Abschiedswalzer
Roman
Milan Kundera erzählt mit ungeheurem Witz und tanzender Leichtigkeit von einem böhmischen Kurort, dessen Quellwasser die Frauen von ihrer Unfruchtbarkeit heilen soll. Hier begegnen sich: Die Krankenschwester Rosa, die nach nur einer Nacht mit Klima, dem...
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Produktinformationen zu „Abschiedswalzer “
Klappentext zu „Abschiedswalzer “
Milan Kundera erzählt mit ungeheurem Witz und tanzender Leichtigkeit von einem böhmischen Kurort, dessen Quellwasser die Frauen von ihrer Unfruchtbarkeit heilen soll. Hier begegnen sich: Die Krankenschwester Rosa, die nach nur einer Nacht mit Klima, dem Trompeter des Kurortorchesters, schwanger wird; Klima, der seine Frau Kamila liebt und Rosa zur Abtreibung drängt; Franta, der wiederum Rosa abgöttisch liebt; der Gynäkologe Dr. Skreta und Jakub, der das Land verlassen will und sich von seiner Ziehtochter Olga verabschieden muss. Ein rasanter Walzer rund um die ewigen Fragen: warum macht die Liebe alles nur komplizierter? Und was bedeutet wirklich Freiheit?
Lese-Probe zu „Abschiedswalzer “
Abschiedswalzer von Milan KunderaErster Tag
1.
Es wird Herbst, und die Bäume färben sich gelb, rot, braun; das in einem schönen Tal gelegene Badestädtchen ist gleichsam von einer Feuersbrunst umgeben. Unter den Kolonnaden gehen Frauen und neigen sich über die Quellen. Es sind Frauen, die keine Kinder bekommen können und hoffen, in diesem Bad fruchtbar zu werden.
Männer gibt es unter den Patienten weit weniger, aber es gibt sie, denn neben gynäkologischen Wunderwirkungen stärken die Bäder angeblich auch das Herz. Man zählt neun Patientinnen auf einen Patienten, was für eine ledige junge Frau, die hier als Krankenschwester arbeitet und unfruchtbare Damen am Schwimmbecken betreut, zum Verrücktwerden ist!
Rosa ist hier zur Welt gekommen, und hier leben ihre Eltern; wird sie diesem Ort mit seinem so fürchterlichen Frauenüberschuss je entrinnen?
Es ist Montag, und die Arbeitszeit nähert sich allmählich ihrem Ende. Noch die letzten dicken Tanten in Tücher wickeln, auf die Liegen legen, ihre Gesichter abwischen, sie anlächeln.
»Also, rufst du an?«, wird Rosa von ihren Kolleginnen gefragt; die eine ist eine füllige Mittdreißigerin, die andere jünger und mager.
»Warum denn nicht?«, sagt Rosa.
»Hab bloß keine Angst«, muntert die Mittdreißigerin sie auf und führt sie hinter die Umkleidekabine, wo die Krankenschwestern einen Schrank, ein Tischchen und ein Telefon haben.
»Du solltest ihn zu Hause anrufen«, sagt die Magere hämisch, und alle drei fangen an zu lachen.
Als das Lachen verstummt ist, sagt Rosa: »Ich habe die Telefonnummer des Theaters.«
2.
... mehr
Es war ein grässliches Gespräch. Kaum hörte er ihre Stimme am Telefon, erschrak er.
Er hatte immer Angst vor Frauen, obwohl keine ihm das glaubte und alle diese Behauptung für einen koketten Scherz hielten.
»Wie geht es dir?«, fragte er.
»Nicht sehr gut«, antwortete sie.
»Warum?«
»Ich muss mit dir reden«, sagte sie pathetisch.
Genau auf diesen pathetischen Ton hatte er seit Jahren mit Schrecken gewartet.
»Ja«, sagte er mit bedrückter Stimme.
Sie wiederholte: »Ich muss dringend mit dir reden.«
»Was ist passiert?«
»Ich bin jetzt anders als damals, als wir uns kennenlernten. «
Er brachte kein Wort hervor. Erst nach einer Weile wiederholte er: »Warum?«
»Es ist schon sechs Wochen überfällig.«
Er sagte mit Überwindung: »Vielleicht ist es nichts. Das kommt manchmal vor und hat nichts zu bedeuten.«
»Nein, diesmal ist es so.«
»Das ist unmöglich. Ganz einfach unmöglich. Meine Schuld kann es jedenfalls nicht sein.«
Sie war gekränkt: »Ich bitte dich, für wen hältst du mich?«
Er fürchtete, sie zu verletzen, weil er sich überhaupt vor ihr fürchtete. »Nein, ich will dich nicht beleidigen, Unsinn, weshalb sollte ich dich beleidigen, ich sage ja bloß, dass es mit mir nicht passieren konnte, du brauchst keine Angst zu haben, es ist einfach unmöglich, physiologisch unmöglich.«
»Dann nichts für ungut«, sagte sie sehr beleidigt. »Entschuldige die Störung.«
»Nein, nein, nein.« Er fürchtete, sie könnte einhängen.
»Es ist richtig, dass du mich anrufst! Ich helfe dir selbstverständlich gern. Das lässt sich alles arrangieren, selbstverständlich. «
»Wie meinst du das, arrangieren?«
Er wurde verlegen. Er wagte nicht, die Dinge beim Namen zu nennen: »Na ... arrangieren.«
»Das, woran du denkst, damit rechne nicht. Das schlag dir aus dem Kopf. Selbst wenn ich mir das Leben verpfuschen sollte, ich mache es nicht.«
Wieder überfiel ihn Entsetzen, aber er ging nun zaghaft zum Angriff über: »Warum rufst du mich dann an, wenn du nicht mit mir reden willst? Willst du dich mit mir beraten, oder hast du schon alles entschieden?«
»Ich will mich mit dir beraten.«
»Ich komme zu dir.«
»Wann?«
»Ich geb dir Bescheid.«
»Ja.«
»Mach's gut.«
»Mach's auch gut.«
Er hängte den Hörer ein und kehrte in den kleinen Saal zurück, in dem seine Kapelle wartete.
»Meine Herren, die Probe ist beendet«, sagte er. »Ich kann heute nicht mehr.«
3.
Als sie den Hörer einhängte, war sie rot vor Aufregung. Sie war beleidigt über die Art, wie Klima auf ihre Nachricht reagiert hatte. Im Übrigen war sie seit längerem beleidigt.
Sie hatten sich vor zwei Monaten kennengelernt, als der berühmte Trompeter mit seiner Kapelle im Badestädtchen aufgetreten war. Nach dem Konzert fand eine Party statt, zu der sie eingeladen war. Der Trompeter hatte ihr vor allen anderen den Vorzug gegeben und verbrachte die Nacht mit ihr.
Seitdem hatte er sich mit keiner Silbe mehr gemeldet. Sie schickte ihm zweimal einen Kartengruß, er aber antwortete nicht. Einmal war sie in der Hauptstadt und rief ihn im Theater an, wo er ihren Informationen zufolge mit seiner Kapelle probte. Der Mann, der sich am Telefon meldete, verlangte, dass sie sich vorstellte, und sagte dann, er würde sich nach Klima umsehen. Nach einer Weile kam er mit der Nachricht zurück, dass die Probe bereits beendet und der Herr Trompeter weggegangen sei. Ihr kam der Gedanke, er habe sich verleugnen lassen, und sie verspürte einen umso größeren Hass, als sie schon damals fürchtete, schwanger zu sein.
»Angeblich ist es physiologisch unmöglich! Das sagt sich so leicht, physiologisch unmöglich! Ich bin gespannt, was er sagt, wenn es da ist!«
Die beiden Kolleginnen pflichteten ihr aufgeregt bei. Seit jenem Tag, da sie ihnen in der dampfgeschwängerten Bade- halle mitgeteilt hatte, dass sie in der vergangenen Nacht mit dem berühmten Mann unbeschreibliche Momente erlebt hatte, war der Trompeter zum Besitz all ihrer Kolleginnen geworden. Sein Phantom geisterte durch die Halle, in der sie sich gegenseitig ablösten, und jedes Mal, wenn sein Name fiel, kicherten sie innerlich, als wäre die Rede von jemandem, den sie intim kannten. Als sie erfuhren, dass Rosa schwanger war, wurden sie alle von einer seltsamen Freude erfüllt, weil er von diesem Zeitpunkt an tief in Rosas Körper auch für die Kolleginnen physisch anwesend war.
»Na, na, Mädchen, beruhige dich.« Die Mittdreißigerin klopfte ihr auf den Rücken: »Ich habe etwas gefunden für dich.« Sie entfaltete eine ziemlich schmuddelige, abgegriffene Illustrierte: »Schau mal!«
Alle drei blickten auf das Bild einer hübschen jungen Frau mit schwarzem Haar, die mit dem Mikrophon vor dem Mund auf einem Podium stand.
Rosa versuchte, aus diesen wenigen Quadratzentimetern ihr Schicksal herauszulesen. »Ich wusste nicht, dass sie so jung ist«, sagte sie besorgt.
»Ach geh!«, lachte die Mittdreißigerin: »Das Bild wurde vor zehn Jahren gemacht. Sie sind doch beide gleich alt. Wie will die es mit dir aufnehmen!«
4.
Während des Telefongesprächs wurde Klima bewusst, dass er diese Schreckensnachricht seit langem erwartet hatte. Nicht so sehr, weil er einen vernünftigen Grund gehabt hätte zu glauben, er habe Rosa nach jener fatalen Party geschwängert (er war sich vielmehr sicher, dass sie ihn zu Unrecht beschuldigte), er erwartete eine solche Mitteilung ganz einfach schon seit vielen Jahren, lange bevor er Rosa kennenlernte.
Er war einundzwanzig, als eine verliebte Blondine beschloss, ihm eine Schwangerschaft vorzutäuschen, um ihn zum Altar zu treiben. Es waren scheußliche Wochen, zum Schluss bekam er Magenkrämpfe und brach zusammen. Seither wusste er, dass eine Schwangerschaft ein Schlag war, der einen jederzeit und von überall her treffen konnte, ein Schlag, gegen den es keine Blitzableiter gab und der sich mit einer pathetischen Stimme am Telefon ankündigte (ja, auch damals hatte die Blondine ihm die unselige Nachricht zunächst telefonisch mitgeteilt). Dieser Vorfall seines einundzwanzigsten Lebensjahres hatte zur Folge, dass er danach nur noch unter Angstgefühlen (aber trotzdem recht eifrig) mit Frauen verkehrte und nach jedem verliebten Stelldichein dessen traurige Folgen fürchtete. Er tröstete sich zwar damit, dass die Wahrscheinlichkeit eines derartigen Unfalls bei seiner krankhaften Vorsicht kaum ein Tausendstel Prozent groß war, er verstand es jedoch, sich auch vor diesem Tausendstel zu fürchten.
Einmal rief er, verführt von einem freien Abend, eine junge Frau an, die er vor zwei Monaten zum letzten Mal gesehen hatte. Als sie seine Stimme erkannte, rief sie: »Mein Gott, du bist es! Ich habe so darauf gewartet, dass du mich anrufst! Ich habe deinen Anruf so gebraucht!«, und sie sagte es so eindringlich, so pathetisch, dass sein Herz sich in altbekannter Angst zusammenschnürte und er mit seiner ganzen Seele fühlte, dass der Moment gekommen war, den er so sehr gefürchtet hatte. Weil er der Wahrheit möglichst schnell ins Auge sehen wollte, griff er an: »Und warum sagst du mir das mit so tragischer Stimme?« »Meine Mutter ist gestern gestorben«, antwortete sie, und er atmete auf, wusste aber, dass er vor dem, was er fürchtete, gleichwohl nicht verschont bleiben würde.
5.
»Jetzt reicht es aber. Was hat denn das zu bedeuten?«, fragte der Schlagzeuger, und Klima kam endlich zu sich. Er sah die besorgten Gesichter seiner Musiker um sich herum und sagte ihnen, was vorgefallen war. Die jungen Männer legten ihre Instrumente zur Seite und versuchten, ihm Ratschläge zu geben.
Der erste Rat war radikal: Der achtzehnjährige Gitarrist verkündete, dass man Frauen von der Sorte wie die, die eben den Kapellmeister und Trompeter angerufen hatte, hart zurückweisen müsse. »Sag ihr, sie soll machen, was sie will. Dein Kind ist es nicht, also interessiert dich das alles nicht. Und wenn sie will, wird die Blutprobe zeigen, mit wem sie es gemacht hat.«
Klima wandte ein, dass Blutproben meist nichts bewiesen und einem nur übrigblieb, für die Beschuldigung der Frau zu bezahlen.
Der Gitarrist antwortete, es werde überhaupt nicht zu einer Blutprobe kommen. Eine so zurückgewiesene Frau werde sich hüten, sich unnötige Sorgen aufzuhalsen, und habe sie einmal erkannt, dass der beschuldigte Mann kein ängstlicher Waschlappen sei, werde sie das Kind von sich aus und auf eigene Kosten wegmachen lassen. »Und sollte sie es am Ende doch zur Welt bringen, wird die ganze Kapelle dir vor Gericht bezeugen, dass wir zur fraglichen Zeit alle mit ihr geschlafen haben. Lass sie dann mal den Vater finden!«
Klima aber sagte: »Ich glaube euch, dass ihr es tun würdet. Nur wäre ich bis dahin längst wahnsinnig geworden vor Unsicherheit und Angst. In dieser Hinsicht bin ich der größte Feigling unter der Sonne, ich muss so rasch wie möglich Gewissheit haben.«
Das sahen alle ein. Die Methode des Gitarristen war grundsätzlich gut, aber nicht für jeden. Insbesondere taugte sie nichts für einen Menschen mit schlechten Nerven. Zweitens war sie nicht gut für einen berühmten und reichen Mann, für den Frauen auch das verrückteste Risiko eingingen. Sie neigten somit zu der Ansicht, dass es notwendig sei, die Frau statt durch brutales Zurückweisen durch eine Methode der Überzeugung zur Abtreibung zu bewegen. Aber welche Argumentation wählen? Es zeichneten sich drei grundlegende Möglichkeiten ab:
Die erste appelliert an das mitfühlende Herz des Mädchens: Klima wird mit der Krankenschwester wie mit seiner besten Freundin sprechen; er wird sich ihr aufrichtig anvertrauen; er wird ihr sagen, dass seine Frau schwer krank sei und zusammenbrechen würde, wenn sie erfahren sollte, dass ihr Mann mit einer anderen Frau ein Kind hatte; dass Klima eine solche Situation weder moralisch noch nervlich durchstehen würde; dass er die Krankenschwester deshalb bitte, sich seiner zu erbarmen.
Gegen diese Methode gibt es einen prinzipiellen Einwand. Man darf die ganze Strategie nicht auf etwas so Unsicherem und Ungewissem wie der Herzensgüte einer Krankenschwester aufbauen. Hat eine Frau nicht ein außergewöhnlich gutes Herz, so wird sich ein derartiges Vorgehen gegen Klima wenden. Die Frau wird sich durch die übertriebene Rücksicht, die der auserkorene Vater ihres Kindes auf eine andere Frau nimmt, beleidigt fühlen und umso härter handeln.
Die zweite Methode appelliert an das Urteilsvermögen der Frau: Klima wird versuchen, ihr klarzumachen, dass er nie und nimmer die Gewissheit haben könnte, dass es tatsächlich sein Kind sei. Er kenne die Krankenschwester von einer einzigen Begegnung und wisse gar nichts über sie. Er habe keine Ahnung, mit wem sie sonst noch verkehre. Nein, nein, er verdächtige sie nicht, dass sie ihn absichtlich hintergehen wolle, aber sie könne ihm doch nicht weismachen, dass sie sich nicht auch mit anderen Männern treffe! Und selbst wenn sie das wollte, wo nähme Klima die Gewissheit her, dass sie die Wahrheit sage? Und wäre es klug, ein Kind in die Welt zu setzen, dessen Vater sich seiner Vaterschaft nie sicher sein würde? Könnte Klima seine Frau wegen eines Kindes verlassen, von dem er nicht sicher ist, dass es seines ist? Und will Rosa vielleicht, dass ihr Kind seinen Vater nie kennenlernt?
Auch gegen diese Methode gibt es prinzipielle Einwände. Der Bassist (der älteste Mann in der Kapelle) wandte ein, dass es noch törichter sei, sich auf den Verstand des Mädchens zu verlassen statt auf ihr Mitgefühl. Die Logik der Argumentation ziele ins Leere und ein Mädchenherz sei erschüttert, wenn der geliebte Mann nicht glaube, dass sie stets nur die Wahrheit sage. Das werde sie ermutigen, mit rührseliger Starrköpfigkeit noch hartnäckiger auf ihren Behauptungen und Absichten zu beharren.
Schließlich gibt es noch eine dritte Möglichkeit: Klima wird der geschwängerten Frau schwören, dass er sie geliebt habe und immer noch liebe. Darüber, dass sie das Kind von einem anderen haben könnte, darf kein Sterbenswörtchen fallen. Klima wird sie vielmehr in ein Bad aus Vertrauen, Liebe und Zärtlichkeit tauchen. Ihr alles versprechen, einschließlich der Scheidung. Ihr eine herrliche gemeinsame Zukunft ausmalen. Im Namen dieser Zukunft wird er sie dann bitten, die Schwangerschaft liebenswürdigerweise abzubrechen. Er wird ihr erklären, dass die Geburt eines Kindes zu früh käme und sie um die ersten, allerschönsten Jahre ihrer Liebe brächte.
Dieser Argumentation fehlt das, wovon die vorangehende zu viel hat: die Logik. Wie kann Klima so verliebt in die Krankenschwester sein, wenn er ihr seit zwei Monaten aus dem Weg geht? Der Bassist behauptete aber, Verliebte verhielten sich immer unlogisch und nichts sei einfacher, als dem Mädchen das zu erklären. Alle waren sich schließlich einig, dass diese dritte Methode vermutlich die geeignetste war, denn sie appellierte an die Verliebtheit der Frau, und diese schien in der gegebenen Situation die einzige relative Sicherheit.
6.
Sie verließen das Theater und verabschiedeten sich an der Ecke voneinander, der Gitarrist jedoch begleitete Klima nach Hause. Als Einziger war er mit dem vorgeschlagenen Plan nicht einverstanden. Er schien ihm des Kapellmeisters, den er vergötterte, unwürdig. »Wenn du zu Frauen gehst, vergiss die Peitsche nicht«, zitierte er Nietzsche, von dessen Werk er nur gerade diesen Satz kannte.
»Mein lieber Junge«, seufzte Klima, »die Peitsche würde sie für mich bereithalten.«
Der Gitarrist schlug Klima vor, mit ihm in seinem Wagen in das Badestädtchen zu fahren, das Mädchen auf die Straße zu locken und zu überfahren. »Niemand wird mir beweisen können, dass sie mir nicht von selbst unter die Räder gerannt ist.« Der Gitarrist war das jüngste Mitglied der Kapelle, er mochte Klima, und dieser war gerührt über seine Worte.
»Du bist wahnsinnig nett«, sagte er zu ihm.
Der Gitarrist entwickelte den Plan bis in alle Einzelheiten weiter, und seine Wangen glühten.
»Du bist wahnsinnig nett, aber es geht nicht«, sagte Klima.
»Was zögerst du? Sie ist doch ein Miststück!«
»Du bist wirklich sehr nett, aber es geht nicht«, sagte Klima und verabschiedete sich.
7.
Als er wieder allein war, dachte er über den Vorschlag des Jungen nach und auch darüber, weshalb er ihn abgelehnt hatte. Es war nicht, weil er edelmütiger wäre als der Gitarrist, er war nur furchtsamer. Die Angst, dass man ihn der Mittäterschaft an einem Mord bezichtigte, warum nichts geringer als die Angst, als Vater identifiziert zu werden. Er stellte sich vor, wie der Wagen in Rosa hineinfuhr, er stellte sich vor, wie sie in einer Blutlache auf der Straße lag, und er wurde von einem kurzen Gefühl glücklicher Erleichterung erfüllt. Er wüsste aber, dass es keinen Sinn hatte, sich Spielereien der Illusion hinzugeben. Er hatte jetzt ernsthafte Sorgen. Er dachte an seine Frau. O Gott, morgen hatte sie Geburtstag.
Es war einige Minuten vor sechs, kurz vor Ladenschluss. Er ging rasch in ein Blumengeschäft und kaufte einen riesigen Rosenstrauß. Er dachte daran, wie schrecklich dieser Geburtstag sein würde. Er würde vortäuschen müssen, mit seinen Gedanken und Gefühlen bei ihr zu sein, er würde sich ihr widmen, nett und amüsant sein und mit ihr lachen und dabei unablässig an einen fremden, fernen Bauch denken müssen. Er würde ihr gezwungen liebenswürdige Worte sagen, sein Geist aber wäre weit weg, wie in Einzelhaft gefangen in einer Zelle fremder Eingeweide.
Er machte sich klar, dass es seine Kräfte übersteigen würde, diesen Geburtstag zu Hause zu feiern, und beschloss, die Reise zu Rosa nicht hinauszuschieben.
Diese Vorstellung war allerdings auch nicht gerade verlockend. Aus dem Badestädtchen im Gebirge wehte die Ödnis einer Wüste zu ihm herüber. Er kannte dort niemanden. Außer vielleicht jenen amerikanischen Kurgast, der sich benahm wie früher die reichen Bürger der Kleinstädte und der die ganze Kapelle nach dem Konzert in seiner Suite empfangen hatte. Er bewirtete sie mit vorzüglichen alkoholischen Getränken und verwöhnte sie mit dem weiblichen Personal des Badeorts, wodurch er indirekt verursachte, dass Klima mit Rosa anbändelte. Ach, wenn wenigstens dieser Mensch, der damals so vorbehaltlos freundlich zu ihm gewesen war, noch im Bad wäre! Klima klammerte sich an dessen Bild wie an einen Strohhalm, denn in Momenten, wie er sie gerade durchmachte, braucht ein Mann nichts dringlicher als das kameradschaftliche Verständnis eines anderen Mannes.
Er kehrte ins Theater zurück und ging zum Portier. Er verlangte ein Ferngespräch. Bald schon hörte er ihre Stimme im Hörer. Er sagte ihr, er würde gleich morgen zu ihr kommen. Die Nachricht, die sie ihm vor einigen Stunden mitgeteilt hatte, erwähnte er mit keinem Wort. Er sprach mit ihr, als wären sie beide ein unbeschwertes Liebespaar.
Zwischendurch fragte er: »Ist dieser Amerikaner noch im Bad?«
»Ja«, sagte Rosa.
Er atmete auf und wiederholte, schon leichteren Herzens, dass er sich auf sie freue. »Was hast du an?«, fragte er dann.
»Warum?«
Schon viele Jahre benutzte er diesen Trick bei Telefonflirts mit Erfolg: »Ich will wissen, wie du jetzt gerade angezogen bist. Ich will mir vorstellen, wie du aussiehst.«
»Ich trage ein rotes Kleid.«
»Rot muss dir gut stehen.«
»Vielleicht«, sagte sie.
»Und darunter?«
Sie lachte.
Ja, alle lachten, wenn er diese Frage stellte.
»Was für einen Slip hast du an?«
»Auch einen roten.«
»Ich freue mich schon, dich darin zu sehen«, sagte er und verabschiedete sich. Er hatte den Eindruck, den rechten Ton gefunden zu haben. Für einen Augenblick fühlte er sich erleichtert. Aber nur für einen Augenblick. Er wurde sich nämlich bewusst, dass er an nichts anderes als an Rosa denken konnte und die heutige Plauderei mit seiner Frau auf ein Minimum beschränken musste. Er ging an der Kasse eines Kinos vorbei, in dem ein amerikanischer Western gespielt wurde, und kaufte zwei Karten.
8.
Obwohl Kamila Klima viel schöner war als krank, war sie dennoch krank. Ihrer schlechten Gesundheit wegen musste sie vor Jahren ihre Karriere als Sängerin aufgeben, die sie in die Arme ihres jetzigen Mannes geführt hatte.
Der Kopf der schönen jungen Frau, die an Bewunderung gewöhnt war, war plötzlich gefüllt mit dem Karbolgeruch von Krankenhäusern. Es schien ihr, als lägen zwischen ihrer Welt und der Welt ihres Mannes nun sieben Berge.
Als Klima an diesem Tag ihr trauriges Gesicht sah, wollte ihm das Herz brechen, und er streckte ihr (über die fiktiven Berge hinweg) liebevoll seine Hände entgegen. Kamila hatte begriffen, dass in ihrer Trauer eine Kraft lag, von der sie früher nichts geahnt hatte, eine Trauer, die Klima anzog und zu Zärtlichkeit und Tränen rührte. Kein Wunder, dass sie dieses unverhofft gefundene Instrument (vielleicht unwillkürlich, aber umso öfter) einzusetzen begann. Denn nur in den Momenten, da er sich in ihrem schmerzensvollen Gesicht spiegelte, konnte sie sich einigermaßen sicher sein, dass in seinem Kopf keine andere Frau mit ihr rivalisierte.
Denn diese wunderschöne Frau fürchtete die Frauen und witterte sie überall. Niemals und nirgends entgingen sie ihr. Sie konnte sie im Tonfall seiner Begrüßung finden, wenn er nach Hause kam. Sie konnte sie im Geruch seiner Kleider riechen. Kürzlich hatte sie auf seinem Schreibtisch einen Papierschnipsel gefunden, den er von einem Zeitungsrand abgerissen hatte; darauf war von seiner Hand ein Termin notiert. Natürlich konnte dieser die verschiedensten Anlässe betreffen, eine Konzertprobe, eine Verabredung mit dem Agenten, sie aber musste den ganzen Monat daran denken, mit welcher Frau sich Klima an diesem Tag wohl treffen würde, und sie schlief den ganzen Monat schlecht.
Wenn die heimtückische Welt der Frauen sie so sehr entsetzte, konnte sie zum Trost nicht in die Welt der Männer flüchten?
Schwerlich. Die Eifersucht hat die wundersame Macht, den Einzigen mit grellem Licht anzustrahlen und die Massen der übrigen Männer in völliger Finsternis versinken zu lassen. Frau Klimas Gedanken konnten sich nur in Richtung dieser quälenden Strahlen bewegen, und ihr Mann wurde zum einzigen Mann auf der Welt.
Jetzt hörte sie den Schlüssel im Schloss, und sie sah ihren Trompeter mit einem Rosenstrauß.
Im ersten Augenblick empfand sie Freude, unmittelbar danach aber meldeten sich Zweifel: Warum brachte er die Blumen schon heute, wenn sie erst morgen Geburtstag hatte? Was hatte das schon wieder zu bedeuten?
»Bist du morgen nicht da?«, hieß sie ihn willkommen.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main.
Es war ein grässliches Gespräch. Kaum hörte er ihre Stimme am Telefon, erschrak er.
Er hatte immer Angst vor Frauen, obwohl keine ihm das glaubte und alle diese Behauptung für einen koketten Scherz hielten.
»Wie geht es dir?«, fragte er.
»Nicht sehr gut«, antwortete sie.
»Warum?«
»Ich muss mit dir reden«, sagte sie pathetisch.
Genau auf diesen pathetischen Ton hatte er seit Jahren mit Schrecken gewartet.
»Ja«, sagte er mit bedrückter Stimme.
Sie wiederholte: »Ich muss dringend mit dir reden.«
»Was ist passiert?«
»Ich bin jetzt anders als damals, als wir uns kennenlernten. «
Er brachte kein Wort hervor. Erst nach einer Weile wiederholte er: »Warum?«
»Es ist schon sechs Wochen überfällig.«
Er sagte mit Überwindung: »Vielleicht ist es nichts. Das kommt manchmal vor und hat nichts zu bedeuten.«
»Nein, diesmal ist es so.«
»Das ist unmöglich. Ganz einfach unmöglich. Meine Schuld kann es jedenfalls nicht sein.«
Sie war gekränkt: »Ich bitte dich, für wen hältst du mich?«
Er fürchtete, sie zu verletzen, weil er sich überhaupt vor ihr fürchtete. »Nein, ich will dich nicht beleidigen, Unsinn, weshalb sollte ich dich beleidigen, ich sage ja bloß, dass es mit mir nicht passieren konnte, du brauchst keine Angst zu haben, es ist einfach unmöglich, physiologisch unmöglich.«
»Dann nichts für ungut«, sagte sie sehr beleidigt. »Entschuldige die Störung.«
»Nein, nein, nein.« Er fürchtete, sie könnte einhängen.
»Es ist richtig, dass du mich anrufst! Ich helfe dir selbstverständlich gern. Das lässt sich alles arrangieren, selbstverständlich. «
»Wie meinst du das, arrangieren?«
Er wurde verlegen. Er wagte nicht, die Dinge beim Namen zu nennen: »Na ... arrangieren.«
»Das, woran du denkst, damit rechne nicht. Das schlag dir aus dem Kopf. Selbst wenn ich mir das Leben verpfuschen sollte, ich mache es nicht.«
Wieder überfiel ihn Entsetzen, aber er ging nun zaghaft zum Angriff über: »Warum rufst du mich dann an, wenn du nicht mit mir reden willst? Willst du dich mit mir beraten, oder hast du schon alles entschieden?«
»Ich will mich mit dir beraten.«
»Ich komme zu dir.«
»Wann?«
»Ich geb dir Bescheid.«
»Ja.«
»Mach's gut.«
»Mach's auch gut.«
Er hängte den Hörer ein und kehrte in den kleinen Saal zurück, in dem seine Kapelle wartete.
»Meine Herren, die Probe ist beendet«, sagte er. »Ich kann heute nicht mehr.«
3.
Als sie den Hörer einhängte, war sie rot vor Aufregung. Sie war beleidigt über die Art, wie Klima auf ihre Nachricht reagiert hatte. Im Übrigen war sie seit längerem beleidigt.
Sie hatten sich vor zwei Monaten kennengelernt, als der berühmte Trompeter mit seiner Kapelle im Badestädtchen aufgetreten war. Nach dem Konzert fand eine Party statt, zu der sie eingeladen war. Der Trompeter hatte ihr vor allen anderen den Vorzug gegeben und verbrachte die Nacht mit ihr.
Seitdem hatte er sich mit keiner Silbe mehr gemeldet. Sie schickte ihm zweimal einen Kartengruß, er aber antwortete nicht. Einmal war sie in der Hauptstadt und rief ihn im Theater an, wo er ihren Informationen zufolge mit seiner Kapelle probte. Der Mann, der sich am Telefon meldete, verlangte, dass sie sich vorstellte, und sagte dann, er würde sich nach Klima umsehen. Nach einer Weile kam er mit der Nachricht zurück, dass die Probe bereits beendet und der Herr Trompeter weggegangen sei. Ihr kam der Gedanke, er habe sich verleugnen lassen, und sie verspürte einen umso größeren Hass, als sie schon damals fürchtete, schwanger zu sein.
»Angeblich ist es physiologisch unmöglich! Das sagt sich so leicht, physiologisch unmöglich! Ich bin gespannt, was er sagt, wenn es da ist!«
Die beiden Kolleginnen pflichteten ihr aufgeregt bei. Seit jenem Tag, da sie ihnen in der dampfgeschwängerten Bade- halle mitgeteilt hatte, dass sie in der vergangenen Nacht mit dem berühmten Mann unbeschreibliche Momente erlebt hatte, war der Trompeter zum Besitz all ihrer Kolleginnen geworden. Sein Phantom geisterte durch die Halle, in der sie sich gegenseitig ablösten, und jedes Mal, wenn sein Name fiel, kicherten sie innerlich, als wäre die Rede von jemandem, den sie intim kannten. Als sie erfuhren, dass Rosa schwanger war, wurden sie alle von einer seltsamen Freude erfüllt, weil er von diesem Zeitpunkt an tief in Rosas Körper auch für die Kolleginnen physisch anwesend war.
»Na, na, Mädchen, beruhige dich.« Die Mittdreißigerin klopfte ihr auf den Rücken: »Ich habe etwas gefunden für dich.« Sie entfaltete eine ziemlich schmuddelige, abgegriffene Illustrierte: »Schau mal!«
Alle drei blickten auf das Bild einer hübschen jungen Frau mit schwarzem Haar, die mit dem Mikrophon vor dem Mund auf einem Podium stand.
Rosa versuchte, aus diesen wenigen Quadratzentimetern ihr Schicksal herauszulesen. »Ich wusste nicht, dass sie so jung ist«, sagte sie besorgt.
»Ach geh!«, lachte die Mittdreißigerin: »Das Bild wurde vor zehn Jahren gemacht. Sie sind doch beide gleich alt. Wie will die es mit dir aufnehmen!«
4.
Während des Telefongesprächs wurde Klima bewusst, dass er diese Schreckensnachricht seit langem erwartet hatte. Nicht so sehr, weil er einen vernünftigen Grund gehabt hätte zu glauben, er habe Rosa nach jener fatalen Party geschwängert (er war sich vielmehr sicher, dass sie ihn zu Unrecht beschuldigte), er erwartete eine solche Mitteilung ganz einfach schon seit vielen Jahren, lange bevor er Rosa kennenlernte.
Er war einundzwanzig, als eine verliebte Blondine beschloss, ihm eine Schwangerschaft vorzutäuschen, um ihn zum Altar zu treiben. Es waren scheußliche Wochen, zum Schluss bekam er Magenkrämpfe und brach zusammen. Seither wusste er, dass eine Schwangerschaft ein Schlag war, der einen jederzeit und von überall her treffen konnte, ein Schlag, gegen den es keine Blitzableiter gab und der sich mit einer pathetischen Stimme am Telefon ankündigte (ja, auch damals hatte die Blondine ihm die unselige Nachricht zunächst telefonisch mitgeteilt). Dieser Vorfall seines einundzwanzigsten Lebensjahres hatte zur Folge, dass er danach nur noch unter Angstgefühlen (aber trotzdem recht eifrig) mit Frauen verkehrte und nach jedem verliebten Stelldichein dessen traurige Folgen fürchtete. Er tröstete sich zwar damit, dass die Wahrscheinlichkeit eines derartigen Unfalls bei seiner krankhaften Vorsicht kaum ein Tausendstel Prozent groß war, er verstand es jedoch, sich auch vor diesem Tausendstel zu fürchten.
Einmal rief er, verführt von einem freien Abend, eine junge Frau an, die er vor zwei Monaten zum letzten Mal gesehen hatte. Als sie seine Stimme erkannte, rief sie: »Mein Gott, du bist es! Ich habe so darauf gewartet, dass du mich anrufst! Ich habe deinen Anruf so gebraucht!«, und sie sagte es so eindringlich, so pathetisch, dass sein Herz sich in altbekannter Angst zusammenschnürte und er mit seiner ganzen Seele fühlte, dass der Moment gekommen war, den er so sehr gefürchtet hatte. Weil er der Wahrheit möglichst schnell ins Auge sehen wollte, griff er an: »Und warum sagst du mir das mit so tragischer Stimme?« »Meine Mutter ist gestern gestorben«, antwortete sie, und er atmete auf, wusste aber, dass er vor dem, was er fürchtete, gleichwohl nicht verschont bleiben würde.
5.
»Jetzt reicht es aber. Was hat denn das zu bedeuten?«, fragte der Schlagzeuger, und Klima kam endlich zu sich. Er sah die besorgten Gesichter seiner Musiker um sich herum und sagte ihnen, was vorgefallen war. Die jungen Männer legten ihre Instrumente zur Seite und versuchten, ihm Ratschläge zu geben.
Der erste Rat war radikal: Der achtzehnjährige Gitarrist verkündete, dass man Frauen von der Sorte wie die, die eben den Kapellmeister und Trompeter angerufen hatte, hart zurückweisen müsse. »Sag ihr, sie soll machen, was sie will. Dein Kind ist es nicht, also interessiert dich das alles nicht. Und wenn sie will, wird die Blutprobe zeigen, mit wem sie es gemacht hat.«
Klima wandte ein, dass Blutproben meist nichts bewiesen und einem nur übrigblieb, für die Beschuldigung der Frau zu bezahlen.
Der Gitarrist antwortete, es werde überhaupt nicht zu einer Blutprobe kommen. Eine so zurückgewiesene Frau werde sich hüten, sich unnötige Sorgen aufzuhalsen, und habe sie einmal erkannt, dass der beschuldigte Mann kein ängstlicher Waschlappen sei, werde sie das Kind von sich aus und auf eigene Kosten wegmachen lassen. »Und sollte sie es am Ende doch zur Welt bringen, wird die ganze Kapelle dir vor Gericht bezeugen, dass wir zur fraglichen Zeit alle mit ihr geschlafen haben. Lass sie dann mal den Vater finden!«
Klima aber sagte: »Ich glaube euch, dass ihr es tun würdet. Nur wäre ich bis dahin längst wahnsinnig geworden vor Unsicherheit und Angst. In dieser Hinsicht bin ich der größte Feigling unter der Sonne, ich muss so rasch wie möglich Gewissheit haben.«
Das sahen alle ein. Die Methode des Gitarristen war grundsätzlich gut, aber nicht für jeden. Insbesondere taugte sie nichts für einen Menschen mit schlechten Nerven. Zweitens war sie nicht gut für einen berühmten und reichen Mann, für den Frauen auch das verrückteste Risiko eingingen. Sie neigten somit zu der Ansicht, dass es notwendig sei, die Frau statt durch brutales Zurückweisen durch eine Methode der Überzeugung zur Abtreibung zu bewegen. Aber welche Argumentation wählen? Es zeichneten sich drei grundlegende Möglichkeiten ab:
Die erste appelliert an das mitfühlende Herz des Mädchens: Klima wird mit der Krankenschwester wie mit seiner besten Freundin sprechen; er wird sich ihr aufrichtig anvertrauen; er wird ihr sagen, dass seine Frau schwer krank sei und zusammenbrechen würde, wenn sie erfahren sollte, dass ihr Mann mit einer anderen Frau ein Kind hatte; dass Klima eine solche Situation weder moralisch noch nervlich durchstehen würde; dass er die Krankenschwester deshalb bitte, sich seiner zu erbarmen.
Gegen diese Methode gibt es einen prinzipiellen Einwand. Man darf die ganze Strategie nicht auf etwas so Unsicherem und Ungewissem wie der Herzensgüte einer Krankenschwester aufbauen. Hat eine Frau nicht ein außergewöhnlich gutes Herz, so wird sich ein derartiges Vorgehen gegen Klima wenden. Die Frau wird sich durch die übertriebene Rücksicht, die der auserkorene Vater ihres Kindes auf eine andere Frau nimmt, beleidigt fühlen und umso härter handeln.
Die zweite Methode appelliert an das Urteilsvermögen der Frau: Klima wird versuchen, ihr klarzumachen, dass er nie und nimmer die Gewissheit haben könnte, dass es tatsächlich sein Kind sei. Er kenne die Krankenschwester von einer einzigen Begegnung und wisse gar nichts über sie. Er habe keine Ahnung, mit wem sie sonst noch verkehre. Nein, nein, er verdächtige sie nicht, dass sie ihn absichtlich hintergehen wolle, aber sie könne ihm doch nicht weismachen, dass sie sich nicht auch mit anderen Männern treffe! Und selbst wenn sie das wollte, wo nähme Klima die Gewissheit her, dass sie die Wahrheit sage? Und wäre es klug, ein Kind in die Welt zu setzen, dessen Vater sich seiner Vaterschaft nie sicher sein würde? Könnte Klima seine Frau wegen eines Kindes verlassen, von dem er nicht sicher ist, dass es seines ist? Und will Rosa vielleicht, dass ihr Kind seinen Vater nie kennenlernt?
Auch gegen diese Methode gibt es prinzipielle Einwände. Der Bassist (der älteste Mann in der Kapelle) wandte ein, dass es noch törichter sei, sich auf den Verstand des Mädchens zu verlassen statt auf ihr Mitgefühl. Die Logik der Argumentation ziele ins Leere und ein Mädchenherz sei erschüttert, wenn der geliebte Mann nicht glaube, dass sie stets nur die Wahrheit sage. Das werde sie ermutigen, mit rührseliger Starrköpfigkeit noch hartnäckiger auf ihren Behauptungen und Absichten zu beharren.
Schließlich gibt es noch eine dritte Möglichkeit: Klima wird der geschwängerten Frau schwören, dass er sie geliebt habe und immer noch liebe. Darüber, dass sie das Kind von einem anderen haben könnte, darf kein Sterbenswörtchen fallen. Klima wird sie vielmehr in ein Bad aus Vertrauen, Liebe und Zärtlichkeit tauchen. Ihr alles versprechen, einschließlich der Scheidung. Ihr eine herrliche gemeinsame Zukunft ausmalen. Im Namen dieser Zukunft wird er sie dann bitten, die Schwangerschaft liebenswürdigerweise abzubrechen. Er wird ihr erklären, dass die Geburt eines Kindes zu früh käme und sie um die ersten, allerschönsten Jahre ihrer Liebe brächte.
Dieser Argumentation fehlt das, wovon die vorangehende zu viel hat: die Logik. Wie kann Klima so verliebt in die Krankenschwester sein, wenn er ihr seit zwei Monaten aus dem Weg geht? Der Bassist behauptete aber, Verliebte verhielten sich immer unlogisch und nichts sei einfacher, als dem Mädchen das zu erklären. Alle waren sich schließlich einig, dass diese dritte Methode vermutlich die geeignetste war, denn sie appellierte an die Verliebtheit der Frau, und diese schien in der gegebenen Situation die einzige relative Sicherheit.
6.
Sie verließen das Theater und verabschiedeten sich an der Ecke voneinander, der Gitarrist jedoch begleitete Klima nach Hause. Als Einziger war er mit dem vorgeschlagenen Plan nicht einverstanden. Er schien ihm des Kapellmeisters, den er vergötterte, unwürdig. »Wenn du zu Frauen gehst, vergiss die Peitsche nicht«, zitierte er Nietzsche, von dessen Werk er nur gerade diesen Satz kannte.
»Mein lieber Junge«, seufzte Klima, »die Peitsche würde sie für mich bereithalten.«
Der Gitarrist schlug Klima vor, mit ihm in seinem Wagen in das Badestädtchen zu fahren, das Mädchen auf die Straße zu locken und zu überfahren. »Niemand wird mir beweisen können, dass sie mir nicht von selbst unter die Räder gerannt ist.« Der Gitarrist war das jüngste Mitglied der Kapelle, er mochte Klima, und dieser war gerührt über seine Worte.
»Du bist wahnsinnig nett«, sagte er zu ihm.
Der Gitarrist entwickelte den Plan bis in alle Einzelheiten weiter, und seine Wangen glühten.
»Du bist wahnsinnig nett, aber es geht nicht«, sagte Klima.
»Was zögerst du? Sie ist doch ein Miststück!«
»Du bist wirklich sehr nett, aber es geht nicht«, sagte Klima und verabschiedete sich.
7.
Als er wieder allein war, dachte er über den Vorschlag des Jungen nach und auch darüber, weshalb er ihn abgelehnt hatte. Es war nicht, weil er edelmütiger wäre als der Gitarrist, er war nur furchtsamer. Die Angst, dass man ihn der Mittäterschaft an einem Mord bezichtigte, warum nichts geringer als die Angst, als Vater identifiziert zu werden. Er stellte sich vor, wie der Wagen in Rosa hineinfuhr, er stellte sich vor, wie sie in einer Blutlache auf der Straße lag, und er wurde von einem kurzen Gefühl glücklicher Erleichterung erfüllt. Er wüsste aber, dass es keinen Sinn hatte, sich Spielereien der Illusion hinzugeben. Er hatte jetzt ernsthafte Sorgen. Er dachte an seine Frau. O Gott, morgen hatte sie Geburtstag.
Es war einige Minuten vor sechs, kurz vor Ladenschluss. Er ging rasch in ein Blumengeschäft und kaufte einen riesigen Rosenstrauß. Er dachte daran, wie schrecklich dieser Geburtstag sein würde. Er würde vortäuschen müssen, mit seinen Gedanken und Gefühlen bei ihr zu sein, er würde sich ihr widmen, nett und amüsant sein und mit ihr lachen und dabei unablässig an einen fremden, fernen Bauch denken müssen. Er würde ihr gezwungen liebenswürdige Worte sagen, sein Geist aber wäre weit weg, wie in Einzelhaft gefangen in einer Zelle fremder Eingeweide.
Er machte sich klar, dass es seine Kräfte übersteigen würde, diesen Geburtstag zu Hause zu feiern, und beschloss, die Reise zu Rosa nicht hinauszuschieben.
Diese Vorstellung war allerdings auch nicht gerade verlockend. Aus dem Badestädtchen im Gebirge wehte die Ödnis einer Wüste zu ihm herüber. Er kannte dort niemanden. Außer vielleicht jenen amerikanischen Kurgast, der sich benahm wie früher die reichen Bürger der Kleinstädte und der die ganze Kapelle nach dem Konzert in seiner Suite empfangen hatte. Er bewirtete sie mit vorzüglichen alkoholischen Getränken und verwöhnte sie mit dem weiblichen Personal des Badeorts, wodurch er indirekt verursachte, dass Klima mit Rosa anbändelte. Ach, wenn wenigstens dieser Mensch, der damals so vorbehaltlos freundlich zu ihm gewesen war, noch im Bad wäre! Klima klammerte sich an dessen Bild wie an einen Strohhalm, denn in Momenten, wie er sie gerade durchmachte, braucht ein Mann nichts dringlicher als das kameradschaftliche Verständnis eines anderen Mannes.
Er kehrte ins Theater zurück und ging zum Portier. Er verlangte ein Ferngespräch. Bald schon hörte er ihre Stimme im Hörer. Er sagte ihr, er würde gleich morgen zu ihr kommen. Die Nachricht, die sie ihm vor einigen Stunden mitgeteilt hatte, erwähnte er mit keinem Wort. Er sprach mit ihr, als wären sie beide ein unbeschwertes Liebespaar.
Zwischendurch fragte er: »Ist dieser Amerikaner noch im Bad?«
»Ja«, sagte Rosa.
Er atmete auf und wiederholte, schon leichteren Herzens, dass er sich auf sie freue. »Was hast du an?«, fragte er dann.
»Warum?«
Schon viele Jahre benutzte er diesen Trick bei Telefonflirts mit Erfolg: »Ich will wissen, wie du jetzt gerade angezogen bist. Ich will mir vorstellen, wie du aussiehst.«
»Ich trage ein rotes Kleid.«
»Rot muss dir gut stehen.«
»Vielleicht«, sagte sie.
»Und darunter?«
Sie lachte.
Ja, alle lachten, wenn er diese Frage stellte.
»Was für einen Slip hast du an?«
»Auch einen roten.«
»Ich freue mich schon, dich darin zu sehen«, sagte er und verabschiedete sich. Er hatte den Eindruck, den rechten Ton gefunden zu haben. Für einen Augenblick fühlte er sich erleichtert. Aber nur für einen Augenblick. Er wurde sich nämlich bewusst, dass er an nichts anderes als an Rosa denken konnte und die heutige Plauderei mit seiner Frau auf ein Minimum beschränken musste. Er ging an der Kasse eines Kinos vorbei, in dem ein amerikanischer Western gespielt wurde, und kaufte zwei Karten.
8.
Obwohl Kamila Klima viel schöner war als krank, war sie dennoch krank. Ihrer schlechten Gesundheit wegen musste sie vor Jahren ihre Karriere als Sängerin aufgeben, die sie in die Arme ihres jetzigen Mannes geführt hatte.
Der Kopf der schönen jungen Frau, die an Bewunderung gewöhnt war, war plötzlich gefüllt mit dem Karbolgeruch von Krankenhäusern. Es schien ihr, als lägen zwischen ihrer Welt und der Welt ihres Mannes nun sieben Berge.
Als Klima an diesem Tag ihr trauriges Gesicht sah, wollte ihm das Herz brechen, und er streckte ihr (über die fiktiven Berge hinweg) liebevoll seine Hände entgegen. Kamila hatte begriffen, dass in ihrer Trauer eine Kraft lag, von der sie früher nichts geahnt hatte, eine Trauer, die Klima anzog und zu Zärtlichkeit und Tränen rührte. Kein Wunder, dass sie dieses unverhofft gefundene Instrument (vielleicht unwillkürlich, aber umso öfter) einzusetzen begann. Denn nur in den Momenten, da er sich in ihrem schmerzensvollen Gesicht spiegelte, konnte sie sich einigermaßen sicher sein, dass in seinem Kopf keine andere Frau mit ihr rivalisierte.
Denn diese wunderschöne Frau fürchtete die Frauen und witterte sie überall. Niemals und nirgends entgingen sie ihr. Sie konnte sie im Tonfall seiner Begrüßung finden, wenn er nach Hause kam. Sie konnte sie im Geruch seiner Kleider riechen. Kürzlich hatte sie auf seinem Schreibtisch einen Papierschnipsel gefunden, den er von einem Zeitungsrand abgerissen hatte; darauf war von seiner Hand ein Termin notiert. Natürlich konnte dieser die verschiedensten Anlässe betreffen, eine Konzertprobe, eine Verabredung mit dem Agenten, sie aber musste den ganzen Monat daran denken, mit welcher Frau sich Klima an diesem Tag wohl treffen würde, und sie schlief den ganzen Monat schlecht.
Wenn die heimtückische Welt der Frauen sie so sehr entsetzte, konnte sie zum Trost nicht in die Welt der Männer flüchten?
Schwerlich. Die Eifersucht hat die wundersame Macht, den Einzigen mit grellem Licht anzustrahlen und die Massen der übrigen Männer in völliger Finsternis versinken zu lassen. Frau Klimas Gedanken konnten sich nur in Richtung dieser quälenden Strahlen bewegen, und ihr Mann wurde zum einzigen Mann auf der Welt.
Jetzt hörte sie den Schlüssel im Schloss, und sie sah ihren Trompeter mit einem Rosenstrauß.
Im ersten Augenblick empfand sie Freude, unmittelbar danach aber meldeten sich Zweifel: Warum brachte er die Blumen schon heute, wenn sie erst morgen Geburtstag hatte? Was hatte das schon wieder zu bedeuten?
»Bist du morgen nicht da?«, hieß sie ihn willkommen.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main.
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Autoren-Porträt von Milan Kundera
Milan Kundera, 1929 in Brünn, ehemals Tschechoslowakei, geboren, ging 1975 ins Exil nach Frankreich, wo er seither lebte und publizierte. Sein Werk wurde in alle Weltsprachen übersetzt und mit zahlreichen internationalen Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Nelly-Sachs-Preis (1987), dem Staatspreis für Literatur der Tschechischen Republik (2007) und dem Franz-Kafka-Preis (2020). Milan Kundera starb im Juli 2023 in Paris.
Bibliographische Angaben
- Autor: Milan Kundera
- 2013, 2. Aufl., 304 Seiten, Maße: 12,5 x 18,8 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Susanna Roth
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596197384
- ISBN-13: 9783596197385
- Erscheinungsdatum: 21.10.2013
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