Ab jetzt ist Ruhe
Roman meiner fabelhaften Familie
»Ab jetzt ist Ruhe« - dieser Spruch, den die unruhigen Kinder mit ihrer Mutter aufsagten und der sie in den Schlaf geleiten sollte, liegt wie ein Motto über dem Familienroman von Marion Brasch. Die jüdischen Eltern, die sich im Exil in London...
Leider schon ausverkauft
versandkostenfrei
Buch
7.95 €
Produktdetails
Produktinformationen zu „Ab jetzt ist Ruhe “
»Ab jetzt ist Ruhe« - dieser Spruch, den die unruhigen Kinder mit ihrer Mutter aufsagten und der sie in den Schlaf geleiten sollte, liegt wie ein Motto über dem Familienroman von Marion Brasch.
Die jüdischen Eltern, die sich im Exil in London kennenlernten, gründeten die Existenz ihrer jungen Familie in Ostberlin, wo der Vater nach dem Krieg seine Ideale als Politiker verwirklichen wollte. Die drei Söhne - zwei davon wurden Schriftsteller, der mittlere Schauspieler - revoltierten gegen die Autorität der Vätergeneration und scheiterten an der Wirklichkeit, während die kleine Schwester Versöhnung und Ausgleich suchte und oft genug damit an Grenzen stieß, auch an die eigenen.
Marion Brasch ist mit diesem Roman ein bewegender, oft witziger Rückblick auf die Geschichte ihrer Familie gelungen, gleichzeitig erzählt sie ihr eigenes Leben in einem Land, das es heute nicht mehr gibt.
»Meine drei Brüder hatten schon so wichtige Dinge getan, als sie in meinem Alter waren. Sie hatten rebelliert, um ihre Träume ins Leben zu holen. Und ich? Keine Leidenschaft für nichts. Stattdessen rief ich in meiner eigenen Wohnung an.«
Klappentext zu „Ab jetzt ist Ruhe “
"Ab jetzt ist Ruhe" dieser Spruch, den die unruhigen Kinder mit ihrer Mutter aufsagten und der sie in den Schlaf geleiten sollte, liegt wie ein Motto über dem Familienroman von Marion Brasch.Die jüdischen Eltern, die sich im Exil in London kennenlernten, gründeten die Existenz ihrer jungen Familie in Ostberlin, wo der Vater nach dem Krieg seine Ideale als Politiker verwirklichen wollte. Die drei Söhne zwei davon wurden Schriftsteller, der mittlere Schauspieler revoltierten gegen die Autorität der Vätergeneration und scheiterten an der Wirklichkeit, während die kleine Schwester Versöhnung und Ausgleich suchte und oft genug damit an Grenzen stieß, auch an die eigenen.
Marion Brasch ist mit diesem Roman ein bewegender, oft witziger Rückblick auf die Geschichte ihrer Familie gelungen, gleichzeitig erzählt sie ihr eigenes Leben in einem Land, das es heute nicht mehr gibt.
"Meine drei Brüder hatten schon so wichtige Dinge getan, als sie in meinem Alter waren. Sie hatten rebelliert, umihre Träume ins Leben zu holen. Und ich? Keine Leidenschaft für nichts. Stattdessen rief ich in meiner eigenen Wohnung an."
Lese-Probe zu „Ab jetzt ist Ruhe “
Ab jetzt ist Ruhe von Marion BraschPROLOG
Ich war vier Jahre alt, als ich das erste Mal von zu Hause fortlief. Ich kann mich nicht daran erinnern, doch mir wurde diese Geschichte immer wieder und von verschiedenen Seiten auf sehr widersprüchliche Weise kolportiert. Mein Vater erzählte, man habe an jenem Sonntagnachmittag mein Verschwinden erst bemerkt, als der Anruf der Bahnhofsaufsicht gekommen sei. Man habe mich im Süßwarenladen der Bahnhofspassagen Alexanderplatz aufgegriffen, wo ich auf der kostenlosen Herausgabe einer Tüte Schokolinsen bestanden hätte.
Meine Mutter berichtete, sie habe das Kinderbett leer vorgefunden, als sie die Bügelwäsche in den Schrank legen wollte. Glücklicherweise habe es in genau diesem Augenblick an der Tür geklingelt. Es sei die Nachbarin gewesen, die mich weinend und orientierungslos im Bahnhof habe herumirren sehen. Meine Mutter pflegte ihre Erzählung mit allerhand interessanten, wenngleich auch variierenden Details auszuschmücken: Mal trug ich einen Schlafanzug, mal war ich komplett angezogen. Mal hatte ich ein Eis in der Hand, mal war's ein Lutscher. Aber immer stand die Nachbarin aus dem vierten Stock vor der Tür.
Und dann gab es noch die Version meines damals neunjährigen jüngsten Bruders. Er behauptete beleidigt, nicht ich sei abgehauen, sondern er. Und es sei auch kein Süßwarenladen gewesen, sondern ein Tabakgeschäft.
Dies ist eine der Geschichten, die in meiner Familie immer wieder erzählt wurden. Und sie ist wahr - genauso wahr wie alle folgenden Geschichten.
EINS
... mehr
Ich war also vier Jahre alt, als ich das erste Mal von zu Hause fortlief. Ich kann mich daran erinnern, weil meine Mutter mich früher als sonst zum Mittagsschlaf ins Bett schickte. Normalerweise durfte ich sonntags nach dem Essen noch eine halbe Stunde bei den Erwachsenen spielen. Für normale Sonntage wie diesen hatte ich ein wechselndes Arsenal an Spielsachen, das ich in meiner Spieldecke ins Esszimmer zu schleifen und unter dem Esstisch auszubreiten pflegte. An normalen Sonntagen wie diesem saßen meine Eltern und meine beiden größeren Brüder um diesen Tisch. Diesmal war sogar mein dritter und ältester Bruder da, der sich immer seltener blicken ließ.
Er war neunzehn, sah toll aus und trug eine Lederjacke, die unglaublich gut roch und bei jeder seiner Bewegungen knarzte wie ein alter Baum. Je erregter das Gespräch am Tisch wurde, desto schneller und lauter schien auch die Jacke zu sprechen. Ein faszinierender, aber irgendwie auch beunruhigender Vorgang, den ich gebannt verfolgte, bis das Gesicht meiner Mutter unter dem Tisch erschien und mir mit großer Bestimmtheit bedeutete, dass ich diesen Ort ganz schnell in Richtung Kinderzimmer zu verlassen hätte.
Ich ließ mir Zeit. Denn sosehr ich es auch hasste, wenn sie sich stritten - noch mehr hasste ich es, ihnen aus der Verbannung dabei zuhören zu müssen. Doch es nutzte nichts, irgendwann war ich allein in meinem blöden Bett im Kinderzimmer. Allerdings nicht sehr lange, denn bald wurde auch mein jüngster Bruder rausgeschmissen. Er, der mit neun Jahren eigentlich schon lange keinen Mittagsschlaf mehr machen musste. Er, der immer so tat, als würde er die Erwachsenen verstehen. Er, der im Doppelstockbett immer oben schlafen durfte.
Fluchend schmiss er die Kinderzimmertür zu, klärte mich über »die Spießigkeit der Alten« auf und ließ seine Wut mit kindlicher Grausamkeit an meiner Lieblingspuppe aus, indem er ihr mit den Worten »Die sieht doch so viel besser aus!« das Gummigesicht eindrückte. Danach kletterte er in sein Bett und schwieg beleidigt.
An normalen Sonntagen hätte ich nach der Sache mit der Puppe etwas nach ihm geworfen und wäre petzen gegangen. Doch dieser Sonntag war anders. Vielleicht war ich erwachsener geworden, vielleicht fiel auch einfach nur eine Tür zu viel zu - es spielte keine Rolle. Ich wollte weg. Türmen.
Türmen. Das war das Wort, das meine Mutter benutzte, wenn sie von England sprach. »Wir sind getürmt«, sagte sie und erzählte mir irgendwann auch von der Zahnbürste, mit der sie und ihre Schwester in Wien unter Aufsicht der Nazis die Straße putzen mussten. Sie erzählte diese Geschichte beiläufig. Wie eine Episode, die sie normalerweise vergessen hätte. Wie eine Anekdote, an die man sich nur wegen einer Nebensächlichkeit erinnert: eine Zahnbürste, die danach zu nichts mehr zu gebrauchen war.
Ich dachte damals, das sei ein Spiel gewesen: Wer verliert, putzt eben die Straße mit der Zahnbürste, na und? Und Nazis - das Wort klang aus ihrem weichen wienerischen Mund so, als handelte es sich um eine putzige Hunderasse. Doch türmen - das Wort war toll.
Ich stellte mir meine Mutter vor, wie sie sich mit ihren Habseligkeiten verwegen von einem Turm zum nächsten schwang und irgendwann in London ankam. So was wollte ich auch versuchen. Doch die Zeit schien einfach noch nicht reif, und es gab in meiner Gegend auch irgendwie nicht genügend Türme. Deshalb kam ich nur bis zum Bahnhof Alexanderplatz.
Den Weg dorthin hätte ich mit geschlossenen Augen gehen können. Das hatte ich oft an der Hand meines Vaters geübt, wenn er mich am Wochenende zum Zigarettenholen mitnahm. Wir hatten einen Geheimcode. Einmal die Hand drücken: Bürgersteig runter, zweimal die Hand drücken: Bürgersteig rauf. Anfangs blinzelte ich noch manchmal, irgendwann nicht mehr. Ich öffnete die Augen erst, wenn ich den Laden roch, in dem mein Vater sich Zigaretten und mir Süßigkeiten kaufte. Das Geschäft duftete nach Tabak und Kaffee. Ich mochte diesen Duft, konnte ihn aber nicht genießen, weil die Verkäuferin eine fette Idiotin war. Sie behandelte mich, als sei sie mit mir verwandt, und tätschelte mit ihren dicken Wurstfingern mein Kinn, als wollte sie es mir bei nächster Gelegenheit klauen, weil sie selbst keins mehr hatte. Das alles hätte ich leicht ertragen, wäre sie nicht so scharf auf meinen Vater gewesen: »Na, Herr Stellvertretender Minister?«, pflegte sie zu schleimen. »Die Guten, wie immer?« Mein Vater nickte. »Und für die Kleine: Schokolinsen!«, schrie sie, als sei ich begriffsstutzig oder taub. Ich hasste die Dicke. Und sie war immer da. Vielleicht war sie zu fett, um diesen Ort zu verlassen. Vielleicht war sie so fett wie der dicke Herr Bell, von dem mein ältester Bruder mir mal erzählt hatte.
Der dicke Herr Bell war irgendwann so dick, dass er nicht mehr durch seine Wohnungstür passte. Er saß den ganzen Tag auf dem Teppich und wartete auf seine Nachbarin, die ihm etwas zu essen brachte. Der dicke Herr Bell wurde immer trauriger, weil er gar nicht mehr wusste, was in der Welt passierte. Doch irgendwann kam ihm eine Idee.
Er bat seine Nachbarin, ihm einen langen Draht, dünnes Blech, einen Hammer und zwei Zangen zu besorgen. Jetzt hat er den Verstand verloren, dachte die Nachbarin. Doch sie brachte ihm, was er wollte. Und der dicke Herr Bell erfand das Telefon und wurde irgendwann wieder fröhlich, weil er Leute anrufen konnte, die ihm erzählten, was in der Welt passierte.
Die dicke Frau im Tabakladen war nicht fröhlich. Sie war nur fett und laut. Auch als sie mich an diesem Sonntagnachmittag durch die Schlange erspähte und meine Pläne durchkreuzte. Sie stemmte ihre Oberschenkelarme in die Hüfte und schrie: »Na, was macht denn die kleine Motte hier?! Wo ist denn der Vati?!« Das Wort »Vati« erreichte nur noch durch den Hall der Bahnhofspassage mein Ohr, wo ich der Nachbarin aus dem vierten Stock in die Arme lief.
»Was machst du denn hier so ganz allein?«
»Ich bin getürmt«, erklärte ich.
»Soso«, sagte sie, kaufte mir ein Eis und brachte mich nach Hause. Meine Mutter war kreidebleich, als sie die Tür öffnete. Sie bedankte sich kleinlaut bei der Nachbarin und zog mich in die Wohnung.
»Was hast du dir dabei gedacht?«
»Ich bin getürmt. Genau wie du!«
»Unser Schwesterchen ist getürmt«, feixte mein mittlerer Bruder, der plötzlich hinter ihr stand. »Alle wollen es, und sie macht's einfach.« Er war vierzehn, und ich sah ihn nur am Wochenende, wenn er aus dem Internat nach Hause kam.
Meine Mutter fuhr herum. »Geh sofort in dein Zimmer, wir sprechen uns noch!«, herrschte sie ihn an.
»Wir sprechen uns noch«, äffte mein Bruder sie nach und verschwand in seinem Zimmer. Meine Mutter schimpfte mit mir, und ich musste ihr versprechen, dass ich so etwas nie wieder tun würde.
»Bilde dir bloß nichts drauf ein!«, sagte mein jüngster Bruder, als wir abends im Bett lagen. »Ich bin schon abgehauen, da lagst du noch als Quark im Schaufenster.«
» Gar nicht.«
»Du hast doch überhaupt keine Ahnung.«
»Und du bist doof.«
»Schnauze.«
»Selber.«
Meine Mutter kam herein.
»Schluss jetzt«, sagte sie streng und zog die Vorhänge zu. Sie kam an unser Bett, küsste uns, und wir sagten unseren Gutenachtspruch auf, jeder immer ein Wort.
Ab - jetzt - ist - Ruhe.
Dann machte sie das Licht aus und ging.
Wenn es nach meinem ältesten Bruder ging, war jenem spektakulären Fluchtversuch bereits ein anderer vorausgegangen. Damals war ich zehn Monate alt und er sechzehn Jahre. Wir bewohnten ein Haus am Stadtrand und verfügten sowohl über einen Hund namens Fred als auch über eine ältliche Haushälterin mit Überbiss: Agnes.
Es war ein gewöhnlicher Vormittag im Sommer. Meine Eltern arbeiteten, meine beiden jüngeren Brüder waren im Kindergarten und in der Schule. Ich war mit meinem ältesten Bruder, Hund Fred und Agnes allein. Agnes rauchte in der Küche, mein Bruder war in seinem Zimmer, Fred lungerte im Garten herum, und ich spielte auf dem Wohnzimmerteppich.
Ob aus Langeweile oder Neugier - unbeobachtet und mit nicht mehr als ein paar lässig um die Hüften geschwungenen Stoffwindeln kroch ich irgendwann aus dem Haus, durch den Garten und auf die Straße. Der Hund entdeckte mich, rannte mir hinterher, trug mich an den Windeln im Maul zurück und legte mich schweigend in den Flur, worauf ich in gellendes Geschrei ausbrach. Mein ältester Bruder stürzte aus seinem Zimmer, setzte mich ins Laufgitter, rief nach der nutzlos in der Küche rauchenden Agnes und knallte ihr eine. Agnes wurde noch am selben Tag gefeuert, und auch der Hund muss kurz darauf gestorben sein, denn ich kann mich beim besten Willen an kein Hundegesicht erinnern. Wir verließen das Haus am Stadtrand und zogen in eine Neubauwohnung am Alexanderplatz.
Von da an ging ich in die Wochenkrippe - eine fabelhafte Einrichtung: Montagfrüh wurde man frisch gewindelt abgegeben und Freitagabend im gleichen Zustand wieder abgeholt. Dazwischen galt meine ganze Aufmerksamkeit vermutlich der Aufnahme und dem Ausscheiden von Nahrung.
Auf die Wochenkrippe folgte der Kindergarten. Und für den Kindergarten hatte ich einen Fahrer, der mich dorthin brachte, nachdem er meinen Vater bei der Arbeit abgesetzt hatte. Das Auto war ein schwarz glänzender Tatra, und der Fahrer hieß Herr Wolf. Herr Wolf war ein großer, breitschultriger Mann und hatte immer nasse Haare, die er an jeder roten Ampel mit einem braunen Kamm akkurat nach hinten kämmte, so dass sie am Hinterkopf eine Art Scheitel bildeten.
Herr Wolf brachte mich zu der kleinen pudelköpfigen Tante Ritter und der strengen, hässlich bebrillten Tante Liebig. Die beiden ergänzten sich vortrefflich. Was das weiche Herz der einen durchgehen ließ, rückte die andere mit mahnender Stimme und fester Hand wieder zurecht.
Einmal gab es zum Mittag Sülze, also Fleischfetzen mit Fettaugen in Aspik. Tante Ritter ging um den Tisch herum und versuchte uns das eklige Essen irgendwie schmackhaft zu machen. »Guck mal, das da hat ein Gesicht, es lacht dich an. Es will gegessen werden, mmmh. « Die meisten machten gute Miene zum bösen Spiel und schoben sich den Fraß in homöopathischen Dosen irgendwie rein. Wenn Tante Liebig hingegen ihre Runde drehte, waren große Gabeln angesagt. Auch bei mir. Sie beugte sich mit ihren schweren Brüsten über meine Schulter und zeigte mit noch schwererem Finger auf meinen jungfräulichen Teller: »Was ist denn das? Da liegt ja noch alles drauf! Jetzt aber ganz schnell weg damit!« Sie griff nach dem unberührten Besteck, spießte ein großes Stück des fleischfarbenen Glibbers auf und hielt es mir vor die Nase. Nicht sehr lange, weil ich kotzen musste und damit das eklige Zeug auf meinem Teller endgültig ungenießbar machte.
Ebenso ungern erinnere ich mich an die Faschingsfeiern im Kindergarten. Während die anderen jedes Jahr in neuer Gestalt erschienen, war ich das Blumenmädchen, und zwar immer: Sommerkleid, Kopftuch und ein kleines Körbchen mit Kunstblumen. Einmal gab mir meine Mutter ein rotes Kopftuch und legte in das Körbchen eine leere Rotweinflasche und zwei Stücke Marmorkuchen: Rotkäppchen - es war demütigend.
Für den letzten Fasching im Kindergarten wollte ich das Blatt wenden. Und Oma Potsdam sollte mir dabei helfen. Sie war die Mutter meines Vaters, und wir nannten sie Oma Potsdam, um sie von Oma London zu unterscheiden.
Oma Potsdam ging mit mir in einen Laden, wie ich ihn vorher und auch nachher nie wieder gesehen habe. Von außen ein Geschäft für »Textilien und Kurzwaren«, drinnen eine bunte Wunderhöhle, vollgestopft mit Farben. Es konnten sich höchstens zwei oder drei Kunden gleichzeitig darin aufhalten, so eng war es dort. Die Tische bogen sich unter der Last großer, vielfarbiger und glänzender Stoffballen, in den Regalen türmten sich Garnrollen und Wollknäuel, von der Decke hingen lange bunte Bänder in allen Materialien und mit verschiedensten Mustern. Es gab große Holztruhen mit Tausenden Stoffresten und Kisten voller Knöpfe, Pailletten und Strass.
Die Besitzerin des Ladens hieß Eva, meine Oma duzte sie. Eva war ungefähr vierzig und unglaublich schön. Sie hatte feuerrotes lockiges Haar und graue Augen, deren Lider halb geschlossen waren, so dass sie immer irgendwie müde aussah. Meine Oma nannte es »Schlafzimmerblick«. Dass dieses Wort eine andere Bedeutung hatte, als ich ihm gab, lernte ich erst später. Auch erzählte sie mir irgendwann, dass Evas rotes Haar gar nicht echt sei und sie eigentlich das mittelblonde glatte Haar ihres Vaters habe - eines asthmatischen Bäckermeisters, bei dem ich immer unsere Brötchen holte.
Wir zwängten uns durch Evas Laden und suchten aus, was man für eine morgenländische Prinzessin brauchte. Eva nahm meine Maße und bestellte uns für den nächsten Tag in ihre Wohnung, deren Wände mit Stoffen tapeziert und mit Bildern geschmückt waren, die nur ein einziges Motiv hatten: Eva.
Eva schneiderte mir einen paillettenbesetzten Traum aus dunkelblauer Kunstseide, mit Schleier und langer Schleppe. Die Lebenszeit dieses Traumes betrug exakt zwei Stunden und endete im Hausflur meiner Oma als rußiges Nichts mit zerrissener Schleppe, einem verstauchten Knöchel und schlimmen Tränen. Völlig unbemerkt hatte sich die Prinzessin aus der Wohnung geschlichen, um ihre Großmutter mit einem Eimer Kohlen aus dem Keller zu überraschen. Scheherazade sollte den Hinterhof in Potsdam niemals verlassen.
Ich liebte es, zu Oma Potsdam zu fahren. Ich durfte aufbleiben, so lange ich wollte, ich durfte Westfernsehen gucken und dabei meiner Oma Zigaretten drehen. Sie besaß eine silberne Tabakdose und eine Zigarettenspitze aus Elfenbein, an der sie elegant wie ein Filmstar zog, während sie mir Geschichten von früher erzählte. Geschichten aus einer Welt, die mit der, in der sie jetzt lebte, nicht das Geringste gemein hatte. Es war die Welt einer wohlhabenden jüdischen Fabrikantenfamilie, die aus einem Kaff bei Breslau nach Berlin gekommen war. Ihr Vater war eines von acht Kindern, hatte einen Zwillingsbruder und starb mit nur einundfünfzig Jahren. »An gebrochenem Herzen«, wie meine Oma immer wieder seufzend und nicht ohne eine gewisse Dramatik betonte. Über ihre strenge Mutter sprach sie kaum.
Sie zeigte mir Fotos von ihrem Bruder, der im Ersten Weltkrieg in die afrikanischen Kolonien ging und dort an Gelbfieber starb. Sie zeigte mir ihre schöne Schwester - eine Sängerin und Tänzerin, die von den Frauen hochrangiger Nazis protegiert wurde, bis man sie dann doch nicht mehr so toll fand und nach Theresienstadt deportierte.
Sie erzählte mir von ihren drei Ehemännern, von denen einer schlimmer gewesen sei als der andere. »Sie haben mich alle betrogen«, seufzte meine Oma. »Aber sie sahen blendend aus!«
Sie zeigte mir das Foto eines jungen Mannes, der meinem Vater zum Verwechseln ähnlich sah. Er trug die Uniform eines Offiziers im Ersten Weltkrieg und lächelte charmant in die Kamera. »Ein schöner Nichtsnutz, ein Schürzenjäger. Er ist leider wahnsinnig geworden.« Bevor das geschah, ließ sie sich von ihm scheiden, um kurz darauf einen Filmkritiker zu heiraten, der ihr das Berlin der zwanziger Jahre zu Füßen legte. Allerdings nur so lange, bis er die Füße anderer Frauen verlockender fand.
Ich war also vier Jahre alt, als ich das erste Mal von zu Hause fortlief. Ich kann mich daran erinnern, weil meine Mutter mich früher als sonst zum Mittagsschlaf ins Bett schickte. Normalerweise durfte ich sonntags nach dem Essen noch eine halbe Stunde bei den Erwachsenen spielen. Für normale Sonntage wie diesen hatte ich ein wechselndes Arsenal an Spielsachen, das ich in meiner Spieldecke ins Esszimmer zu schleifen und unter dem Esstisch auszubreiten pflegte. An normalen Sonntagen wie diesem saßen meine Eltern und meine beiden größeren Brüder um diesen Tisch. Diesmal war sogar mein dritter und ältester Bruder da, der sich immer seltener blicken ließ.
Er war neunzehn, sah toll aus und trug eine Lederjacke, die unglaublich gut roch und bei jeder seiner Bewegungen knarzte wie ein alter Baum. Je erregter das Gespräch am Tisch wurde, desto schneller und lauter schien auch die Jacke zu sprechen. Ein faszinierender, aber irgendwie auch beunruhigender Vorgang, den ich gebannt verfolgte, bis das Gesicht meiner Mutter unter dem Tisch erschien und mir mit großer Bestimmtheit bedeutete, dass ich diesen Ort ganz schnell in Richtung Kinderzimmer zu verlassen hätte.
Ich ließ mir Zeit. Denn sosehr ich es auch hasste, wenn sie sich stritten - noch mehr hasste ich es, ihnen aus der Verbannung dabei zuhören zu müssen. Doch es nutzte nichts, irgendwann war ich allein in meinem blöden Bett im Kinderzimmer. Allerdings nicht sehr lange, denn bald wurde auch mein jüngster Bruder rausgeschmissen. Er, der mit neun Jahren eigentlich schon lange keinen Mittagsschlaf mehr machen musste. Er, der immer so tat, als würde er die Erwachsenen verstehen. Er, der im Doppelstockbett immer oben schlafen durfte.
Fluchend schmiss er die Kinderzimmertür zu, klärte mich über »die Spießigkeit der Alten« auf und ließ seine Wut mit kindlicher Grausamkeit an meiner Lieblingspuppe aus, indem er ihr mit den Worten »Die sieht doch so viel besser aus!« das Gummigesicht eindrückte. Danach kletterte er in sein Bett und schwieg beleidigt.
An normalen Sonntagen hätte ich nach der Sache mit der Puppe etwas nach ihm geworfen und wäre petzen gegangen. Doch dieser Sonntag war anders. Vielleicht war ich erwachsener geworden, vielleicht fiel auch einfach nur eine Tür zu viel zu - es spielte keine Rolle. Ich wollte weg. Türmen.
Türmen. Das war das Wort, das meine Mutter benutzte, wenn sie von England sprach. »Wir sind getürmt«, sagte sie und erzählte mir irgendwann auch von der Zahnbürste, mit der sie und ihre Schwester in Wien unter Aufsicht der Nazis die Straße putzen mussten. Sie erzählte diese Geschichte beiläufig. Wie eine Episode, die sie normalerweise vergessen hätte. Wie eine Anekdote, an die man sich nur wegen einer Nebensächlichkeit erinnert: eine Zahnbürste, die danach zu nichts mehr zu gebrauchen war.
Ich dachte damals, das sei ein Spiel gewesen: Wer verliert, putzt eben die Straße mit der Zahnbürste, na und? Und Nazis - das Wort klang aus ihrem weichen wienerischen Mund so, als handelte es sich um eine putzige Hunderasse. Doch türmen - das Wort war toll.
Ich stellte mir meine Mutter vor, wie sie sich mit ihren Habseligkeiten verwegen von einem Turm zum nächsten schwang und irgendwann in London ankam. So was wollte ich auch versuchen. Doch die Zeit schien einfach noch nicht reif, und es gab in meiner Gegend auch irgendwie nicht genügend Türme. Deshalb kam ich nur bis zum Bahnhof Alexanderplatz.
Den Weg dorthin hätte ich mit geschlossenen Augen gehen können. Das hatte ich oft an der Hand meines Vaters geübt, wenn er mich am Wochenende zum Zigarettenholen mitnahm. Wir hatten einen Geheimcode. Einmal die Hand drücken: Bürgersteig runter, zweimal die Hand drücken: Bürgersteig rauf. Anfangs blinzelte ich noch manchmal, irgendwann nicht mehr. Ich öffnete die Augen erst, wenn ich den Laden roch, in dem mein Vater sich Zigaretten und mir Süßigkeiten kaufte. Das Geschäft duftete nach Tabak und Kaffee. Ich mochte diesen Duft, konnte ihn aber nicht genießen, weil die Verkäuferin eine fette Idiotin war. Sie behandelte mich, als sei sie mit mir verwandt, und tätschelte mit ihren dicken Wurstfingern mein Kinn, als wollte sie es mir bei nächster Gelegenheit klauen, weil sie selbst keins mehr hatte. Das alles hätte ich leicht ertragen, wäre sie nicht so scharf auf meinen Vater gewesen: »Na, Herr Stellvertretender Minister?«, pflegte sie zu schleimen. »Die Guten, wie immer?« Mein Vater nickte. »Und für die Kleine: Schokolinsen!«, schrie sie, als sei ich begriffsstutzig oder taub. Ich hasste die Dicke. Und sie war immer da. Vielleicht war sie zu fett, um diesen Ort zu verlassen. Vielleicht war sie so fett wie der dicke Herr Bell, von dem mein ältester Bruder mir mal erzählt hatte.
Der dicke Herr Bell war irgendwann so dick, dass er nicht mehr durch seine Wohnungstür passte. Er saß den ganzen Tag auf dem Teppich und wartete auf seine Nachbarin, die ihm etwas zu essen brachte. Der dicke Herr Bell wurde immer trauriger, weil er gar nicht mehr wusste, was in der Welt passierte. Doch irgendwann kam ihm eine Idee.
Er bat seine Nachbarin, ihm einen langen Draht, dünnes Blech, einen Hammer und zwei Zangen zu besorgen. Jetzt hat er den Verstand verloren, dachte die Nachbarin. Doch sie brachte ihm, was er wollte. Und der dicke Herr Bell erfand das Telefon und wurde irgendwann wieder fröhlich, weil er Leute anrufen konnte, die ihm erzählten, was in der Welt passierte.
Die dicke Frau im Tabakladen war nicht fröhlich. Sie war nur fett und laut. Auch als sie mich an diesem Sonntagnachmittag durch die Schlange erspähte und meine Pläne durchkreuzte. Sie stemmte ihre Oberschenkelarme in die Hüfte und schrie: »Na, was macht denn die kleine Motte hier?! Wo ist denn der Vati?!« Das Wort »Vati« erreichte nur noch durch den Hall der Bahnhofspassage mein Ohr, wo ich der Nachbarin aus dem vierten Stock in die Arme lief.
»Was machst du denn hier so ganz allein?«
»Ich bin getürmt«, erklärte ich.
»Soso«, sagte sie, kaufte mir ein Eis und brachte mich nach Hause. Meine Mutter war kreidebleich, als sie die Tür öffnete. Sie bedankte sich kleinlaut bei der Nachbarin und zog mich in die Wohnung.
»Was hast du dir dabei gedacht?«
»Ich bin getürmt. Genau wie du!«
»Unser Schwesterchen ist getürmt«, feixte mein mittlerer Bruder, der plötzlich hinter ihr stand. »Alle wollen es, und sie macht's einfach.« Er war vierzehn, und ich sah ihn nur am Wochenende, wenn er aus dem Internat nach Hause kam.
Meine Mutter fuhr herum. »Geh sofort in dein Zimmer, wir sprechen uns noch!«, herrschte sie ihn an.
»Wir sprechen uns noch«, äffte mein Bruder sie nach und verschwand in seinem Zimmer. Meine Mutter schimpfte mit mir, und ich musste ihr versprechen, dass ich so etwas nie wieder tun würde.
»Bilde dir bloß nichts drauf ein!«, sagte mein jüngster Bruder, als wir abends im Bett lagen. »Ich bin schon abgehauen, da lagst du noch als Quark im Schaufenster.«
» Gar nicht.«
»Du hast doch überhaupt keine Ahnung.«
»Und du bist doof.«
»Schnauze.«
»Selber.«
Meine Mutter kam herein.
»Schluss jetzt«, sagte sie streng und zog die Vorhänge zu. Sie kam an unser Bett, küsste uns, und wir sagten unseren Gutenachtspruch auf, jeder immer ein Wort.
Ab - jetzt - ist - Ruhe.
Dann machte sie das Licht aus und ging.
Wenn es nach meinem ältesten Bruder ging, war jenem spektakulären Fluchtversuch bereits ein anderer vorausgegangen. Damals war ich zehn Monate alt und er sechzehn Jahre. Wir bewohnten ein Haus am Stadtrand und verfügten sowohl über einen Hund namens Fred als auch über eine ältliche Haushälterin mit Überbiss: Agnes.
Es war ein gewöhnlicher Vormittag im Sommer. Meine Eltern arbeiteten, meine beiden jüngeren Brüder waren im Kindergarten und in der Schule. Ich war mit meinem ältesten Bruder, Hund Fred und Agnes allein. Agnes rauchte in der Küche, mein Bruder war in seinem Zimmer, Fred lungerte im Garten herum, und ich spielte auf dem Wohnzimmerteppich.
Ob aus Langeweile oder Neugier - unbeobachtet und mit nicht mehr als ein paar lässig um die Hüften geschwungenen Stoffwindeln kroch ich irgendwann aus dem Haus, durch den Garten und auf die Straße. Der Hund entdeckte mich, rannte mir hinterher, trug mich an den Windeln im Maul zurück und legte mich schweigend in den Flur, worauf ich in gellendes Geschrei ausbrach. Mein ältester Bruder stürzte aus seinem Zimmer, setzte mich ins Laufgitter, rief nach der nutzlos in der Küche rauchenden Agnes und knallte ihr eine. Agnes wurde noch am selben Tag gefeuert, und auch der Hund muss kurz darauf gestorben sein, denn ich kann mich beim besten Willen an kein Hundegesicht erinnern. Wir verließen das Haus am Stadtrand und zogen in eine Neubauwohnung am Alexanderplatz.
Von da an ging ich in die Wochenkrippe - eine fabelhafte Einrichtung: Montagfrüh wurde man frisch gewindelt abgegeben und Freitagabend im gleichen Zustand wieder abgeholt. Dazwischen galt meine ganze Aufmerksamkeit vermutlich der Aufnahme und dem Ausscheiden von Nahrung.
Auf die Wochenkrippe folgte der Kindergarten. Und für den Kindergarten hatte ich einen Fahrer, der mich dorthin brachte, nachdem er meinen Vater bei der Arbeit abgesetzt hatte. Das Auto war ein schwarz glänzender Tatra, und der Fahrer hieß Herr Wolf. Herr Wolf war ein großer, breitschultriger Mann und hatte immer nasse Haare, die er an jeder roten Ampel mit einem braunen Kamm akkurat nach hinten kämmte, so dass sie am Hinterkopf eine Art Scheitel bildeten.
Herr Wolf brachte mich zu der kleinen pudelköpfigen Tante Ritter und der strengen, hässlich bebrillten Tante Liebig. Die beiden ergänzten sich vortrefflich. Was das weiche Herz der einen durchgehen ließ, rückte die andere mit mahnender Stimme und fester Hand wieder zurecht.
Einmal gab es zum Mittag Sülze, also Fleischfetzen mit Fettaugen in Aspik. Tante Ritter ging um den Tisch herum und versuchte uns das eklige Essen irgendwie schmackhaft zu machen. »Guck mal, das da hat ein Gesicht, es lacht dich an. Es will gegessen werden, mmmh. « Die meisten machten gute Miene zum bösen Spiel und schoben sich den Fraß in homöopathischen Dosen irgendwie rein. Wenn Tante Liebig hingegen ihre Runde drehte, waren große Gabeln angesagt. Auch bei mir. Sie beugte sich mit ihren schweren Brüsten über meine Schulter und zeigte mit noch schwererem Finger auf meinen jungfräulichen Teller: »Was ist denn das? Da liegt ja noch alles drauf! Jetzt aber ganz schnell weg damit!« Sie griff nach dem unberührten Besteck, spießte ein großes Stück des fleischfarbenen Glibbers auf und hielt es mir vor die Nase. Nicht sehr lange, weil ich kotzen musste und damit das eklige Zeug auf meinem Teller endgültig ungenießbar machte.
Ebenso ungern erinnere ich mich an die Faschingsfeiern im Kindergarten. Während die anderen jedes Jahr in neuer Gestalt erschienen, war ich das Blumenmädchen, und zwar immer: Sommerkleid, Kopftuch und ein kleines Körbchen mit Kunstblumen. Einmal gab mir meine Mutter ein rotes Kopftuch und legte in das Körbchen eine leere Rotweinflasche und zwei Stücke Marmorkuchen: Rotkäppchen - es war demütigend.
Für den letzten Fasching im Kindergarten wollte ich das Blatt wenden. Und Oma Potsdam sollte mir dabei helfen. Sie war die Mutter meines Vaters, und wir nannten sie Oma Potsdam, um sie von Oma London zu unterscheiden.
Oma Potsdam ging mit mir in einen Laden, wie ich ihn vorher und auch nachher nie wieder gesehen habe. Von außen ein Geschäft für »Textilien und Kurzwaren«, drinnen eine bunte Wunderhöhle, vollgestopft mit Farben. Es konnten sich höchstens zwei oder drei Kunden gleichzeitig darin aufhalten, so eng war es dort. Die Tische bogen sich unter der Last großer, vielfarbiger und glänzender Stoffballen, in den Regalen türmten sich Garnrollen und Wollknäuel, von der Decke hingen lange bunte Bänder in allen Materialien und mit verschiedensten Mustern. Es gab große Holztruhen mit Tausenden Stoffresten und Kisten voller Knöpfe, Pailletten und Strass.
Die Besitzerin des Ladens hieß Eva, meine Oma duzte sie. Eva war ungefähr vierzig und unglaublich schön. Sie hatte feuerrotes lockiges Haar und graue Augen, deren Lider halb geschlossen waren, so dass sie immer irgendwie müde aussah. Meine Oma nannte es »Schlafzimmerblick«. Dass dieses Wort eine andere Bedeutung hatte, als ich ihm gab, lernte ich erst später. Auch erzählte sie mir irgendwann, dass Evas rotes Haar gar nicht echt sei und sie eigentlich das mittelblonde glatte Haar ihres Vaters habe - eines asthmatischen Bäckermeisters, bei dem ich immer unsere Brötchen holte.
Wir zwängten uns durch Evas Laden und suchten aus, was man für eine morgenländische Prinzessin brauchte. Eva nahm meine Maße und bestellte uns für den nächsten Tag in ihre Wohnung, deren Wände mit Stoffen tapeziert und mit Bildern geschmückt waren, die nur ein einziges Motiv hatten: Eva.
Eva schneiderte mir einen paillettenbesetzten Traum aus dunkelblauer Kunstseide, mit Schleier und langer Schleppe. Die Lebenszeit dieses Traumes betrug exakt zwei Stunden und endete im Hausflur meiner Oma als rußiges Nichts mit zerrissener Schleppe, einem verstauchten Knöchel und schlimmen Tränen. Völlig unbemerkt hatte sich die Prinzessin aus der Wohnung geschlichen, um ihre Großmutter mit einem Eimer Kohlen aus dem Keller zu überraschen. Scheherazade sollte den Hinterhof in Potsdam niemals verlassen.
Ich liebte es, zu Oma Potsdam zu fahren. Ich durfte aufbleiben, so lange ich wollte, ich durfte Westfernsehen gucken und dabei meiner Oma Zigaretten drehen. Sie besaß eine silberne Tabakdose und eine Zigarettenspitze aus Elfenbein, an der sie elegant wie ein Filmstar zog, während sie mir Geschichten von früher erzählte. Geschichten aus einer Welt, die mit der, in der sie jetzt lebte, nicht das Geringste gemein hatte. Es war die Welt einer wohlhabenden jüdischen Fabrikantenfamilie, die aus einem Kaff bei Breslau nach Berlin gekommen war. Ihr Vater war eines von acht Kindern, hatte einen Zwillingsbruder und starb mit nur einundfünfzig Jahren. »An gebrochenem Herzen«, wie meine Oma immer wieder seufzend und nicht ohne eine gewisse Dramatik betonte. Über ihre strenge Mutter sprach sie kaum.
Sie zeigte mir Fotos von ihrem Bruder, der im Ersten Weltkrieg in die afrikanischen Kolonien ging und dort an Gelbfieber starb. Sie zeigte mir ihre schöne Schwester - eine Sängerin und Tänzerin, die von den Frauen hochrangiger Nazis protegiert wurde, bis man sie dann doch nicht mehr so toll fand und nach Theresienstadt deportierte.
Sie erzählte mir von ihren drei Ehemännern, von denen einer schlimmer gewesen sei als der andere. »Sie haben mich alle betrogen«, seufzte meine Oma. »Aber sie sahen blendend aus!«
Sie zeigte mir das Foto eines jungen Mannes, der meinem Vater zum Verwechseln ähnlich sah. Er trug die Uniform eines Offiziers im Ersten Weltkrieg und lächelte charmant in die Kamera. »Ein schöner Nichtsnutz, ein Schürzenjäger. Er ist leider wahnsinnig geworden.« Bevor das geschah, ließ sie sich von ihm scheiden, um kurz darauf einen Filmkritiker zu heiraten, der ihr das Berlin der zwanziger Jahre zu Füßen legte. Allerdings nur so lange, bis er die Füße anderer Frauen verlockender fand.
... weniger
Autoren-Porträt von Marion Brasch
Marion Brasch, geb. 1961 in Berlin. Nach dem Abitur arbeitete die gelernte Schriftsetzerin in einer Druckerei, bei verschiedenen Verlagen und beim Komponistenverband der DDR. 1987 begann sie als Musikredakteurin beim Jugendsender DT64 und ist heute als freie Rundfunkjournalistin und -moderatorin bei radioeins (RBB) tätig.
Autoren-Interview mit Marion Brasch
Interview mit Marion BraschWarum haben Sie das Buch geschrieben, warum haben Sie es jetzt geschrieben, warum haben Sie so lange gezögert?
Marion Brasch: Ich hatte Lust dazu. Eigentlich hatte ich schon lange Lust dazu, aber ich war nicht davon überzeugt, dass ich es schaffen würde. Ein Buch, dann noch das allererste, und dann noch über meine Familie - das schien mir ganz schön heftig. Doch es gab immer wieder Freunde, die mich ermutigt haben. Aber vor allem war es meine Tochter, die den Ausschlag gab. Ihr wollte ich die Geschichte erzählen.
Sie haben einen ganz außergewöhnlichen Familienroman über eine besondere Familie geschrieben. Können Sie uns kurz erzählen, wer Ihre Familie war?
Marion Brasch: Meine Eltern mussten wegen ihrer jüdischen Herkunft 1938 vor den Nazis fliehen. Meine Mutter kam aus Wien, mein Vater aus Deutschland - sie haben sich in London kennengelernt und dort geheiratet. Mein ältester Bruder Thomas wurde 1945 noch in England geboren, bevor meine Eltern mit ihm in den Ostteil Deutschlands zurückkehrten, um später dort die DDR mit aufzubauen. Mein Vater hatte in England die FDJ mitbegründet und übernahm dann führende Positionen in der SED. Meine Mutter war Journalistin. Meine drei älteren Brüder waren sehr talentiert, zwei waren Schriftsteller und einer Schauspieler.
Spielt Ihre jüdische Herkunft eine Rolle für Sie?
Marion Brasch: Nein, überhaupt nicht. Es hat auch in unserer Familie kaum eine Rolle gespielt. Ich habe mich mal eine zeitlang mehr dafür interessiert, weil ich es exotisch fand, jüdischer Herkunft zu sein. Doch irgendwann fand ich dann wieder andere Sachen interessanter.
... mehr
Ein Leben mit hochbegabten aber auch selbstzerstörerischen Brüdern und einem Vater in der Politik. Wie war es, in einer solchen Familie groß zu werden? Wie ist es heute damit zu leben?
Marion Brasch: Ich kenne nur diese Familie, deshalb war es für mich ganz normal, in und mit ihr groß zu werden. Ich habe die Leute in dieser Familie nie als etwas besonderes empfunden und fand auch keine großen Unterschiede zu anderen Familien - es gab Alltag, es gab Normalität, es gab Streit. Welche Risse und existentiellen Brüche es tatsächlich gab, habe ich erst nach und nach gesehen und verstanden, und die Ursachen dafür auch.
Auf Ihrem Buch steht Roman. Warum nicht Autobiographie?
Marion Brasch: Für eine Autobiographie fühle ich mich noch nicht alt und auch nicht interessant genug. Zudem hätte ich mich, um dieser Familie gerecht zu werden, von meinem eigenen, ganz subjektiven Blick entfernen müssen, und das wollte ich nicht. Eine Familienbiographie hätte ich auch nicht schreiben können, weil das umfangreiches Faktenwissen voraussetzt. Ich hätte mich in Archive und Bibliotheken setzen müssen, und dazu hatte ich keine Lust. Der Roman hat mir die Möglichkeit gegeben, Fakten und Fiktion zu mischen und dabei auch mal rumzuspinnen. Das hat Spaß gemacht.
Ist dieses Buch ein Abschied von Ihrer Familie, oder haben Sie sie dadurch zurückerobert?
Marion Brasch: Letzteres. Ich sehe meine Familie jetzt klarer und verstehe auch sehr viel besser, warum bestimmte Dinge passiert sind oder zum Teil sogar passieren mussten. Und ich ahne, dass das Zerfallen und Verschwinden dieser Familie auch sehr viel mit der Geschichte und dem Verschwinden des Landes zu tun hat, in dem sie verwurzelt war - der DDR.
Der größte Teil der Handlung findet in Ostberlin statt. Was bedeutet Ihnen diese Stadt?
Marion Brasch: Ich wurde in Ostberlin geboren und habe hier fast mein ganzes Leben verbracht - die Stadt ist mein Zuhause. Das ist sie auch geblieben, als ich mit meiner Familie in den siebziger Jahren für vier Jahre nach Karl-Marx-Stadt ziehen musste, weil mein Vater dorthin versetzt wurde. Ich hänge sehr an Berlin, auch wenn sich die Stadt teilweise schon so verändert hat, dass ich sie kaum wiedererkenne... Trotzdem, ich würde nirgendwo anders leben wollen.
Sie erzählen, wie Sie nach und nach Ihre Familie verlieren. Trotz dieser Schicksalsschläge haben Sie ein heiteres Buch geschrieben. Warum?
Marion Brasch: Vielleicht liegt das daran, dass ich selbst nicht so gern Geschichten lese, die schicksalsschwer und bleiern sind. Natürlich ist in und mit meiner Familie viel Trauriges passiert, doch es gab auch die andere Seite. Ich habe das Leben in dieser Familie trotz der großen Schwierigkeiten und Erschütterungen nie als schwer oder dramatisch empfunden, im Gegenteil - ich hatte jede Menge Spaß. Und davon wollte ich auch erzählen.
In Ihrem Buch treten Bands auf, oft wird Musik gehört. Spielt Musik eine wichtige Rolle für Sie?
Marion Brasch: Auf jeden Fall. Ich glaube, das habe ich auch meinen Brüdern zu verdanken. Durch sie habe ich schon ganz früh Jimi Hendrix, die Doors oder Bob Dylan gehört - das fand ich toll. Später bin ich dann zur Musikschule gegangen, habe Gitarre gelernt, Gesangsunterricht genommen und dann sogar in einer Band gespielt. Nichts besonderes, aber es hat Spaß gemacht. Aber ich glaube, ich war immer besser im Musikhören als im Musikmachen.
Der Titel „Ab jetzt ist Ruhe" - was bedeutet er?
Marion Brasch: Das war ein Ritual, mit dem meine Mutter uns ins Bett gebracht hat. Sie stand am Doppelstockbett und wir mussten immer abwechselnd die Worte sagen: Ab - jetzt - ist - Ruhe. Dann hat sie uns geküsst und das Licht ausgemacht.
Könnten Sie sich vorstellen, nach diesem Familienroman weitere Bücher zu schreiben?
Marion Brasch: Das würde ich sehr gern. Bei diesem Buch habe ich mich ja zum großen Teil an die Wahrheit gehalten. Doch ich hätte Lust, mal was zu schreiben, wo ich lügen darf, dass sich die Balken biegen. Alles ausgedacht. Das wäre schön.
Marion Brasch: Ich kenne nur diese Familie, deshalb war es für mich ganz normal, in und mit ihr groß zu werden. Ich habe die Leute in dieser Familie nie als etwas besonderes empfunden und fand auch keine großen Unterschiede zu anderen Familien - es gab Alltag, es gab Normalität, es gab Streit. Welche Risse und existentiellen Brüche es tatsächlich gab, habe ich erst nach und nach gesehen und verstanden, und die Ursachen dafür auch.
Auf Ihrem Buch steht Roman. Warum nicht Autobiographie?
Marion Brasch: Für eine Autobiographie fühle ich mich noch nicht alt und auch nicht interessant genug. Zudem hätte ich mich, um dieser Familie gerecht zu werden, von meinem eigenen, ganz subjektiven Blick entfernen müssen, und das wollte ich nicht. Eine Familienbiographie hätte ich auch nicht schreiben können, weil das umfangreiches Faktenwissen voraussetzt. Ich hätte mich in Archive und Bibliotheken setzen müssen, und dazu hatte ich keine Lust. Der Roman hat mir die Möglichkeit gegeben, Fakten und Fiktion zu mischen und dabei auch mal rumzuspinnen. Das hat Spaß gemacht.
Ist dieses Buch ein Abschied von Ihrer Familie, oder haben Sie sie dadurch zurückerobert?
Marion Brasch: Letzteres. Ich sehe meine Familie jetzt klarer und verstehe auch sehr viel besser, warum bestimmte Dinge passiert sind oder zum Teil sogar passieren mussten. Und ich ahne, dass das Zerfallen und Verschwinden dieser Familie auch sehr viel mit der Geschichte und dem Verschwinden des Landes zu tun hat, in dem sie verwurzelt war - der DDR.
Der größte Teil der Handlung findet in Ostberlin statt. Was bedeutet Ihnen diese Stadt?
Marion Brasch: Ich wurde in Ostberlin geboren und habe hier fast mein ganzes Leben verbracht - die Stadt ist mein Zuhause. Das ist sie auch geblieben, als ich mit meiner Familie in den siebziger Jahren für vier Jahre nach Karl-Marx-Stadt ziehen musste, weil mein Vater dorthin versetzt wurde. Ich hänge sehr an Berlin, auch wenn sich die Stadt teilweise schon so verändert hat, dass ich sie kaum wiedererkenne... Trotzdem, ich würde nirgendwo anders leben wollen.
Sie erzählen, wie Sie nach und nach Ihre Familie verlieren. Trotz dieser Schicksalsschläge haben Sie ein heiteres Buch geschrieben. Warum?
Marion Brasch: Vielleicht liegt das daran, dass ich selbst nicht so gern Geschichten lese, die schicksalsschwer und bleiern sind. Natürlich ist in und mit meiner Familie viel Trauriges passiert, doch es gab auch die andere Seite. Ich habe das Leben in dieser Familie trotz der großen Schwierigkeiten und Erschütterungen nie als schwer oder dramatisch empfunden, im Gegenteil - ich hatte jede Menge Spaß. Und davon wollte ich auch erzählen.
In Ihrem Buch treten Bands auf, oft wird Musik gehört. Spielt Musik eine wichtige Rolle für Sie?
Marion Brasch: Auf jeden Fall. Ich glaube, das habe ich auch meinen Brüdern zu verdanken. Durch sie habe ich schon ganz früh Jimi Hendrix, die Doors oder Bob Dylan gehört - das fand ich toll. Später bin ich dann zur Musikschule gegangen, habe Gitarre gelernt, Gesangsunterricht genommen und dann sogar in einer Band gespielt. Nichts besonderes, aber es hat Spaß gemacht. Aber ich glaube, ich war immer besser im Musikhören als im Musikmachen.
Der Titel „Ab jetzt ist Ruhe" - was bedeutet er?
Marion Brasch: Das war ein Ritual, mit dem meine Mutter uns ins Bett gebracht hat. Sie stand am Doppelstockbett und wir mussten immer abwechselnd die Worte sagen: Ab - jetzt - ist - Ruhe. Dann hat sie uns geküsst und das Licht ausgemacht.
Könnten Sie sich vorstellen, nach diesem Familienroman weitere Bücher zu schreiben?
Marion Brasch: Das würde ich sehr gern. Bei diesem Buch habe ich mich ja zum großen Teil an die Wahrheit gehalten. Doch ich hätte Lust, mal was zu schreiben, wo ich lügen darf, dass sich die Balken biegen. Alles ausgedacht. Das wäre schön.
... weniger
Bibliographische Angaben
- Autor: Marion Brasch
- 2012, 398 Seiten, Maße: 13,5 x 21 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: S. Fischer Verlag GmbH
- ISBN-10: 3100044207
- ISBN-13: 9783100044204
Kommentar zu "Ab jetzt ist Ruhe"
0 Gebrauchte Artikel zu „Ab jetzt ist Ruhe“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
Schreiben Sie einen Kommentar zu "Ab jetzt ist Ruhe".
Kommentar verfassen