwölf.«
»Hey! Ich bin fünfzehn, klar? Und wenn es eine Ölkatastrophe gegeben hätte, hätte ich davon gehört.«
»Nicht unbedingt. Mittlerweile hat man die Verschmutzung doch beseitigt. Auch wenn der Ort hier total abgelegen ist, würde niemand zwanzig Jahre lang Bilgenöl am Strand liegen lassen. Und genau das war es. Bilgenöl. Es hätte nicht schlimmer kommen können. Man hat es bestimmt innerhalb von ein paar Wochen, höchstens zwei oder drei Monaten, entsorgt. Ein paar Jahre später hat es davon keine Spur mehr gegeben. Außer in der Flora und Fauna des Meeres.«
»Wie bei Nera.«
»Wie bei Nera. Die zufällig ein Jahr nach der Verschmutzung aufgetaucht ist. Zwei Jahre danach? Was verrät dir das? Ich weiß, was es mir verrät. Deshalb muss ich sie mir genauer ansehen. Ich brauche ein paar Proben. So oder so, dass es sie gibt, beweist etwas. Ich muss nur herausfinden, was.«
»Proben? Vergiss es. Niemand lässt dich an diese Robbe ran, Annie.«
»Ach ja?« Annie fegte den Einwand mit einer Handbewegung fort. »Mir fällt schon was ein, glaub mir.«
KAPITEL 3
Als Jenn ihren Vater nach der Ölkatastrophe in Possession Point fragte, bekam sie keine zufriedenstellende Antwort. Ihre Mutter war auch keine große Hilfe. Ihr Dad war voll und ganz mit seinen Vorbereitungen auf das Seattle Brew Fest beschäftigt und brummte lediglich: »Kleines, sehe ich aus, als hätte ich Zeit für Schnee von gestern?«, während er gleichzeitig in seinem Brau- schuppen mit einem riesigen Krug bernsteinfarbenen Biers kämpfte. Ihre Mom war in ihre tägliche Lektüre der Bibel vertieft, weshalb sich ihre Antwort darauf beschränkte, dass Gott den Menschen durch Naturkatastrophen etwas mitteilen wolle. Als Jenn entgegnete, dass eine Ölverschmutzung in Possession Point kaum etwas mit einer Naturkatastrophe zu tun hätte, erwiderte Kate: »Schau dir nur die ganzen Tornados an, die den Mittleren Westen dieses Jahr heimgesucht haben, Jennifer, und frag dich mal, ob das kein Beweis für Gottes Zorn ist, wenn Häuser in Stücke gerissen und Dächer durch die Luft geschleudert werden. « Jenn war klar: Jegliche Unterhaltung mit ihrer Mutter würde nicht auf Tatsachen beruhen, sondern vielmehr davon abhängen, welchen Teil des Alten Testaments sie und ihre Kirchen- freunde gerade studierten. Wenn sie die Wahrheit über Whidbey Island und irgendwelche weit zurückliegenden Ölkatastrophen erfahren wollte, würde sie sie wohl auf eigene Faust herausfinden müssen.
Die Schule war dafür der beste Ort, weil es bei ihr zu Hause nichts gab, das ihr bei ihren Nachforschungen hätte helfen können. Deshalb steuerte sie am nächsten Schultag in der Mittagspause die Computer in der Bibliothek an.
Technik war für sie ein Buch mit sieben Siegeln. Es wäre hilfreich gewesen, wenn sie zu Hause einen Computer gehabt hätte, aber das konnte sie sich abschminken, weil Lebensmittel Vorrang hatten vor modernen Annehmlichkeiten technologischer Art. Natürlich wusste sie, wie man ins Internet kam. Suchmaschinen kannte sie auch. Aber um die Suchkriterien so einzustellen, dass sie auch fand, wonach sie suchte, brauchte sie jemanden, der wesentlich mehr Ahnung hatte als sie. Sie brauchte einen Assistenten. Squat Cooper war da genau der Richtige.
Sie entdeckte ihn dort, wo sie ihn vermutet hatte: an einem Bibliotheksarbeitsplatz, an dem er seine Hausaufgaben machte. Warum Zeit mit Mittagessen verschwenden, wenn man Matheaufgaben lösen konnte? Er kritzelte gerade Lösungen für irgendein obskures Matheproblem hin und bekam wie immer nichts von dem mit, was um ihn herum vor sich ging. Er sah nicht auf, als Jenn ihm auf die Schulter tippte. Er sah nicht auf, als sie seinen Namen sagte. Schließlich fing sie an, seinen Nacken zu lecken und dabei genüssliche Geräusche von sich zu geben. Er sprang auf die Füße und schrie: »Was soll das denn?«, während sein rotes Gesicht noch röter wurde und er sich mit der Hand über die feuchte Stelle wischte, die Jenn hinterlassen hatte.
»Ich brauche deine Hilfe, Schlaumeier«, erklärte sie ihm.
»Wobei? Beim Übertragen von Bazillen?« Er schlug sich gegen den Nacken. Squat Cooper war so niedlich wie ein Hündchen und genauso offen und freundlich. Jenn kannte ihn seit dem Kindergarten.
»Ach was. Dir hat es total gefallen und du willst unbedingt mehr.« Sie wackelte mit der Zunge.
»Bäh. Wovon träumst du eigentlich nachts?«
»Von dir.« Sie klappte sein Mathebuch zu, und als er zu protestieren anfing, teilte sie ihm mit: »Du kriegst sowieso eine Eins, du kriegst immer eine Eins, du wirst immer eine Eins kriegen. Ich brauche deinen Grips. Und da er mit deinem Körper verbunden ist, musst du mitkommen.«
Er seufzte, folgte ihr jedoch und sagte: »Es war im Kindergarten, oder?«
»Was war da?«
»Da hab ich mal meine Milch mit dir geteilt. Wir haben denselben Strohhalm benutzt. Du hast daraus voreilige Schlüsse gezogen, und seitdem machst du dir was vor.«
»Was heißt das?«
»Das heißt, dass ich dir nicht gehöre.«
»Und ob. Du versuchst es nur zu verbergen, kein Wunder, so scharf, wie ich bin. Aber ich weiß seit der zweiten Klasse alles über dich. Hör also auf, dich dagegen zu wehren. Siehst du das, mein Freund?« Sie hielt den kleinen Finger hoch.
»Was ist damit?«
»Um den hab ich dich gewickelt.«
Er schnaubte, lächelte aber. »Also, was willst du?«
Sie setzte ihn neben sich an den Computer. Wie sie vermutet hatte, genügten Squat ein paar Mausklicks, um in die Vergangenheit zurückzureisen und den Vorfall zu finden, der sich laut Annie Taylor ereignet hatte. Es hatte tatsächlich eine Ölpest gegeben. Es war nachts passiert, das Öl war an die Küste gespült worden und hatte ganz Possession Point verschmutzt. Das Bilgenöl, das schwerste Öl, das es gab, hatte seine Spuren auf allem hinterlassen, womit es in Berührung kam, und es gab eine Menge Bilder, die es bewiesen. Die Katastrophe lag siebzehn Jahre zurück. Annie Taylor hatte ziemlich richtig gelegen.
»Igitt«, war Squats Kommentar, als sie Bilder von ölverschmierten Meeresvögeln, toten Krebsen und verschmutzten Küstenstrichen aufriefen. »Warum interessierst du dich dafür? Schreibst du einen Aufsatz darüber?«
»Nee. 'ne Frau ist in den alten Wohnwagen neben meinem Haus eingezogen. Sie hat mir davon erzählt. Sie sagt, Nera ist deswegen wahrscheinlich ein Mutant. Oder eine neue Robbenart oder so was.«
»Eine Ölpest soll eine neue Robbenart hervorgebracht haben? Oder eine Genmutation? Das glaub ich kaum«, erwiderte Squat. »Krebse mit zwei Köpfen. Eine Garnele, die wie ein Stachelschwein aussieht. Fische mit Augen auf dem Schwanz. Das sind Mutanten. Aber eine schwarze Robbe? Das würde mich wundern. Und selbst wenn sie ein Mutant ist: Wen juckt's? Sie ist doch gesund, oder?«
»Es hat was mit ihrer Doktorarbeit zu tun. Ich meine Annies Doktorarbeit, nicht die der Robbe. Jedenfalls habe ich gar nicht gewusst, dass es eine Ölpest gegeben hat, und das hat mich neugierig gemacht.«
»Aha. Wenn du meinst. Kann ich jetzt mit Mathe weitermachen? «
»Nur wenn dir die Trennung von mir nicht zu schwerfällt.«
Squat verdrehte die Augen. »Es geht gerade noch.« Er ging zurück an seinen Arbeitsplatz.
Jenn drehte sich zum Computer. Sie las weiter und suchte nach anderen Bildern. Sie fand noch ein paar mehr, als sie den Links folgte. Darunter war ein Foto von Possession Point, wie er zwei Jahre vor ihrer Geburt ausgesehen hatte. Da war das Haus, der Köderschuppen war fast neu, und der Wohnwagen, in dem Annie Taylor wohnte, war in gutem Zustand und hatte einen gepflegten Garten vor der Tür. Das Foto war vor der Katastrophe gemacht worden. Auf den Fotos, die nach der Katastrophe entstanden waren, sah man eine teerartige Pampe, die Treibholz, Felsen und Strand überzog.
Merkwürdig, dass nie jemand über die Verschmutzung sprach, dachte Jenn. Andererseits war es schon sehr lange her, und sie hatte nie irgendwelche Spuren in Possession Point gesehen. Warum sollten die Leute darüber sprechen? Dennoch hatte Jenn den Eindruck, dass Annie Taylor noch viel Arbeit vor sich hatte, wenn sie ihre Doktorarbeit auf der Katastrophe und Nera aufbauen wollte. Was Jenn betraf, musste sie Squat zustimmen. Nera war zwar pechschwarz, aber das war das Einzige, was sie von anderen Robben unterschied.
Natürlich war dieser Unterschied der Grund, warum sie für Whidbey Island im Allgemeinen und für Langley im Besonderen so wertvoll war. Den Bürgern, Ladeninhabern und Souvenirverkäufern würde es nicht gefallen, wenn jemand mit Nera Schindluder trieb. Die wundersame Rückkehr einer pechschwarzen Robbe jedes Jahr war eine Sache. Die wundersame Rückkehr einer Mutantin jedes Jahr eine andere. Wenn es um Nera ging, würde sich Annie Taylor in Acht nehmen müssen, weil niemand zulassen würde, dass sie den Ruf der Robbe zerstörte, zur Hälfte Wundertier und zu Dreiviertel Brieftaube zu sein.
Eine geflüsterte Unterhaltung in der Nähe der Tür unterbrach Jenns Gedankengang. Sie blickte dorthin, und ihre Laune verschlechterte sich augenblicklich, weil South Whidbey Highschools Verkörperung unsterblicher Liebe gerade händchenhaltend und in ein ernstes Gespräch vertieft die Bibliothek betrat. Sie waren die Inselversion von Bella und Edward, nur ohne Blut und Vampir- zähne. Jenn hätte das ja nur halb so schlimm gefunden, wenn der Junge nicht früher einmal ein guter Freund von ihr und das Mädchen ... na ja, jemand anderes gewesen wäre.
Jenn hatte Becca King vom ersten Moment an nicht ausstehen können, als sie sich letzten September auf der Fähre begegnet waren, die von Mukilteo zur Insel übersetzte. Mit Derric Mathieson war Jenn hingegen befreundet gewesen, seit er als Achtjähriger von einer Familie auf der Insel aus einem Waisenhaus in Uganda adoptiert worden war. Warum die beiden zusammen waren, war Jenn ein Rätsel. Derric war groß, sportlich und unglaublich attraktiv, von seinem glatt rasierten Kopf bis hin zu seinen perfekten Zehen. Becca war ... Na schön, sie war die Speckschwarten losgeworden, die sie mit sich herumgetragen hatte, als sie auf der Insel aufgetaucht war und Jenn sie Klugscheißer-Fettarsch getauft hatte. Aber ansonsten sah sie immer noch aus wie vorher: scheußlich gefärbte dunkelbraune Haare, ein breites Brillengestell aus einem anderen Jahrhundert, formlose Klamotten und so viel Make-up, dass man meinen konnte, sie wollte sich in einem Zirkus bewerben. Derric und Becca waren der lebende Beweis, dass Gegensätze sich anziehen. Das Einzige, was sie gemeinsam hatten, war Grips, und davon hatten sie beide mehr als genug.
Sie setzten sich an einem der Bibliothekstische einander gegenüber, unterhielten sich aber weiterhin leise. Sie schienen sogar noch mehr aufeinander fixiert zu sein als sonst, und als Derric flüsterte: »Nein, das ist es ja gerade. Es stört mich, okay? Und es würde jeden anderen Typen auch stören, und wenn die Situation andersherum wäre, würde es dich auch stören. Wieso kapierst du das nicht, Becca?«, ließ Jenn, die nichts so sehr liebte wie Klatsch und Tratsch, sofort aufhorchen. Gab es etwa - huch! - Arger im Paradies? Sie konnte es nur hoffen. Wenn es auf der Straße der wahren Liebe Schlaglöcher gab, wollte sie es als Erste wissen.
Leider verriet ihr Beccas Antwort nicht viel. Sie sagte leise: »Es hat nichts zu bedeuten, und das wird es auch nie. Warum kapierst du das nicht?«
»Wie soll ich das kapieren?« Er rückte vom Tisch ab.
»Derric, du hast gesagt, wir könnten darüber reden.« Becca streckte die Hand aus und legte sie auf seinen schokoladenbraunen Arm. Eigentlich hätte er jetzt seine Hand über ihre legen sollen, dachte Jenn, aber er dachte gar nicht daran. Er war stinksauer.
»Immer, wenn wir darüber sprechen, läuft es auf das Gleiche hinaus«, gab er unwirsch zurück. »Das hat doch keinen Sinn.«
»Aber es hat nichts zu bedeuten.«
Was hat nichts zu bedeuten?, wollte Jenn am liebsten schreien. Was, was, was, Herrgott noch mal? Aber bevor sie eine Antwort darauf bekam oder sich eine ausmalen konnte, hatte sich Derric von Becca losgerissen und war aus der Bibliothek gestürmt, ohne dass ihn sein Gehgips dabei behinderte. Die Tür knallte so laut gegen die Wand, dass selbst Squat von seinen Matheaufgaben aufsah.
Becca blickte ihm nach. Langsam nahm sie einen einzelnen Kopfhörer, den sie ständig im und außerhalb des Unterrichts trug, aus dem Ohr. Es war, als würde dieser Freak jeden in seinen Bann ziehen. Ganz gleich, was die Tussi wollte, sie kriegte es letztendlich immer.
Jenn konnte es sich nicht verkneifen und versuchte es daher erst gar nicht. Sie stand von ihrem Platz am Computer auf und schlenderte hinüber zu Fettarschs Tisch. Sie dachte: Bis zum Ende der Woche hat der mit der Alten Schluss gemacht.
Becca drehte langsam den Kopf und sah sie an: »Als würde das irgendwas in deinem Leben ändern«, sagte sie.
Jenn blieb abrupt stehen und musterte das andere Mädchen. »Was ist denn mit dir los?«, wollte sie wissen.
»Nichts, was du je verstehen würdest«, erklärte ihr Becca.
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Ich war zwei Jahre alt, als ich zu meinen Eltern kam, und die einzigen Erinnerungen, die ich vor den Erinnerungen an sie habe, sind wie Träume. Ich werde getragen. In der Nähe ist Wasser. Mir ist kalt. Jemand hält mich in seinen Armen und rennt, und mein Kopf ist so fest an seine Schulter gedrückt, dass es bei jedem Schritt wehtut. Die Art, wie er mich hält, verrät mir, dass es ein Mann ist. Denn es ist Männern nicht von Natur aus gegeben, jemanden zu halten.
Es ist Nacht, und ich erinnere mich an Lichter. Ich erinnere mich an Stimmen. Ich erinnere mich daran, dass ich vor Angst und Nässe zittere. Dann wickelt man mich in etwas Warmes, und das Zittern hört auf, und dann schlafe ich ein.
In einem weiteren Traumfetzen sehe ich mich an einem anderen Ort. Eine Frau sagt mir, dass sie jetzt meine Mommy ist, und zeigt auf einen Mann, der sich über mich beugt und sagt, dass er jetzt mein Daddy ist. Aber sie sind nicht meine Eltern und werden es nie sein, ebenso wie die Worte, die sie benutzen, nicht meine Worte sind und es nie sein werden. Das ist die Ursache aller meiner Probleme.
Ich spreche nicht. Ich gehe nur umher, zeige auf etwas und beobachte. Solange ich tue, was man mir sagt, komme ich zurecht. Aber ich habe vor Dingen Angst, vor denen andere Kinder keine Angst haben.
Vor allem habe ich Angst vor Wasser, und das war von Anfang an ein Problem. Denn ich lebe mit der Mommy und dem Daddy in einem Haus hoch oben auf einer Klippe, unter der sich kilometerweit Wasser erstreckt, und von den Fenstern des Hauses aus kann ich nichts weiter sehen als Wasser. Deshalb würde ich mich am liebsten ständig im Haus verstecken, aber das geht nicht, denn ein Kind muss Zeit mit der Familie verbringen und in die Kirche und zur Schule gehen, wenn es älter wird.
All das tue ich nicht. Ich versuche es zu tun, die Mommy und der Daddy versuchen, mich dazu zu bringen, es zu tun, und andere Leute versuchen es auch. Aber alle scheitern.
Deshalb lande ich schließlich ganz weit weg an einem Ort, wo mich kein Wasser umgibt. Da sind Leute, die mich betasten. Sie schieben mich hierhin und dorthin. Sie reden über meinen Kopf hinweg. Sie beobachten mich auf Videos. Sie zeigen mir Bilder. Sie stellen mir Fragen. Während all das vor sich geht, höre ich: »Sie müssen irgendetwas mit ihr tun, deshalb haben wir sie hierhergebracht «, und diese Worte haben keine Bedeutung für mich. Aber in dem Klang dieser Worte erkenne ich eine Art Abschied.
Ich bleibe an diesem Ort ohne Wasser, wo man mir die Grundlagen beibringt, die für das menschliche Leben gelten. Ich lerne, mich zu waschen und zu essen. Mehr als das lerne ich nicht. Wenn man mir eine einfache Aufgabe stellt, kann ich sie erfüllen, sofern man mir ganz genau zeigt, was ich tun muss. Schließlich begreifen sie, dass mit meinem Gedächtnis alles in Ordnung ist. Das ist jedoch auch alles, was sie begreifen. Sie stempeln mich zum Rätsel ab. Es ist ein Segen, sagen sie, dass ich zumindest gehen und essen und mich waschen kann. Das, sagen sie, ist schon Grund zur Freude.
Am Ende werde ich zurück zu der Mommy und dem Daddy geschickt. Jemand erklärt: »Du bist jetzt achtzehn. Ist das nicht toll?«, und obwohl diese Worte keine Bedeutung für mich haben, wird mir klar, dass sich die Dinge verändern werden. Bleibt nur noch eine Fahrt an einem bitterkalten Januarmorgen und ein festliches Picknick, um meine Rückkehr zu feiern.
Wir sind unterwegs zu einem Park. Die Fahrt dorthin kommt mir ewig vor. Wir überqueren eine hohe Brücke, und die Mommy ruft: »Mach die Augen zu, Cilla! Da ist Wasser!« Ich tue, was sie sagt, und kurz darauf haben wir die Brücke auch schon hinter uns gelassen. Wir biegen in ein Waldstück mit Bäumen ein, die hoch in den Himmel ragen, und folgen einer sich windenden Straße, die immer weiter abwärts führt. Sie ist mit in Winterstürmen abgefallenen Zedernnadeln übersät.
Am Ende der Straße ist ein Parkplatz. Dort gibt es Picknicktische, und die Mommy sagt: »Ein idealer Tag für ein Picknick! Geh runter zum Strand, Cilla, während ich alles vorbereite. Ich weiß doch, wie gerne du den Strand betrachtest.«
Der Daddy sagt: »Ja, komm, Cill«, und als er auf dichtes, glänzendes Gestrüpp unter den Bäumen zumarschiert, folge ich ihm einem Pfad entlang, der direkt durch dieses Dickicht führt. Da ist ein Weg, teils Sand, teils Erde, auf dem wir unter Zedern und Tannen gehen und an Farne und Felsen streifen, bis wir endlich den Strand erreichen.
Ich habe keine Angst vor Stränden, nur vor dem Wasser, das sie säumt. Die Strände mit ihren salzigen Gerüchen und den dicken, gewundenen Meeresalgenschlangen, die immer wieder aufs Neue angespült werden, liebe ich. Hier liegt Treibholz herum, das vom Wasser glatt geschliffen wurde. Es gibt große Felsen, auf die man klettern kann. Ein Adler fliegt hoch oben in der Luft, und eine Möwe krächzt, und ein toter Seebarsch liegt in der kalten, grellen Sonne.
Ich bleibe vor dem Fisch stehen und beuge mich vor, um ihn genauer zu betrachten. Ich beuge mich noch weiter vor, um an ihm zu riechen. Davon brennen mir die Augen.
Die Möwe krächzt noch einmal, und der Adler kreischt. Er stößt herab und erhebt sich wieder in die Lüfte, und ich folge seinem Flug mit den Augen. Er fliegt gen Norden und verschwindet in der Ferne.
Ich warte darauf, dass er zurückkommt, aber das tut er nicht. Und auch der Daddy ist weg, stelle ich fest, der mich durch das Dickicht an diesen Strand geführt hat. Er ist an der Stelle stehen geblieben, wo der Sand auf den Weg trifft, auf dem wir gekommen sind. Er hat gesagt: »Ich rauch mir kurz 'nen Giftstängel. Erzähl's bloß nicht der Mommy, ja, Cill?«, aber ich bin weitergegangen. Vielleicht ist er zurück zu dem versprochenen Picknick, und jetzt bin ich allein. Die Einsamkeit und die Nähe zum Wasser mag ich nicht. Ich laufe zurück zu dem Platz, wo das Auto parkt.
Aber das ist auch weg, genau wie der Daddy. Und die Mommy. Da, wo das Picknick sein sollte, stehen nur zwei Dinge auf dem grauen und mit Flechten überzogenen Tisch unter den Bäumen. Ein in Folie verpacktes Sandwich. Und ein kleiner Rollkoffer.
Ich komme näher. Ich blicke mich um. Wie immer sehe, beobachte, deute ich. Aber hier ist niemand, der darauf reagieren könnte.
Ich bin allein. Und ich habe keine Ahnung, wo ich bin.
KAPITEL 1
Wenn Leute behaupteten: »Geld ist nicht alles«, wusste Jenn McDaniels sofort zwei Dinge über sie. Erstens, sie waren nie arm gewesen. Und zweitens, sie hatten keine Ahnung, wie es war, arm zu sein. Jenn war arm, sie war die ganzen fünfzehn Jahre ihres Lebens arm gewesen, und sie wusste nur zu gut, was man alles tun musste, wenn man kein Geld hatte. Man kaufte seine Klamotten in Secondhandläden, man kratzte sich seine kläglichen Mahlzeiten bei der städtischen Essensausgabe zusammen, und wenn sich einem auch nur die geringste Chance bot, einem Leben aus zweiter Hand mit Bettlaken als Vorhängen zu entrinnen, ergriff man sie, ganz gleich, was man dafür tun musste.
Genau damit war Jenn an dem Nachmittag beschäftigt, als Annie Taylor in ihr Leben brauste. Wenn ihr der Zustand des sehr schnittigen silbernen Honda Accord nicht verraten hätte, dass Annie Taylor nicht auf Whidbey Island gehörte - oh Mann, das Auto war tatsächlich sauber! -, hätte sie es an dem Kennzeichen aus Florida erkannt. Oder an Annie Taylors trendigem Outfit und ihrem supermodisch frisierten, gewollt struppigen roten Haar. Sie stieg aus dem Wagen, stemmte eine Hand in die Hüfte und fragte Jenn: »Das ist doch Possession Point, oder?«, während sie mit einem missbilligenden Blick den Hindernisparcours betrachtete, den Jenn entlang des Wegs aufgestellt hatte.
Dieser Hindernisparcours war Jenns Chance, den Bettlakenvorhängen und dem Leben aus zweiter Hand zu entrinnen. Es war auch ihre Chance, Whidbey Island ganz hinter sich zu lassen. Der Parcours bestand aus Mülltonnendeckeln, kaputten Klobrillen, Ködereimern, Schwimmern und zerrissenen Rettungswesten. Diese Gegenstände ersetzten die Leitkegel, die andere - reiche - Kids zum Trainieren benutzt hätten. Jenn hatte vorgehabt, diesen behelfsmäßigen Hindernisparcours mindestens eine Stunde lang auf und ab zu dribbeln. In ein paar Monaten fanden Testspiele für die All-Island-Mädchenfußballmannschaft statt, und Jenn wollte unbedingt den Sprung ins Team schaffen. Mittelfeldspielerin! Eine blitzschnelle Braut! Ihre Geschicklichkeit unumstritten! Ihre Zukunft gesichert! Universitätsstipendium, ich komme ... Nur stand ihr jetzt Annie Taylors Wagen im Weg. Oder Jenn stand Annie Taylor im Weg - je nachdem, von welcher Warte man es betrachtete.
Jenn bestätigte, dass dies Possession Point sei, machte aber keine Anstalten, ihre Sachen aus dem Weg zu räumen, damit Annie weiterfahren konnte. Offen gesagt, sah sie keinen Grund dazu. Der Rotschopf gehörte eindeutig nicht hierher, und wenn sie die Aussicht genießen wollte - die alles andere als grandios war -, würde sie ihren Hintern zu Fuß runter zum Wasser bewegen müssen.
Jenn dribbelte den Fußball auf einen kaputten Klodeckel zu und übte Ausweichmanöver und Finten. Sie wirbelte immer wieder geschickt herum, um ihre Gegenspielerinnen auszutricksen. Sie wollte den Ball gerade an einem Mülltonnendeckel vorbeiführen, als Annie Taylor ihr zurief: »Hey! 'tschuldige? Kannst du mir sagen ... wo ich Bruce McDaniels finde?«
Jenn blieb stehen und blickte über ihre Schulter. Annie fuhr fort: »Kennst du ihn? Er soll hier irgendwo wohnen. Er hat einen Schlüssel für mich. Ich bin übrigens Annie Taylor.«
Mit einem Seufzer hob Jenn den Ball auf. Natürlich kannte sie Bruce. Bruce war ihr Vater. Sie hatte ihn das letzte Mal auf der Veranda gesehen, wo er gerade der frühen Februarkälte zum Trotz fünf verschiedene selbst gebraute Biere probierte. Er hatte die Gläser auf dem Geländer aufgereiht, um die »Schaumkrone jedes einzelnen bewundern zu können«, bevor er sie hinunterkippte. Er braute sein eigenes Bier auf dem Grundstück in einem Schuppen, den er immer wie Fort Knox sicherte. Wenn er kein Bier braute, verkaufte er das Zeug unterm Tisch. Wenn er das nicht tat, verkaufte er Köder an Fischer, die das Risiko nicht scheuten, ihre Boote an seiner baufälligen Anlegestelle anzudocken.
Als Annie Taylor einen Schlüssel erwähnte, dachte Jenn zuerst, ihr Dad würde seine Fort-Knox-Brauerei einer Unbekannten überlassen. Aber dann fügte Annie hinzu: »Hier steht doch irgendwo ein Wohnwagen, oder? Also ich ziehe da ein. Und der Mann, der mir den Wohnwagen vermietet - Eddie Beddoe? - hat gesagt, Bruce würde mit dem Schlüssel auf mich warten. Ist er hier?« Sie gestikulierte am Hindernisparcours vorbei. Jenn nickte, dachte aber, dass Annie bestimmt von einem anderen Wohnwagen redete, weil absolut niemand in dem abgewrackten Ding wohnen könnte, das verlassen nicht weit von ihrem Haus gestanden hatte, solange sie denken konnte.
»Super«, sagte Annie. »Also wenn's dir nichts ausmacht ...? Kann ich ...? Kann ich das Zeug aus dem Weg räumen?«
Jenn fing an, ihre Hindernisse zur Seite zu kicken. Annie half ihr und ließ währenddessen den Motor ihres Hondas laufen. Sie war groß - aber bei einer Größe von 1,58 m erschien Jenn so ziemlich jeder groß - und hatte eine Menge Sommersprossen. Ihr Outfit hatte sie wohl auf dem Weg zur Insel in Bellevue gekauft: Skinny-Jeans, Stiefel, Rollkragenpulli, Parka, Schal. Sie sah aus wie eine wandelnde Reklame für das Leben in der freien Natur des Bundesstaates Washington, nur dass die Zusammenstellung viel zu gewollt wirkte. Ein echter Naturliebhaber würde nie so herumlaufen. Jenn drängte sich die Frage auf, was zum Teufel Annie Taylor hierher trieb, wenn sie nicht auf der Flucht vor dem Gesetz war.
Mit dem Fußball unterm Arm folgte sie Annies Auto bis kurz vor den Wohnwagen. Jenn malte sich aus, dass ihre Reaktion beim Anblick dieses Wracks viel interessanter sein würde als Dribbeln.
Als Jenn Annie einholte, stand dieser ein »Oh!« förmlich ins Gesicht geschrieben. Nicht im Sinne von »Oh, wie cool«, sondern mehr wie »Oh mein Gott, was habe ich getan?« Sie war aus ihrem Auto gestiegen und stand wie angewurzelt da, den Blick starr auf den einzigen Wohnwagen weit und breit gerichtet. »Äh ... Das ist er?«, fragte sie an Jenn gewandt.
»Echt cool, was?«, erwiderte Jenn sarkastisch. »Wenn Sie auf schwarzen Schimmel stehen, sind Sie hier genau richtig.«
»Possession Point«, murmelte Annie vor sich hin. Dann drehte sie sich wieder zu Jenn: »Das ist er ... ohne Jux? Das ist wirklich der Wohnwagen? Du wohnst doch nicht auch hier, oder?« Annie blickte sich um, aber natürlich gab es nicht viel zu sehen, das diesen trostlosen Ort in einem sympathischeren Licht hätte erscheinen lassen.
Jenn zeigte auf ihr Haus, das nicht allzu weit entfernt näher am Wasser lag. Auch wenn das Gebäude alt war, befand es sich doch in einem geringfügig besseren Zustand als der Wohnwagen. Es bestand aus grauen Schindeln und hatte ein bedenklich schiefes Dach, und gleich dahinter neigte sich am Rand des Wassers ein Köderschuppen gefährlich zu einer Anlegestelle hin. Beide Gebäude ragten gleichsam aus Bergen von Treibholz und alten Fischernetzen sowie den Anhäufungen diverser Gegenstände, von umgestürzten Aluminiumbooten bis hin zu umgedrehten Kloschüsseln, hervor.
Während Annie Taylor den Anblick des Ganzen verarbeitete, kam Jenns Vater Bruce aus dem Haus, ging die klapprigen Stufen der Veranda hinunter und rief: »Sind Sie Annie Taylor?«, worauf Annie wenig begeistert erwiderte: »Sie müssen Mr McDaniels sein.«
»Wie er leibt und lebt«, gab er zurück.
»Das ist ... äh ... Das ist klasse«, sagte Annie, obwohl ihre zögerliche Antwort eher das Gegenteil nahelegte.
Jenn konnte ihr das kaum übelnehmen. Vermutlich war Annie Taylor noch nie jemandem wie Bruce McDaniels begegnet. Er gefiel sich in der Rolle des komischen Kauzes und betonte jede Schrulle, die ihn exzentrisch erscheinen ließ. So trug er sein graues Haar schulterlang wie Benjamin Franklin. Seine suppenschüsselgroße Glatze verbarg er unter einer Second-Hand-Skimütze mit der Aufschrift SKI SQUAW VALLEY. Dabei war er in seinem ganzen Leben noch nie Ski gefahren. Auch körperlich war er in keiner guten Verfassung: Er war dürr wie eine Vogelscheuche, abgesehen von seiner Wampe, die ihm über den Hosenbund hing und mit der er aussah, als sei er im sechsten Monat schwanger.
Er kramte in seiner Hosentasche und sagte: »Hab Ihren Schlüssel gleich hier«, als die Haustür aufflog und Jenns kleine Brüder herausgestürmt kamen.
»Wer ist die denn?«, wollte Petey wissen.
»Dad, er hat 'nen Hot Dog gegessen, aber die waren fürs Abendessen!«, schrie Andy. »Jenny, sag's ihm! Du hast Mom gehört. «
»Ruhe, ihr kleinen Hosenscheißer«, trompetete Bruce McDaniels fröhlich. »Das ist Annie Taylor, unsere neue Nachbarin. Und das, Annie, sind die Früchte meiner Lenden: Jennifer, Petey und Andy. Jenn ist die mit dem Fußball.« Er gluckste, als hätte er einen tollen Witz gerissen, dabei hatte man Jenn wegen ihres Kurzhaarschnitts und Mangels an weiblichen Kurven schon mehr als einmal für einen Jungen gehalten.
Annie antwortete höflich, dass es sie freue, sie alle kennenzulernen. Dann überreichte ihr Bruce feierlich den Schlüssel zu ihrem neuen Zuhause und teilte ihr mit, dass er das Türschloss erst am Morgen geölt habe und sie den Wohnwagen in einwandfreiem Zustand und die ganze Ausstattung funktionstüchtig vorfinden würde.
Annie blickte wenig überzeugt, murmelte aber: »Wunderbar«, als sie den Schlüssel entgegennahm. Sie atmete tief ein, schloss die Tür auf, steckte den Kopf hinein und sagte: »Ach, du meine Güte.« Dann zog sie ihn genauso schnell wieder heraus, wie sie ihn hineingesteckt hatte. Den umherstehenden McDaniels warf sie ein Lächeln zu und fing an, ihr Auto zu entladen. Sie hatte ordentlich mit Klebeband verschlossene und beschriftete Kisten, einen Computer mit Drucker sowie eine spektakuläre Garnitur zusammenpassender Gepäckstücke. Sie fing an, alles in den Wohnwagen zu hieven.
Keiner der McDaniels-Truppe machte Anstalten, ihr zu helfen, aber man konnte es ihnen nicht übelnehmen. Sie waren alle davon überzeugt, dass Annie es nicht länger als eine Nacht darin aushalten würde.
Während der ersten vierundzwanzig Stunden von Annie Taylors Aufenthalt ging Jenn ihr aus dem Weg, hauptsächlich, weil sie sich schämte. Drei Stunden, nachdem Annie ihr Auto ausgeräumt hatte, war Jenns Mom in ihrem Subaru Forester, der als South-Whidbey-Taxiunternehmen fungierte, nach Hause gerumpelt. Bruce McDaniels hatte in den drei Stunden die sorgfältige Qualitätskontrolle seiner diversen Gebräue fortgeführt, und als seine Frau aus dem Subaru ausstieg und müde auf das Haus zuging, hatte er sie mit einem schmetternden »K-K-K-Katie! Meine wuun-deer-schöö-nee Katie!« begrüßt. Dann rannte er aus vollem Halse singend auf sie zu und fiel auf die Knie. »Wie kannst du nur! Schon wieder!«, hatte sie daraufhin geschrien und war sofort in Tränen ausgebrochen. Jenn versuchte, über diese entsetzliche Schmach hinwegzukommen, indem sie sich in ihr Zimmer verkroch und sich wünschte, ihre Eltern würden beide verschwinden und Andy und Petey gleich mitnehmen.
Von ihrem Fenster aus beobachtete sie heimlich Annie Taylor, die in regelmäßigen Abständen aus dem Wohnwagen kam, um entweder Holz für den Ofen zu holen oder auf dem mit Treibholz übersäten Strand spazieren zu gehen. Auf ihren Spaziergängen nahm sie jedes Mal ein Fernglas mit. Sie setzte sich auf eine angeschwemmte knorrige Baumwurzel und betrachtete damit die Oberfläche des Wassers. Jenn dachte zuerst, sie halte nach den hiesigen Orcas Ausschau. Killerwale tummelten sich zu jeder Jahreszeit im Possession Sound, und es lebten etwa siebzig Tiere im Umkreis von achtzig Kilometern um Whidbey Island herum. Für Jenn waren sie die einzigen interessanten Meerestiere.
Auf ihren dritten Strandspaziergang nahm Annie eine Kamera und ein Stativ mit. Jenn schloss daraus, dass sie wohl Naturfotografin war, und fragte ihren Vater am Tag nach Annies Ankunft beim Frühstück danach. Außer Jenn war er der Einzige, der schon wach war. Es war eiskalt draußen, und wie immer war es im Haus auch nicht viel wärmer. Der Rest der Familie hatte offensichtlich beschlossen, unter der Bettdecke auf wärmeres Wetter zu warten, aber da es nicht regnete, war Laufen angesagt, und genau das hatte Jenn vor. Da war noch die Sache mit Annie ...
»Woher soll ich das wissen?«, war Bruces Antwort auf Jenns Frage, ob die junge Frau Fotografin war. »Ich treibe die Miete ein, und mich interessiert nur Folgendes: dass sie nachts leise ist und die Heringe im Köderbecken nicht erschreckt. Frag Eddie, wenn du mehr wissen willst. Für mich gilt: Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß.« Er las gerade eine Ausgabe des South Whidbey Record, die eine Woche alt war. Aber als sie »bis später« sagte, sah er auf, bemerkte Jenns Aufmachung und fragte: »Was hast du vor, Jenn?«
»Kurzstreckenläufe«, erwiderte sie. »Bald finden die Testspiele statt. Für die All-Island-Mannschaft. Du weißt schon.«
»Dann sei um Himmels willen vorsichtig auf der Straße. Da draußen ist alles vereist, und wenn du dir ein Bein brichst ...«
»Ich werd mir kein Bein brechen«, versicherte sie ihm.
Vor dem Haus machte sie einige Dehnübungen auf den Treppenstufen und am Verandageländer. In der eiskalten Luft war ihr Atem die reinste Nebelmaschine.
Aus der Richtung des Wohnwagens war ein Knall zu hören, und Annie Taylor kam herausgestakst. Bei den vielen Kleider- schichten, die sie trug, war Jenn erstaunt, dass sie sich überhaupt so schnell bewegen konnte. Sie steuerte den Holzstapel an und schnappte sich einen Arm voll Scheite.
»Bescheuert, idiotisch, bekloppt, behämmert, zwecklos, ja, alles klar«, drang es über den Hof zu Jenn. »Als könnte das ... Na klar. Klasse. Vielen Dank auch.«
Jenn beobachtete, wie Annie die Scheite auftürmte und damit zurück zum Wohnwagen stolperte. Sie warf einen verwunderten Blick auf den Stapel Holz, der schon beträchtlich geschrumpft war. Nur ... Jenn bemerkte, dass kein Geruch von verbranntem Holz in der Morgenluft lag.
Sie marschierte zur Wohnwagentür, steckte den Kopf hinein und sagte: »Sie verbrauchen ganz schön viel Holz, was?«
Annie drehte sich von dem kleinen Holzofen, vor dem sie kniete, zu ihr um. »Oh, schön wär's«, gab sie zurück. »Es will einfach nicht brennen. Ich kann kein einziges verdammtes Scheit finden, das sich anzünden lässt.«
»Komisch«, meinte Jenn. »Es müsste eigentlich problemlos brennen.«
»Na ja, müsste brennen und brennt sind zwei verschiedene Dinge. Wenn du demnächst Rauch aus dem Wohnwagen kommen siehst, kommt er aus meinen Ohren, glaub's mir.«
»Soll ich mal nachschauen?«
»Nur zu. Wenn du es schaffst, diesen Scheiß zum Brennen zu bringen - entschuldige meine Ausdrucksweise, aber ich bin total fertig mit den Nerven und hab mir die ganze Nacht die Titten abgefroren -, dann lad ich dich zum Frühstück ein.«
Jenn lachte. »Gefrorene Titten, was?«, sagte sie. »Autsch. Lassen Sie mich mal 'nen Blick in den Ofen werfen.«
KAPITEL 2
Jenn sah sich im Innern des Wohnwagens um und sagte: »Ekelhaft. Warum mieten Sie dieses Ding überhaupt?« »Ich brauche das Wasser hier.« Annie schnappte sich neben dem Ofen eines der zwei Dutzend Scheite, die schon überall auf dem Boden verstreut lagen.
»Äh ... Das ist eine Insel«, bemerkte Jenn. »Als ich das letzte Mal geguckt habe, war da überall Wasser.«
»Ja. Klar. Aber ich brauche dieses Wasser.«
»Es ist überall dasselbe.«
»Eben nicht«, gab Annie zurück. Sie zeigte auf den Holzofen, der wie ein zahnloser schwarzer Mund offenstand. »Kennst du dich mit so was aus?«, fragte sie.
»Ich weiß, dass man die Asche ausputzen muss«, erklärte ihr Jenn, nachdem sie einen kurzen Blick hineingeworfen hatte. »Vorher brennt da gar nichts. Was ist mit den Ofenklappen? Sind die überhaupt offen? Ich wette, das Ofenrohr hat auch keiner überprüft, und der Schornstein ist bestimmt mit Vogelnestern verstopft.«
»Oh«, erwiderte Annie, machte aber keine Anstalten, das in Angriff zu nehmen. Stattdessen ließ sie sich auf einen dreckigen Küchenstuhl mit verchromten Beinen plumpsen und sah sich niedergeschlagen im Wohnwagen um.
Jenn kam der ganze Wohnwagen wie ein einziges großes Gesundheitsrisiko vor. Neben dem Stuhl, auf dem Annie saß, bestand die Einrichtung aus einem weiteren Stuhl, einer aufgerissenen Sitzbank, einem schiefen Tisch und einer verschimmelten Couch direkt unter einem völlig undichten Fenster, dessen Sims über und über mit etwas bedeckt war, das verdächtig nach Moos aussah. Dieser Wohnwagen war in mehr als einer Hinsicht lebensgefährlich. Jenn fragte sich, wie lange Annie vorhatte zu bleiben.
Sie kratzte sich am Kopf, seufzte und fragte: »Soll ich den Ofen für Sie zum Laufen bringen?«
»Oh, würdest du das tun?«, erwiderte Annie und war sofort besser gelaunt. »Dafür würde ich dir die Füße küssen. Aber ... ich hab gesehen, wie du dich gedehnt hast. Wolltest du gerade laufen gehen oder so was? Ich möchte nicht, dass du ...«
»Keine Sorge. Das ist im Handumdrehen erledigt.«
Jenn ging nach draußen und schnappte sich einen der Ködereimer, die sie für ihren Hindernisparcours benutzt hatte. Den stellte sie vor den Holzofen und fing an, die Asche hineinzuschaufeln. Annie war wohl davon ausgegangen, dass das Kamingeschirr neben dem Ofen rein zu Dekorationszwecken dort stand. Die dicke Staubschicht darauf ließ vermuten, dass es seit Jahren niemand angefasst hatte.
Während sie Asche schaufelte, sagte sie: »So lange ich hier lebe, hat da keiner mehr gewohnt. Sind Sie sicher, dass Sie hierbleiben wollen? Wenn Sie mich fragen, holen Sie sich nur 'ne schlimme Krankheit.«
»Hier muss noch Einiges gemacht werden, das steht fest«, stimmte Annie ihr zu. »Ich hatte irgendwie gehofft, dass ich das mit heißem Wasser, Ammoniak, Natron, Bleichmittel und Essig in den Griff kriege.«
»Wahrscheinlich jagen Sie den Wohnwagen dadurch eher in die Luft«, meinte Jenn.
»Was vielleicht gar keine so schlechte Idee wäre«, fügte Annie hinzu.
Sie lachten beide. Annie hatte ein nettes Lachen. Sie hatte gerade weiße Zähne und ein hübsches Gesicht. Jenn mochte sie und überlegte, wie alt sie wohl war. Mit Sicherheit um einiges älter als sie, aber vielleicht könnten sie trotzdem Freundinnen werden, dachte Jenn. Freunde waren auf diesem Teil der Insel nicht leicht zu finden.
Hinter ein paar Holzscheiten entdeckte sie Zeitungspapier, zog es heraus und zeigte Annie, wie man ein richtiges Feuer machte: zuerst zerknülltes Zeitungspapier, dann eine ordentliche Menge trockenes Anmachholz und zuletzt die Scheite obenauf. Sie warf Annie einen Blick zu, um zu sehen, ob sie aufpasste, und Annie lächelte sie an. Jenn musste aber auch zugeben, dass eine Frau mit einem Autokennzeichen aus Florida vermutlich nicht oft Feuer machte.
Sie stand auf und klopfte sich die Hände ab. Als Annie ihr die Streichhölzer hinhielt, sagte sie: »Ich muss mich erst um den Schornstein kümmern.« Dann ging sie nach draußen, kletterte auf das Dach des Wohnwagens, bahnte sich einen Weg durch den ganzen Abfall, den sie und ihre Brüder jahrelang hier hinaufgeworfen hatten, und fand ihn genau so vor, wie sie vermutet hatte: mit einem großen Vogelnest oben drauf. Sie entfernte es und rief dann den Schornstein hinunter: »Probieren Sie's jetzt mal, Annie.« Ein paar Augenblicke später schoss zu ihrer großen Zufriedenheit eine Rauchwolke in die Luft.
Als sie den Wohnwagen wieder betrat, kniete Annie vor dem Holzofen und wärmte sich die Hände, als bete sie zum Gott des Feuers. Jenn warf noch mehr Anmachholz ins Feuer und erklärte, wie man dafür sorgte, dass der Ofen im Laufe der Nacht nicht ausging. Annie nickte fast unmerklich und verlagerte ihr Gewicht auf die Fersen. Sie legte den Kopf schief und sagte zu Jenn: »Sag mal ... Brauchst du vielleicht einen Job?«
Jenn brauchte immer einen Job. Genau wie potenzielle Freunde waren Jobs auf der Insel nicht leicht zu finden. »Was für einen Job? Feuer anzünden?«
»Ha. Das auch.« Sie ließ vage die Hand durch den Wohnwagen schweifen. »Machen wir uns nichts vor, Jenn. Hier muss noch viel Arbeit reingesteckt werden. Um ein paar Sachen kann ich mich selbst kümmern, aber nicht um alles. Ich habe nämlich noch was anderes zu tun. Hast du Lust, mit anzupacken? Natürlich würde ich dich dafür bezahlen.«
Das mit der Bezahlung klang gut. Dass sie sich in der Nähe des Wohnwagens aufhalten musste, weniger. »Ich weiß nicht«, sagte Jenn. »Vielleicht. Ich meine, das ist die reinste Bruchbude, und eine Menge Zeit damit zu verbringen, sie wieder auf Vordermann zu bringen ...? Nichts für ungut, aber irgendwie finde ich das unheimlich. Wie viel Miete blechen Sie eigentlich?«
Als Annie es ihr sagte, starrte Jenn sie ungläubig an. »Die ziehen Sie so was von über den Tisch«, rief sie aus. »Das ist der totale Wucher. Sie müssen zu Eddie Beddoe gehen und was Besseres aushandeln.«
Annie blickte auf einmal verdrossen, als sie sich in dem heruntergekommenen Wohnwagen umsah. »Daran bin ich mehr oder weniger selbst schuld, weil ich's so eilig hatte.«
»Das ist kein Grund, jemanden auszunehmen wie 'ne Weihnachtsgans. «
»Stimmt. Aber ich habe mich auf den Preis eingelassen. Wenn ich versuche, die Miete neu auszuhandeln, sagt er mir vielleicht, dass ich mich woanders umschauen soll.«
»Keine so schlechte Idee, wenn Sie mich fragen.«
Annie schüttelte den Kopf. »Wie ich dir vorhin schon gesagt habe: Ich muss in Possession Point sein, und ich muss diesen Teil des Wassers beobachten.«
»Warum?«
»Es ... na ja, es ist einfach so.«
»Ist es ein Geheimnis? Schwimmt etwa Bigfoot im Possession Sound herum, und Sie sind hier, um ihn zu fotografieren?«
Als Annie einen Moment lang schwieg, dachte Jenn schon, sie hätte ins Schwarze getroffen, auch wenn es ihr völlig lächerlich vorkam. Sie fuhr fort: »Oder vielleicht irgendein prähistorisches Meerestier? So was wie das Ungeheuer von Loch Ness?«
Wie sich herausstellte, lag sie gar nicht einmal so falsch, denn Annie gab sich geschlagen und sagte: »Was soll's. Du wirst es wahrscheinlich sowieso irgendwann herausfinden. Vor allem, wenn du für mich arbeitest.«
»Was herausfinden?«
»Wirst du für mich arbeiten?«
»Okay. In Ordnung. Aber nur gegen Bezahlung.«
»Hab ich doch gesagt. Abgemacht? Und du kannst gerne du zu mir sagen.«
»Okay. Abgemacht. Also, warum bist du hier?«
Annie blickte zur Tür, als befürchte sie, belauscht zu werden. »Ich bin wegen der Robbe hier«, sagte sie.
Eine ganze Weile später dachte Jenn, dass sie schnell die Reißleine hätte ziehen sollen, als Annie Taylor die Robbe erwähnte. Es gab zwar alle möglichen Robben, aber Jenn wusste sofort, dass Annie nur eine ganz bestimmte Robbe meinen konnte. Sie hieß Nera, und sie war von Kopf bis zu den Flossen pechschwarz. Aus irgendeinem Grund, über den niemand reden wollte, egal, wie man die Leute zu dem Thema befragte, tauchte sie seit Jahren zur gleichen Jahreszeit in den Gewässern von Whidbey Island auf. Für gewöhnlich hielt sie sich an einem Ort namens Sandy Point sowie in der Nähe des kleinen Dorfs Langley auf, wo sie nicht weit vom Jachthafen im Wasser herumtollte und Touristen, Stadtbewohner und Fischer anbellte, als wollte sie auf sich aufmerksam machen. Das Merkwürdigste an ihrem Verhalten war, dass sie jedes Jahr zur selben Jahreszeit, im selben Monat und am selben Tag von Langley zum Possession Point schwamm. Dort blieb sie genau vierundzwanzig Stunden lang, schwamm rastlos hin und her und jaulte und bellte wie ein ausgesetzter Hund. Danach kehrte sie nach Langley zurück, verbrachte ein, zwei Monate in den Gewässern unterhalb vom Seawall Park und schwamm dann dorthin zurück, wo sie hergekommen war, bis sie im darauffolgenden Jahr wieder auftauchte und sich der Ablauf wiederholte. Ihr Kommen und Gehen war den Bewohnern am südlichen Ende von Whidbey Island ein völliges Rätsel und hatte für sie fast etwas Magisches. Und Jenn konnte sich ausrechnen, dass sie nicht froh darüber sein würden, wenn ihnen jemand diesen Zauber kaputtmachen wollte.
Deshalb sagte Jenn: »Eine Robbe? Welche Robbe? Was willst du mit einer Robbe?«, als wüsste sie nicht ganz genau, von welcher Robbe Annie redete.
»Komm schon«, erwiderte Annie. »Willst du mir wirklich weismachen, dass du noch nie was von ihr gehört hast? Langley hat ... Hier, warte mal ...« Sie ging zu einer Kiste und holte eine Aktenmappe heraus, die von herausgerissenen Zeitschriftenartikeln überquoll. Sie öffnete sie, blätterte die Ausschnitte durch und nahm einen Artikel mit einem knallbunten Foto heraus: ein Straßenfest, Eis essende Kinder, Bauerntrampel in merkwürdigen Robbenkostümen, Luftballons, Jahrmarktbuden und ein Transparent über dem Parkeingang mit der riesigen roten Aufschrift: »WILLKOMMEN, NERA!!«
Jenn konnte nicht so tun, als wüsste sie nicht, was das war: nämlich eines von Langleys vielen verrückten Festen. Die dämlichen Stadtväter veranstalteten Feste für alles und jedes, nur um Touristen in die ums Überleben ringenden Pensionen, Cafés und T-Shirt-Läden zu locken. Nera war praktisch maßgeschneidert für eine Stadt, in der man die Wale begrüßte, ein Seifenkistenrennen veranstaltete, zu Weihnachten Alpacas als Kamele benutzte und jedes Jahr während des Krimiwochenendes einen ihrer Bürger umbrachte.
Daher antwortete Jenn gezwungenermaßen: »Ach. Du meinst wohl Nera.«
»Äh, ja. Ich meine wohl Nera. Gibt's noch eine andere Robbe?«
»Na ja ... nein. Ich meine, nicht wirklich.«
»Was soll das heißen ›nicht wirklich‹?« Annie blickte nachdenklich, bevor ihre Augen aufleuchteten. Sie schrie: »Oh Gott, Jenn. Gibt es etwa mehr als eine? Mann, das wäre der absolute Wahnsinn!«
Jenn runzelte die Stirn. Die Frau hatte offensichtlich irgendetwas vor, etwas, das nicht nur mit Nera, sondern auch mit Possession Point zu tun hatte. Wenn es um Nera ging, würde sie in Langley bleiben: Neras Hauptrevier. Aber wenn sie den ganzen Weg nach Possession Point gekommen war und darauf bestand, dass sie diesen Teil des Wassers »brauchte« ...? Das kam Jenn verdächtig vor, und sie fragte ohne Umschweife: »Was hast du mit ihr vor?«
»Mit Nera?«
»Ja, mit Nera.«
»Nichts, eigentlich.« Und als Jenn sie misstrauisch ansah, fuhr Annie fort: »Okay, zwei Möglichkeiten. Entweder handelt es sich bei ihr um eine Genmutation. Oder - und das wäre noch besser - sie gehört einer neuen Robbenart an.«
»Und warum interessiert dich das?«, hakte Jenn nach.
»Ich bin Meeresbiologin«, erwiderte sie. »Jedenfalls werde ich es sein, wenn ich je meine verflixte Doktorarbeit fertig schreibe, und dazu brauche ich diese Robbe.«
»Damit sie sie für dich schreibt? Ich glaube nicht, dass sie das drauf hat.«
»Sehr witzig. Ich brauche sie, um meine These zu beweisen. Oder um der Welt eine neue Spezies zu präsentieren. So oder so, ich wäre eine gemachte Frau.«
Annie erklärte den Rest auf ihre typische Annie-Taylor-Art, die Jenn bald zur Genüge kennenlernen sollte. Sie schnitt ein Thema an, griff ein zweites auf und streifte ein drittes. Jenn war sich nicht sicher, was das über Annie verriet, außer dass sie, wenn sie etwas wollte, unglaublich schnell reden konnte, um es zu bekommen. Was sie in einem Wahnsinnstempo darlegte, war, dass Nera entweder an einem unglaublich seltenen Syndrom namens Melanismus litt - »tiefschwarz, also das genaue Gegenteil von einem Albino«, erklärte Annie - oder eine Genmutation aufwies oder eine ganz neue Robbenart war. »Sie ähnelt einer Rossrobbe, aber wenn sie das ist, bewegt sie sich weit außerhalb ihres eigentlichen Lebensraums. Deshalb nehme ich an, dass sie entweder einer neuen Spezies angehört oder ein Mutant ist.«
»Oder das Gegenteil eines Albinos«, ergänzte Jenn.
»Ja. Aber ich setze auf Mutant. Was für meine Zwecke fast genauso gut ist wie eine neue Robbenart.«
»Warum?«
»Weil die verdammten Erdölkonzerne überall auf der Welt weiterhin behaupten, dass ihre Ölverschmutzungen der Tierwelt nicht schaden. Nera ist meine Chance, das Gegenteil zu beweisen. Denk doch nur: Vor zwanzig Jahren hat es hier eine Ölkatastrophe gegeben, und jetzt haben wir hier eine Anomalie in Form einer schwarzen Robbe, die förmlich schreit: ›Seht mich an und führt ein paar Tests durch.‹«
Tests? Bei Jenn läuteten alle Alarmglocken. »Niemand wird dich auch nur in die Nähe von Nera lassen«, erklärte sie. »Nur damit du's weißt. Und wann hat es hier eigentlich eine Ölkatastrophe gegeben?«
»Hab ich doch schon gesagt. Vor zwanzig Jahren. Ungefähr. Ganz Possession Point war davon betroffen. Weißt du das etwa nicht? Na ja, woher auch. Wie lange wohnst du schon hier? Wie alt bist du überhaupt? Du siehst aus wie ... zwölf.«
»Hey! Ich bin fünfzehn, klar? Und wenn es eine Ölkatastrophe gegeben hätte, hätte ich davon gehört.«
»Nicht unbedingt. Mittlerweile hat man die Verschmutzung doch beseitigt. Auch wenn der Ort hier total abgelegen ist, würde niemand zwanzig Jahre lang Bilgenöl am Strand liegen lassen. Und genau das war es. Bilgenöl. Es hätte nicht schlimmer kommen können. Man hat es bestimmt innerhalb von ein paar Wochen, höchstens zwei oder drei Monaten, entsorgt. Ein paar Jahre später hat es davon keine Spur mehr gegeben. Außer in der Flora und Fauna des Meeres.«
»Wie bei Nera.«
»Wie bei Nera. Die zufällig ein Jahr nach der Verschmutzung aufgetaucht ist. Zwei Jahre danach? Was verrät dir das? Ich weiß, was es mir verrät. Deshalb muss ich sie mir genauer ansehen. Ich brauche ein paar Proben. So oder so, dass es sie gibt, beweist etwas. Ich muss nur herausfinden, was.«
»Proben? Vergiss es. Niemand lässt dich an diese Robbe ran, Annie.«
»Ach ja?« Annie fegte den Einwand mit einer Handbewegung fort. »Mir fällt schon was ein, glaub mir.«
KAPITEL 3
Als Jenn ihren Vater nach der Ölkatastrophe in Possession Point fragte, bekam sie keine zufriedenstellende Antwort. Ihre Mutter war auch keine große Hilfe. Ihr Dad war voll und ganz mit seinen Vorbereitungen auf das Seattle Brew Fest beschäftigt und brummte lediglich: »Kleines, sehe ich aus, als hätte ich Zeit für Schnee von gestern?«, während er gleichzeitig in seinem Brau- schuppen mit einem riesigen Krug bernsteinfarbenen Biers kämpfte. Ihre Mom war in ihre tägliche Lektüre der Bibel vertieft, weshalb sich ihre Antwort darauf beschränkte, dass Gott den Menschen durch Naturkatastrophen etwas mitteilen wolle. Als Jenn entgegnete, dass eine Ölverschmutzung in Possession Point kaum etwas mit einer Naturkatastrophe zu tun hätte, erwiderte Kate: »Schau dir nur die ganzen Tornados an, die den Mittleren Westen dieses Jahr heimgesucht haben, Jennifer, und frag dich mal, ob das kein Beweis für Gottes Zorn ist, wenn Häuser in Stücke gerissen und Dächer durch die Luft geschleudert werden. « Jenn war klar: Jegliche Unterhaltung mit ihrer Mutter würde nicht auf Tatsachen beruhen, sondern vielmehr davon abhängen, welchen Teil des Alten Testaments sie und ihre Kirchen- freunde gerade studierten. Wenn sie die Wahrheit über Whidbey Island und irgendwelche weit zurückliegenden Ölkatastrophen erfahren wollte, würde sie sie wohl auf eigene Faust herausfinden müssen.
Die Schule war dafür der beste Ort, weil es bei ihr zu Hause nichts gab, das ihr bei ihren Nachforschungen hätte helfen können. Deshalb steuerte sie am nächsten Schultag in der Mittagspause die Computer in der Bibliothek an.
Technik war für sie ein Buch mit sieben Siegeln. Es wäre hilfreich gewesen, wenn sie zu Hause einen Computer gehabt hätte, aber das konnte sie sich abschminken, weil Lebensmittel Vorrang hatten vor modernen Annehmlichkeiten technologischer Art. Natürlich wusste sie, wie man ins Internet kam. Suchmaschinen kannte sie auch. Aber um die Suchkriterien so einzustellen, dass sie auch fand, wonach sie suchte, brauchte sie jemanden, der wesentlich mehr Ahnung hatte als sie. Sie brauchte einen Assistenten. Squat Cooper war da genau der Richtige.
Sie entdeckte ihn dort, wo sie ihn vermutet hatte: an einem Bibliotheksarbeitsplatz, an dem er seine Hausaufgaben machte. Warum Zeit mit Mittagessen verschwenden, wenn man Matheaufgaben lösen konnte? Er kritzelte gerade Lösungen für irgendein obskures Matheproblem hin und bekam wie immer nichts von dem mit, was um ihn herum vor sich ging. Er sah nicht auf, als Jenn ihm auf die Schulter tippte. Er sah nicht auf, als sie seinen Namen sagte. Schließlich fing sie an, seinen Nacken zu lecken und dabei genüssliche Geräusche von sich zu geben. Er sprang auf die Füße und schrie: »Was soll das denn?«, während sein rotes Gesicht noch röter wurde und er sich mit der Hand über die feuchte Stelle wischte, die Jenn hinterlassen hatte.
»Ich brauche deine Hilfe, Schlaumeier«, erklärte sie ihm.
»Wobei? Beim Übertragen von Bazillen?« Er schlug sich gegen den Nacken. Squat Cooper war so niedlich wie ein Hündchen und genauso offen und freundlich. Jenn kannte ihn seit dem Kindergarten.
»Ach was. Dir hat es total gefallen und du willst unbedingt mehr.« Sie wackelte mit der Zunge.
»Bäh. Wovon träumst du eigentlich nachts?«
»Von dir.« Sie klappte sein Mathebuch zu, und als er zu protestieren anfing, teilte sie ihm mit: »Du kriegst sowieso eine Eins, du kriegst immer eine Eins, du wirst immer eine Eins kriegen. Ich brauche deinen Grips. Und da er mit deinem Körper verbunden ist, musst du mitkommen.«
Er seufzte, folgte ihr jedoch und sagte: »Es war im Kindergarten, oder?«
»Was war da?«
»Da hab ich mal meine Milch mit dir geteilt. Wir haben denselben Strohhalm benutzt. Du hast daraus voreilige Schlüsse gezogen, und seitdem machst du dir was vor.«
»Was heißt das?«
»Das heißt, dass ich dir nicht gehöre.«
»Und ob. Du versuchst es nur zu verbergen, kein Wunder, so scharf, wie ich bin. Aber ich weiß seit der zweiten Klasse alles über dich. Hör also auf, dich dagegen zu wehren. Siehst du das, mein Freund?« Sie hielt den kleinen Finger hoch.
»Was ist damit?«
»Um den hab ich dich gewickelt.«
Er schnaubte, lächelte aber. »Also, was willst du?«
Sie setzte ihn neben sich an den Computer. Wie sie vermutet hatte, genügten Squat ein paar Mausklicks, um in die Vergangenheit zurückzureisen und den Vorfall zu finden, der sich laut Annie Taylor ereignet hatte. Es hatte tatsächlich eine Ölpest gegeben. Es war nachts passiert, das Öl war an die Küste gespült worden und hatte ganz Possession Point verschmutzt. Das Bilgenöl, das schwerste Öl, das es gab, hatte seine Spuren auf allem hinterlassen, womit es in Berührung kam, und es gab eine Menge Bilder, die es bewiesen. Die Katastrophe lag siebzehn Jahre zurück. Annie Taylor hatte ziemlich richtig gelegen.
»Igitt«, war Squats Kommentar, als sie Bilder von ölverschmierten Meeresvögeln, toten Krebsen und verschmutzten Küstenstrichen aufriefen. »Warum interessierst du dich dafür? Schreibst du einen Aufsatz darüber?«
»Nee. 'ne Frau ist in den alten Wohnwagen neben meinem Haus eingezogen. Sie hat mir davon erzählt. Sie sagt, Nera ist deswegen wahrscheinlich ein Mutant. Oder eine neue Robbenart oder so was.«
»Eine Ölpest soll eine neue Robbenart hervorgebracht haben? Oder eine Genmutation? Das glaub ich kaum«, erwiderte Squat. »Krebse mit zwei Köpfen. Eine Garnele, die wie ein Stachelschwein aussieht. Fische mit Augen auf dem Schwanz. Das sind Mutanten. Aber eine schwarze Robbe? Das würde mich wundern. Und selbst wenn sie ein Mutant ist: Wen juckt's? Sie ist doch gesund, oder?«
»Es hat was mit ihrer Doktorarbeit zu tun. Ich meine Annies Doktorarbeit, nicht die der Robbe. Jedenfalls habe ich gar nicht gewusst, dass es eine Ölpest gegeben hat, und das hat mich neugierig gemacht.«
»Aha. Wenn du meinst. Kann ich jetzt mit Mathe weitermachen? «
»Nur wenn dir die Trennung von mir nicht zu schwerfällt.«
Squat verdrehte die Augen. »Es geht gerade noch.« Er ging zurück an seinen Arbeitsplatz.
Jenn drehte sich zum Computer. Sie las weiter und suchte nach anderen Bildern. Sie fand noch ein paar mehr, als sie den Links folgte. Darunter war ein Foto von Possession Point, wie er zwei Jahre vor ihrer Geburt ausgesehen hatte. Da war das Haus, der Köderschuppen war fast neu, und der Wohnwagen, in dem Annie Taylor wohnte, war in gutem Zustand und hatte einen gepflegten Garten vor der Tür. Das Foto war vor der Katastrophe gemacht worden. Auf den Fotos, die nach der Katastrophe entstanden waren, sah man eine teerartige Pampe, die Treibholz, Felsen und Strand überzog.
Merkwürdig, dass nie jemand über die Verschmutzung sprach, dachte Jenn. Andererseits war es schon sehr lange her, und sie hatte nie irgendwelche Spuren in Possession Point gesehen. Warum sollten die Leute darüber sprechen? Dennoch hatte Jenn den Eindruck, dass Annie Taylor noch viel Arbeit vor sich hatte, wenn sie ihre Doktorarbeit auf der Katastrophe und Nera aufbauen wollte. Was Jenn betraf, musste sie Squat zustimmen. Nera war zwar pechschwarz, aber das war das Einzige, was sie von anderen Robben unterschied.
Natürlich war dieser Unterschied der Grund, warum sie für Whidbey Island im Allgemeinen und für Langley im Besonderen so wertvoll war. Den Bürgern, Ladeninhabern und Souvenirverkäufern würde es nicht gefallen, wenn jemand mit Nera Schindluder trieb. Die wundersame Rückkehr einer pechschwarzen Robbe jedes Jahr war eine Sache. Die wundersame Rückkehr einer Mutantin jedes Jahr eine andere. Wenn es um Nera ging, würde sich Annie Taylor in Acht nehmen müssen, weil niemand zulassen würde, dass sie den Ruf der Robbe zerstörte, zur Hälfte Wundertier und zu Dreiviertel Brieftaube zu sein.
Eine geflüsterte Unterhaltung in der Nähe der Tür unterbrach Jenns Gedankengang. Sie blickte dorthin, und ihre Laune verschlechterte sich augenblicklich, weil South Whidbey Highschools Verkörperung unsterblicher Liebe gerade händchenhaltend und in ein ernstes Gespräch vertieft die Bibliothek betrat. Sie waren die Inselversion von Bella und Edward, nur ohne Blut und Vampir- zähne. Jenn hätte das ja nur halb so schlimm gefunden, wenn der Junge nicht früher einmal ein guter Freund von ihr und das Mädchen ... na ja, jemand anderes gewesen wäre.
Jenn hatte Becca King vom ersten Moment an nicht ausstehen können, als sie sich letzten September auf der Fähre begegnet waren, die von Mukilteo zur Insel übersetzte. Mit Derric Mathieson war Jenn hingegen befreundet gewesen, seit er als Achtjähriger von einer Familie auf der Insel aus einem Waisenhaus in Uganda adoptiert worden war. Warum die beiden zusammen waren, war Jenn ein Rätsel. Derric war groß, sportlich und unglaublich attraktiv, von seinem glatt rasierten Kopf bis hin zu seinen perfekten Zehen. Becca war ... Na schön, sie war die Speckschwarten losgeworden, die sie mit sich herumgetragen hatte, als sie auf der Insel aufgetaucht war und Jenn sie Klugscheißer-Fettarsch getauft hatte. Aber ansonsten sah sie immer noch aus wie vorher: scheußlich gefärbte dunkelbraune Haare, ein breites Brillengestell aus einem anderen Jahrhundert, formlose Klamotten und so viel Make-up, dass man meinen konnte, sie wollte sich in einem Zirkus bewerben. Derric und Becca waren der lebende Beweis, dass Gegensätze sich anziehen. Das Einzige, was sie gemeinsam hatten, war Grips, und davon hatten sie beide mehr als genug.
Sie setzten sich an einem der Bibliothekstische einander gegenüber, unterhielten sich aber weiterhin leise. Sie schienen sogar noch mehr aufeinander fixiert zu sein als sonst, und als Derric flüsterte: »Nein, das ist es ja gerade. Es stört mich, okay? Und es würde jeden anderen Typen auch stören, und wenn die Situation andersherum wäre, würde es dich auch stören. Wieso kapierst du das nicht, Becca?«, ließ Jenn, die nichts so sehr liebte wie Klatsch und Tratsch, sofort aufhorchen. Gab es etwa - huch! - Arger im Paradies? Sie konnte es nur hoffen. Wenn es auf der Straße der wahren Liebe Schlaglöcher gab, wollte sie es als Erste wissen.
Leider verriet ihr Beccas Antwort nicht viel. Sie sagte leise: »Es hat nichts zu bedeuten, und das wird es auch nie. Warum kapierst du das nicht?«
»Wie soll ich das kapieren?« Er rückte vom Tisch ab.
»Derric, du hast gesagt, wir könnten darüber reden.« Becca streckte die Hand aus und legte sie auf seinen schokoladenbraunen Arm. Eigentlich hätte er jetzt seine Hand über ihre legen sollen, dachte Jenn, aber er dachte gar nicht daran. Er war stinksauer.
»Immer, wenn wir darüber sprechen, läuft es auf das Gleiche hinaus«, gab er unwirsch zurück. »Das hat doch keinen Sinn.«
»Aber es hat nichts zu bedeuten.«
Was hat nichts zu bedeuten?, wollte Jenn am liebsten schreien. Was, was, was, Herrgott noch mal? Aber bevor sie eine Antwort darauf bekam oder sich eine ausmalen konnte, hatte sich Derric von Becca losgerissen und war aus der Bibliothek gestürmt, ohne dass ihn sein Gehgips dabei behinderte. Die Tür knallte so laut gegen die Wand, dass selbst Squat von seinen Matheaufgaben aufsah.
Becca blickte ihm nach. Langsam nahm sie einen einzelnen Kopfhörer, den sie ständig im und außerhalb des Unterrichts trug, aus dem Ohr. Es war, als würde dieser Freak jeden in seinen Bann ziehen. Ganz gleich, was die Tussi wollte, sie kriegte es letztendlich immer.
Jenn konnte es sich nicht verkneifen und versuchte es daher erst gar nicht. Sie stand von ihrem Platz am Computer auf und schlenderte hinüber zu Fettarschs Tisch. Sie dachte: Bis zum Ende der Woche hat der mit der Alten Schluss gemacht.
Becca drehte langsam den Kopf und sah sie an: »Als würde das irgendwas in deinem Leben ändern«, sagte sie.
Jenn blieb abrupt stehen und musterte das andere Mädchen. »Was ist denn mit dir los?«, wollte sie wissen.
»Nichts, was du je verstehen würdest«, erklärte ihr Becca.
Copyright © Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg.
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Autoren-Porträt von Elizabeth George
ELIZABETH GEORGE ist eine der erfolgreichsten internationalen Autorinnen. Ihre Romane um Inspektor Thomas Lynley erreichen regelmäßig Spitzenplätze auf sämtlichen Bestsellerlisten. Elizabeth George unterrichtete viele Jahre lang an der Universität »Creative Writing« und lebt heute mit ihrem Mann auf Whidbey Island im Bundesstaat Washington, USA.
Bibliographische Angaben
- Autor: Elizabeth George
- 2014, 1, 384 Seiten, Maße: 13,7 x 21,5 cm, Hochw. Broschur mit Klappeinb.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3955694267
- ISBN-13: 9783955694265
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