Stille Zeit der Wunder
Eine wunderschöne Liebesgeschichte zur Weihnachtszeit: Die alleinerziehende Lehrerin Elise begegnet ihrer Jugendliebe wieder. Gibt es eine neue Chance für ihre alte Liebe?
Vor siebzehn Jahren hat Elise Ramsey sich für...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Stille Zeit der Wunder “
Eine wunderschöne Liebesgeschichte zur Weihnachtszeit: Die alleinerziehende Lehrerin Elise begegnet ihrer Jugendliebe wieder. Gibt es eine neue Chance für ihre alte Liebe?
Vor siebzehn Jahren hat Elise Ramsey sich für die Pflicht und nicht für das Glück entschieden. Damals ist sie bei ihrer kranken Mutter geblieben, statt mit ihrer großen Liebe Sloane Tyson die Stadt zu verlassen. Siebzehn Jahre, in denen sie das Lachen in seinen Augen nicht vergessen konnte. Doch jetzt ist Sloane zurück in Miracle Springs, mit einem Jungen, der ihm aufs Haar gleicht: Clay, sein Sohn, der in Elises Klasse kommt. Nicht lange, und zwischen Sloane und Elise knistert es wie einst. Aber kann man die Zeit wirklich zurückdrehen?
Bewegend und mit viel Gefühl erzählt Emilie Richards von der Macht der Liebe zwischen zwei Menschen, die füreinander bestimmt sind - und das erst lernen müssen.
Klappentext zu „Stille Zeit der Wunder “
Als die 35-jährige Lehrerin Elise Ramsey in ihrer Heimatstadt Miracle Springs eines Tages auf Sloane Tyson trifft, traut sie ihren Augen nicht: Bereits mit 17 Jahren waren die beiden ein Paar gewesen, doch als der rebellische Sloane mit Elise der Enge der Kleinstadt entfliehen wollte, kniff sie aus Angst und Pflichtgefühl. All die Jahre konnten sie einander nicht vergessen - aber ebenso wenig vergeben. Über Sloanes 15-jährigen Sohn Clay, von dessen Existenz Sloane erst kurz zuvor erfahren hat, kommen sich die beiden schließlich wieder näher. Als Elise daraufhin unverhofft ein Kind erwartet, verheimlicht sie ihm die Schwangerschaft und verlässt die Stadt: Sloane soll sich nicht verpflichtet fühlen, sie zu heiraten. Kurz vor Weihnachten und nach monatelanger Suche spürt Sloane seine geliebte Elise in Atlanta auf - kann es eine erneute Chance für diese Liebe geben?
Lese-Probe zu „Stille Zeit der Wunder “
Stille Zeit der Wunder von Emilie Richards Übersetzung: Inken Kahlstorff
1. Kapitel
Das Erste, was sie wahrnahm, war die Stille. Sie schwebte an diesem Augustmorgen in der Luft wie ein Geier, der geduldig wartet, bis seine Beute im Kampf erliegt. Elise war nicht bewusst gewesen, dass Stille - etwas, das sie in fünfunddreißig Jahren selten erlebt hatte - so bedrohlich wirken konnte.
Sie zwang sich, wach zu werden. Dann setzte sie sich im Bett auf und strich sich mit den Handflächen die langen Strähnen ihres schwarzen Haares aus dem Gesicht. Sie lauschte aufmerksam, aber die Stille hielt an. Aus verschwollenen Augen blickte sie um sich und schätzte die Uhrzeit. In ihrem Schlafzimmer gab es keine Uhr. Verschlafen gehörte eigentlich nicht zu Elises Problemen.
Das grelle Sonnenlicht, das unbarmherzig durch das Fenster drang, sagte ihr, dass der Morgen schon halb vorüber war. Warum? Hat Mama auch verschlafen?
Die Frage beantwortete sich von selbst, als Elise gänzlich wach wurde. Mama. Nein, Mama würde nie mehr aufwachen. Elise erwartete die vertraute Traurigkeit, aber heute Morgen konnte sie kein Anzeichen davon spüren. Ihre Mutter war nicht mehr: Jeanette Ramseys Tod war unwiderruflich. Aber Elise Ramsey lebte - und womöglich fühlte sie sich an diesem Morgen zum ersten Mal seit siebzehn Jahren wieder wirklich lebendig.
Im Haus war es still.
... mehr
Elise schwang die Beine aus dem Bett und stand auf. Ihr langes Baumwollhemd fiel ihr wie ein Schneewirbel um die nackten Füße. Sie zog den Vorhang auf und blinzelte in die Sonnenstrahlen. Miracle Springs war erwacht, träge ging die Stadt ihrem Betrieb nach. Minutenlang stand Elise am Fenster und zählte die Autos. Eins ... zwei ... Beruhigt, dass sie trotz vorgerückter Stunde nichts verpasst hatte, wandte sie sich um und begann, den Schrank nach ihrem luftigsten Kleid zu durchsuchen. Heute würde es sehr heiß werden.
Das Kleid, das sie auswählte, hatte ihre Mutter nie leiden können - nicht, dass Jeanette Ramsey je einfach zufriedenzustellen gewesen wäre. Doch dieses Kleid hatte ihr Bemerkungen über Zigeuner entlockt und darüber, wie man sich seinem Alter und seiner gesellschaftlichen Stellung gemäß zu kleiden habe. Es war weiß, den Rock zierte ein Stickmuster, das nie in Mode gewesen war und nie aus der Mode kommen würde. Elise fühlte sich darin jung. Wahrscheinlich war genau das in den Augen meiner Mutter das Problem, dachte Elise.
Sie knöpfte das Kleid zu, bürstete ihr Haar und steckte es in einem Knoten auf dem Kopf zusammen. Flüchtig fragte sie sich, wie lange sie sich diese strenge Frisur noch leisten konnte, die die ersten untrüglichen Anzeichen des Alterns kaum kaschierte. Gut beurteilen konnte sie das nicht, schließlich hatte sie nie viel Zeit auf ihr Aussehen verwendet oder auf die Frage, wie sich kosmetische Makel verbergen ließen. Schon als Kind hatte Elise langes Haar gehabt. Sie liebte es. Es glänzte, war immer noch schwarz und der Schnitt völlig unmodisch - und Teil ihrer Persönlichkeit. Mochte es auch Züge betonen, die alles andere als perfekt waren, so hob es aber auch ihre hohen Wangenknochen hervor und ihre zarte olivfarbene Haut. Ihr größtes Plus, wie sie fand.
Die kleinen Geräusche, die entstanden, als sie durchs Zimmer ging, durchbrachen die drückende Stille auf angenehme Weise. Jetzt, da sie ganz wach war, fragte sich Elise, warum das, wonach sie sich ihr Leben lang gesehnt hatte - Freiheit und der Freiraum, ihren Gedanken nach zuhängen -, an diesem Morgen auf einmal so bedrohlich wirkte. Offenbar würde es noch eine Weile dauern, bis sie sich daran gewöhnt hatte, allein zu leben.
„Du wirst dich schon noch daran gewöhnen", sagte sie in die Stille hinein, „weil du wahrscheinlich den Rest deines Lebens allein verbringen wirst." Neu war der Gedanke nicht, auch nicht sonderlich traurig. Damit musste sie einfach zurechtkommen. Und wie ein Kind, das Verse aus der Bibel aufsagt, sprach sie diesen Gedanken so oft wie möglich laut aus, um ihn sich einzuprägen und ihn zu verinnerlichen.
Unten im Wohnzimmer zog sie die schweren Vorhänge zurück, bevor sie zum Frühstücken in die Küche ging. Das alte Holzhaus fing bereits an, die Sonnenwärme in sich aufzunehmen. In Florida war der August so vorhersehbar wie nur irgendwas im Leben. Er war warm und feucht und drosselte das Lebenstempo zuverlässig um fünfzig Prozent. Die meisten Einwohner von Miracle Springs machten das mit Klimaanlagen in ihren Häusern und Büros wieder wett.
Die einzige Klimaanlage in Elises Haus befand sich in dem Zimmer, das ihrer Mutter gehört hatte. Das restliche Haus war dem unbarmherzigen Sommer Floridas ausgesetzt. Elise schaltete einen kleinen Ventilator auf der Küchentheke an und schnitt eine Grapefruit auf. Dabei summte sie ein Lied, um die Stille zu bannen.
Dieser Tag würde zu Ende gehen und nach ihm weitere schwüle Augusttage. Dann kam der September und würde ihr Leben wieder mit Lärm und Durcheinander füllen, wie es der Englischunterricht in einer zehnten Klasse mit sich brachte. Elise, die sich die längste Zeit ihres Lebens Stille gewünscht hatte, legte das Obstmesser beiseite und nahm einen Stift zur Hand. Während sie den Tag auf dem Kalen der über der Theke durchstrich, wunderte sie sich, dass ihr dieser simple Akt so viel Befriedigung verschaffte.
„Nach all den Jahren und all den eingebildeten Krankheiten ist Mrs Ramsey letzten Monat gestorben. Mir nichts, dir nichts. Einfach so. Niemand ahnte, dass sie krank war. Da sie ohnehin andauernd jammerte, hatte Dr. Mooney sie nur kurz untersucht. Doch plötzlich kippt sie auf dem Parkplatz aus den Latschen. Und das war's. Aus und vorbei."
Sloane Tyson saß im Wohnzimmer seiner Tante und drehte an der Krempe seines Panamahutes. Das biegsame Stroh knisterte und brach, als er den Hut endgültig aus der Form brachte. „Was macht Elise jetzt nach dem Tod ihrer Mutter?", fragte er mit größerer Anteilnahme, als der Anstand es verlangte.
„Ach, sie ist noch hier. Vermutlich wird sie dieses Jahr wieder unterrichten. Die beste Lehrerin von Miracle Springs. Und die Hübscheste." Lillian Tyson sah ihren Neffen aufmerksam an. „Warst du ihr nicht vor Jahren einmal sehr zugetan?"
Sloane hatte vergessen, dass Kleinstadtbewohner das Leben um sie herum in allen Einzelheiten registrierten und dauerhaft im Gedächtnis speicherten - effizienter und nur einen Deut persönlicher als eine Computerdatenbank. Den ganzen Vormittag hatte er seiner Tante schweigend zugehört, während sie das Leben der Einwohner von Miracle Springs bis ins Kleinste vor ihm ausbreitete, und hatte gar nicht erwartet, in das Gespräch einbezogen zu werden. Er hätte es besser wissen sollen. Er hätte wissen müssen, dass Elise Ramsey auf Tante Lillians Liste stand.
„Dein Gedächtnis reicht weiter zurück als meins", sagte er leichthin. Aber natürlich stimmte das nicht. Er hatte eine Menge über Miracle Springs vergessen, hatte es aus seinen Erinnerungen verbannt, als hätte er nie hier gelebt, aber nie hatte er Elise vergessen. Nein, Elise hatte er nicht vergessen.
Lillian ließ sich nicht entmutigen. „Wenn ich mich recht entsinne, war sie im letzten Schuljahr deine Freundin."
„Das ist siebzehn Jahre her."
„Hier bei uns geschieht in siebzehn Jahren nicht allzu viel."
Sloane lächelte gequält. Seine Tante hatte recht, und das war genau der Grund, weshalb er das Dreitausend-Seelen-Nest, seine Heimatstadt, verlassen hatte. Bei der erstbesten Gelegenheit war er gegangen und nie zurückgekehrt. Außer ein einziges Mal, zur Beerdigung seiner Mutter.
Anscheinend konnte Lillian seine Gedanken lesen.
„Wirst du es schaffen, Sloane? Hältst du es aus, ein Jahr hier zu leben?"
„Ich habe kaum eine Wahl." Sloane erhob sich und ging im kleinen, mit alten Möbeln und Nippes vollgestellten Wohnzimmer auf und ab. Er war so groß, dass andere Menschen - wie jetzt die ältere Dame, die ihn wohlwollend betrachtete - neben ihm fast wie Zwerge wirkten.
„Du bist wie ein Tiger im Käfig", verkündete sie, stolz über ihren Vergleich, „das warst du schon immer. Miracle Springs engt dich ein."
Genau dieses Einengende war es, das ihn zurückgeführt hatte, gestand Sloane sich ein. Zum ersten Mal brauchte er den Schutz der kleinen Gemeinde, brauchte ihre langsame, gelassene Gangart, ihre Selbstzufriedenheit. Bei dem Gedanken hielt er inne. „Glaubst du, sie werden Clay akzeptieren?", fragte er.
Lillian beobachtete ihren Neffen, ein offenes Lächeln auf ihrem stets heiteren Gesicht. Sie musste nicht fragen, wen er mit „sie" meinte. Sie wusste, dass er von den Bürgern von Miracle Springs sprach. „Er ist dein Sohn, oder nicht? Er ist ein Tyson. Wahrscheinlich wird es nicht leicht für ihn, aber er wird es schaffen."
„In Cambridge hätte er es nicht geschafft", sagte Sloane, mehr zu sich selbst als zu seiner Tante. „Die Jungs dort hätten ihn in Stücke gerissen."
„Sollen die es hier versuchen. Hier hat er Beschützer."
„Immerhin etwas."
Die Wohnzimmertür öffnete sich, und ein schlanker junger Mann betrat den Raum, die Hände tief in den Taschen der noch steifen neuen Jeans vergraben. „Ich habe deine Katzen gefüttert, Lillian", sagte er.
„Tante Lillian", korrigierte ihn sein Vater.
„Schon okay", beschwichtigte Lillian. „Clay kennt mich noch nicht lange. Noch komme ich ihm nicht wie seine Tante vor."
„Er hat die richtigen Umgangsformen zu lernen", erwiderte Sloane. Wieder knisterte die Hutkrempe in seinen Händen.
„Tante Lillian", sagte Clay vergnügt und betonte das erste Wort. „Verwandtschaft ist was Seltsames."
„Wahrscheinlich kommt dir vieles seltsam vor." Lillian lächelte ihrem Großneffen zu. „Aber du kommst uns nicht seltsam vor. Du bist deinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten. Du hast sogar dieselbe Locke über der Stirn."
Clay nickte und schaute zu seinem Vater, um zu sehen, wie er Lillians Bemerkung aufnahm. Frühreif, wie er war, vermutete er, dass diese Ähnlichkeit seinem Vater keine Freude bereitete.
„Er gleicht dir bis auf den Pferdeschwanz", sagte Lillian an Sloane gewandt.
„Sloane hatte einen Pferdeschwanz?", fragte Clay.
„Nicht so einen wie du", sagte Lillian und strich Clay übers braune Haar, das ihm in sanften Wellen über den Rücken fiel. „Als dein Vater hier aufwuchs, hatte niemand zuvor einen Mann mit langen Haaren gesehen. Dabei war das von deinem Vater noch kurz, gerade mal lang genug, um es mit einem Haarband zusammenzuhalten. Aber einen Aufstand hat man hier gemacht ... unglaublich."
„Was haben sie getan, Sloane?" Clay wandte sich seinem Vater zu und musterte sein Gesicht.
„Mein Onkel hat mich zum Friseur geschleppt. Er war stärker als ich." Der Anflug eines Grinsens huschte über Sloanes Gesicht.
Clay schöpfte Mut. „Willst du die Vergangenheit wieder aufleben lassen?"
Sein Vater wurde ernst. „Ich werde dich zu nichts zwingen, Clay. Es ist schließlich deine Frisur. Mir ist das völlig gleich."
„Mir aber nicht", sagte Lillian entschieden. „Wenn du hier in der Schule zurechtkommen willst, lässt du dir vorher besser die Haare schneiden. Die anderen werden dich eher mögen, wenn du wie einer von ihnen aussiehst."
Clay dachte darüber nach. „Warum wollen die, dass ich aussehe wie sie?", fragte er schließlich. „Das ergibt keinen Sinn."
Lillian sah ihn mit offenem Mund an, und Sloane schüttelte den Kopf. „Du musst noch eine Menge über Teenager lernen, Clay."
Clay zuckte mit den Schultern. „Ich habe noch nicht einmal welche gesehen."
„Ist er noch nicht bei den Quellen gewesen?", fragte Lillian Sloane.
„Ich hatte zu viel zu tun, um sie ihm zu zeigen."
„Er kann doch allein gehen", erwiderte Lillian. „Er ist fünfzehn. Wir sind nicht in Boston. Hier kann man mit fünfzehn überallhin gehen. Hast du eine Badehose?",
fragte sie Clay. Und als er nickte, fügte sie hinzu: „Hast du Lust?"
Clay nickte erneut.
„Dann geh heim und zieh sie an. Du gehst schwimmen, während dein Vater sich heute Nachmittag um seine Angelegenheiten kümmert. Ich komme mit und zeige dir den Weg."
Sloane wartete, bis Clay das Zimmer verlassen hatte, dann fragte er: „Bist du sicher, dass das eine gute Idee ist?"
„Mit irgendwas muss er ja anfangen." Als sie Sloanes Stirnrunzeln sah, fuhr Lillian fort: „Es ist doch nicht so, dass mit dem Jungen irgendetwas nicht stimmen würde. Er wird es schon schaffen."
„Er muss noch so viel lernen, um zu verstehen, wie diese verrückte Welt tickt. Ich komme mir vor, als würde ich ihn den Löwen zum Fraß vorwerfen."
„So ergeht es allen Eltern", versuchte Lillian ihn zu trösten.
„Aber nicht alle Eltern ziehen plötzlich einen Sohn groß, von dessen Existenz sie noch nicht einmal wussten", sagte Sloane bitter. „Und nicht alle Eltern haben einen Sohn, der bis vor Kurzem seinen Nachnamen nicht kannte."
„Und nicht alle Eltern würde das kümmern", erinnerte Lillian ihn sanft.
„Ich wollte nie Vater sein."
„Lass dir ein wenig Zeit. Lass Clay Zeit. Lass Miracle Springs Zeit."
„Miracle Springs müsste seinem Namen alle Ehre machen und ein Wunder vollbringen."
„Wunder geschehen immer wieder." Lillian stand ebenfalls auf und legte ihrem Neffen eine Hand auf die Schulter. „Das erste Wunder war, dass du Clay gefunden hast. Das Zweite wird darin bestehen, ihn wirklich kennenzulernen."
Sloanes Schultern entspannten sich unter Lillians Händedruck. „Ich bin dankbar für deine Zuversicht."
„Ich bin dankbar, dass du zurückgekommen bist. Vielleicht bin ich nur eine egoistische alte Frau, aber ich bin dankbar, dass du nach Hause gekommen bist. Wenn auch nur für ein Jahr. Du warst mir immer mehr ein Sohn als ein Neffe."
Sloanes Züge wurden weicher. „Du wirst froh sein, wenn wir wieder weg sind."
„Das glaube ich nicht."
Sloane legte einen Arm um seine Tante und drückte sie, wie er es als Junge immer getan hatte. Manches konnten selbst Zeit, Entfernung und jede Menge Fehler nicht ändern. Die Liebe seiner Tante gehörte dazu.
Lillian standen Tränen in den Augen, als sie sich aus der Umarmung löste. „Junge, du machst mich ganz gefühlsduselig." Sie trat einen Schritt zurück, um Sloane ins Gesicht zu sehen. „Selbst wenn du unsere kleine Stadt nicht magst, vielleicht findest du in diesem einen Jahr hier ja etwas, das dir zusagt. Wer weiß."
„Was zum Beispiel?"
„Zum Beispiel eine Mutter für Clay."
Der Name Elise fiel nicht.
Sloane schüttelte entschlossen den Kopf. „Clay wird sich mit einem Elternteil begnügen müssen. Immerhin mehr, als er je hatte."
„Gib euch eine Chance", sagte Lillian sanft. „Mit der Zeit wird sich alles einrenken."
Aber Sloane, der nicht daran glaubte, dass die Zeit auch nur irgendwas einrenken konnte, war bereits in seine Gedanken vertieft.
Während Elise unter den Markisen aus Tuch und Kunststoff entlangspazierte, die sich über den Gehweg der Hope Avenue spannten, fragte sie sich, ob sich Miracle Springs, das Dorf der Wunderquellen, zu ihren Lebzeiten noch verändern würde. Bislang konnte man meinen, dass das einzige Wunder, das diese Stadt zuwege brachte, darin bestand, sich dem einundzwanzigsten Jahrhundert zu verweigern. Die wenigen Veränderungen, die es gab, waren kaum spürbar.
Das ewig Gleiche brachte jede Entfaltung und Kreativität zum Erliegen. Es lullte die Einwohner von Miracle Springs ein, und sie fügten sich ins Unvermeidliche.
Diese Stadt bringt dich um, Elise. Sie schleicht sich an und begräbt dich unter ihrer Gleichförmigkeit, bis du vergisst, dass du anders bist als die anderen. Und du wirst sterben, ohne dich daran zu erinnern.
Elise blieb mitten auf dem Gehweg stehen und wunderte sich, woher die Stimme kam. Sie verlor doch nicht den Verstand? Nein, kein Zweifel, wo die Stimme herkam. Aus ihrem Gedächtnis, sicher verwahrt und weggeschlossen. Sloanes Stimme. Die Worte waren die letzten, die er an sie gerichtet hatte. Jahrelang hatte sie es sich untersagt, an diese Unterhaltung zurückzudenken.
Sie schüttelte den Kopf, nicht um die Stimme zu verscheuchen, sondern verstört über ihre Verletzlichkeit. Siebzehn Jahre waren vergangen, und Sloane war immer noch da.
„Guten Morgen, Elise."
Elise blickte auf und sah Olin Biggs, den Bürgermeister von Miracle Springs. „Guten Morgen, Olin."
„Höllisch heiß heute. Gestern dasselbe. Morgen wohl auch dasselbe."
Witzig. Genau das waren ihre Gedanken gewesen, nur war es dabei nicht um das Wetter gegangen. „Sehr heiß", pflichtete sie ihm bei. „Wie geht's Sally?"
„Gut. Ich glaube, sie freut sich schon auf den Schulbeginn. Sie könnten nicht vielleicht die elfte Klasse übernehmen? Sie hätte Sie so gern als Lehrerin."
Elise schüttelte bedauernd den Kopf. „Das geht nicht. Aber richten Sie ihr aus, sie soll mich besuchen kommen.Sie war eine hervorragende Schülerin." Elise nahm Olins Beileidswünsche zum Tod ihrer Mutter entgegen und ging weiter.
Bis sie das Postamt erreicht hatte, war sie zwei weiteren ehemaligen Schülern und einem Elternteil begegnet. Ihre Schüler waren mittlerweile rechtschaffene Bürger von Miracle Springs mit festem Einkommen und Familie. Elise spürte förmlich, wie sich das Alter über sie senkte. Jetzt fehlten nur noch ein bis zwei Katzen und graue Haare, um dem Klischee der Lehrerin und alten Jungfer zu entsprechen. Falls sie das nicht schon längst tat.
Sie ging gerade ihre Liste mit Besorgungen durch, als sie hinter sich eine vertraute Stimme hörte. „Elise, welch schöne Überraschung."
Sie dreht sich um, mit einem optimistischen Lächeln auf den Lippen. „Hallo, Bob. Bist du mit Amy hier?"
Bob Cargil schüttelte den Kopf und brachte dabei sein sorgfältig über die größer werdende Glatze gekämmtes Haar durcheinander. „Nein, sie ist bei den Quellen. Du siehst heute bezaubernd aus."
„Danke." Elise lächelte. Es tat gut, dass jemand ihr Aussehen registrierte. „Du siehst heute Morgen auch gut aus."
„Ich kann mich nicht beklagen."
Eine aufrührerische Stimme flüsterte ihr ein, dass dies tatsächlich das erste Mal wäre, dass Bob sich nicht beklagte. Sie unterdrückte, was ihr auf der Zunge lang, und brachte gepresst hervor: „Geht es mit dem Buch voran?"
Bob zuckte mit den Schultern. Er war Geschichtslehrer in Miracle Springs und arbeitete seit fünf Jahren an einem Oberstufenlehrbuch über die Geschichte Floridas. Seit vier Jahren kam er nicht voran. „Schwer bei dieser Hitze."
„Verstehe", erwiderte sie mitleidig. Die aufrührerische Stimme erinnerte sie daran, dass sein gesamtes Haus klimatisiert war. Wieder schwieg sie.
„Steht unsere Verabredung heute Abend noch?"
„Davon gehe ich aus", sagte sie mit so viel Begeisterung, wie sie nur aufbringen konnte. Dann hellte sich ihre Stimme ein wenig auf. „Kommt Amy auch?" Amy war Bobs fünfzehnjährige Tochter und der Grund, warum Elise Bob in ihrem Leben duldete.
„Nein. Diesmal nur wir zwei."
„Richte ihr aus, sie soll mich besuchen kommen."
„Das wird sie. Sie quengelt immer, ich solle sie zu dir gehen lassen. Aber ich dachte ..." Bobs Stimme verlor sich.
„Bob, ich habe dir doch gesagt, dass ich nicht trauere. Ich freue mich auf Amys Besuch."
„Das werde ich ihr sagen."
„Gut." Elise reichte ihm die Hand. „Bis heute Abend." Sie sah ihm nach. In letzter Zeit hatte Bob sich einen eigenartig schleppenden Gang zugelegt, als übe er fürs Alter, das ihn in sicherer Entfernung erwartete. Obwohl er zehn Jahre älter war als Elise, gab es an seiner Gesundheit nichts zu beanstanden, was Sport und eine Diät nicht hätten beheben können. Bob genoss das Älterwerden mit all seinen Begleiterscheinungen. Nicht zum ersten Mal dachte Elise, wie ähnlich sich Bob und ihre Mutter waren, und sie erschauderte leicht.
Copyright © 1986 by Emilie Richards McGee
Elise schwang die Beine aus dem Bett und stand auf. Ihr langes Baumwollhemd fiel ihr wie ein Schneewirbel um die nackten Füße. Sie zog den Vorhang auf und blinzelte in die Sonnenstrahlen. Miracle Springs war erwacht, träge ging die Stadt ihrem Betrieb nach. Minutenlang stand Elise am Fenster und zählte die Autos. Eins ... zwei ... Beruhigt, dass sie trotz vorgerückter Stunde nichts verpasst hatte, wandte sie sich um und begann, den Schrank nach ihrem luftigsten Kleid zu durchsuchen. Heute würde es sehr heiß werden.
Das Kleid, das sie auswählte, hatte ihre Mutter nie leiden können - nicht, dass Jeanette Ramsey je einfach zufriedenzustellen gewesen wäre. Doch dieses Kleid hatte ihr Bemerkungen über Zigeuner entlockt und darüber, wie man sich seinem Alter und seiner gesellschaftlichen Stellung gemäß zu kleiden habe. Es war weiß, den Rock zierte ein Stickmuster, das nie in Mode gewesen war und nie aus der Mode kommen würde. Elise fühlte sich darin jung. Wahrscheinlich war genau das in den Augen meiner Mutter das Problem, dachte Elise.
Sie knöpfte das Kleid zu, bürstete ihr Haar und steckte es in einem Knoten auf dem Kopf zusammen. Flüchtig fragte sie sich, wie lange sie sich diese strenge Frisur noch leisten konnte, die die ersten untrüglichen Anzeichen des Alterns kaum kaschierte. Gut beurteilen konnte sie das nicht, schließlich hatte sie nie viel Zeit auf ihr Aussehen verwendet oder auf die Frage, wie sich kosmetische Makel verbergen ließen. Schon als Kind hatte Elise langes Haar gehabt. Sie liebte es. Es glänzte, war immer noch schwarz und der Schnitt völlig unmodisch - und Teil ihrer Persönlichkeit. Mochte es auch Züge betonen, die alles andere als perfekt waren, so hob es aber auch ihre hohen Wangenknochen hervor und ihre zarte olivfarbene Haut. Ihr größtes Plus, wie sie fand.
Die kleinen Geräusche, die entstanden, als sie durchs Zimmer ging, durchbrachen die drückende Stille auf angenehme Weise. Jetzt, da sie ganz wach war, fragte sich Elise, warum das, wonach sie sich ihr Leben lang gesehnt hatte - Freiheit und der Freiraum, ihren Gedanken nach zuhängen -, an diesem Morgen auf einmal so bedrohlich wirkte. Offenbar würde es noch eine Weile dauern, bis sie sich daran gewöhnt hatte, allein zu leben.
„Du wirst dich schon noch daran gewöhnen", sagte sie in die Stille hinein, „weil du wahrscheinlich den Rest deines Lebens allein verbringen wirst." Neu war der Gedanke nicht, auch nicht sonderlich traurig. Damit musste sie einfach zurechtkommen. Und wie ein Kind, das Verse aus der Bibel aufsagt, sprach sie diesen Gedanken so oft wie möglich laut aus, um ihn sich einzuprägen und ihn zu verinnerlichen.
Unten im Wohnzimmer zog sie die schweren Vorhänge zurück, bevor sie zum Frühstücken in die Küche ging. Das alte Holzhaus fing bereits an, die Sonnenwärme in sich aufzunehmen. In Florida war der August so vorhersehbar wie nur irgendwas im Leben. Er war warm und feucht und drosselte das Lebenstempo zuverlässig um fünfzig Prozent. Die meisten Einwohner von Miracle Springs machten das mit Klimaanlagen in ihren Häusern und Büros wieder wett.
Die einzige Klimaanlage in Elises Haus befand sich in dem Zimmer, das ihrer Mutter gehört hatte. Das restliche Haus war dem unbarmherzigen Sommer Floridas ausgesetzt. Elise schaltete einen kleinen Ventilator auf der Küchentheke an und schnitt eine Grapefruit auf. Dabei summte sie ein Lied, um die Stille zu bannen.
Dieser Tag würde zu Ende gehen und nach ihm weitere schwüle Augusttage. Dann kam der September und würde ihr Leben wieder mit Lärm und Durcheinander füllen, wie es der Englischunterricht in einer zehnten Klasse mit sich brachte. Elise, die sich die längste Zeit ihres Lebens Stille gewünscht hatte, legte das Obstmesser beiseite und nahm einen Stift zur Hand. Während sie den Tag auf dem Kalen der über der Theke durchstrich, wunderte sie sich, dass ihr dieser simple Akt so viel Befriedigung verschaffte.
„Nach all den Jahren und all den eingebildeten Krankheiten ist Mrs Ramsey letzten Monat gestorben. Mir nichts, dir nichts. Einfach so. Niemand ahnte, dass sie krank war. Da sie ohnehin andauernd jammerte, hatte Dr. Mooney sie nur kurz untersucht. Doch plötzlich kippt sie auf dem Parkplatz aus den Latschen. Und das war's. Aus und vorbei."
Sloane Tyson saß im Wohnzimmer seiner Tante und drehte an der Krempe seines Panamahutes. Das biegsame Stroh knisterte und brach, als er den Hut endgültig aus der Form brachte. „Was macht Elise jetzt nach dem Tod ihrer Mutter?", fragte er mit größerer Anteilnahme, als der Anstand es verlangte.
„Ach, sie ist noch hier. Vermutlich wird sie dieses Jahr wieder unterrichten. Die beste Lehrerin von Miracle Springs. Und die Hübscheste." Lillian Tyson sah ihren Neffen aufmerksam an. „Warst du ihr nicht vor Jahren einmal sehr zugetan?"
Sloane hatte vergessen, dass Kleinstadtbewohner das Leben um sie herum in allen Einzelheiten registrierten und dauerhaft im Gedächtnis speicherten - effizienter und nur einen Deut persönlicher als eine Computerdatenbank. Den ganzen Vormittag hatte er seiner Tante schweigend zugehört, während sie das Leben der Einwohner von Miracle Springs bis ins Kleinste vor ihm ausbreitete, und hatte gar nicht erwartet, in das Gespräch einbezogen zu werden. Er hätte es besser wissen sollen. Er hätte wissen müssen, dass Elise Ramsey auf Tante Lillians Liste stand.
„Dein Gedächtnis reicht weiter zurück als meins", sagte er leichthin. Aber natürlich stimmte das nicht. Er hatte eine Menge über Miracle Springs vergessen, hatte es aus seinen Erinnerungen verbannt, als hätte er nie hier gelebt, aber nie hatte er Elise vergessen. Nein, Elise hatte er nicht vergessen.
Lillian ließ sich nicht entmutigen. „Wenn ich mich recht entsinne, war sie im letzten Schuljahr deine Freundin."
„Das ist siebzehn Jahre her."
„Hier bei uns geschieht in siebzehn Jahren nicht allzu viel."
Sloane lächelte gequält. Seine Tante hatte recht, und das war genau der Grund, weshalb er das Dreitausend-Seelen-Nest, seine Heimatstadt, verlassen hatte. Bei der erstbesten Gelegenheit war er gegangen und nie zurückgekehrt. Außer ein einziges Mal, zur Beerdigung seiner Mutter.
Anscheinend konnte Lillian seine Gedanken lesen.
„Wirst du es schaffen, Sloane? Hältst du es aus, ein Jahr hier zu leben?"
„Ich habe kaum eine Wahl." Sloane erhob sich und ging im kleinen, mit alten Möbeln und Nippes vollgestellten Wohnzimmer auf und ab. Er war so groß, dass andere Menschen - wie jetzt die ältere Dame, die ihn wohlwollend betrachtete - neben ihm fast wie Zwerge wirkten.
„Du bist wie ein Tiger im Käfig", verkündete sie, stolz über ihren Vergleich, „das warst du schon immer. Miracle Springs engt dich ein."
Genau dieses Einengende war es, das ihn zurückgeführt hatte, gestand Sloane sich ein. Zum ersten Mal brauchte er den Schutz der kleinen Gemeinde, brauchte ihre langsame, gelassene Gangart, ihre Selbstzufriedenheit. Bei dem Gedanken hielt er inne. „Glaubst du, sie werden Clay akzeptieren?", fragte er.
Lillian beobachtete ihren Neffen, ein offenes Lächeln auf ihrem stets heiteren Gesicht. Sie musste nicht fragen, wen er mit „sie" meinte. Sie wusste, dass er von den Bürgern von Miracle Springs sprach. „Er ist dein Sohn, oder nicht? Er ist ein Tyson. Wahrscheinlich wird es nicht leicht für ihn, aber er wird es schaffen."
„In Cambridge hätte er es nicht geschafft", sagte Sloane, mehr zu sich selbst als zu seiner Tante. „Die Jungs dort hätten ihn in Stücke gerissen."
„Sollen die es hier versuchen. Hier hat er Beschützer."
„Immerhin etwas."
Die Wohnzimmertür öffnete sich, und ein schlanker junger Mann betrat den Raum, die Hände tief in den Taschen der noch steifen neuen Jeans vergraben. „Ich habe deine Katzen gefüttert, Lillian", sagte er.
„Tante Lillian", korrigierte ihn sein Vater.
„Schon okay", beschwichtigte Lillian. „Clay kennt mich noch nicht lange. Noch komme ich ihm nicht wie seine Tante vor."
„Er hat die richtigen Umgangsformen zu lernen", erwiderte Sloane. Wieder knisterte die Hutkrempe in seinen Händen.
„Tante Lillian", sagte Clay vergnügt und betonte das erste Wort. „Verwandtschaft ist was Seltsames."
„Wahrscheinlich kommt dir vieles seltsam vor." Lillian lächelte ihrem Großneffen zu. „Aber du kommst uns nicht seltsam vor. Du bist deinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten. Du hast sogar dieselbe Locke über der Stirn."
Clay nickte und schaute zu seinem Vater, um zu sehen, wie er Lillians Bemerkung aufnahm. Frühreif, wie er war, vermutete er, dass diese Ähnlichkeit seinem Vater keine Freude bereitete.
„Er gleicht dir bis auf den Pferdeschwanz", sagte Lillian an Sloane gewandt.
„Sloane hatte einen Pferdeschwanz?", fragte Clay.
„Nicht so einen wie du", sagte Lillian und strich Clay übers braune Haar, das ihm in sanften Wellen über den Rücken fiel. „Als dein Vater hier aufwuchs, hatte niemand zuvor einen Mann mit langen Haaren gesehen. Dabei war das von deinem Vater noch kurz, gerade mal lang genug, um es mit einem Haarband zusammenzuhalten. Aber einen Aufstand hat man hier gemacht ... unglaublich."
„Was haben sie getan, Sloane?" Clay wandte sich seinem Vater zu und musterte sein Gesicht.
„Mein Onkel hat mich zum Friseur geschleppt. Er war stärker als ich." Der Anflug eines Grinsens huschte über Sloanes Gesicht.
Clay schöpfte Mut. „Willst du die Vergangenheit wieder aufleben lassen?"
Sein Vater wurde ernst. „Ich werde dich zu nichts zwingen, Clay. Es ist schließlich deine Frisur. Mir ist das völlig gleich."
„Mir aber nicht", sagte Lillian entschieden. „Wenn du hier in der Schule zurechtkommen willst, lässt du dir vorher besser die Haare schneiden. Die anderen werden dich eher mögen, wenn du wie einer von ihnen aussiehst."
Clay dachte darüber nach. „Warum wollen die, dass ich aussehe wie sie?", fragte er schließlich. „Das ergibt keinen Sinn."
Lillian sah ihn mit offenem Mund an, und Sloane schüttelte den Kopf. „Du musst noch eine Menge über Teenager lernen, Clay."
Clay zuckte mit den Schultern. „Ich habe noch nicht einmal welche gesehen."
„Ist er noch nicht bei den Quellen gewesen?", fragte Lillian Sloane.
„Ich hatte zu viel zu tun, um sie ihm zu zeigen."
„Er kann doch allein gehen", erwiderte Lillian. „Er ist fünfzehn. Wir sind nicht in Boston. Hier kann man mit fünfzehn überallhin gehen. Hast du eine Badehose?",
fragte sie Clay. Und als er nickte, fügte sie hinzu: „Hast du Lust?"
Clay nickte erneut.
„Dann geh heim und zieh sie an. Du gehst schwimmen, während dein Vater sich heute Nachmittag um seine Angelegenheiten kümmert. Ich komme mit und zeige dir den Weg."
Sloane wartete, bis Clay das Zimmer verlassen hatte, dann fragte er: „Bist du sicher, dass das eine gute Idee ist?"
„Mit irgendwas muss er ja anfangen." Als sie Sloanes Stirnrunzeln sah, fuhr Lillian fort: „Es ist doch nicht so, dass mit dem Jungen irgendetwas nicht stimmen würde. Er wird es schon schaffen."
„Er muss noch so viel lernen, um zu verstehen, wie diese verrückte Welt tickt. Ich komme mir vor, als würde ich ihn den Löwen zum Fraß vorwerfen."
„So ergeht es allen Eltern", versuchte Lillian ihn zu trösten.
„Aber nicht alle Eltern ziehen plötzlich einen Sohn groß, von dessen Existenz sie noch nicht einmal wussten", sagte Sloane bitter. „Und nicht alle Eltern haben einen Sohn, der bis vor Kurzem seinen Nachnamen nicht kannte."
„Und nicht alle Eltern würde das kümmern", erinnerte Lillian ihn sanft.
„Ich wollte nie Vater sein."
„Lass dir ein wenig Zeit. Lass Clay Zeit. Lass Miracle Springs Zeit."
„Miracle Springs müsste seinem Namen alle Ehre machen und ein Wunder vollbringen."
„Wunder geschehen immer wieder." Lillian stand ebenfalls auf und legte ihrem Neffen eine Hand auf die Schulter. „Das erste Wunder war, dass du Clay gefunden hast. Das Zweite wird darin bestehen, ihn wirklich kennenzulernen."
Sloanes Schultern entspannten sich unter Lillians Händedruck. „Ich bin dankbar für deine Zuversicht."
„Ich bin dankbar, dass du zurückgekommen bist. Vielleicht bin ich nur eine egoistische alte Frau, aber ich bin dankbar, dass du nach Hause gekommen bist. Wenn auch nur für ein Jahr. Du warst mir immer mehr ein Sohn als ein Neffe."
Sloanes Züge wurden weicher. „Du wirst froh sein, wenn wir wieder weg sind."
„Das glaube ich nicht."
Sloane legte einen Arm um seine Tante und drückte sie, wie er es als Junge immer getan hatte. Manches konnten selbst Zeit, Entfernung und jede Menge Fehler nicht ändern. Die Liebe seiner Tante gehörte dazu.
Lillian standen Tränen in den Augen, als sie sich aus der Umarmung löste. „Junge, du machst mich ganz gefühlsduselig." Sie trat einen Schritt zurück, um Sloane ins Gesicht zu sehen. „Selbst wenn du unsere kleine Stadt nicht magst, vielleicht findest du in diesem einen Jahr hier ja etwas, das dir zusagt. Wer weiß."
„Was zum Beispiel?"
„Zum Beispiel eine Mutter für Clay."
Der Name Elise fiel nicht.
Sloane schüttelte entschlossen den Kopf. „Clay wird sich mit einem Elternteil begnügen müssen. Immerhin mehr, als er je hatte."
„Gib euch eine Chance", sagte Lillian sanft. „Mit der Zeit wird sich alles einrenken."
Aber Sloane, der nicht daran glaubte, dass die Zeit auch nur irgendwas einrenken konnte, war bereits in seine Gedanken vertieft.
Während Elise unter den Markisen aus Tuch und Kunststoff entlangspazierte, die sich über den Gehweg der Hope Avenue spannten, fragte sie sich, ob sich Miracle Springs, das Dorf der Wunderquellen, zu ihren Lebzeiten noch verändern würde. Bislang konnte man meinen, dass das einzige Wunder, das diese Stadt zuwege brachte, darin bestand, sich dem einundzwanzigsten Jahrhundert zu verweigern. Die wenigen Veränderungen, die es gab, waren kaum spürbar.
Das ewig Gleiche brachte jede Entfaltung und Kreativität zum Erliegen. Es lullte die Einwohner von Miracle Springs ein, und sie fügten sich ins Unvermeidliche.
Diese Stadt bringt dich um, Elise. Sie schleicht sich an und begräbt dich unter ihrer Gleichförmigkeit, bis du vergisst, dass du anders bist als die anderen. Und du wirst sterben, ohne dich daran zu erinnern.
Elise blieb mitten auf dem Gehweg stehen und wunderte sich, woher die Stimme kam. Sie verlor doch nicht den Verstand? Nein, kein Zweifel, wo die Stimme herkam. Aus ihrem Gedächtnis, sicher verwahrt und weggeschlossen. Sloanes Stimme. Die Worte waren die letzten, die er an sie gerichtet hatte. Jahrelang hatte sie es sich untersagt, an diese Unterhaltung zurückzudenken.
Sie schüttelte den Kopf, nicht um die Stimme zu verscheuchen, sondern verstört über ihre Verletzlichkeit. Siebzehn Jahre waren vergangen, und Sloane war immer noch da.
„Guten Morgen, Elise."
Elise blickte auf und sah Olin Biggs, den Bürgermeister von Miracle Springs. „Guten Morgen, Olin."
„Höllisch heiß heute. Gestern dasselbe. Morgen wohl auch dasselbe."
Witzig. Genau das waren ihre Gedanken gewesen, nur war es dabei nicht um das Wetter gegangen. „Sehr heiß", pflichtete sie ihm bei. „Wie geht's Sally?"
„Gut. Ich glaube, sie freut sich schon auf den Schulbeginn. Sie könnten nicht vielleicht die elfte Klasse übernehmen? Sie hätte Sie so gern als Lehrerin."
Elise schüttelte bedauernd den Kopf. „Das geht nicht. Aber richten Sie ihr aus, sie soll mich besuchen kommen.Sie war eine hervorragende Schülerin." Elise nahm Olins Beileidswünsche zum Tod ihrer Mutter entgegen und ging weiter.
Bis sie das Postamt erreicht hatte, war sie zwei weiteren ehemaligen Schülern und einem Elternteil begegnet. Ihre Schüler waren mittlerweile rechtschaffene Bürger von Miracle Springs mit festem Einkommen und Familie. Elise spürte förmlich, wie sich das Alter über sie senkte. Jetzt fehlten nur noch ein bis zwei Katzen und graue Haare, um dem Klischee der Lehrerin und alten Jungfer zu entsprechen. Falls sie das nicht schon längst tat.
Sie ging gerade ihre Liste mit Besorgungen durch, als sie hinter sich eine vertraute Stimme hörte. „Elise, welch schöne Überraschung."
Sie dreht sich um, mit einem optimistischen Lächeln auf den Lippen. „Hallo, Bob. Bist du mit Amy hier?"
Bob Cargil schüttelte den Kopf und brachte dabei sein sorgfältig über die größer werdende Glatze gekämmtes Haar durcheinander. „Nein, sie ist bei den Quellen. Du siehst heute bezaubernd aus."
„Danke." Elise lächelte. Es tat gut, dass jemand ihr Aussehen registrierte. „Du siehst heute Morgen auch gut aus."
„Ich kann mich nicht beklagen."
Eine aufrührerische Stimme flüsterte ihr ein, dass dies tatsächlich das erste Mal wäre, dass Bob sich nicht beklagte. Sie unterdrückte, was ihr auf der Zunge lang, und brachte gepresst hervor: „Geht es mit dem Buch voran?"
Bob zuckte mit den Schultern. Er war Geschichtslehrer in Miracle Springs und arbeitete seit fünf Jahren an einem Oberstufenlehrbuch über die Geschichte Floridas. Seit vier Jahren kam er nicht voran. „Schwer bei dieser Hitze."
„Verstehe", erwiderte sie mitleidig. Die aufrührerische Stimme erinnerte sie daran, dass sein gesamtes Haus klimatisiert war. Wieder schwieg sie.
„Steht unsere Verabredung heute Abend noch?"
„Davon gehe ich aus", sagte sie mit so viel Begeisterung, wie sie nur aufbringen konnte. Dann hellte sich ihre Stimme ein wenig auf. „Kommt Amy auch?" Amy war Bobs fünfzehnjährige Tochter und der Grund, warum Elise Bob in ihrem Leben duldete.
„Nein. Diesmal nur wir zwei."
„Richte ihr aus, sie soll mich besuchen kommen."
„Das wird sie. Sie quengelt immer, ich solle sie zu dir gehen lassen. Aber ich dachte ..." Bobs Stimme verlor sich.
„Bob, ich habe dir doch gesagt, dass ich nicht trauere. Ich freue mich auf Amys Besuch."
„Das werde ich ihr sagen."
„Gut." Elise reichte ihm die Hand. „Bis heute Abend." Sie sah ihm nach. In letzter Zeit hatte Bob sich einen eigenartig schleppenden Gang zugelegt, als übe er fürs Alter, das ihn in sicherer Entfernung erwartete. Obwohl er zehn Jahre älter war als Elise, gab es an seiner Gesundheit nichts zu beanstanden, was Sport und eine Diät nicht hätten beheben können. Bob genoss das Älterwerden mit all seinen Begleiterscheinungen. Nicht zum ersten Mal dachte Elise, wie ähnlich sich Bob und ihre Mutter waren, und sie erschauderte leicht.
Copyright © 1986 by Emilie Richards McGee
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Autoren-Porträt von Emilie Richards
Bevor Emilie Richards mit dem Schreiben begann, studierte sie Psychologie. In ihren preisgekrönten Romanen zeigt sie sich als fundierte Kennerin der menschlichen Seele. Nach einem mehrjährigen Auslandsaufenthalt in Australien wohnt die erfolgreiche Autorin heute mit ihrem Mann, einem Pfarrer, in North Virginia.
Bibliographische Angaben
- Autor: Emilie Richards
- 304 Seiten, Maße: 13,3 x 19,1 cm, Geb. mit Su.
- Verlag: MIRA Taschenbuch
- ISBN-10: 3862786943
- ISBN-13: 9783862786947
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