Thea Harrison Elder-Races-Package, 3 Bände
Im Bann des Drachen; Gebieter des Sturms; Der Kuss des Greifen
- Im Bann des Drachen:
Pia ist halb Mensch, halb Werwesen. Eines Tages wird sie von einem Erpresser dazu gezwungen, eine Münze aus dem Hort des gefährlichen Werdrachen Dragos Cuelebre zu stehlen. Aber als Dragos die...
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Produktinformationen zu „Thea Harrison Elder-Races-Package, 3 Bände “
- Im Bann des Drachen:
Pia ist halb Mensch, halb Werwesen. Eines Tages wird sie von einem Erpresser dazu gezwungen, eine Münze aus dem Hort des gefährlichen Werdrachen Dragos Cuelebre zu stehlen. Aber als Dragos die attraktive Diebin ertappt, hat er alles andere als Rache im Sinn. - Gebieter des Sturms:
Der Wyr-Krieger Tiago Black Eagle soll die hübsche Thistle Periwinkle beschützen. Diese weckt bald ungeahnte Gefühle in dem abgebrühten Krieger. - Der Kuss des Greifen:
Um das Leben eines Freundes zu retten, geht der Wyr-Krieger Rune einen Pakt mit der Vampirkönigin Carling ein.
NALINI SINGH
Lese-Probe zu „Thea Harrison Elder-Races-Package, 3 Bände “
Im Bann des Drachen von Thea Harrison „Geschäfte mit einem Drachen machen. Das ist Wirklich eine mörderische Erfahrung."
Frei nach Donald Trump
Kapitel 1
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Pia war zu einem derart selbstmörderischen Verbrechen erpresst worden, wie sie es niemals für möglich gehalten hätte. Und sie konnte niemand anderem als sich selbst die Schuld daran geben.
Es zu wissen, machte es nicht besser. Sie konnte einfach nicht fassen, dass sie so wenig Urteilskraft, Geschmack und Sensibilität an den Tag gelegt hatte.
Mal ehrlich - was hatte sie getan? Sie hatte einen Blick auf ein hübsches Gesicht geworfen und alles vergessen, was ihre Mutter ihr über das Überleben beigebracht hatte. Der Gedanke daran war so unerträglich, dass sie sich am liebsten eine Knarre an den Kopf gesetzt und abgedrückt hätte. Nur besaß sie keine Knarre, weil sie keine Waffen mochte. Außerdem war das Abfeuern einer Pistole eine ziemlich endgültige Angelegenheit, und sie legte sich nicht gern langfristig fest. Aber sie war ohnehin schon so was von tot, also wozu noch die Mühe?
Ein Taxi hupte. In New York war dieses Geräusch so allgegenwärtig, dass jeder es ignorierte, doch dieses Mal schreckte es sie auf. Sie warf einen Blick über die hochgezogene Schulter.
Ihr Leben war ein Scherbenhaufen. Sie würde für den Rest ihrer Tage auf der Flucht sein, so etwa alle fünfzehn Minuten. Und das alles nur wegen ihrer eigenen Dummheit und ihres Scheißkerls von Exfreund, der sie erst gevögelt und dann so dermaßen beschissen hatte, dass sie über dieses Gefühl, das ihr wie ein Messer in den Magen stach, einfach nicht hinwegkam.
Sie stolperte in eine schmale, zugemüllte Straße hinter einem koreanischen Restaurant, wo sie eine Literflasche Wasser öffnete und sie in einem Zug halb leer trank. Mit einer Hand stützte sie sich an der Betonmauer ab, während sie das Treiben auf dem Bürgersteig beobachtete. Der Dampf aus der Restaurantküche hüllte sie ein, und der Geruch von rotem Chili und Soja der Gochu Jang-und Gangjang-Saucen überlagerte den Gestank des Mülls aus dem Container neben ihr und die beißenden Abgase des Straßenverkehrs.
Die Menschen auf dem Bürgersteig sahen fast aus wie immer, wie sie von unsichtbaren Mächten getrieben über den Gehweg eilten und in ihre Handys brüllten. Einige sprachen murmelnd mit sich selbst, während sie in Mülltonnen wühlten und die Welt mit verlorenen, argwöhnischen Augen betrachteten. Alles wirkte normal. So weit, so gut?
Nach einer langen, albtraumhaften Woche hatte sie das Verbrechen schließlich einfach begangen. Sie hatte eine der mächtigsten Kreaturen der Welt bestohlen, eine Kreatur, die so furchterregend war, dass ein einziger Gedanke an sie Pia mehr Angst einjagte, als sie in ihrem ganzen Leben gebraucht hätte. Jetzt war es beinahe vollbracht. Nur noch ein paar Dinge zu erledigen, noch ein Treffen mit dem Scheißkerl, und dann hatte sie Zeit zu schreien, sagen wir, ein paar Tage lang, während sie sich überlegte, wo sie sich verstecken könnte.
An diesen Gedanken klammerte sie sich, während sie zügig die Straße hinunterging, bis sie den Magic District erreichte. Der östlich vom Garment District und nördlich von Koreatown gelegene Zauberbezirk von New York wurde manchmal auch Hexenkessel genannt. Er umfasste einige Häuserblocks, in denen die hellen und dunklen Energien nur so brodelten.
Der Hexenkessel verkündete sein »Auf eigene Gefahr!« so stolz wie der Satinumhang eines Preisboxers. In dieser Gegend stapelten sich auf mehreren Stockwerken die Verkaufsbuden und Läden, in denen Kartenlesen, Hellseherei, Götzen und Zauber angeboten wurden. Es gab Einzelhändler, Großhändler und Importeure, jene, die gefälschte Ware feilboten, und solche, deren Zauberartikel eine tödliche Realität besaßen. Selbst auf einen Häuserblock Entfernung konnte sie spüren, wie die Gegend geradezu brutal auf ihre Sinne einstürmte.
Sie erreichte ein Geschäft am Rande des Bezirks, Die Fassade war salbeigrün gestrichen, die Einfassungen der Spiegelglasfenster und der Tür blassgelb. Sie trat einen Schritt zurück und sah nach oben. DIVINUS war in einfachen Buchstaben aus gebürstetem Metall über dem Schaufenster zu lesen. Vor vielen Jahren hatte ihre Mutter bei der Hexe, der dieser Laden gehörte, hin und wieder einen Zauber gekauft. Auch Quentin, Pias Chef, hatte erwähnt, dass diese Hexe über eine der stärksten magischen Begabungen verfügte, die ihm je bei einem Menschen begegnet war.
Sie sah ins Schaufenster. Ihr verschwommenes Spiegelbild blickte zurück: eine müde junge Frau, relativ groß mit einem fohlenartigen Körperbau, angespannten Gesichtszügen und einem zerzausten hellblonden Pferdeschwanz. Sie blickte durch sich selbst hindurch, hinein in den abgedunkelten Innenraum.
Im Gegensatz zu der lauten, nicht allzu sauberen Umgebung der Straße war das Innere des Ladens kühl und ruhig. Von dem Haus schien eine Wärme auszugehen. Sie bemerkte, dass Schutzzauber angebracht worden waren. In einer Vitrine neben der Tür funkelten harmonische Energien in einem reizvollen Arrangement aus Kristallen - Amethyst, Peridot, Rosenquarz, blauer Topas und Zölestin. Die Kristalle fingen das schräg einfallende Sonnenlicht ein und warfen strahlende Splitter aus regenbogenfarbenem Licht an die Decke. Ihre Augen fanden die einzige Person im Raum, eine große, majestätisch aussehende Frau, vielleicht lateinamerikanischer Herkunft, deren Blick mit einer Entladung magischer Energie eine Verbindung zu Pias herstellte.
In diesem Augenblick ging das Geschrei los.
»Gehen Sie nicht da rein!«, rief ein Mann. Dann schrie eine Frau: »Bleiben Sie stehen, bevor es zu spät ist!«
Pia fuhr zusammen und sah sich um. Hinter ihr stand eine Gruppe von zwanzig Leuten auf der Straße. Sie hielten verschiedene Schilder hoch. Auf einem Plakat stand MAGIE = FAHRKARTE IN DIE HÖLLE. Auf einem anderen: GOTT WIRD UNS RETTEN. Und ein drittes behauptete: ALTE VÖLKER - EIN ELITÄRER BETRUG.
Das Gefühl von Unwirklichkeit wurde stärker, gefördert durch Stress, Schlafmangel und ständige Angst. Das Geschrei galt ihr.
Einige Menschen weigerten sich konsequent und auf militante Art, an die Existenz der Alten Völker zu glauben, obwohl die Volksmärchen schon vor vielen Generationen durch Beweise abgelöst worden waren, nachdem man eine entsprechende wissenschaftliche Methode entwickelt hatte. Die Alten Völker und die Menschheit lebten schon seit dem Elisabethanischen Zeitalter offen nebeneinander. Die revisionistische Geschichtsauffassung dieser Menschen ergab ebenso wenig Sinn wie die derjenigen, die behaupteten, die Juden seien im Dritten Reich nicht verfolgt worden.
Nicht nur, dass sie den Bezug zur Realität verloren hatten - sie demonstrierten außerdem vor dem Geschäft einer menschlichen Hexe, um gegen die Alten Völker zu protestieren? Pia schüttelte den Kopf.
Ein kühles Klingeln lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Geschäft. Die Frau, in deren Blick magische Energie lag, hielt ihr die Tür auf. »Die Stadtverordnungen funktionieren in beide Richtungen«, erklärte sie Pia, die Stimme voller Verachtung. »Zwar darf es Zauberläden nur innerhalb eines bestimmten Bezirks geben, aber Demonstranten müssen fünfzehn Meter Abstand von den Läden halten. Sie dürfen die Straße nicht überqueren, sie dürfen den Magic District nicht betreten, und sie können nichts weiter tun, als potenzielle Kunden anzuschreien und zu versuchen, sie aus der Entfernung zu verschrecken. Möchten Sie reinkommen?«
Eine ihrer makellosen Augenbrauen hob sich zu einer gebieterischen Herausforderung, als wollte sie nahelegen, dass es eine wahrhaft mutige Tat sei, das Geschäft dieser Frau zu betreten.
Pia blinzelte sie ausdruckslos an. Nach allem, was sie erlebt hatte, war die Herausforderung dieser Frau weniger als unbedeutend - sie war unsinnig. Ohne mit der Wimper zu zucken, ging sie hinein.
Hinter ihr fiel die Tür klimpernd ins Schloss. Die Frau hielt einen Herzschlag lang inne, als hätte Pia sie überrascht. Dann trat sie mit einem sanften Lächeln auf sie zu.
»Ich bin Adela. Mir gehört Divinus. Was kann ich für Sie tun, meine Liebe?« Das Gesicht der Ladenbesitzerin nahm einen irritierten Ausdruck an. Leise, fast zu sich selbst sagte sie: »Was ist das? ... Sie haben etwas an sich ...«
Mist, daran hatte sie nicht gedacht! Diese Hexe könnte sich an ihre Mutter erinnern.
»Stimmt. Ich sehe aus wie Greta Garbo«, unterbrach Pia sie mit versteinerter Miene. »Können wir jetzt weitermachen? «
Die andere Frau fing ihren Blick auf. Pias Mimik und Körpersprache hielten förmlich ein »Geschlossen«-Schild in die Höhe, und die Hexe beschloss offenbar, sich wieder wie eine professionelle Verkäuferin zu verhalten. »Entschuldigen Sie«, sagte sie mit ihrer Schokoladenmilchstimme. Sie deutete auf die Auslagen. »Hier drüben habe ich Kräuterkosmetik, Schönheitsmittelchen und Tinkturen, mit Heilungszaubern aufgeladene Kristalle ...«
Pia sah sich um, ohne das alles wahrzunehmen, doch sie bemerkte einen würzigen Geruch. Es roch so wunderbar, dass sie, ohne darüber nachzudenken, tief einatmete. Gegen ihren Willen entspannten sich die Muskeln in ihrem Nacken und den Schultern. Der Duft enthielt einen einfachen Zauber, der ganz eindeutig dazu dienen sollte, nervöse Kunden zu beruhigen.
Zwar richtete der Zauber eigentlich keinen Schaden an und versuchte nicht, ihre Sinne zu vernebeln, doch seine manipulative Wirkung störte Pia. Wie viele Menschen entspannten sich dadurch und gaben deswegen Geld aus? Mit geballten Fäusten schob sie die Magie beiseite. Der Zauber klebte noch einen Augenblick an ihr fest, bevor er sich auflöste. Das Gefühl erinnerte sie an Spinnweben, die sich über ihre Haut zogen. Sie kämpfte gegen den Drang an, sich über Arme und Beine zu reiben.
Verärgert wandte sie sich um und sah der Ladenbesitzerin in die Augen. »Sie wurden mir von einer zuverlässigen Quelle empfohlen«, sagte sie knapp. »Ich brauche einen Verpflichtungszauber. «
Adelas höfliches Benehmen ließ nach. »Verstehe«, sagte sie ebenso kurz angebunden wie Pia. Wieder hoben sich ihre Augenbrauen herausfordernd. »Wenn Sie von mir gehört haben, werden Sie wissen, dass ich nicht billig bin.«
»Sie sind nicht billig, weil Sie angeblich eine der besten Hexen der Stadt sind«, sagte Pia, während sie zu einer gläsernen Theke hinüberging. Sie streifte den Rucksack von den schmerzenden Schultern und legte ihn auf die Theke, nachdem sie eine Strähne ihres Pferdeschwanzes unter dem Schulterriemen hervorgezogen hatte. Dann verstaute sie ihre Wasserflasche im Rucksack und zog den Reißverschluss wieder zu.
»Gracias«, sagte die Hexe höflich.
Pia blickte auf die Kristalle in der Vitrine hinab. Sie waren so strahlend und wunderschön, angefüllt mit Licht und Farbe und Magie. Wie es wohl sein mochte, einen von ihnen in der Hand zu halten, sein kühles Gewicht auf ihrer Handfläche zu spüren, wenn er vom Sternenlicht und den Tiefen der Berge sang? Wie es wohl sein mochte, einen von ihnen zu besitzen?
Als sie sich umdrehte, war die Verbindung wieder da. Nun sah sie die Frau selbst herausfordernd an. »Ich kann die Zauber am und im Laden spüren. Sowohl die Anziehungszauber auf den Kristallen als auch den, der Ihre Kunden entspannen soll. Ich weiß also, dass Sie Ihre Arbeit gut genug beherrschen. Ich brauche einen Eidverpflichtungszauber, und ich muss ihn heute noch mitnehmen können.«
»Das ist nicht so einfach, wie es klingen mag«, sagte die Hexe. Ihre langen Wimpern senkten sich und verbargen den Ausdruck ihrer Augen. »Das hier ist kein Fast-Food-Drive-in.«
»Es muss keine ausgefallene Verpflichtung sein«, sagte Pia. »Hören Sie, wir wissen beide, dass Sie mir mehr in Rechnung stellen werden, weil ich sie sofort brauche. Ich habe noch eine Menge zu tun, also könnten wir den nächsten Teil, in dem wir uns umkreisen und miteinander handeln, bitte einfach überspringen? Nichts gegen Sie, aber ich hatte einen langen, schlimmen Tag. Ich bin müde und nicht in Stimmung.«
Die Hexe zog die Mundwinkel nach oben. »Sicher«, sagte sie. »Allerdings kann ich Verpflichtungen nur in einem begrenzten Rahmen sofort anbieten. Und manches biete ich überhaupt nicht an. Wenn Sie etwas brauchen, das auf einen bestimmten Zweck zugeschnitten ist, wird es einige Zeit dauern. Und wenn Sie eine schwarze Verpflichtung suchen, sind Sie an der falschen Adresse. Ich betreibe keine schwarze Magie.«
Erleichtert über das geschäftsmäßige Verhalten der Frau schüttelte Pia den Kopf. »Nichts allzu Schwarzes, glaube ich«, sagte sie heiser. »Aber dennoch etwas mit erheblichen Konsequenzen. Es muss ernst gemeint sein.«
In den dunklen Augen der Hexe glomm ein zynischer Funke. »Sie meinen eine Variante von ›Ich schwöre, ich werde das und das tun, oder mein Arsch soll Feuer fangen und brennen bis zum Ende aller Tage‹ - etwas in der Art?«
Pia nickte. Ihre Mundwinkel zuckten. »Ja, etwas in der Art.«
»Wenn jemand aus freien Stücken einen Eid leistet, fällt die Verpflichtung in den Bereich Vertragspflicht und Gerechtigkeit. Das kann ich machen. Und zufällig habe ich das auch schon«, sagte die Frau. Sie ging in den hinteren Ladenbereich. »Kommen Sie mit!«
Pias misshandeltes Gewissen wand sich. Im Unterschied zur polarisierten schwarzen und weißen Magie sollte graue Magie neutral sein, doch die Art, wie die Hexe die Moral auslegte, ging ihr gegen den Strich. Ebenso wie der Entspannungszauber im Laden kam es ihr vor wie Manipulation, auch wenn es nicht wirklich unmoralisch war. Unter dem Deckmantel der Neutralität ließ sich eine Menge Schaden anrichten.
Aber war das nicht verdammt selbstgerecht von ihr, wo sie doch gerade frisch vom Ort ihres Verbrechens kam und verzweifelt diesen Verpflichtungszauber in die Finger kriegen musste? Der Drang davonzulaufen jagte ihr Adrenalin durch die Adern, doch ihr Selbsterhaltungstrieb ließ sie wie angewurzelt stehen bleiben. Von sich selbst angewidert schüttelte sie den Kopf und folgte der Hexe.
Das wird so was von in die Hose gehen.
Und dabei hoffte sie wirklich, dass es nicht stimmte.
In weniger als einer Stunde war das Geschäft abgewickelt. Pia nahm das Angebot der Hexe an, durch den Hinterausgang hinauszuschlüpfen, um nicht noch einmal von den Demonstranten behelligt zu werden. Ihr Rucksack war um eine beträchtliche Summe Bargeld leichter, doch sie fand, dass das Geld in dieser Auf-Leben-und-Tod-Situation gut angelegt war.
»Nur eins noch«, sagte die Hexe. Träge lehnte ihr kurvenreicher Körper im Rahmen der Hintertür ihres Ladens.
Pia blieb stehen und drehte sich zu der Frau um.
Die Hexe sah ihr in die Augen. »Wenn Sie eine Beziehung mit dem Mann haben, für den das hier bestimmt ist, dann, Schätzchen, muss ich Ihnen sagen, dass er es nicht wert ist.«
Pia entfuhr ein scharfes Lachen, sie hievte den Rucksack ein Stück höher. »Wenn meine Probleme nur so einfach wären! «
In den reizenden dunklen Augen der Frau rührte sich etwas unter der Oberfläche. Es wirkte berechnend, doch das konnte ebenso gut eine Täuschung des spätnachmittäglichen Lichts sein. Im nächsten Augenblick trug ihr hübsches Gesicht eine unbeteiligte Miene, als wäre sie im Geiste längst mit anderen Dingen beschäftigt.
»Viel Glück dann, Chica«, sagte die Hexe. »Wenn Sie noch etwas brauchen, können Sie jederzeit wiederkommen. «
Pia schluckte und sagte mit trockener Kehle: »Danke!«
Die Hexe schloss die Tür, und Pia eilte bis zum Ende des Blocks, bevor sie sich in den Passantenstrom auf dem Gehweg mischte.
Pia hatte ihren Namen nicht genannt. Nach der ersten Zurückweisung hatte die Hexe lieber nicht nachgefragt, und Pia hatte es nicht von sich aus getan. Sie fragte sich, ob ihr jemand das Wort ÄRGER auf die Stirn tätowiert hatte. Vielleicht lag es auch an ihrem Schweiß. Verzweiflung hatte einen ganz speziellen Geruch.
Mit den Fingern strich sie über die vorderen Taschen ihrer Jeans, wo sie den in ein einfaches weißes Taschentuch gewickelten Eidverpflichtungszauber verstaut hatte. Ein starkes magisches Leuchten drang durch den abgetragenen Denim- Stoff und ließ ihre Hand kribbeln. Vielleicht würde sie später, wenn sie den Scheißkerl getroffen und ihre Transaktion abgewickelt hatte, zum ersten Mal seit Tagen wieder durchatmen können. Wahrscheinlich sollte sie sich glücklich schätzen, dass die Hexe keine richtig üble Betrügerin gewesen war.
Dann hörte Pia das schrecklichste Geräusch ihres Lebens. Es fing leise an, wie ein Vibrieren, war aber so tief und kraftvoll, dass es sie bis ins Mark erschütterte. Sie blieb mit den anderen Fußgängern stehen. Die Leute beschatteten ihre Augen und sahen sich um, als das Vibrieren zu einem Gebrüll anschwoll, das durch die Straßen fegte und an den Häusern rüttelte.
Das Brüllen klang wie hundert Güterzüge, Tornados, ein explodierender Olymp in einem Regen aus Feuer und Wasser.
Pia fiel auf die Knie und hielt sich schützend die Arme über den Kopf. Menschen schrien und taten es ihr gleich. Andere sahen sich noch immer mit wildem Blick um und versuchten, das Unheil zu lokalisieren. Einige rannten in Panik über die Straße. An den nächsten Kreuzungen häuften sich die Autounfälle, weil verängstigte Fahrer die Kontrolle verloren hatten und ineinander gekracht waren.
Dann erstarb das Brüllen. Die Gebäude kamen zum Stillstand. Der wolkenlose Himmel war heiter. Aber New York City war es mit großer Wahrscheinlichkeit nicht.
Alles klar.
Wackelig kam Pia auf die Beine und wischte sich das schweißfeuchte Gesicht ab, das Chaos, das um sie herum tobte, bemerkte sie gar nicht.
Sie wusste, was - nein, wer - dieses entsetzliche Geräusch gemacht hatte, und auch, warum. Dieses Wissen ließ alles in ihr zerfließen.
Wenn das hier ein Wettrennen um ihr Leben war, dann war dieses Gebrüll der Startschuss gewesen. Und wenn Gott der Schiedsrichter war, hatte er soeben »LOS!« gerufen.
Er war zusammen mit dem Universum geboren worden, mehr oder weniger. Er erinnerte sich an ein überweltliches Licht und enormen Wind. Die moderne Wissenschaft nannte ihn Sonnenwind. Er entsann sich des Gefühls, endlos zu fliegen und sich ewig in Licht und Magie zu sonnen, die so jung und rein waren, dass es wie das Trompeten Tausender Engel klang.
Seine gewaltigen Knochen und sein Fleisch mussten sich zeitgleich mit den Planeten gebildet haben. Er wurde an die Erde gebunden. Er hatte Hunger und lernte zu jagen und zu essen. Der Hunger lehrte ihn Begriffe wie vorher und nachher, Gefahr und Schmerz und Freude.
Er begann Meinungen zu bilden. Er mochte das Hervorquellen von Blut, wenn er Fleisch verschlang. Es gefiel ihm, auf einem warmen Felsen in der Sonne zu dösen. Er liebte es über alles, sich in die Lüfte zu erheben, loszufliegen und hoch über der Erde auf den Aufwinden zu reiten, was dem ersten Glücksgefühl des unendlichen Fliegens so nahe kam.
Nach dem Hunger entdeckte er die Neugier. Neue Arten entstanden. Die Wyr, Elfen, Helle und Dunkle Fae, große Wesen mit strahlenden Augen und gedrungene, champignonfarbene Kreaturen, geflügelte Albträume und schüchterne Dinger, die im Blattwerk herumfuhrwerkten und sich versteckten, sobald er auftauchte. Die, die einmal unter dem Namen »die Alten Völker« bekannt werden sollten, neigten dazu, sich in der Nähe magiegefüllter Dimensionsnischen von Anderland anzusammeln. An diesen Orten hatten Zeit und Raum Falten geworfen, damals, als die Erde entstand und die Sonne noch in einem anderen Licht schien.
Magie schmeckte ähnlich wie Blut, aber sie war golden und warm wie das Sonnenlicht. Sie ließ sich gut zu rotem Fleisch verschlingen.
Er lernte das Sprechen, indem er heimlich den Alten Völkern zuhörte, und er übte für sich allein beim Fliegen, wobei er jedes Wort und dessen Bedeutung überdachte. Die Alten Völker hatten mehrere Bezeichnungen für ihn.
Wyrm nannten sie ihn. Monster. Das Böse. Die große Bestie.
Dragua.
So erhielt er seinen Namen.
Er bekam es nicht auf Anhieb mit, als sich die ersten modernen Homo sapiens in Afrika ausbreiteten. Von allen Spezies hätte er von ihnen am wenigsten erwartet, dass sie gedeihen würden. Sie waren schwach, hatten eine kurze Lebensspanne, keinen natürlichen Panzer und waren leicht zu töten.
Er behielt sie im Auge und lernte ihre Sprachen. Ebenso wie andere Arten der Wyr entwickelte er die Fähigkeit des Gestaltwandelns, sodass er sich unter sie mischen konnte. Sie gruben Dinge aus der Erde, die ihm gefielen: Gold und Silber, funkelnde Kristalle und wertvolle Edelsteine, die sie zu wundervollen Kunstwerken formten. Da er von Natur aus habgierig war, sammelte er alles, was ihm ins Auge fiel.
Als sich diese neue Spezies über die ganze Erde verbreitete, legte er geheime Verstecke an, in denen er seine Besitztümer sammelte.
Sein Hort enthielt Arbeiten der Elfen, der Feen und Wyr ebenso wie menschliche Kreationen aus Gold, Silber und Kupfer, zum Beispiel Teller, Becher, religiöse Artefakte und Münzen jeder Art. Geld war ein Konzept, das ihn faszinierte, zumal damit so viele andere interessante Begriffe verknüpft waren wie Handel, Politik, Krieg und Gier. Es gab auch Kaskaden voller Kristalle, wertvoller Edelsteine und handgearbeitetem Schmuck jeder Art. Sein Hort wurde um Schriften aller Alten Völker und der Menschheit bereichert, denn die Erfindung des Buchs hielt er (wenn auch nur manchmal) für wertvoller als alle anderen Schätze.
Neben seinem Interesse an Geschichte, Mathematik, Philosophie, Astronomie, Alchemie und Magie entwickelte er eine Faszination für moderne Wissenschaft. Im neunzehnten Jahrhundert reiste er nach England, um sich mit einem berühmten Wissenschaftler über die Entstehung der Arten zu unterhalten. Sie hatten sich zusammen einen angetrunken - der Engländer etwas verzweifelter als er selbst - und während der Geisterstunden geredet und geredet, bis die Sonne die Nebel der Nacht verdampfen ließ.
Er erinnerte sich daran, dem klugen, betrunkenen Wissenschaftler erklärt zu haben, dass er und die menschliche Zivilisation viel gemeinsam hätten. Der Unterschied bestand darin, dass seine Erfahrung in einem einzigen Wesen angelegt war, in einem einzigen Wissensschatz. Auf diese Weise konnte er alle Evolutionsstufen gleichzeitig verkörpern - Bestie und Raubtier, Magier und Aristokrat, Gewalt und Intellekt. Er wusste nicht, ob er sich menschenähnliche Emotionen angeeignet hatte. Was er mit Sicherheit nicht angenommen hatte, war ihre Sterblichkeit. Seine vielleicht größte Errungenschaft war das Gesetz.
In unterschiedlichen Kulturen hatten die Menschen verschiedene Namen für ihn. Ryu nannten sie ihn. Wyvern. Naga. Für die Azteken war er die geflügelte Schlange Quetzalcoatl, die sie Gott nannten.
Dragos.
Übersetzung: Cornelia Röser
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Pia war zu einem derart selbstmörderischen Verbrechen erpresst worden, wie sie es niemals für möglich gehalten hätte. Und sie konnte niemand anderem als sich selbst die Schuld daran geben.
Es zu wissen, machte es nicht besser. Sie konnte einfach nicht fassen, dass sie so wenig Urteilskraft, Geschmack und Sensibilität an den Tag gelegt hatte.
Mal ehrlich - was hatte sie getan? Sie hatte einen Blick auf ein hübsches Gesicht geworfen und alles vergessen, was ihre Mutter ihr über das Überleben beigebracht hatte. Der Gedanke daran war so unerträglich, dass sie sich am liebsten eine Knarre an den Kopf gesetzt und abgedrückt hätte. Nur besaß sie keine Knarre, weil sie keine Waffen mochte. Außerdem war das Abfeuern einer Pistole eine ziemlich endgültige Angelegenheit, und sie legte sich nicht gern langfristig fest. Aber sie war ohnehin schon so was von tot, also wozu noch die Mühe?
Ein Taxi hupte. In New York war dieses Geräusch so allgegenwärtig, dass jeder es ignorierte, doch dieses Mal schreckte es sie auf. Sie warf einen Blick über die hochgezogene Schulter.
Ihr Leben war ein Scherbenhaufen. Sie würde für den Rest ihrer Tage auf der Flucht sein, so etwa alle fünfzehn Minuten. Und das alles nur wegen ihrer eigenen Dummheit und ihres Scheißkerls von Exfreund, der sie erst gevögelt und dann so dermaßen beschissen hatte, dass sie über dieses Gefühl, das ihr wie ein Messer in den Magen stach, einfach nicht hinwegkam.
Sie stolperte in eine schmale, zugemüllte Straße hinter einem koreanischen Restaurant, wo sie eine Literflasche Wasser öffnete und sie in einem Zug halb leer trank. Mit einer Hand stützte sie sich an der Betonmauer ab, während sie das Treiben auf dem Bürgersteig beobachtete. Der Dampf aus der Restaurantküche hüllte sie ein, und der Geruch von rotem Chili und Soja der Gochu Jang-und Gangjang-Saucen überlagerte den Gestank des Mülls aus dem Container neben ihr und die beißenden Abgase des Straßenverkehrs.
Die Menschen auf dem Bürgersteig sahen fast aus wie immer, wie sie von unsichtbaren Mächten getrieben über den Gehweg eilten und in ihre Handys brüllten. Einige sprachen murmelnd mit sich selbst, während sie in Mülltonnen wühlten und die Welt mit verlorenen, argwöhnischen Augen betrachteten. Alles wirkte normal. So weit, so gut?
Nach einer langen, albtraumhaften Woche hatte sie das Verbrechen schließlich einfach begangen. Sie hatte eine der mächtigsten Kreaturen der Welt bestohlen, eine Kreatur, die so furchterregend war, dass ein einziger Gedanke an sie Pia mehr Angst einjagte, als sie in ihrem ganzen Leben gebraucht hätte. Jetzt war es beinahe vollbracht. Nur noch ein paar Dinge zu erledigen, noch ein Treffen mit dem Scheißkerl, und dann hatte sie Zeit zu schreien, sagen wir, ein paar Tage lang, während sie sich überlegte, wo sie sich verstecken könnte.
An diesen Gedanken klammerte sie sich, während sie zügig die Straße hinunterging, bis sie den Magic District erreichte. Der östlich vom Garment District und nördlich von Koreatown gelegene Zauberbezirk von New York wurde manchmal auch Hexenkessel genannt. Er umfasste einige Häuserblocks, in denen die hellen und dunklen Energien nur so brodelten.
Der Hexenkessel verkündete sein »Auf eigene Gefahr!« so stolz wie der Satinumhang eines Preisboxers. In dieser Gegend stapelten sich auf mehreren Stockwerken die Verkaufsbuden und Läden, in denen Kartenlesen, Hellseherei, Götzen und Zauber angeboten wurden. Es gab Einzelhändler, Großhändler und Importeure, jene, die gefälschte Ware feilboten, und solche, deren Zauberartikel eine tödliche Realität besaßen. Selbst auf einen Häuserblock Entfernung konnte sie spüren, wie die Gegend geradezu brutal auf ihre Sinne einstürmte.
Sie erreichte ein Geschäft am Rande des Bezirks, Die Fassade war salbeigrün gestrichen, die Einfassungen der Spiegelglasfenster und der Tür blassgelb. Sie trat einen Schritt zurück und sah nach oben. DIVINUS war in einfachen Buchstaben aus gebürstetem Metall über dem Schaufenster zu lesen. Vor vielen Jahren hatte ihre Mutter bei der Hexe, der dieser Laden gehörte, hin und wieder einen Zauber gekauft. Auch Quentin, Pias Chef, hatte erwähnt, dass diese Hexe über eine der stärksten magischen Begabungen verfügte, die ihm je bei einem Menschen begegnet war.
Sie sah ins Schaufenster. Ihr verschwommenes Spiegelbild blickte zurück: eine müde junge Frau, relativ groß mit einem fohlenartigen Körperbau, angespannten Gesichtszügen und einem zerzausten hellblonden Pferdeschwanz. Sie blickte durch sich selbst hindurch, hinein in den abgedunkelten Innenraum.
Im Gegensatz zu der lauten, nicht allzu sauberen Umgebung der Straße war das Innere des Ladens kühl und ruhig. Von dem Haus schien eine Wärme auszugehen. Sie bemerkte, dass Schutzzauber angebracht worden waren. In einer Vitrine neben der Tür funkelten harmonische Energien in einem reizvollen Arrangement aus Kristallen - Amethyst, Peridot, Rosenquarz, blauer Topas und Zölestin. Die Kristalle fingen das schräg einfallende Sonnenlicht ein und warfen strahlende Splitter aus regenbogenfarbenem Licht an die Decke. Ihre Augen fanden die einzige Person im Raum, eine große, majestätisch aussehende Frau, vielleicht lateinamerikanischer Herkunft, deren Blick mit einer Entladung magischer Energie eine Verbindung zu Pias herstellte.
In diesem Augenblick ging das Geschrei los.
»Gehen Sie nicht da rein!«, rief ein Mann. Dann schrie eine Frau: »Bleiben Sie stehen, bevor es zu spät ist!«
Pia fuhr zusammen und sah sich um. Hinter ihr stand eine Gruppe von zwanzig Leuten auf der Straße. Sie hielten verschiedene Schilder hoch. Auf einem Plakat stand MAGIE = FAHRKARTE IN DIE HÖLLE. Auf einem anderen: GOTT WIRD UNS RETTEN. Und ein drittes behauptete: ALTE VÖLKER - EIN ELITÄRER BETRUG.
Das Gefühl von Unwirklichkeit wurde stärker, gefördert durch Stress, Schlafmangel und ständige Angst. Das Geschrei galt ihr.
Einige Menschen weigerten sich konsequent und auf militante Art, an die Existenz der Alten Völker zu glauben, obwohl die Volksmärchen schon vor vielen Generationen durch Beweise abgelöst worden waren, nachdem man eine entsprechende wissenschaftliche Methode entwickelt hatte. Die Alten Völker und die Menschheit lebten schon seit dem Elisabethanischen Zeitalter offen nebeneinander. Die revisionistische Geschichtsauffassung dieser Menschen ergab ebenso wenig Sinn wie die derjenigen, die behaupteten, die Juden seien im Dritten Reich nicht verfolgt worden.
Nicht nur, dass sie den Bezug zur Realität verloren hatten - sie demonstrierten außerdem vor dem Geschäft einer menschlichen Hexe, um gegen die Alten Völker zu protestieren? Pia schüttelte den Kopf.
Ein kühles Klingeln lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Geschäft. Die Frau, in deren Blick magische Energie lag, hielt ihr die Tür auf. »Die Stadtverordnungen funktionieren in beide Richtungen«, erklärte sie Pia, die Stimme voller Verachtung. »Zwar darf es Zauberläden nur innerhalb eines bestimmten Bezirks geben, aber Demonstranten müssen fünfzehn Meter Abstand von den Läden halten. Sie dürfen die Straße nicht überqueren, sie dürfen den Magic District nicht betreten, und sie können nichts weiter tun, als potenzielle Kunden anzuschreien und zu versuchen, sie aus der Entfernung zu verschrecken. Möchten Sie reinkommen?«
Eine ihrer makellosen Augenbrauen hob sich zu einer gebieterischen Herausforderung, als wollte sie nahelegen, dass es eine wahrhaft mutige Tat sei, das Geschäft dieser Frau zu betreten.
Pia blinzelte sie ausdruckslos an. Nach allem, was sie erlebt hatte, war die Herausforderung dieser Frau weniger als unbedeutend - sie war unsinnig. Ohne mit der Wimper zu zucken, ging sie hinein.
Hinter ihr fiel die Tür klimpernd ins Schloss. Die Frau hielt einen Herzschlag lang inne, als hätte Pia sie überrascht. Dann trat sie mit einem sanften Lächeln auf sie zu.
»Ich bin Adela. Mir gehört Divinus. Was kann ich für Sie tun, meine Liebe?« Das Gesicht der Ladenbesitzerin nahm einen irritierten Ausdruck an. Leise, fast zu sich selbst sagte sie: »Was ist das? ... Sie haben etwas an sich ...«
Mist, daran hatte sie nicht gedacht! Diese Hexe könnte sich an ihre Mutter erinnern.
»Stimmt. Ich sehe aus wie Greta Garbo«, unterbrach Pia sie mit versteinerter Miene. »Können wir jetzt weitermachen? «
Die andere Frau fing ihren Blick auf. Pias Mimik und Körpersprache hielten förmlich ein »Geschlossen«-Schild in die Höhe, und die Hexe beschloss offenbar, sich wieder wie eine professionelle Verkäuferin zu verhalten. »Entschuldigen Sie«, sagte sie mit ihrer Schokoladenmilchstimme. Sie deutete auf die Auslagen. »Hier drüben habe ich Kräuterkosmetik, Schönheitsmittelchen und Tinkturen, mit Heilungszaubern aufgeladene Kristalle ...«
Pia sah sich um, ohne das alles wahrzunehmen, doch sie bemerkte einen würzigen Geruch. Es roch so wunderbar, dass sie, ohne darüber nachzudenken, tief einatmete. Gegen ihren Willen entspannten sich die Muskeln in ihrem Nacken und den Schultern. Der Duft enthielt einen einfachen Zauber, der ganz eindeutig dazu dienen sollte, nervöse Kunden zu beruhigen.
Zwar richtete der Zauber eigentlich keinen Schaden an und versuchte nicht, ihre Sinne zu vernebeln, doch seine manipulative Wirkung störte Pia. Wie viele Menschen entspannten sich dadurch und gaben deswegen Geld aus? Mit geballten Fäusten schob sie die Magie beiseite. Der Zauber klebte noch einen Augenblick an ihr fest, bevor er sich auflöste. Das Gefühl erinnerte sie an Spinnweben, die sich über ihre Haut zogen. Sie kämpfte gegen den Drang an, sich über Arme und Beine zu reiben.
Verärgert wandte sie sich um und sah der Ladenbesitzerin in die Augen. »Sie wurden mir von einer zuverlässigen Quelle empfohlen«, sagte sie knapp. »Ich brauche einen Verpflichtungszauber. «
Adelas höfliches Benehmen ließ nach. »Verstehe«, sagte sie ebenso kurz angebunden wie Pia. Wieder hoben sich ihre Augenbrauen herausfordernd. »Wenn Sie von mir gehört haben, werden Sie wissen, dass ich nicht billig bin.«
»Sie sind nicht billig, weil Sie angeblich eine der besten Hexen der Stadt sind«, sagte Pia, während sie zu einer gläsernen Theke hinüberging. Sie streifte den Rucksack von den schmerzenden Schultern und legte ihn auf die Theke, nachdem sie eine Strähne ihres Pferdeschwanzes unter dem Schulterriemen hervorgezogen hatte. Dann verstaute sie ihre Wasserflasche im Rucksack und zog den Reißverschluss wieder zu.
»Gracias«, sagte die Hexe höflich.
Pia blickte auf die Kristalle in der Vitrine hinab. Sie waren so strahlend und wunderschön, angefüllt mit Licht und Farbe und Magie. Wie es wohl sein mochte, einen von ihnen in der Hand zu halten, sein kühles Gewicht auf ihrer Handfläche zu spüren, wenn er vom Sternenlicht und den Tiefen der Berge sang? Wie es wohl sein mochte, einen von ihnen zu besitzen?
Als sie sich umdrehte, war die Verbindung wieder da. Nun sah sie die Frau selbst herausfordernd an. »Ich kann die Zauber am und im Laden spüren. Sowohl die Anziehungszauber auf den Kristallen als auch den, der Ihre Kunden entspannen soll. Ich weiß also, dass Sie Ihre Arbeit gut genug beherrschen. Ich brauche einen Eidverpflichtungszauber, und ich muss ihn heute noch mitnehmen können.«
»Das ist nicht so einfach, wie es klingen mag«, sagte die Hexe. Ihre langen Wimpern senkten sich und verbargen den Ausdruck ihrer Augen. »Das hier ist kein Fast-Food-Drive-in.«
»Es muss keine ausgefallene Verpflichtung sein«, sagte Pia. »Hören Sie, wir wissen beide, dass Sie mir mehr in Rechnung stellen werden, weil ich sie sofort brauche. Ich habe noch eine Menge zu tun, also könnten wir den nächsten Teil, in dem wir uns umkreisen und miteinander handeln, bitte einfach überspringen? Nichts gegen Sie, aber ich hatte einen langen, schlimmen Tag. Ich bin müde und nicht in Stimmung.«
Die Hexe zog die Mundwinkel nach oben. »Sicher«, sagte sie. »Allerdings kann ich Verpflichtungen nur in einem begrenzten Rahmen sofort anbieten. Und manches biete ich überhaupt nicht an. Wenn Sie etwas brauchen, das auf einen bestimmten Zweck zugeschnitten ist, wird es einige Zeit dauern. Und wenn Sie eine schwarze Verpflichtung suchen, sind Sie an der falschen Adresse. Ich betreibe keine schwarze Magie.«
Erleichtert über das geschäftsmäßige Verhalten der Frau schüttelte Pia den Kopf. »Nichts allzu Schwarzes, glaube ich«, sagte sie heiser. »Aber dennoch etwas mit erheblichen Konsequenzen. Es muss ernst gemeint sein.«
In den dunklen Augen der Hexe glomm ein zynischer Funke. »Sie meinen eine Variante von ›Ich schwöre, ich werde das und das tun, oder mein Arsch soll Feuer fangen und brennen bis zum Ende aller Tage‹ - etwas in der Art?«
Pia nickte. Ihre Mundwinkel zuckten. »Ja, etwas in der Art.«
»Wenn jemand aus freien Stücken einen Eid leistet, fällt die Verpflichtung in den Bereich Vertragspflicht und Gerechtigkeit. Das kann ich machen. Und zufällig habe ich das auch schon«, sagte die Frau. Sie ging in den hinteren Ladenbereich. »Kommen Sie mit!«
Pias misshandeltes Gewissen wand sich. Im Unterschied zur polarisierten schwarzen und weißen Magie sollte graue Magie neutral sein, doch die Art, wie die Hexe die Moral auslegte, ging ihr gegen den Strich. Ebenso wie der Entspannungszauber im Laden kam es ihr vor wie Manipulation, auch wenn es nicht wirklich unmoralisch war. Unter dem Deckmantel der Neutralität ließ sich eine Menge Schaden anrichten.
Aber war das nicht verdammt selbstgerecht von ihr, wo sie doch gerade frisch vom Ort ihres Verbrechens kam und verzweifelt diesen Verpflichtungszauber in die Finger kriegen musste? Der Drang davonzulaufen jagte ihr Adrenalin durch die Adern, doch ihr Selbsterhaltungstrieb ließ sie wie angewurzelt stehen bleiben. Von sich selbst angewidert schüttelte sie den Kopf und folgte der Hexe.
Das wird so was von in die Hose gehen.
Und dabei hoffte sie wirklich, dass es nicht stimmte.
In weniger als einer Stunde war das Geschäft abgewickelt. Pia nahm das Angebot der Hexe an, durch den Hinterausgang hinauszuschlüpfen, um nicht noch einmal von den Demonstranten behelligt zu werden. Ihr Rucksack war um eine beträchtliche Summe Bargeld leichter, doch sie fand, dass das Geld in dieser Auf-Leben-und-Tod-Situation gut angelegt war.
»Nur eins noch«, sagte die Hexe. Träge lehnte ihr kurvenreicher Körper im Rahmen der Hintertür ihres Ladens.
Pia blieb stehen und drehte sich zu der Frau um.
Die Hexe sah ihr in die Augen. »Wenn Sie eine Beziehung mit dem Mann haben, für den das hier bestimmt ist, dann, Schätzchen, muss ich Ihnen sagen, dass er es nicht wert ist.«
Pia entfuhr ein scharfes Lachen, sie hievte den Rucksack ein Stück höher. »Wenn meine Probleme nur so einfach wären! «
In den reizenden dunklen Augen der Frau rührte sich etwas unter der Oberfläche. Es wirkte berechnend, doch das konnte ebenso gut eine Täuschung des spätnachmittäglichen Lichts sein. Im nächsten Augenblick trug ihr hübsches Gesicht eine unbeteiligte Miene, als wäre sie im Geiste längst mit anderen Dingen beschäftigt.
»Viel Glück dann, Chica«, sagte die Hexe. »Wenn Sie noch etwas brauchen, können Sie jederzeit wiederkommen. «
Pia schluckte und sagte mit trockener Kehle: »Danke!«
Die Hexe schloss die Tür, und Pia eilte bis zum Ende des Blocks, bevor sie sich in den Passantenstrom auf dem Gehweg mischte.
Pia hatte ihren Namen nicht genannt. Nach der ersten Zurückweisung hatte die Hexe lieber nicht nachgefragt, und Pia hatte es nicht von sich aus getan. Sie fragte sich, ob ihr jemand das Wort ÄRGER auf die Stirn tätowiert hatte. Vielleicht lag es auch an ihrem Schweiß. Verzweiflung hatte einen ganz speziellen Geruch.
Mit den Fingern strich sie über die vorderen Taschen ihrer Jeans, wo sie den in ein einfaches weißes Taschentuch gewickelten Eidverpflichtungszauber verstaut hatte. Ein starkes magisches Leuchten drang durch den abgetragenen Denim- Stoff und ließ ihre Hand kribbeln. Vielleicht würde sie später, wenn sie den Scheißkerl getroffen und ihre Transaktion abgewickelt hatte, zum ersten Mal seit Tagen wieder durchatmen können. Wahrscheinlich sollte sie sich glücklich schätzen, dass die Hexe keine richtig üble Betrügerin gewesen war.
Dann hörte Pia das schrecklichste Geräusch ihres Lebens. Es fing leise an, wie ein Vibrieren, war aber so tief und kraftvoll, dass es sie bis ins Mark erschütterte. Sie blieb mit den anderen Fußgängern stehen. Die Leute beschatteten ihre Augen und sahen sich um, als das Vibrieren zu einem Gebrüll anschwoll, das durch die Straßen fegte und an den Häusern rüttelte.
Das Brüllen klang wie hundert Güterzüge, Tornados, ein explodierender Olymp in einem Regen aus Feuer und Wasser.
Pia fiel auf die Knie und hielt sich schützend die Arme über den Kopf. Menschen schrien und taten es ihr gleich. Andere sahen sich noch immer mit wildem Blick um und versuchten, das Unheil zu lokalisieren. Einige rannten in Panik über die Straße. An den nächsten Kreuzungen häuften sich die Autounfälle, weil verängstigte Fahrer die Kontrolle verloren hatten und ineinander gekracht waren.
Dann erstarb das Brüllen. Die Gebäude kamen zum Stillstand. Der wolkenlose Himmel war heiter. Aber New York City war es mit großer Wahrscheinlichkeit nicht.
Alles klar.
Wackelig kam Pia auf die Beine und wischte sich das schweißfeuchte Gesicht ab, das Chaos, das um sie herum tobte, bemerkte sie gar nicht.
Sie wusste, was - nein, wer - dieses entsetzliche Geräusch gemacht hatte, und auch, warum. Dieses Wissen ließ alles in ihr zerfließen.
Wenn das hier ein Wettrennen um ihr Leben war, dann war dieses Gebrüll der Startschuss gewesen. Und wenn Gott der Schiedsrichter war, hatte er soeben »LOS!« gerufen.
Er war zusammen mit dem Universum geboren worden, mehr oder weniger. Er erinnerte sich an ein überweltliches Licht und enormen Wind. Die moderne Wissenschaft nannte ihn Sonnenwind. Er entsann sich des Gefühls, endlos zu fliegen und sich ewig in Licht und Magie zu sonnen, die so jung und rein waren, dass es wie das Trompeten Tausender Engel klang.
Seine gewaltigen Knochen und sein Fleisch mussten sich zeitgleich mit den Planeten gebildet haben. Er wurde an die Erde gebunden. Er hatte Hunger und lernte zu jagen und zu essen. Der Hunger lehrte ihn Begriffe wie vorher und nachher, Gefahr und Schmerz und Freude.
Er begann Meinungen zu bilden. Er mochte das Hervorquellen von Blut, wenn er Fleisch verschlang. Es gefiel ihm, auf einem warmen Felsen in der Sonne zu dösen. Er liebte es über alles, sich in die Lüfte zu erheben, loszufliegen und hoch über der Erde auf den Aufwinden zu reiten, was dem ersten Glücksgefühl des unendlichen Fliegens so nahe kam.
Nach dem Hunger entdeckte er die Neugier. Neue Arten entstanden. Die Wyr, Elfen, Helle und Dunkle Fae, große Wesen mit strahlenden Augen und gedrungene, champignonfarbene Kreaturen, geflügelte Albträume und schüchterne Dinger, die im Blattwerk herumfuhrwerkten und sich versteckten, sobald er auftauchte. Die, die einmal unter dem Namen »die Alten Völker« bekannt werden sollten, neigten dazu, sich in der Nähe magiegefüllter Dimensionsnischen von Anderland anzusammeln. An diesen Orten hatten Zeit und Raum Falten geworfen, damals, als die Erde entstand und die Sonne noch in einem anderen Licht schien.
Magie schmeckte ähnlich wie Blut, aber sie war golden und warm wie das Sonnenlicht. Sie ließ sich gut zu rotem Fleisch verschlingen.
Er lernte das Sprechen, indem er heimlich den Alten Völkern zuhörte, und er übte für sich allein beim Fliegen, wobei er jedes Wort und dessen Bedeutung überdachte. Die Alten Völker hatten mehrere Bezeichnungen für ihn.
Wyrm nannten sie ihn. Monster. Das Böse. Die große Bestie.
Dragua.
So erhielt er seinen Namen.
Er bekam es nicht auf Anhieb mit, als sich die ersten modernen Homo sapiens in Afrika ausbreiteten. Von allen Spezies hätte er von ihnen am wenigsten erwartet, dass sie gedeihen würden. Sie waren schwach, hatten eine kurze Lebensspanne, keinen natürlichen Panzer und waren leicht zu töten.
Er behielt sie im Auge und lernte ihre Sprachen. Ebenso wie andere Arten der Wyr entwickelte er die Fähigkeit des Gestaltwandelns, sodass er sich unter sie mischen konnte. Sie gruben Dinge aus der Erde, die ihm gefielen: Gold und Silber, funkelnde Kristalle und wertvolle Edelsteine, die sie zu wundervollen Kunstwerken formten. Da er von Natur aus habgierig war, sammelte er alles, was ihm ins Auge fiel.
Als sich diese neue Spezies über die ganze Erde verbreitete, legte er geheime Verstecke an, in denen er seine Besitztümer sammelte.
Sein Hort enthielt Arbeiten der Elfen, der Feen und Wyr ebenso wie menschliche Kreationen aus Gold, Silber und Kupfer, zum Beispiel Teller, Becher, religiöse Artefakte und Münzen jeder Art. Geld war ein Konzept, das ihn faszinierte, zumal damit so viele andere interessante Begriffe verknüpft waren wie Handel, Politik, Krieg und Gier. Es gab auch Kaskaden voller Kristalle, wertvoller Edelsteine und handgearbeitetem Schmuck jeder Art. Sein Hort wurde um Schriften aller Alten Völker und der Menschheit bereichert, denn die Erfindung des Buchs hielt er (wenn auch nur manchmal) für wertvoller als alle anderen Schätze.
Neben seinem Interesse an Geschichte, Mathematik, Philosophie, Astronomie, Alchemie und Magie entwickelte er eine Faszination für moderne Wissenschaft. Im neunzehnten Jahrhundert reiste er nach England, um sich mit einem berühmten Wissenschaftler über die Entstehung der Arten zu unterhalten. Sie hatten sich zusammen einen angetrunken - der Engländer etwas verzweifelter als er selbst - und während der Geisterstunden geredet und geredet, bis die Sonne die Nebel der Nacht verdampfen ließ.
Er erinnerte sich daran, dem klugen, betrunkenen Wissenschaftler erklärt zu haben, dass er und die menschliche Zivilisation viel gemeinsam hätten. Der Unterschied bestand darin, dass seine Erfahrung in einem einzigen Wesen angelegt war, in einem einzigen Wissensschatz. Auf diese Weise konnte er alle Evolutionsstufen gleichzeitig verkörpern - Bestie und Raubtier, Magier und Aristokrat, Gewalt und Intellekt. Er wusste nicht, ob er sich menschenähnliche Emotionen angeeignet hatte. Was er mit Sicherheit nicht angenommen hatte, war ihre Sterblichkeit. Seine vielleicht größte Errungenschaft war das Gesetz.
In unterschiedlichen Kulturen hatten die Menschen verschiedene Namen für ihn. Ryu nannten sie ihn. Wyvern. Naga. Für die Azteken war er die geflügelte Schlange Quetzalcoatl, die sie Gott nannten.
Dragos.
Übersetzung: Cornelia Röser
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von Thea Harrison
Thea Harrison ist ein Pseudonym der Autorin Teddy Harrison. Sie begann bereits im Alter von neunzehn Jahren mit dem Schreiben und veröffentlicht seither mit großem Erfolg Liebesromane. Derzeit lebt sie in Nordkalifornien.
Bibliographische Angaben
- Autor: Thea Harrison
- 1504 Seiten, Maße: 13 x 19 cm, Gebunden
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3955691365
- ISBN-13: 9783955691363
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