Mein Nidden
Auf der Kurischen Nehrung
Im Sommer 1930 bezogen Frido Manns Großeltern, Thomas und Katia Mann, ihr Ferienhaus in Nidden. Jahrzehnte später spürt er selbst die Sehnsuchtslandschaft der Kurischen Nehrung auf, erzählt die Geschichte dieses besonderen Landstrichs und kümmert sich um...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Mein Nidden “
Klappentext zu „Mein Nidden “
Im Sommer 1930 bezogen Frido Manns Großeltern, Thomas und Katia Mann, ihr Ferienhaus in Nidden. Jahrzehnte später spürt er selbst die Sehnsuchtslandschaft der Kurischen Nehrung auf, erzählt die Geschichte dieses besonderen Landstrichs und kümmert sich um die Zukunft des ehemaligen Sommerhauses. Frido Mann entdeckt sein Nidden und stellt es uns in einem persönlichen und eindrucksvollen Buch vor.
Lese-Probe zu „Mein Nidden “
Mein Nidden - Auf der Kurischen Nehrung von Frido MannEinstimmung:
Musik im »Tal der Stille«
26.Juli 1998. Unter langsam ziehenden Wolken, zwischen Bäumen und stacheligem Gras auf dem Sandboden begebe ich mich zur großen abendlichen Abschlussveranstaltung des zweiten, zehntägigen Thomas-Mann-Musikfestivals. Das Konzert findet im Freien statt, am Fuß der 60 Meter hohen Parniddener Düne, ganz am Ende des Fischerdorfs Nidden (Nida) im litauischen Teil der Kurischen Nehrung. Von der Aussichtsplattform an der Spitze der Düne erstreckt sich das grandiose Panorama über das mächtigste Wanderdünenfeld Europas, das sogenannte Tal der Stille (oder Tal des Schweigens), hinweg meilenweit über Sand, Küstenwald, Ostsee und Haff. Das Licht der Abenddämmerung wirkt purpurn-grau und lässt die Konturen der dicht bewachsenen und mit einer steilen Holztreppe versehenen Düne zunehmend verschwimmen. Scharen von Menschen strömen lautlos über die Sandpfade auf den Veranstaltungsort zu, was der abendlichen Stille etwas Feierliches gibt.
Bald erreiche ich den großen, offenen Platz. Ich fröstele; für diese Jahreszeit ist es selbst für litauische Verhältnisse sehr kalt. Am Ende des Platzes steht ein vorn geöffnetes, weißes Stoffzelt mit einer Bühne darin. Auf der Bühne sehe ich Stühle mit Notenpulten, dazu eine Schlagzeugbatterie und ein Cembalo. Vor dem Zelt sind Holzbänke aufgereiht, auf denen bereits viele in Pullover und Jacken gehüllte Besucher sitzen.
Auf dem Programm steht die Aufführung von Haydns Oratorium Die Schöpfung mit einem Kammerorchester und einem Chor aus Kaunas, dessen Dirigent und drei hochrangigen litauischen Solisten.
... mehr
Jetzt am Abend regt sich hier kaum ein Lüftchen. Nachdem die Tontechniker ein letztes Mal die Verstärkeranlage und die Mikrofone auf der Bühne überprüft haben, stellt sich der Chor an der Rückwand des Zeltes auf, unter einem großen Transparent mit der Aufschrift Tomo Mano festivalis. Davor nehmen die Orchestermusiker ihre Plätze ein. Bald wird es still, das Publikum blickt konzentriert nach vorn. Dann betreten der Dirigent und die drei Solisten über ein paar Treppenstufen die hell erleuchtete Bühne. Der Dirigent stellt sich, die Solisten zu beiden Seiten, vor das Orchester und hebt den Taktstock. Nun erklingt das mächtige Eingangs-Unisono der Vorstellung des Chaos vor dem ersten Schöpfungstag. Aus dem Schalltrichter des Zeltes bahnt sich eine wie endlos vorwärtsdrängende und dissonanzenreiche Chromatik ihren Weg ins Freie. Es kommt mir vor, als passe die scheinbare Ziellosigkeit mit der zunehmenden Dämmerung immer besser zu der Endlosigkeit des Himmels über uns und zu der weiten und verwunschen wirkenden Landschaft des schmalen, zwischen zwei Gewässern eingekeilten Sandstreifens der Kurischen Nehrung.
Nach der Dramatik des Chaos beruhigt sich alles wieder. Als der Chor nach der Ablösung der Mächte der Finsternis die Entstehung einer neuen Welt besingt, finde ich langsam aus meinem Schwebezustand wieder zurück auf etwas festeren Boden. Am Ende der spannungsgeladenen, nur neun Takte umfassenden Entstehung des Lichts mit ihrer dichten und intensiven Steigerung vom Pianissimo bis zum strahlenden Choral im Fortissimo blicke ich unwillkürlich zum Himmel hoch. Dort blinken jetzt wie bestellt die ersten Sterne auf. Die am Ende des ersten Teils zurückgekehrte Ruhe in mir bestärkt mich in meiner Zuversicht, auf diesem malerischen, fragilen Flecken Land mein inneres Gleichgewicht wiederzugewinnen.
Im zweiten Teil des Werks folgen die drastischen und humorvollen Schilderungen der Erschaffung der Tierwelt zu Wasser und zu Lande und zuletzt die des Menschen am siebten Tag. Bei dem martialischen Dankeschor mit der großen Doppelfuge Vollendet ist das große Werk gleitet mein Blick wieder nach oben zum Himmel. Dort prangen jetzt dicht an dicht Tausende von hell funkelnden Sternen, zum Greifen nahe, so wie ich sie schon bei meinem ersten Besuch hier vor einem Jahr auf meinem Nachtgang im »Tal der Stille« hinter der Dünen- spitze gesehen habe und wie sie mir bisher sonst allenfalls aus Südeuropa, Afrika oder Brasilien bekannt waren. Dieser wunderschöne geöffnete, nicht mehr abgründig gähnende, sondern bergende Himmel über der Nehrung erscheint mir jetzt wie ein riesiges Buch, welches mir die göttliche Schöpfung mindestens genauso gewaltig offenbart wie die dem freien Himmel entgegenklingende kunstvolle Vertonung des biblischen Schöpfungsberichts und einiger Psalmen durch den Musikgiganten Haydn.
Der zuletzt folgende und ausschließlich im Paradies spielende dritte Teil des Werks ohne Essverbot, Erkenntnisbaum, Schlange, Sünde, Gottesurteil und Vertreibung fällt für mich gegenüber den ersten beiden Teilen deutlich ab. Die hier ausnahmslos von ewiger Harmonie und von Wundern und Heil kündenden Weisen Adams und Evas in deren Glücksparadies passen nur bedingt zum hiesigen Landstrich. Sie lassen mich nicht vergessen, von welch dramatischen Wirren der Geschichte dieser Flecken Erde, zuletzt im wechselvollen 20. Jahrhundert, immer wieder heimgesucht wurde und dass sich seit der Entstehung dieses verspielt und frohsinnig von der Schöpfung erzählenden Musikwerks im vernunft- und aufklärungsbetonten 18. Jahrhundert die Zeiten überhaupt radikal geändert haben. Dies schmälert jedoch keineswegs die hervorragende Idee, als Höhepunkt und Abschluss eines großen Musikfestivals gerade dieses Werk, dazu mit exzellenter Besetzung, unter freiem Abend- und Nachthimmel aufzuführen.
Der mediterrane nordöstlichste Zipfel Ostpreußens
Die Kurische Nehrung ist so merkwürdig, dass man sie eigentlich ebensogut als Spanien oder Italien gesehen haben muss, wenn einem nicht ein wunderbares Bild in der Seele fehlen soll. Ein schmaler Strich toten Sandes, an dem das Meer unaufhörlich an einer Seite anwütet, und den an der anderen eine ruhige große Wasserfläche, das Haff, bespült.
Wilhelm von Humboldt, 1809
Ein bisschen sitzt mir der Schreck noch in den Gliedern. Nur ungern bin ich in Hamburg-Fuhlsbüttel über die aus dem Flugzeugbauch ausgelassene kurze Treppe in das Hinterteil der winzigen sowjetischen Yakovlev YAK 40 der Air Lithuania gekrochen und habe mich dann gebückt durch die enge Kabine zu meinem Sitz begeben. Gleich nach dem Abheben hatte die Maschine Schwierigkeiten, die richtige Flughöhe zu erreichen, mit stotterndem Motor sackte sie wiederholt ab. Mein Sitznachbar und ich blickten uns beklommen an, bis die endgültige Flughöhe erreicht war und wir in ausreichender Sicherheit über den Wolken flogen. Nach einer Stunde Flugzeit unter dem immer mehr aufklarenden Himmel über der Ostsee und einigen dänischen Inseln bereitet der Pilot jetzt langsam seinen Anflug auf den litauischen Flughafen Palanga vor.
Die mit etwa 30 Sitzen ausgestattete Maschine ist nur halb besetzt. Ein kleiner Teil sind deutsche Touristen. Ansonsten sind es vermutlich Litauer, darunter auffallend viele junge, ziemlich grell geschminkte Mädchen mit ausdruckslosem Gesicht, die aussehen wie eine Gruppe heimkehrender Models. Eben hat die Stewardess damit begonnen, die abgegessenen Tabletts und die leeren Flaschen mit österreichischem Exportbier von den wackligen, bei jeder Bewegung des Vordermannes fast umkippenden Klapptischchen abzuräumen. Mit wachsender Ungeduld blicke ich zu einer der vorderen Flugzeugtüren, deren russische Aufschrift Vychod (»Ausgang«) mit einem leuchtend roten Exit überklebt ist.
Es ist Sommer 1997. Ich bin neugierig auf meinen ersten Besuch in Litauen und insbesondere auf der Kurischen Nehrung und in Nidden, mit dem dort vor einem Jahr eingeweihten Thomas-Mann-Kulturzentrum im ehemaligen Sommerhaus meiner Familie. Ursprünglich hatte man mich zum ersten zehntägigen Thomas-Mann-Musikfestival eingeladen, dessen Beginn für den 16. Juli, den Geburtstag des Hauses, festgesetzt war. Da ich jedoch wegen anderweitiger Verpfl ichtungen daran nicht teilnehmen konnte, habe ich einen Vortrag für eine vierzehn Tage vor dem Festival in Nidden tagende Seminargruppe zugesagt. Die Gruppe ist gerade in diesen Tagen vom Gerhart-Hauptmann-Haus auf Hiddensee in Nidden angereist, um dort ihr Symposium über Gerhart Hauptmann und Thomas Mann fortzusetzen. Da ich gerade dabei bin, für den kommenden Herbst im brasilianischen Paraty, dem Geburtsort von Heinrich und Thomas Manns Mutter Julia da Silva-Bruhns- Mann, ein Kulturfestival mitzuorganisieren, habe ich angeboten, in Nidden über »Die Manns - eine Familie zwischen den Kulturen« zu sprechen.
Jetzt erscheint verschwommen der erste Landstreifen Litauens am Horizont. Unsere Maschine fliegt inzwischen wieder so tief, dass sich aus der Meeresoberfläche langsam das Wellenrelief herausschält und auch die Küste erste Konturen erhält. Die nur durch die Hafenstadt Klaipe. da unterbrochene Dünenkette entlang der ganzen litauischen Bernsteinküste sieht im Sonnenlicht aus wie ein goldenes, mit dem Blau des Wassers um die Wette glänzendes Sensenblatt. Bald werden auch dunkle Wälder und dazwischengesprenkelte Häuschen sichtbar. Und schon setzen wir, als einziges Flugzeug weit und breit, zur Landung auf dem zwischen Wald und Wiesen eingebetteten und nur aus einer Baracke bestehenden Flughafen des Seebades Palanga nahe der lettischen Grenze an.
Nach der Gepäckausgabe und der Zollabfertigung nimmt mich die neue wissenschaftliche Mitarbeiterin des Thomas-Mann- Kulturzentrums, Ruth Kibelka, in Empfang. Nach den nur 13 Grad Celsius in Hamburg herrschen hier, völlig überraschend, Temperaturen von über 30 Grad. Wir fahren mit dem Auto die schnurgerade Straße Richtung Klaipe. da entlang, vorbei am kleinen Ort Nemirseta, dem früheren Nimmersatt, das bis zum Ende des Ersten Weltkriegs der Grenzort gewesen ist zwischen Litauen und dem nördlich des Memelflusses gelegenen und sich als Landesteil Ostpreußens in die Kurische Nehrung hinein erstreckenden Memelgebiet.
Bald erreichen wir das westlitauische Wirtschaftszentrum Klaipe. da, das frühere Memel, mit seinen heute rund 200 000 Einwohnern. Auf der Durchfahrtsstraße zum Fährhafen reihen sich vor allem in der Vorstadt endlos lange, wenig attraktive Neubaublocks und Plattenbausiedlungen, dann viele alte Gebäude aus roten Ziegelsteinen aneinander. Wir setzen an der Stelle, an der sich das Festland und die Kurische Nehrung fast berühren, mit der schweren Roll-on-roll-off-Autofähre an das andere Ufer über.
Dort tut sich mir eine neue Welt auf. Ich begreife jetzt, was es ursprünglich mit dem Namen Memel auf sich hat: Auf Kurisch- Lettisch lautet er memelis, was auf Deutsch »stiller«, »langsamer« oder »schweigender« bedeutet. Für mich ist es der Inbegriff einer friedlichen, reinen und idyllischen Natur mit dichten, kraftvoll grünen, teilweise windverkrümmten Kiefern- und Birkenwäldern auf Sandboden, die zwischendurch reichlich Ausblicke auf das Kurische Haff bieten. Etwas später öffnet sich auf der gegenüberliegenden Seite in Waldlichtungen andeutungsweise das Panorama einer gewellten, weiten Dünenlandschaft. Dahinter ist die Ostsee zu sehen, deren Größe und derzeit bewegter Wellengang mir sehr viel gewaltiger erscheinen als auf deutschem oder dänischem Gebiet, wo sie vergleichsweise tümpelhaft anmutet.
Ein Geruch aus Kiefernharz, Sand und Meersalz begleitet mich während der knapp einstündigen Fahrt auf der fast leeren Straße südwärts Richtung Nidden. Die an ihrer breitesten Stelle 3,8 Kilometer, an ihrer schmalsten nur 380 Meter breite Nehrung ist immerhin 98 Kilometer lang. Kurz nach dem Eintritt in den Nationalpark durch eine Schranke müssen wir anhalten, weil dort eine ganze Wildschweinfamilie gemächlich die Straße überquert. Von den berühmten Elchen, welche die vielen Erinnerungen meiner Familie schmücken, existieren hier nur noch wenige, und man bekommt sie praktisch nicht mehr zu sehen.
Bald erreichen wir den ersten Ort, Juodkrante., das frühere Schwarzort. Es ist ein beschaulicher Flecken aus restaurierten, puppenstubenartigen Fischerhäusern mit Giebelverzierung, Bernsteinhöfen und Touristenläden. Dazwischen hebt sich, als abgrundtief hässliches sozialistisches Relikt, der Betonbunker des örtlichen Kulturzentrums heraus. Vor der begrünten und gegenwärtig kaum bevölkerten Promenade am Kai auf der Haffseite dümpeln einige Fischerboote.
Nach einer weiteren Fahrt durch besonders dichtes Waldgebiet biegen wir, kurz vor dem Schlagbaum vor der russischen Grenze, nach links Richtung Haff ab und steuern auf Nidden zu. Ich werde gleich in mein auf der Anhöhe über dem Ort und mitten im Wald gelegenes Hotel Auksines Kopos (»Golde ne Düne«) gebracht. Es stammt ebenfalls aus der sowjetischen Zeit: ein sich über mehrere Seitenflügel erstreckender, grauer und schlecht verputzter Steinkasten mit schürzenähnlichen, dünnen Vorhängen vor den Fenstern und violettbraun angestrichenen Balkonen. Die geräumige Empfangshalle ist innen großzügig mit hellem Holz verkleidet. In diesem Hotel ist auch die Seminargruppe aus Deutschland untergebracht, mit der zusammen ich gleich zu Abend essen und dann morgen früh durch den Wald zum Thomas-Mann-Haus aufbrechen werde.
Am nächsten Morgen schüttet es wie aus Eimern, und es hat sich deutlich abgekühlt. Ich habe mich bereits mit einigen Mitgliedern der Seminargruppe zusammengetan. Es sind insgesamt an die 25 literarisch interessierte Angehörige verschiedenster Berufe vor allem aus den nördlichen alten wie neuen deutschen Bundesländern. Während des eher kargen Frühstücks bekennt mir eine Teilnehmerin aus Lübeck etwas wehmütig, dass der typische Geruch der unterschiedlichen Quark-, Molke- und Käseangebote am Frühstücksbuffet sie an die nostalgischen Erzählungen ihrer aus dem Memelland stammen
den Mutter erinnere.
Nach dem Frühstück machen wir uns auf zum Thomas- Mann-Haus. Bald bewegt sich eine Karawane schwarzer Regen schirme auf weichen Sand- und Moospfaden durch den durchnässten Wald, dessen leuchtendes Sattgrün bei schlechter Witterung besonders zur Geltung kommt. Die für diese nördlichen Breiten ungewöhnliche Farbkraft im überhellen Licht lässt die hiesigen Kiefern ein bisschen wie Pinien erscheinen. Auf den sanften Anstieg einen Dünenhügel hinauf folgt ein ziemlich steiler Abstieg zum Haff, an welchem entlang uns ein asphaltierter Weg zwischen Kaimauer und Häusern zu unserem Ziel bringt. Wir passieren eine kunterbunte Mischung aus Baustilen, die viel über die verwirrende jüngste Geschichte des Landes aussagen. Alte Niddener Fischerhäuser in den typischen Farben Kastanienbraun und Eisenrot, mit kobaltblauen oder titanweißen Fensterrahmen und nach alter heidnischer Anschauung das Böse bannenden Tierköpfen an den Dachgiebeln. Davor bunte, etwas verwilderte Blumengärten. Dazwischen sind brutal Betonklötze aus der Sowjetzeit gehauen. Wie ein versöhnlicher Lichtblick erscheinen vereinzelte Versuche modernster Architektur vermutlich aus den allerletzten Jahren.
Bald nachdem wir den inzwischen recht verfallen aussehenden ehemaligen Gasthof Blode passiert haben, der 1929 bei der Entscheidung Thomas Manns für den hiesigen Hausbau eine wichtige Rolle gespielt hat, erreichen wir eine steile Holztreppe mit einem verwitterten, holzgeschnitzten Weg weiser »Thomas Mann Gedenkstätte und Museum«.Am Fuß der Trep pe verkauft eine alte Frau ausgelegten Schmuck aus Bernstein, dem »baltischen Gold« aus 50 Millionen Jahre altem, versteinertem Baumharz, von der Ostseebrandung hier massenweise angeschwemmt und kunstvoll verarbeitet. Während des Aufstiegs zum Haus, zwischen hochgeschossenen, nach Osten hin windschiefen, sich auch in sandiger Erde haltenden Kiefern, wird mir erklärt, dass in den frühen Dreißigerjahren, als meine Familie das Haus während der Sommermonate bewohnte, hier weder Bäume noch ein Treppenaufgang gewesen seien, sondern nur ein dicht mit Büschen bewachsener Dünenabhang. Den einzigen Zugang habe es von der Straße auf der gegenüberliegenden Seite gegeben.
»Und, wie ist es für Sie, hier zu Hause?«, fragt mich einer aus der Gruppe, als wir oben angelangt sind und ich zum ersten Mal den schmucken kleinen, mit einem neuen Reetdach bedeckten Holzbau mit blauen Fensterrahmen vor mir sehe. »Es ist nicht mein Zuhause«, antworte ich etwas irritiert. »Es war das meiner Familie, zehn Jahre bevor ich geboren wurde.« Ich gestehe mir selbst ein, dass ich hier deutlich weniger Emotionen in mir aufkommen fühle als vor rund drei Jahren, als ich zum ersten Mal vor der imposanten Fazenda, dem Elternhaus meiner Urgroßmutter Julia da Silva-Bruhns-Mann, in Paraty an der Küste im Nordosten Brasiliens stand.
Das ändert sich auch nicht, als ich hineingeführt werde und mir von der neuen Zentrums- und Museumsdirektorin Vitalija Jonušiene, die ich bereits gestern im Hotel kennengelernt habe, das Innere des Hauses zeigen lasse: die vielen kleinen Zimmer neben dem engen Flur im Erd- und im Obergeschoss. Unten gleich beim Eingang das ehemalige Schlafzimmer meiner Großmutter Katia und das meines damals etwa zwölfjährigen Vaters Michael und dessen um ein Jahr älterer Schwester Elisabeth - das kleinere heute ein Kassen- und Souvenirverkaufsraum und das größere daneben ein Museum mit vergilbten Dokumenten und Fotos hinter Vitrinen. Vorne zur Terrasse hin liegen das frühere Wohn- und Esszimmer mit Kamin und Durchreiche zur kleinen Küche und, durch eine Schiebetür getrennt, die mit einer Glastür abschließbare Veranda - heute beide als Veranstaltungsräume genutzt. Oben dient das ehemalige Schlafzimmer Thomas Manns zusammen mit einem früheren Gästezimmer als Sekretariat des im Haus neu eingerichteten Kulturzentrums. Thomas Manns einstiges Arbeitszimmer daneben bietet den schönsten Blick auf das Haff.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main.
Jetzt am Abend regt sich hier kaum ein Lüftchen. Nachdem die Tontechniker ein letztes Mal die Verstärkeranlage und die Mikrofone auf der Bühne überprüft haben, stellt sich der Chor an der Rückwand des Zeltes auf, unter einem großen Transparent mit der Aufschrift Tomo Mano festivalis. Davor nehmen die Orchestermusiker ihre Plätze ein. Bald wird es still, das Publikum blickt konzentriert nach vorn. Dann betreten der Dirigent und die drei Solisten über ein paar Treppenstufen die hell erleuchtete Bühne. Der Dirigent stellt sich, die Solisten zu beiden Seiten, vor das Orchester und hebt den Taktstock. Nun erklingt das mächtige Eingangs-Unisono der Vorstellung des Chaos vor dem ersten Schöpfungstag. Aus dem Schalltrichter des Zeltes bahnt sich eine wie endlos vorwärtsdrängende und dissonanzenreiche Chromatik ihren Weg ins Freie. Es kommt mir vor, als passe die scheinbare Ziellosigkeit mit der zunehmenden Dämmerung immer besser zu der Endlosigkeit des Himmels über uns und zu der weiten und verwunschen wirkenden Landschaft des schmalen, zwischen zwei Gewässern eingekeilten Sandstreifens der Kurischen Nehrung.
Nach der Dramatik des Chaos beruhigt sich alles wieder. Als der Chor nach der Ablösung der Mächte der Finsternis die Entstehung einer neuen Welt besingt, finde ich langsam aus meinem Schwebezustand wieder zurück auf etwas festeren Boden. Am Ende der spannungsgeladenen, nur neun Takte umfassenden Entstehung des Lichts mit ihrer dichten und intensiven Steigerung vom Pianissimo bis zum strahlenden Choral im Fortissimo blicke ich unwillkürlich zum Himmel hoch. Dort blinken jetzt wie bestellt die ersten Sterne auf. Die am Ende des ersten Teils zurückgekehrte Ruhe in mir bestärkt mich in meiner Zuversicht, auf diesem malerischen, fragilen Flecken Land mein inneres Gleichgewicht wiederzugewinnen.
Im zweiten Teil des Werks folgen die drastischen und humorvollen Schilderungen der Erschaffung der Tierwelt zu Wasser und zu Lande und zuletzt die des Menschen am siebten Tag. Bei dem martialischen Dankeschor mit der großen Doppelfuge Vollendet ist das große Werk gleitet mein Blick wieder nach oben zum Himmel. Dort prangen jetzt dicht an dicht Tausende von hell funkelnden Sternen, zum Greifen nahe, so wie ich sie schon bei meinem ersten Besuch hier vor einem Jahr auf meinem Nachtgang im »Tal der Stille« hinter der Dünen- spitze gesehen habe und wie sie mir bisher sonst allenfalls aus Südeuropa, Afrika oder Brasilien bekannt waren. Dieser wunderschöne geöffnete, nicht mehr abgründig gähnende, sondern bergende Himmel über der Nehrung erscheint mir jetzt wie ein riesiges Buch, welches mir die göttliche Schöpfung mindestens genauso gewaltig offenbart wie die dem freien Himmel entgegenklingende kunstvolle Vertonung des biblischen Schöpfungsberichts und einiger Psalmen durch den Musikgiganten Haydn.
Der zuletzt folgende und ausschließlich im Paradies spielende dritte Teil des Werks ohne Essverbot, Erkenntnisbaum, Schlange, Sünde, Gottesurteil und Vertreibung fällt für mich gegenüber den ersten beiden Teilen deutlich ab. Die hier ausnahmslos von ewiger Harmonie und von Wundern und Heil kündenden Weisen Adams und Evas in deren Glücksparadies passen nur bedingt zum hiesigen Landstrich. Sie lassen mich nicht vergessen, von welch dramatischen Wirren der Geschichte dieser Flecken Erde, zuletzt im wechselvollen 20. Jahrhundert, immer wieder heimgesucht wurde und dass sich seit der Entstehung dieses verspielt und frohsinnig von der Schöpfung erzählenden Musikwerks im vernunft- und aufklärungsbetonten 18. Jahrhundert die Zeiten überhaupt radikal geändert haben. Dies schmälert jedoch keineswegs die hervorragende Idee, als Höhepunkt und Abschluss eines großen Musikfestivals gerade dieses Werk, dazu mit exzellenter Besetzung, unter freiem Abend- und Nachthimmel aufzuführen.
Der mediterrane nordöstlichste Zipfel Ostpreußens
Die Kurische Nehrung ist so merkwürdig, dass man sie eigentlich ebensogut als Spanien oder Italien gesehen haben muss, wenn einem nicht ein wunderbares Bild in der Seele fehlen soll. Ein schmaler Strich toten Sandes, an dem das Meer unaufhörlich an einer Seite anwütet, und den an der anderen eine ruhige große Wasserfläche, das Haff, bespült.
Wilhelm von Humboldt, 1809
Ein bisschen sitzt mir der Schreck noch in den Gliedern. Nur ungern bin ich in Hamburg-Fuhlsbüttel über die aus dem Flugzeugbauch ausgelassene kurze Treppe in das Hinterteil der winzigen sowjetischen Yakovlev YAK 40 der Air Lithuania gekrochen und habe mich dann gebückt durch die enge Kabine zu meinem Sitz begeben. Gleich nach dem Abheben hatte die Maschine Schwierigkeiten, die richtige Flughöhe zu erreichen, mit stotterndem Motor sackte sie wiederholt ab. Mein Sitznachbar und ich blickten uns beklommen an, bis die endgültige Flughöhe erreicht war und wir in ausreichender Sicherheit über den Wolken flogen. Nach einer Stunde Flugzeit unter dem immer mehr aufklarenden Himmel über der Ostsee und einigen dänischen Inseln bereitet der Pilot jetzt langsam seinen Anflug auf den litauischen Flughafen Palanga vor.
Die mit etwa 30 Sitzen ausgestattete Maschine ist nur halb besetzt. Ein kleiner Teil sind deutsche Touristen. Ansonsten sind es vermutlich Litauer, darunter auffallend viele junge, ziemlich grell geschminkte Mädchen mit ausdruckslosem Gesicht, die aussehen wie eine Gruppe heimkehrender Models. Eben hat die Stewardess damit begonnen, die abgegessenen Tabletts und die leeren Flaschen mit österreichischem Exportbier von den wackligen, bei jeder Bewegung des Vordermannes fast umkippenden Klapptischchen abzuräumen. Mit wachsender Ungeduld blicke ich zu einer der vorderen Flugzeugtüren, deren russische Aufschrift Vychod (»Ausgang«) mit einem leuchtend roten Exit überklebt ist.
Es ist Sommer 1997. Ich bin neugierig auf meinen ersten Besuch in Litauen und insbesondere auf der Kurischen Nehrung und in Nidden, mit dem dort vor einem Jahr eingeweihten Thomas-Mann-Kulturzentrum im ehemaligen Sommerhaus meiner Familie. Ursprünglich hatte man mich zum ersten zehntägigen Thomas-Mann-Musikfestival eingeladen, dessen Beginn für den 16. Juli, den Geburtstag des Hauses, festgesetzt war. Da ich jedoch wegen anderweitiger Verpfl ichtungen daran nicht teilnehmen konnte, habe ich einen Vortrag für eine vierzehn Tage vor dem Festival in Nidden tagende Seminargruppe zugesagt. Die Gruppe ist gerade in diesen Tagen vom Gerhart-Hauptmann-Haus auf Hiddensee in Nidden angereist, um dort ihr Symposium über Gerhart Hauptmann und Thomas Mann fortzusetzen. Da ich gerade dabei bin, für den kommenden Herbst im brasilianischen Paraty, dem Geburtsort von Heinrich und Thomas Manns Mutter Julia da Silva-Bruhns- Mann, ein Kulturfestival mitzuorganisieren, habe ich angeboten, in Nidden über »Die Manns - eine Familie zwischen den Kulturen« zu sprechen.
Jetzt erscheint verschwommen der erste Landstreifen Litauens am Horizont. Unsere Maschine fliegt inzwischen wieder so tief, dass sich aus der Meeresoberfläche langsam das Wellenrelief herausschält und auch die Küste erste Konturen erhält. Die nur durch die Hafenstadt Klaipe. da unterbrochene Dünenkette entlang der ganzen litauischen Bernsteinküste sieht im Sonnenlicht aus wie ein goldenes, mit dem Blau des Wassers um die Wette glänzendes Sensenblatt. Bald werden auch dunkle Wälder und dazwischengesprenkelte Häuschen sichtbar. Und schon setzen wir, als einziges Flugzeug weit und breit, zur Landung auf dem zwischen Wald und Wiesen eingebetteten und nur aus einer Baracke bestehenden Flughafen des Seebades Palanga nahe der lettischen Grenze an.
Nach der Gepäckausgabe und der Zollabfertigung nimmt mich die neue wissenschaftliche Mitarbeiterin des Thomas-Mann- Kulturzentrums, Ruth Kibelka, in Empfang. Nach den nur 13 Grad Celsius in Hamburg herrschen hier, völlig überraschend, Temperaturen von über 30 Grad. Wir fahren mit dem Auto die schnurgerade Straße Richtung Klaipe. da entlang, vorbei am kleinen Ort Nemirseta, dem früheren Nimmersatt, das bis zum Ende des Ersten Weltkriegs der Grenzort gewesen ist zwischen Litauen und dem nördlich des Memelflusses gelegenen und sich als Landesteil Ostpreußens in die Kurische Nehrung hinein erstreckenden Memelgebiet.
Bald erreichen wir das westlitauische Wirtschaftszentrum Klaipe. da, das frühere Memel, mit seinen heute rund 200 000 Einwohnern. Auf der Durchfahrtsstraße zum Fährhafen reihen sich vor allem in der Vorstadt endlos lange, wenig attraktive Neubaublocks und Plattenbausiedlungen, dann viele alte Gebäude aus roten Ziegelsteinen aneinander. Wir setzen an der Stelle, an der sich das Festland und die Kurische Nehrung fast berühren, mit der schweren Roll-on-roll-off-Autofähre an das andere Ufer über.
Dort tut sich mir eine neue Welt auf. Ich begreife jetzt, was es ursprünglich mit dem Namen Memel auf sich hat: Auf Kurisch- Lettisch lautet er memelis, was auf Deutsch »stiller«, »langsamer« oder »schweigender« bedeutet. Für mich ist es der Inbegriff einer friedlichen, reinen und idyllischen Natur mit dichten, kraftvoll grünen, teilweise windverkrümmten Kiefern- und Birkenwäldern auf Sandboden, die zwischendurch reichlich Ausblicke auf das Kurische Haff bieten. Etwas später öffnet sich auf der gegenüberliegenden Seite in Waldlichtungen andeutungsweise das Panorama einer gewellten, weiten Dünenlandschaft. Dahinter ist die Ostsee zu sehen, deren Größe und derzeit bewegter Wellengang mir sehr viel gewaltiger erscheinen als auf deutschem oder dänischem Gebiet, wo sie vergleichsweise tümpelhaft anmutet.
Ein Geruch aus Kiefernharz, Sand und Meersalz begleitet mich während der knapp einstündigen Fahrt auf der fast leeren Straße südwärts Richtung Nidden. Die an ihrer breitesten Stelle 3,8 Kilometer, an ihrer schmalsten nur 380 Meter breite Nehrung ist immerhin 98 Kilometer lang. Kurz nach dem Eintritt in den Nationalpark durch eine Schranke müssen wir anhalten, weil dort eine ganze Wildschweinfamilie gemächlich die Straße überquert. Von den berühmten Elchen, welche die vielen Erinnerungen meiner Familie schmücken, existieren hier nur noch wenige, und man bekommt sie praktisch nicht mehr zu sehen.
Bald erreichen wir den ersten Ort, Juodkrante., das frühere Schwarzort. Es ist ein beschaulicher Flecken aus restaurierten, puppenstubenartigen Fischerhäusern mit Giebelverzierung, Bernsteinhöfen und Touristenläden. Dazwischen hebt sich, als abgrundtief hässliches sozialistisches Relikt, der Betonbunker des örtlichen Kulturzentrums heraus. Vor der begrünten und gegenwärtig kaum bevölkerten Promenade am Kai auf der Haffseite dümpeln einige Fischerboote.
Nach einer weiteren Fahrt durch besonders dichtes Waldgebiet biegen wir, kurz vor dem Schlagbaum vor der russischen Grenze, nach links Richtung Haff ab und steuern auf Nidden zu. Ich werde gleich in mein auf der Anhöhe über dem Ort und mitten im Wald gelegenes Hotel Auksines Kopos (»Golde ne Düne«) gebracht. Es stammt ebenfalls aus der sowjetischen Zeit: ein sich über mehrere Seitenflügel erstreckender, grauer und schlecht verputzter Steinkasten mit schürzenähnlichen, dünnen Vorhängen vor den Fenstern und violettbraun angestrichenen Balkonen. Die geräumige Empfangshalle ist innen großzügig mit hellem Holz verkleidet. In diesem Hotel ist auch die Seminargruppe aus Deutschland untergebracht, mit der zusammen ich gleich zu Abend essen und dann morgen früh durch den Wald zum Thomas-Mann-Haus aufbrechen werde.
Am nächsten Morgen schüttet es wie aus Eimern, und es hat sich deutlich abgekühlt. Ich habe mich bereits mit einigen Mitgliedern der Seminargruppe zusammengetan. Es sind insgesamt an die 25 literarisch interessierte Angehörige verschiedenster Berufe vor allem aus den nördlichen alten wie neuen deutschen Bundesländern. Während des eher kargen Frühstücks bekennt mir eine Teilnehmerin aus Lübeck etwas wehmütig, dass der typische Geruch der unterschiedlichen Quark-, Molke- und Käseangebote am Frühstücksbuffet sie an die nostalgischen Erzählungen ihrer aus dem Memelland stammen
den Mutter erinnere.
Nach dem Frühstück machen wir uns auf zum Thomas- Mann-Haus. Bald bewegt sich eine Karawane schwarzer Regen schirme auf weichen Sand- und Moospfaden durch den durchnässten Wald, dessen leuchtendes Sattgrün bei schlechter Witterung besonders zur Geltung kommt. Die für diese nördlichen Breiten ungewöhnliche Farbkraft im überhellen Licht lässt die hiesigen Kiefern ein bisschen wie Pinien erscheinen. Auf den sanften Anstieg einen Dünenhügel hinauf folgt ein ziemlich steiler Abstieg zum Haff, an welchem entlang uns ein asphaltierter Weg zwischen Kaimauer und Häusern zu unserem Ziel bringt. Wir passieren eine kunterbunte Mischung aus Baustilen, die viel über die verwirrende jüngste Geschichte des Landes aussagen. Alte Niddener Fischerhäuser in den typischen Farben Kastanienbraun und Eisenrot, mit kobaltblauen oder titanweißen Fensterrahmen und nach alter heidnischer Anschauung das Böse bannenden Tierköpfen an den Dachgiebeln. Davor bunte, etwas verwilderte Blumengärten. Dazwischen sind brutal Betonklötze aus der Sowjetzeit gehauen. Wie ein versöhnlicher Lichtblick erscheinen vereinzelte Versuche modernster Architektur vermutlich aus den allerletzten Jahren.
Bald nachdem wir den inzwischen recht verfallen aussehenden ehemaligen Gasthof Blode passiert haben, der 1929 bei der Entscheidung Thomas Manns für den hiesigen Hausbau eine wichtige Rolle gespielt hat, erreichen wir eine steile Holztreppe mit einem verwitterten, holzgeschnitzten Weg weiser »Thomas Mann Gedenkstätte und Museum«.Am Fuß der Trep pe verkauft eine alte Frau ausgelegten Schmuck aus Bernstein, dem »baltischen Gold« aus 50 Millionen Jahre altem, versteinertem Baumharz, von der Ostseebrandung hier massenweise angeschwemmt und kunstvoll verarbeitet. Während des Aufstiegs zum Haus, zwischen hochgeschossenen, nach Osten hin windschiefen, sich auch in sandiger Erde haltenden Kiefern, wird mir erklärt, dass in den frühen Dreißigerjahren, als meine Familie das Haus während der Sommermonate bewohnte, hier weder Bäume noch ein Treppenaufgang gewesen seien, sondern nur ein dicht mit Büschen bewachsener Dünenabhang. Den einzigen Zugang habe es von der Straße auf der gegenüberliegenden Seite gegeben.
»Und, wie ist es für Sie, hier zu Hause?«, fragt mich einer aus der Gruppe, als wir oben angelangt sind und ich zum ersten Mal den schmucken kleinen, mit einem neuen Reetdach bedeckten Holzbau mit blauen Fensterrahmen vor mir sehe. »Es ist nicht mein Zuhause«, antworte ich etwas irritiert. »Es war das meiner Familie, zehn Jahre bevor ich geboren wurde.« Ich gestehe mir selbst ein, dass ich hier deutlich weniger Emotionen in mir aufkommen fühle als vor rund drei Jahren, als ich zum ersten Mal vor der imposanten Fazenda, dem Elternhaus meiner Urgroßmutter Julia da Silva-Bruhns-Mann, in Paraty an der Küste im Nordosten Brasiliens stand.
Das ändert sich auch nicht, als ich hineingeführt werde und mir von der neuen Zentrums- und Museumsdirektorin Vitalija Jonušiene, die ich bereits gestern im Hotel kennengelernt habe, das Innere des Hauses zeigen lasse: die vielen kleinen Zimmer neben dem engen Flur im Erd- und im Obergeschoss. Unten gleich beim Eingang das ehemalige Schlafzimmer meiner Großmutter Katia und das meines damals etwa zwölfjährigen Vaters Michael und dessen um ein Jahr älterer Schwester Elisabeth - das kleinere heute ein Kassen- und Souvenirverkaufsraum und das größere daneben ein Museum mit vergilbten Dokumenten und Fotos hinter Vitrinen. Vorne zur Terrasse hin liegen das frühere Wohn- und Esszimmer mit Kamin und Durchreiche zur kleinen Küche und, durch eine Schiebetür getrennt, die mit einer Glastür abschließbare Veranda - heute beide als Veranstaltungsräume genutzt. Oben dient das ehemalige Schlafzimmer Thomas Manns zusammen mit einem früheren Gästezimmer als Sekretariat des im Haus neu eingerichteten Kulturzentrums. Thomas Manns einstiges Arbeitszimmer daneben bietet den schönsten Blick auf das Haff.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main.
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Autoren-Porträt von Frido Mann
Frido Mann, geboren 1940 in Monterey/Kalifornien, arbeitete nach dem Studium der Musik, der Katholischen Theologie und der Psychologie viele Jahre als klinischer Psychologe in Münster, Leipzig und Prag. Er lebt heute als freier Schriftsteller in München. Zuletzt sind von ihm erschienen 'An die Musik. Ein autobiographischer Essay' und, zusammen mit Christine Mann, 'Es werde Licht. Die Einheit von Geist und Materie in der Quantenphysik'.
Bibliographische Angaben
- Autor: Frido Mann
- 2013, 3. Aufl., 192 Seiten, 2 Abbildungen, Maße: 12,3 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 359619718X
- ISBN-13: 9783596197187
- Erscheinungsdatum: 21.11.2013
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