112 - Der tägliche Wahnsinn
Ein Feuerwehrmann erzählt
Feuer löschen, Leben retten, Enten beschützen. Brandheiße Geschichten aus dem Feuerwehr-Alltag
Verstopfte Abflüsse, orientierungslose Entenfamilien welche Nummer wählt man, wenn man nicht mehr weiter...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „112 - Der tägliche Wahnsinn “
Feuer löschen, Leben retten, Enten beschützen. Brandheiße Geschichten aus dem Feuerwehr-Alltag
Verstopfte Abflüsse, orientierungslose Entenfamilien welche Nummer wählt man, wenn man nicht mehr weiter weiß? 112! Gottseidank besteht der Feuerwehralltag nicht nur aus Großbränden! Dafür gibt es bei den vielen kleinen Einsätzen manchmal mehr zu lachen. Viel mehr!
Klappentext zu „112 - Der tägliche Wahnsinn “
Feuer löschen, Leben retten, Enten beschützenVerstopfte Abflüsse, eine brennende Kerze nach Ladenschluss im Schaufenster, eine orientierungslose Entenfamilie in der Stadt - welche Nummer wählt man, wenn man nicht mehr weiterweiß? 112! Zum Alltag eines Feuerwehrmannes gehört eben nicht nur, Großbrände zu löschen und Leben zu retten. Dafür gibt es bei den zahlreichen kleinen Einsätzen, die Ingo Behring und seine Kollegen tagtäglich erleben, mehr zu lachen. Viel mehr!
Lese-Probe zu „112 - Der tägliche Wahnsinn “
112 - Der tägliche Wahnsinn von Ingo Behrini Vorwort
Flammen schlagen aus dem Fenster! Mit quietschenden Reifen hält der Löschbomber vor dem Haus, harte Männer in martialisch aussehender Kleidung laufen mit der Axt in die brennende Wohnung, erwürgen das Feuer mit bloßen Händen und stiefeln dampfend, mit einem Kind auf dem Arm, wieder aus Rauchschwaden heraus. Das Kind bekommt am Löschfahrzeug einen Teddy überreicht, der Held die Telefonnummer der überglücklichen alleinerziehenden jungen Mutter.
Konzentriert dreinblickende Männer drücken auf einer wunderschönen Fünfundzwanzigjährigen mit blondem Haar herum, bis sie einmal kurz hustet, die Augen aufschlägt und sich, noch leicht benommen, bei dem strahlenden Notarzt bedankt, während das dramatische Dauerpiepsen des EKG-Geräts wieder in einen regelmäßigen Rhythmus übergeht.
So weit die «Schulungsvideos» aus Hollywood, also die Filme, in denen es um Feuerwehreinsätze geht. Da hat man es immer mit Geschichten von Helden zu tun, die permanent ihr Leben riskieren, um das von anderen aus einem Inferno zu retten.
Der Dienst eines Feuerwehrmanns sieht aber anders aus. Doch wie? Wie ist seine Wirklichkeit?
... mehr
Zunächst einmal: Bei den Berufsfeuerwehren in Nordrhein- Westfalen - und zu einer solchen gehöre ich - wird auf den «multifunktionalen Feuerwehrmann» gesetzt, der sowohl im klassischen Brandschutz als auch im Rettungsdienst einsetzbar ist. Bis auf einige Spezialaufgaben, für die Höhenretter oder Taucher angefordert werden, beinhaltet die Ausbildung eines Feuerwehrmanns das gesamte Spektrum im Bereich Hilfeleistung. So werde ich aus diesem Grund von Schicht zu Schicht mal auf dem Löschfahrzeug oder der Drehleiter eingeteilt, mal auf dem Rettungswagen oder dem Notarzt-Einsatzfahrzeug.
Das tägliche Geschäft der Feuerwehr ist oft unauffällig. Eine Dienstschicht ist bei den meisten Feuerwehren vierundzwanzig Stunden lang, darauf folgen achtundvierzig Stunden Freizeit. Während der Dienstzeit werden - unterbrochen von den Einsätzen - die Fahrzeuge und Geräte in Ordnung gehalten, die auf der Wache anfallenden Instandhaltungsarbeiten durchgeführt, man hat Unterrichtsstunden, Übungen und macht Sport. Dieser Rhythmus wiederholt sich, ganz gleich ob es Sonntag ist, Weihnachten oder Ostern. Der Schichtplan ist so regelmäßig, dass ich heute schon sagen kann: Sollte ich nicht in eine andere Dienstgruppe versetzt werden, gehe ich nach einer Donnerstag-/ Freitag-Schicht in Pension. Bis dahin werde ich bestimmt noch viele belanglose Einsätze erleben, aber mit Sicherheit auch einige ungewöhnliche und spektakuläre Fälle.
Die Heldengeschichten und Großeinsätze der Feuerwehr werden regelmäßig in den Boulevardmedien breitgetreten. Ihre Dramatik ist aber schnell erschöpft, denn wird man zum Beispiel zu einem Großbrand gerufen, weiß jeder, was zu tun ist. Die einen stellen ein paar Wasserwerfer auf, die anderen rollen Schläuche aus, dann spritzt die Feuerwehr Wasser in den Brandherd, bis das Feuer gelöscht ist. Zu erzählen gibt es da wenig.
Andere, weitaus kleinere Einsätze, die von der Öffentlichkeit unbeachtet bleiben, sind dagegen an Kuriosität kaum zu überbieten. Wenn ich in meinem Freundeskreis von solchen Aktionen berichte, ernte ich oft ungläubiges Kopfschütteln. Das brachte mich irgendwann auf die Idee, einiges von dem, was man als Feuerwehrmann erfährt, in einem Buch festzuhalten - selbstverständlich anonymisiert: Die Namen der handelnden Personen und die Orte sind frei erfunden, die hier zu lesenden Geschichten sind aber wirklich so passiert. Und wenn Sie einmal jemanden von der Feuerwehr oder dem Rettungsdienst fragen, ob das denn überhaupt stimmen kann, wird er zweifellos nicken: «Ja, so etwas Ähnliches habe ich selbst schon einmal erlebt ...»
Von all den Facetten des Lebens, mit denen man im Dienst konfrontiert wird, ahnte ich noch nichts, als ich im Alter von zwölf Jahren der Jugendfeuerwehr einer ostwestfälischen Kleinstadt beitrat. Mit achtzehn fuhr ich dann als aktiver Feuerwehrmann etwa einhundert Einsätze pro Jahr, um «für den Nächsten da zu sein». Mein Traum war es, bei der Berufsfeuerwehr zu arbeiten. Trotz aller Unkenrufe von Eltern und Freunden, die mir geringe Einstellungschancen prophezeiten, bewarb ich mich bei verschiedenen Feuerwehren, bis ich 1997, nach gut zwei Jahren, bei einer großen Berufsfeuerwehr eingestellt wurde: Mein Traum war in Erfüllung gegangen! Ich zog aus der ländlichen Gegend in die Großstadt, um hauptberuflich das zu tun, was ich jahrelang als begeistertes Hobby betrieb.
Heute bin ich auf einer kleinen Nebenwache eingeteilt und mache hauptsächlich Dienst auf einem Löschfahrzeug oder einem Rettungswagen. Das Löschfahrzeug, abgekürzt LF, ist das Rückgrat einer Feuerwehr. Die Ausstattung ermöglicht nicht nur eine umfassende Brandbekämpfung, sondern es werden auch viele Geräte und Werkzeuge für technische Hilfeleistungen aller Art mitgeführt. Dadurch ist das Einsatzspektrum, für das dieses Fahrzeug eingesetzt werden kann, sehr breit. Der Rettungswagen, kurz RTW, sorgt wiederum für medizinische Hilfe und den schnellen Transport bei lebensbedrohlichen Notfällen. Dass dieser Zweck vielen Menschen nicht ganz klar ist, musste ich oft genug - so auch in einigen der hier gesammelten Begebenheiten - erleben.
Um meine Kollegen nicht zu verraten, habe ich auch deren Namen geändert. Ihre Zahl ist recht überschaubar - und in ihrem jeweiligen Charakter sind sie unverwechselbar:
Manfred ist ein Mensch, der gern die anliegende Arbeit vor sich herschiebt und möglichst «minimale Lösungen» anstrebt, damit er mehr Zeit für seinen privaten Kram hat. Im Einsatz kann man aber durchaus etwas mit ihm anfangen - wenn man seine Qualifikationen berücksichtigt, die aufgrund des Mehraufwands, der nun einmal mit Lehrgängen verbunden ist, sehr überschaubar sind.
Kevin hingegen ist sehr bemüht, kann prima kochen (was auf einer Feuerwache einen enormen Beliebtheitsvorsprung verschafft) und werkelt bei der täglichen Arbeit ohne Murren vor sich hin. Er hat ein gesteigertes Harmoniebedürfnis, weswegen er möglichst allen Konflikten aus dem Wege geht. Ab und zu ist er allerdings etwas döselig und muss dann sehr genaue Anweisungen erhalten, damit etwas Sinnvolles bei seiner Arbeit herauskommt.
Des Weiteren ist da noch Dieter. Ein Feuerwehr-Urgestein, schon nahe der Pensionierung. Er hat in seinem Leben viel gesehen und ist dementsprechend pragmatisch, manchmal wirkt er deswegen wohl rau und gefühlskalt. Das ist aber nur Oberfläche. Dieter ist auf der Wache der väterliche Kollege, der stets ein offenes Ohr hat, wenn ein jüngerer Kollege ein Problem bei der Verarbeitung eines Einsatzes hat.
Steffen ist ebenfalls ein äußerst erfahrener Kollege, fast so erfahren wie Dieter. Allerdings ist er der Meinung, dass er aufgrund seiner vielen Dienstjahre keine Fehler mehr macht, weshalb immer andere Schuld haben, wenn etwas schiefgeht. Man muss ihm aber zugutehalten, dass seine Einschätzung meistens stimmt. Steffen kann sehr aufbrausend sein, wenn man ihn ärgert, daher muss man ihn zur Vermeidung einer Beschwerde manchmal im Einsatz etwas einbremsen.
Und dem Wachführer gebe ich lieber erst gar keinen bestimmten Namen. Er ist unser Herbergsvater, Anstaltsleiter, einfach der Chef. Das ist bei der Feuerwehr so: Chef bezeichnet oft nur den nächsthöheren Vorgesetzten. Der Amtsleiter der Feuerwehr müsste nach dieser Logik der Chef-Chef-Chef sein. Am Ende dieses Buches wird der Leser vielleicht einen etwas tieferen Einblick in unsere Arbeit haben. Feuerwehr ist nicht jeden Tag hochdramatisch, aber auch nicht nur belanglos. Es ist der abwechslungsreichste Job, den ich mir vorstellen kann. Und dafür liebe ich ihn.
Kapitel 1
«Heizt die Betten an! Ich will jetzt raus!»
Es scheint ein Mythos zu sein, dass man mehr oder weniger regelmäßig Kinder im Rettungswagen zur Welt bringt. Menschen, die in der Rettung tätig sind, werden oft nach dramatischen Einsätzen mit viel Blut, zerknautschten Autos und schreienden Menschen gefragt, gleich danach aber nach Notfallgeburten. Jedoch ist eine Geburt im Rettungswagen oder mit Hilfe des Rettungsdiensts in der häuslichen Umgebung sehr selten; in den meisten Fällen schafft man doch noch den Transport ins Krankenhaus. Routinierte Mehrfachmütter, wie wir sie nennen, fahren oft rechtzeitig in einem Taxi mit dem werdenden Vater oder allein in die Klinik, und bei den nervösen Erstgebärenden ziehen sich die Wehen häufig so lange hin, dass die eine oder andere Schwangere auch schon mal des Kreißsaals verwiesen und auf einen späteren Termin vertröstet wurde. Von daher bleibt man nach einigen Dienstjahren recht gelassen, wenn ein entsprechendes Alarmstichwort auf dem Piepser erscheint.
So war es jedenfalls bei mir, als ich mit einem «Schwangerenalarm» konfrontiert wurde. Ich dachte mir: Es passiert sowieso nichts, es bleibt nichts weiter als ein «Krankentransport» wie so oft zuvor ... Wie man sich doch täuschen kann.
Manni und ich hatten Dienst. Manni hieß eigentlich Manfred und war Mitte dreißig, ein ewiger Sanitäter ohne Ambitionen, sich zum Rettungsassistenten fortzubilden. Zusammen saßen wir in der Unterkunft für die Rettungswagenbesatzung, die in dem unserer Feuerwache nahe gelegenen Bezirkskrankenhaus für uns eingerichtet worden war. Man war dort mehr oder weniger unter sich und konnte - sofern der Dienstbetrieb ordentlich erledigt wurde - seine Zeit frei einteilen. Aber als gemütlich konnte man den Ort nicht gerade bezeichnen: Er bestand aus einem Ruheraum mit zwei Betten (es war nicht so, dass wir dort schlafen würden, Feuerwehrleute «ruhen» ja nur!) sowie einem Dienstzimmer mit einem einzigen Bürotisch, der mit Computer, Drucker, Ablagekästen und Dienstanweisungen hoffnungslos überfrachtet war. Außerdem war dieser Bereich mit einem Fernsehgerät und einem kleinen Tisch ausgestattet, der schon mal bessere Zeiten gesehen hatte. Beide Einrichtungsteile waren vor einem abgewetzten roten Ecksofa drapiert, auf dem jetzt Manni saß und nachdenklich in einem Flyer der «Pizzeria um die Ecke» blätterte.
«Salat?», überlegte er laut. «Nö, da bekomme ich bloß einen Vitaminschock ... Aber die Calzone war letztes Mal gut. Die kannst du für mich bestellen. Du bestellst doch so gern.»
Ich grinste Manni an. «Zugeklappt?» Man mag es nicht glauben, aber zumindest im Ruhrgebiet ist es nicht in allen Pizzerien selbstverständlich, dass eine Calzone (wörtlich: «Hose») zugeklappt in den Ofen geschoben wird. Auch das musste ich über die hiesige Kultur lernen, als ich vor ... Also auf jeden Fall weit nach dem Krieg ins Ruhrgebiet zog, um meinen Traumberuf zu ergreifen.
«Ja sicher, zugeklappt!» Manni grinste zurück.
«Okay, also die Nummer 34, groß, oder?»
«Klar, groß. Ich will doch nicht verhungern.»
«Und ich werde den Salat nehmen, den du für zu gesund hältst. Bin fett genug. Natürlich mit Dressing, und dazu Pizzabrötchen mit Kräuterbutter.» Dass der Versuch einer bewussten Ernährung mit dem Dressing und den fünfzig Gramm Kräuterbutter bereits im Ansatz scheiterte, musste ich wohl in Kauf nehmen, wenn auch ich satt werden wollte. Aber der gute Wille allein zählt ja schon ...
Gleichzeitig telefonierte ein aufgeregter Mann mit der Leitstelle der Feuerwehr - die in Nordrhein-Westfalen auch für den Rettungsdienst zuständig ist - und forderte einen Krankenwagen an. Wobei die meisten Anrufer, die «dringend einen Krankenwagen » verlangen, eigentlich einen für Notfälle ausgerüsteten Rettungswagen meinen. Der Anrufer fuhr fort: «Meine Frau, die ist schwanger ... also, noch. Und jetzt hat sie Wehen, und die Fruchtblase ist eben geplatzt!»
Der Leitstellendisponent musste herausfinden, wie dringend die Sache wirklich war. «Wann ist denn der errechnete Geburtstermin? »
«Nächsten Dienstag! Jetzt kommen Sie aber doch schnell!»
Während der Disponent die weiteren nötigen Informationen in Erfahrung brachte, tippte er sie parallel in den Rechner ein. Die endlose Fragerei mag für einen Anrufer, der aufgeregt ist und unter dem Eindruck eines Notfalls steht, zwar unverschämt und zeitverschwendend erscheinen. Manche fühlen sich auch nicht ernst genommen, wenn sie nach «Hallo, hier brennt's!» nicht unmittelbar darauf im Hintergrund den Alarmgong hören. Aber der Leitstellendisponent der Feuerwehr muss sich erst ein möglichst genaues Bild machen, um die richtige Hilfe schicken zu können. Und die Adresse ist manchmal sehr von Vorteil.
So erfragte unser Callcenter-Agent den Namen der Patientin, den des Anrufers sowie Straße und Hausnummer, bevor er auf seiner Computertastatur «Enter» drückte und ihm vom Einsatzleitrechner das Rettungsfahrzeug vorgeschlagen wurde, das sich in größter Nähe befand. Nach einem weiteren Knopfdruck besorgte der Leitstellenrechner den Rest: Die Piepser an unseren Gürteln klingelten in unsere abendliche Essensplanung hinein, der Alarmdrucker auf der Wache spuckte parallel ein Schreiben aus. «RET. Gyn. Notfall. Eggeweg 12. Fruchtblase geplatzt», stand dort zu lesen. Übersetzt hieß das: Ihr sollt mit dem Rettungswagen eine Schwangere ins Krankenhaus bringen.
Für gewöhnlich ist das, wie gesagt, wenig explosiv: Eine Geburt ist im Grunde kein «echter» Notfall. Hat man die werdende Mutter mit dem gepackten Täschchen in den Kreißsaal verfrachtet, passiert dort bei normaler Kindeslage das, was in Brasilien bei der Rohrzuckerernte nicht selten auf dem Feld vollzogen wird. Nur aufwendiger und mit mehr «Tamtam» vorweg und hinterher (sogar bis ins Esoterische hinein). Folglich gingen mein Kollege und ich ohne große Anspannung zum Rettungswagen und schickten der Leitstelle per Knopfdruck am Funkgerät die Information, dass wir zu dem Notfall ausrücken würden.
«Kann ja nicht so schlimm sein, die Leitstelle hätte sonst einen Notarzt mitgeschickt. Immer diese Taxifahrten, die sich die Schwangeren damit ersparen», brummelte Manni.
Am Wagen zog ich mir meine rote Jacke an. «Tja, wenigstens haben wir nicht schon bestellt», sagte ich. «Der Pizzabäcker wäre bestimmt knatschig geworden, hätten wir die Calzone nicht abgeholt.»
Mit Blaulicht und an den erforderlichen Stellen auch mit Martinshorn fuhren wir Richtung Eggeweg. An den Kreuzungen mussten wir ein paar Autos «beiseite schubsen», wobei aber auf dieser Tour die Fahrer angemessen reagierten. Manchmal ist es schier unglaublich, wie für einige Verkehrsteilnehmer eine rote Ampel zur imaginären Betonmauer werden kann. Wir stehen dann mit brüllendem Horn hinter einem Wagen, die Einsatzdisco blitzt wie blöde, man kann mit dem Fernlicht blinken und zusätzlich hupen, und trotz der nicht zu übersehenden Tatsache, dass der gesamte Querverkehr auf unseren Auftritt hin wohlwollend die Kreuzung freihält: Der Autofahrer vor uns wirft verzweifelt die Arme in die Luft, sein Pkw bleibt wie festgetackert stehen und schiebt sich keinen Millimeter an dem in der Ampel glühenden 40-Watt-Birnchen vorbei. Dabei sind die meisten Kreuzungen so markiert, dass man hinter der Haltelinie noch etwa fünf Meter Platz hätte, um sein Auto etwas an die Seite zu bugsieren, ohne in den Bereich des ohnehin wartenden Querverkehrs zu geraten. Ich könnte regelmäßig ins Armaturenbrett beißen ...
Nun gut, dieses Mal ließ man uns ziehen.
Manni war etwas nervös: «Na, da bin ich ja gespannt, ob es wirklich so dringend ist, wie der zukünftige Vater behauptet hat. Nicht, dass die uns auf dem Weg ins Krankenhaus ein Kind ins Auto legt!»
«Wenn es so aussieht, als wenn es wirklich gleich losgehen könnte, holen wir den Notarzt dazu und schieben die werdende Mutter für den Transport verkehrt herum ins Auto. Dann haben wir um die Beine herum mehr Platz zum Arbeiten.»
Normalerweise werden Patienten mit dem Kopf in Fahrtrichtung transportiert. Am Kopfende der Trage (also in Fahrtrichtung vorne) befindet sich im Patientenraum der Medikamentenschrank sowie eine Fläche zum Ablegen und Vorbereiten von Geräten und Arzneimitteln. Außerdem kann man dort den eingebauten Sitz hochklappen und hat so jede Menge Platz. Aus diesem Grund ist die Front des Patientenraums für eine eventuelle Geburt vorteilhafter als das hintere Ende, das durch Einbauten eingeengt ist. Außerdem schließt sich am Ende der Trage sofort die Tür an, sodass man nur wenig Freiraum hätte, um bei der Geburt zu helfen. Aber so weit war es bei meinen Einsätzen noch nie gekommen.
Wir fuhren an der angegebenen Adresse, einem mehrstöckigen, etwas marode wirkenden Stadthaus der vorletzten Jahrhundertwende, nach etwa drei Minuten vor. Ich klemmte mir den Notfallkoffer unter den Arm, der Infusionen, einige Medikamente, Verbandmaterial, Messgeräte, eine Blutdruckmanschette sowie den Defibrillator enthielt. Manni schulterte den Beatmungsrucksack und nahm zusätzlich den «Kinder-Notfallkoffer » mit. In diesem befinden sich neben Beatmungsbeutel und -masken «in klein» unter anderem verschiedene Sachen zur Geburtshilfe, etwa OP-Tücher, Nabelklemmen, Schere, Skalpell und Windeln. Wir rechnen zwar nie damit, ihn zu gebrauchen, aber man muss schließlich vorbereitet sein.
Die Haustür stand offen, in der Wohnung im ersten Stock empfing uns ein etwas hektisch agierender Mann, Mitte dreißig, also ähnlich alt wie Manni, der uns schwitzend mit den Armen entgegenfuchtelte.
«Guten Abend, Feuerwehr. Haben Sie uns gerufen?», meldete ich uns höflich an, denn nicht jede Tür, in der jemand steht, wenn wir auftauchen, führt uns zum Notfall. Neugierige Nachbarn neigen dazu, erwartungsvoll vor ihren Wohnungen zu stehen, um herauszufinden, was man weitertratschen könnte. Daher fragen wir immer vorsichtig nach.
«Gehen Sie durch, schnell!», rief der Mann. «Meine Frau ist im Wohnzimmer!»
Aus dem schallte ein Geräusch, das ich eigentlich nicht hören wollte: das für die einsetzende Geburt typische «Gnnniiiiiiihh!» der schwangeren Patientin, das ich aus einer meiner Fortbildungen kannte. Im Rahmen einer solchen hatte uns einmal eine Hebamme in Geburtshilfe unterrichtet und uns zur Verdeutlichung einige Filmsequenzen von Geburten vorgeführt. Durch sie lernten wir den Unterschied zwischen «Oooohhh ... das zieht ... ich glaube, da ist schon wieder eine Wehe» (das wir üblicherweise bei Einsätzen dieser Art zu hören bekommen) und dem dramatischen, pressenden Geräusch kennen, das Frauen von sich geben, wenn das Kind wirklich auf die Welt will. Und genau diese Presslaute vernahm ich aus der Wohnung. Die Frage: «Wo müssen wir hin, wo ist das Wohnzimmer?» hatte sich also erledigt.
Manni und ich schoben uns am hilflos wirkenden Mann vorbei und trugen unsere Ausrüstung dorthin. Zwischen Familienfotos und kitschigen Bildern aus dem Baumarkt fanden wir die werdende Mutter vor. Sie saß nach hinten gelehnt auf der Kante eines Sofas (wo das doch so schlecht für die Wirbelsäule ist ...), die Knie an einen Glastisch gestemmt. Offensichtlich durchlebte sie gerade wieder eine Presswehe - bereits die zweite in der Minute, in der wir angekommen waren. Hier kündigte das Baby unmissverständlich seinen Wunsch an: «Heizt die Betten an! Ich will jetzt raus!»
Zunächst setzte ein Fluchtinstinkt bei mir ein. Trotz jahrelanger Erfahrung in meinem Job kannte ich diese Situation nur aus der Theorie. Und jetzt stand ich live vor einer solchen. Ohne Arzt. Aber um umzukehren und um den Block zu fahren, bis alles vorbei war, dafür war es zu spät. Da mussten wir jetzt durch ...
Manni und ich breiteten unser Equipment aus, anschließend räumte ich den Sofatisch beiseite, um mehr Platz zu haben. (Falls Sie mal den Rettungsdienst zu Hause haben, wundern Sie sich nicht: Wir bauen uns die Wohnung so um, wie wir es gerade brauchen. Das beginnt beim Wegrücken von Tischen und Sesseln und geht über das Tragen von Kommoden in den Hausflur bis zum Aushängen von Türen.) Als das geschehen war, fing ich mit der Befragung an, um mir einen Überblick über das zu verschaffen, was hier gerade ablief.
Copyright © 2013 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Zunächst einmal: Bei den Berufsfeuerwehren in Nordrhein- Westfalen - und zu einer solchen gehöre ich - wird auf den «multifunktionalen Feuerwehrmann» gesetzt, der sowohl im klassischen Brandschutz als auch im Rettungsdienst einsetzbar ist. Bis auf einige Spezialaufgaben, für die Höhenretter oder Taucher angefordert werden, beinhaltet die Ausbildung eines Feuerwehrmanns das gesamte Spektrum im Bereich Hilfeleistung. So werde ich aus diesem Grund von Schicht zu Schicht mal auf dem Löschfahrzeug oder der Drehleiter eingeteilt, mal auf dem Rettungswagen oder dem Notarzt-Einsatzfahrzeug.
Das tägliche Geschäft der Feuerwehr ist oft unauffällig. Eine Dienstschicht ist bei den meisten Feuerwehren vierundzwanzig Stunden lang, darauf folgen achtundvierzig Stunden Freizeit. Während der Dienstzeit werden - unterbrochen von den Einsätzen - die Fahrzeuge und Geräte in Ordnung gehalten, die auf der Wache anfallenden Instandhaltungsarbeiten durchgeführt, man hat Unterrichtsstunden, Übungen und macht Sport. Dieser Rhythmus wiederholt sich, ganz gleich ob es Sonntag ist, Weihnachten oder Ostern. Der Schichtplan ist so regelmäßig, dass ich heute schon sagen kann: Sollte ich nicht in eine andere Dienstgruppe versetzt werden, gehe ich nach einer Donnerstag-/ Freitag-Schicht in Pension. Bis dahin werde ich bestimmt noch viele belanglose Einsätze erleben, aber mit Sicherheit auch einige ungewöhnliche und spektakuläre Fälle.
Die Heldengeschichten und Großeinsätze der Feuerwehr werden regelmäßig in den Boulevardmedien breitgetreten. Ihre Dramatik ist aber schnell erschöpft, denn wird man zum Beispiel zu einem Großbrand gerufen, weiß jeder, was zu tun ist. Die einen stellen ein paar Wasserwerfer auf, die anderen rollen Schläuche aus, dann spritzt die Feuerwehr Wasser in den Brandherd, bis das Feuer gelöscht ist. Zu erzählen gibt es da wenig.
Andere, weitaus kleinere Einsätze, die von der Öffentlichkeit unbeachtet bleiben, sind dagegen an Kuriosität kaum zu überbieten. Wenn ich in meinem Freundeskreis von solchen Aktionen berichte, ernte ich oft ungläubiges Kopfschütteln. Das brachte mich irgendwann auf die Idee, einiges von dem, was man als Feuerwehrmann erfährt, in einem Buch festzuhalten - selbstverständlich anonymisiert: Die Namen der handelnden Personen und die Orte sind frei erfunden, die hier zu lesenden Geschichten sind aber wirklich so passiert. Und wenn Sie einmal jemanden von der Feuerwehr oder dem Rettungsdienst fragen, ob das denn überhaupt stimmen kann, wird er zweifellos nicken: «Ja, so etwas Ähnliches habe ich selbst schon einmal erlebt ...»
Von all den Facetten des Lebens, mit denen man im Dienst konfrontiert wird, ahnte ich noch nichts, als ich im Alter von zwölf Jahren der Jugendfeuerwehr einer ostwestfälischen Kleinstadt beitrat. Mit achtzehn fuhr ich dann als aktiver Feuerwehrmann etwa einhundert Einsätze pro Jahr, um «für den Nächsten da zu sein». Mein Traum war es, bei der Berufsfeuerwehr zu arbeiten. Trotz aller Unkenrufe von Eltern und Freunden, die mir geringe Einstellungschancen prophezeiten, bewarb ich mich bei verschiedenen Feuerwehren, bis ich 1997, nach gut zwei Jahren, bei einer großen Berufsfeuerwehr eingestellt wurde: Mein Traum war in Erfüllung gegangen! Ich zog aus der ländlichen Gegend in die Großstadt, um hauptberuflich das zu tun, was ich jahrelang als begeistertes Hobby betrieb.
Heute bin ich auf einer kleinen Nebenwache eingeteilt und mache hauptsächlich Dienst auf einem Löschfahrzeug oder einem Rettungswagen. Das Löschfahrzeug, abgekürzt LF, ist das Rückgrat einer Feuerwehr. Die Ausstattung ermöglicht nicht nur eine umfassende Brandbekämpfung, sondern es werden auch viele Geräte und Werkzeuge für technische Hilfeleistungen aller Art mitgeführt. Dadurch ist das Einsatzspektrum, für das dieses Fahrzeug eingesetzt werden kann, sehr breit. Der Rettungswagen, kurz RTW, sorgt wiederum für medizinische Hilfe und den schnellen Transport bei lebensbedrohlichen Notfällen. Dass dieser Zweck vielen Menschen nicht ganz klar ist, musste ich oft genug - so auch in einigen der hier gesammelten Begebenheiten - erleben.
Um meine Kollegen nicht zu verraten, habe ich auch deren Namen geändert. Ihre Zahl ist recht überschaubar - und in ihrem jeweiligen Charakter sind sie unverwechselbar:
Manfred ist ein Mensch, der gern die anliegende Arbeit vor sich herschiebt und möglichst «minimale Lösungen» anstrebt, damit er mehr Zeit für seinen privaten Kram hat. Im Einsatz kann man aber durchaus etwas mit ihm anfangen - wenn man seine Qualifikationen berücksichtigt, die aufgrund des Mehraufwands, der nun einmal mit Lehrgängen verbunden ist, sehr überschaubar sind.
Kevin hingegen ist sehr bemüht, kann prima kochen (was auf einer Feuerwache einen enormen Beliebtheitsvorsprung verschafft) und werkelt bei der täglichen Arbeit ohne Murren vor sich hin. Er hat ein gesteigertes Harmoniebedürfnis, weswegen er möglichst allen Konflikten aus dem Wege geht. Ab und zu ist er allerdings etwas döselig und muss dann sehr genaue Anweisungen erhalten, damit etwas Sinnvolles bei seiner Arbeit herauskommt.
Des Weiteren ist da noch Dieter. Ein Feuerwehr-Urgestein, schon nahe der Pensionierung. Er hat in seinem Leben viel gesehen und ist dementsprechend pragmatisch, manchmal wirkt er deswegen wohl rau und gefühlskalt. Das ist aber nur Oberfläche. Dieter ist auf der Wache der väterliche Kollege, der stets ein offenes Ohr hat, wenn ein jüngerer Kollege ein Problem bei der Verarbeitung eines Einsatzes hat.
Steffen ist ebenfalls ein äußerst erfahrener Kollege, fast so erfahren wie Dieter. Allerdings ist er der Meinung, dass er aufgrund seiner vielen Dienstjahre keine Fehler mehr macht, weshalb immer andere Schuld haben, wenn etwas schiefgeht. Man muss ihm aber zugutehalten, dass seine Einschätzung meistens stimmt. Steffen kann sehr aufbrausend sein, wenn man ihn ärgert, daher muss man ihn zur Vermeidung einer Beschwerde manchmal im Einsatz etwas einbremsen.
Und dem Wachführer gebe ich lieber erst gar keinen bestimmten Namen. Er ist unser Herbergsvater, Anstaltsleiter, einfach der Chef. Das ist bei der Feuerwehr so: Chef bezeichnet oft nur den nächsthöheren Vorgesetzten. Der Amtsleiter der Feuerwehr müsste nach dieser Logik der Chef-Chef-Chef sein. Am Ende dieses Buches wird der Leser vielleicht einen etwas tieferen Einblick in unsere Arbeit haben. Feuerwehr ist nicht jeden Tag hochdramatisch, aber auch nicht nur belanglos. Es ist der abwechslungsreichste Job, den ich mir vorstellen kann. Und dafür liebe ich ihn.
Kapitel 1
«Heizt die Betten an! Ich will jetzt raus!»
Es scheint ein Mythos zu sein, dass man mehr oder weniger regelmäßig Kinder im Rettungswagen zur Welt bringt. Menschen, die in der Rettung tätig sind, werden oft nach dramatischen Einsätzen mit viel Blut, zerknautschten Autos und schreienden Menschen gefragt, gleich danach aber nach Notfallgeburten. Jedoch ist eine Geburt im Rettungswagen oder mit Hilfe des Rettungsdiensts in der häuslichen Umgebung sehr selten; in den meisten Fällen schafft man doch noch den Transport ins Krankenhaus. Routinierte Mehrfachmütter, wie wir sie nennen, fahren oft rechtzeitig in einem Taxi mit dem werdenden Vater oder allein in die Klinik, und bei den nervösen Erstgebärenden ziehen sich die Wehen häufig so lange hin, dass die eine oder andere Schwangere auch schon mal des Kreißsaals verwiesen und auf einen späteren Termin vertröstet wurde. Von daher bleibt man nach einigen Dienstjahren recht gelassen, wenn ein entsprechendes Alarmstichwort auf dem Piepser erscheint.
So war es jedenfalls bei mir, als ich mit einem «Schwangerenalarm» konfrontiert wurde. Ich dachte mir: Es passiert sowieso nichts, es bleibt nichts weiter als ein «Krankentransport» wie so oft zuvor ... Wie man sich doch täuschen kann.
Manni und ich hatten Dienst. Manni hieß eigentlich Manfred und war Mitte dreißig, ein ewiger Sanitäter ohne Ambitionen, sich zum Rettungsassistenten fortzubilden. Zusammen saßen wir in der Unterkunft für die Rettungswagenbesatzung, die in dem unserer Feuerwache nahe gelegenen Bezirkskrankenhaus für uns eingerichtet worden war. Man war dort mehr oder weniger unter sich und konnte - sofern der Dienstbetrieb ordentlich erledigt wurde - seine Zeit frei einteilen. Aber als gemütlich konnte man den Ort nicht gerade bezeichnen: Er bestand aus einem Ruheraum mit zwei Betten (es war nicht so, dass wir dort schlafen würden, Feuerwehrleute «ruhen» ja nur!) sowie einem Dienstzimmer mit einem einzigen Bürotisch, der mit Computer, Drucker, Ablagekästen und Dienstanweisungen hoffnungslos überfrachtet war. Außerdem war dieser Bereich mit einem Fernsehgerät und einem kleinen Tisch ausgestattet, der schon mal bessere Zeiten gesehen hatte. Beide Einrichtungsteile waren vor einem abgewetzten roten Ecksofa drapiert, auf dem jetzt Manni saß und nachdenklich in einem Flyer der «Pizzeria um die Ecke» blätterte.
«Salat?», überlegte er laut. «Nö, da bekomme ich bloß einen Vitaminschock ... Aber die Calzone war letztes Mal gut. Die kannst du für mich bestellen. Du bestellst doch so gern.»
Ich grinste Manni an. «Zugeklappt?» Man mag es nicht glauben, aber zumindest im Ruhrgebiet ist es nicht in allen Pizzerien selbstverständlich, dass eine Calzone (wörtlich: «Hose») zugeklappt in den Ofen geschoben wird. Auch das musste ich über die hiesige Kultur lernen, als ich vor ... Also auf jeden Fall weit nach dem Krieg ins Ruhrgebiet zog, um meinen Traumberuf zu ergreifen.
«Ja sicher, zugeklappt!» Manni grinste zurück.
«Okay, also die Nummer 34, groß, oder?»
«Klar, groß. Ich will doch nicht verhungern.»
«Und ich werde den Salat nehmen, den du für zu gesund hältst. Bin fett genug. Natürlich mit Dressing, und dazu Pizzabrötchen mit Kräuterbutter.» Dass der Versuch einer bewussten Ernährung mit dem Dressing und den fünfzig Gramm Kräuterbutter bereits im Ansatz scheiterte, musste ich wohl in Kauf nehmen, wenn auch ich satt werden wollte. Aber der gute Wille allein zählt ja schon ...
Gleichzeitig telefonierte ein aufgeregter Mann mit der Leitstelle der Feuerwehr - die in Nordrhein-Westfalen auch für den Rettungsdienst zuständig ist - und forderte einen Krankenwagen an. Wobei die meisten Anrufer, die «dringend einen Krankenwagen » verlangen, eigentlich einen für Notfälle ausgerüsteten Rettungswagen meinen. Der Anrufer fuhr fort: «Meine Frau, die ist schwanger ... also, noch. Und jetzt hat sie Wehen, und die Fruchtblase ist eben geplatzt!»
Der Leitstellendisponent musste herausfinden, wie dringend die Sache wirklich war. «Wann ist denn der errechnete Geburtstermin? »
«Nächsten Dienstag! Jetzt kommen Sie aber doch schnell!»
Während der Disponent die weiteren nötigen Informationen in Erfahrung brachte, tippte er sie parallel in den Rechner ein. Die endlose Fragerei mag für einen Anrufer, der aufgeregt ist und unter dem Eindruck eines Notfalls steht, zwar unverschämt und zeitverschwendend erscheinen. Manche fühlen sich auch nicht ernst genommen, wenn sie nach «Hallo, hier brennt's!» nicht unmittelbar darauf im Hintergrund den Alarmgong hören. Aber der Leitstellendisponent der Feuerwehr muss sich erst ein möglichst genaues Bild machen, um die richtige Hilfe schicken zu können. Und die Adresse ist manchmal sehr von Vorteil.
So erfragte unser Callcenter-Agent den Namen der Patientin, den des Anrufers sowie Straße und Hausnummer, bevor er auf seiner Computertastatur «Enter» drückte und ihm vom Einsatzleitrechner das Rettungsfahrzeug vorgeschlagen wurde, das sich in größter Nähe befand. Nach einem weiteren Knopfdruck besorgte der Leitstellenrechner den Rest: Die Piepser an unseren Gürteln klingelten in unsere abendliche Essensplanung hinein, der Alarmdrucker auf der Wache spuckte parallel ein Schreiben aus. «RET. Gyn. Notfall. Eggeweg 12. Fruchtblase geplatzt», stand dort zu lesen. Übersetzt hieß das: Ihr sollt mit dem Rettungswagen eine Schwangere ins Krankenhaus bringen.
Für gewöhnlich ist das, wie gesagt, wenig explosiv: Eine Geburt ist im Grunde kein «echter» Notfall. Hat man die werdende Mutter mit dem gepackten Täschchen in den Kreißsaal verfrachtet, passiert dort bei normaler Kindeslage das, was in Brasilien bei der Rohrzuckerernte nicht selten auf dem Feld vollzogen wird. Nur aufwendiger und mit mehr «Tamtam» vorweg und hinterher (sogar bis ins Esoterische hinein). Folglich gingen mein Kollege und ich ohne große Anspannung zum Rettungswagen und schickten der Leitstelle per Knopfdruck am Funkgerät die Information, dass wir zu dem Notfall ausrücken würden.
«Kann ja nicht so schlimm sein, die Leitstelle hätte sonst einen Notarzt mitgeschickt. Immer diese Taxifahrten, die sich die Schwangeren damit ersparen», brummelte Manni.
Am Wagen zog ich mir meine rote Jacke an. «Tja, wenigstens haben wir nicht schon bestellt», sagte ich. «Der Pizzabäcker wäre bestimmt knatschig geworden, hätten wir die Calzone nicht abgeholt.»
Mit Blaulicht und an den erforderlichen Stellen auch mit Martinshorn fuhren wir Richtung Eggeweg. An den Kreuzungen mussten wir ein paar Autos «beiseite schubsen», wobei aber auf dieser Tour die Fahrer angemessen reagierten. Manchmal ist es schier unglaublich, wie für einige Verkehrsteilnehmer eine rote Ampel zur imaginären Betonmauer werden kann. Wir stehen dann mit brüllendem Horn hinter einem Wagen, die Einsatzdisco blitzt wie blöde, man kann mit dem Fernlicht blinken und zusätzlich hupen, und trotz der nicht zu übersehenden Tatsache, dass der gesamte Querverkehr auf unseren Auftritt hin wohlwollend die Kreuzung freihält: Der Autofahrer vor uns wirft verzweifelt die Arme in die Luft, sein Pkw bleibt wie festgetackert stehen und schiebt sich keinen Millimeter an dem in der Ampel glühenden 40-Watt-Birnchen vorbei. Dabei sind die meisten Kreuzungen so markiert, dass man hinter der Haltelinie noch etwa fünf Meter Platz hätte, um sein Auto etwas an die Seite zu bugsieren, ohne in den Bereich des ohnehin wartenden Querverkehrs zu geraten. Ich könnte regelmäßig ins Armaturenbrett beißen ...
Nun gut, dieses Mal ließ man uns ziehen.
Manni war etwas nervös: «Na, da bin ich ja gespannt, ob es wirklich so dringend ist, wie der zukünftige Vater behauptet hat. Nicht, dass die uns auf dem Weg ins Krankenhaus ein Kind ins Auto legt!»
«Wenn es so aussieht, als wenn es wirklich gleich losgehen könnte, holen wir den Notarzt dazu und schieben die werdende Mutter für den Transport verkehrt herum ins Auto. Dann haben wir um die Beine herum mehr Platz zum Arbeiten.»
Normalerweise werden Patienten mit dem Kopf in Fahrtrichtung transportiert. Am Kopfende der Trage (also in Fahrtrichtung vorne) befindet sich im Patientenraum der Medikamentenschrank sowie eine Fläche zum Ablegen und Vorbereiten von Geräten und Arzneimitteln. Außerdem kann man dort den eingebauten Sitz hochklappen und hat so jede Menge Platz. Aus diesem Grund ist die Front des Patientenraums für eine eventuelle Geburt vorteilhafter als das hintere Ende, das durch Einbauten eingeengt ist. Außerdem schließt sich am Ende der Trage sofort die Tür an, sodass man nur wenig Freiraum hätte, um bei der Geburt zu helfen. Aber so weit war es bei meinen Einsätzen noch nie gekommen.
Wir fuhren an der angegebenen Adresse, einem mehrstöckigen, etwas marode wirkenden Stadthaus der vorletzten Jahrhundertwende, nach etwa drei Minuten vor. Ich klemmte mir den Notfallkoffer unter den Arm, der Infusionen, einige Medikamente, Verbandmaterial, Messgeräte, eine Blutdruckmanschette sowie den Defibrillator enthielt. Manni schulterte den Beatmungsrucksack und nahm zusätzlich den «Kinder-Notfallkoffer » mit. In diesem befinden sich neben Beatmungsbeutel und -masken «in klein» unter anderem verschiedene Sachen zur Geburtshilfe, etwa OP-Tücher, Nabelklemmen, Schere, Skalpell und Windeln. Wir rechnen zwar nie damit, ihn zu gebrauchen, aber man muss schließlich vorbereitet sein.
Die Haustür stand offen, in der Wohnung im ersten Stock empfing uns ein etwas hektisch agierender Mann, Mitte dreißig, also ähnlich alt wie Manni, der uns schwitzend mit den Armen entgegenfuchtelte.
«Guten Abend, Feuerwehr. Haben Sie uns gerufen?», meldete ich uns höflich an, denn nicht jede Tür, in der jemand steht, wenn wir auftauchen, führt uns zum Notfall. Neugierige Nachbarn neigen dazu, erwartungsvoll vor ihren Wohnungen zu stehen, um herauszufinden, was man weitertratschen könnte. Daher fragen wir immer vorsichtig nach.
«Gehen Sie durch, schnell!», rief der Mann. «Meine Frau ist im Wohnzimmer!»
Aus dem schallte ein Geräusch, das ich eigentlich nicht hören wollte: das für die einsetzende Geburt typische «Gnnniiiiiiihh!» der schwangeren Patientin, das ich aus einer meiner Fortbildungen kannte. Im Rahmen einer solchen hatte uns einmal eine Hebamme in Geburtshilfe unterrichtet und uns zur Verdeutlichung einige Filmsequenzen von Geburten vorgeführt. Durch sie lernten wir den Unterschied zwischen «Oooohhh ... das zieht ... ich glaube, da ist schon wieder eine Wehe» (das wir üblicherweise bei Einsätzen dieser Art zu hören bekommen) und dem dramatischen, pressenden Geräusch kennen, das Frauen von sich geben, wenn das Kind wirklich auf die Welt will. Und genau diese Presslaute vernahm ich aus der Wohnung. Die Frage: «Wo müssen wir hin, wo ist das Wohnzimmer?» hatte sich also erledigt.
Manni und ich schoben uns am hilflos wirkenden Mann vorbei und trugen unsere Ausrüstung dorthin. Zwischen Familienfotos und kitschigen Bildern aus dem Baumarkt fanden wir die werdende Mutter vor. Sie saß nach hinten gelehnt auf der Kante eines Sofas (wo das doch so schlecht für die Wirbelsäule ist ...), die Knie an einen Glastisch gestemmt. Offensichtlich durchlebte sie gerade wieder eine Presswehe - bereits die zweite in der Minute, in der wir angekommen waren. Hier kündigte das Baby unmissverständlich seinen Wunsch an: «Heizt die Betten an! Ich will jetzt raus!»
Zunächst setzte ein Fluchtinstinkt bei mir ein. Trotz jahrelanger Erfahrung in meinem Job kannte ich diese Situation nur aus der Theorie. Und jetzt stand ich live vor einer solchen. Ohne Arzt. Aber um umzukehren und um den Block zu fahren, bis alles vorbei war, dafür war es zu spät. Da mussten wir jetzt durch ...
Manni und ich breiteten unser Equipment aus, anschließend räumte ich den Sofatisch beiseite, um mehr Platz zu haben. (Falls Sie mal den Rettungsdienst zu Hause haben, wundern Sie sich nicht: Wir bauen uns die Wohnung so um, wie wir es gerade brauchen. Das beginnt beim Wegrücken von Tischen und Sesseln und geht über das Tragen von Kommoden in den Hausflur bis zum Aushängen von Türen.) Als das geschehen war, fing ich mit der Befragung an, um mir einen Überblick über das zu verschaffen, was hier gerade ablief.
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Autoren-Porträt von Ingo Behring
Ingo Behring, geboren 1971, wuchs in einer Kleinstadt in Ost-Westfalen auf, wo er im Alter von 12 Jahren in die Freiwillige Feuerwehr eintrat. Heute arbeitet er im Ruhrgebiet bei der Berufsfeuerwehr.
Bibliographische Angaben
- Autor: Ingo Behring
- 2013, 256 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Rowohlt TB.
- ISBN-10: 349961989X
- ISBN-13: 9783499619892
- Erscheinungsdatum: 22.04.2013
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