Aleph
Roman
In der Transsibirischen Eisenbahn begegnet ein Schriftsteller einer jungen Stargeigerin - und gleichzeitig einer dunklen Seite seines früheren Lebens. Er gerät in ein Paralleluniversum - das "Aleph". Und er erhält eine Chance, eine alte...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Aleph “
In der Transsibirischen Eisenbahn begegnet ein Schriftsteller einer jungen Stargeigerin - und gleichzeitig einer dunklen Seite seines früheren Lebens. Er gerät in ein Paralleluniversum - das "Aleph". Und er erhält eine Chance, eine alte Schuld zu bewältigen und sein Leben noch einmal neu zu beginnen.
Klappentext zu „Aleph “
Innehalten. Nachdenken. Träumen. Sich ausprobieren. Sich neu entdecken. Wach werden. Wagen. Handeln. Gewinnen. Mit Aleph beginnt Ihr Leben neu!
Lese-Probe zu „Aleph “
Aleph von Paulo Coelho Aus dem Brasilianischen von Maralde Meyer-Minnemann
...
Hilal ist in einem hochgradig geschmacklosen grellbunten Kleid erschienen, das sich von der schlichten Kleidung der anderen Gäste unangenehm abhebt. Aus Verlegenheit über den unverhofften Gast weist man Hilal schließlich den Ehrenplatz an der Seite des Hausherrn zu.
Bevor wir zu Tisch gehen, informiert mich mein bester Freund in Russland, ein Industrieller, es gebe Probleme mit einer meiner Agentinnen. Sie habe sich während des ganzen Empfangs, der dem Abendessen voranging, mit ihrem Ehemann am Telefon gestritten.
»Worüber denn?«
»Angeblich hattest du versprochen, in den Club zu kommen, wo ihr Mann Geschäftsführer ist, dann aber abgesagt.«
Tatsächlich stand in meinem Terminkalender so etwas wie »Menü für Reise durch Sibirien durchsprechen«, was so ungefähr das Letzte war, was mich an einem solchen Nachmittag interessierte. Ich hatte den Termin abgesagt, weil es mir völlig absurd erschien: Ich hatte in meinem ganzen Leben noch nie eine Menüfolge diskutiert. Stattdessen hatte ich es vorgezogen, ins Hotel zu gehen, zu duschen und mich vom Rauschen des Wassers an mir völlig unbekannte Orte entführen zu lassen.
Das Abendessen wird serviert, man unterhält sich quer über den Tisch, und irgendwann fragt die Frau des Botschafters Hilal freundlich, woher sie stamme.
»Ich bin in der Türkei geboren und bin mit zwölf Jahren nach Jekaterinburg gekommen, um Geige zu studieren. Sie wissen bestimmt, wie so ein Auswahlverfahren für angehende Musiker läuft, oder?«
... mehr
Die Botschaftergattin verneint. Wie auf ein Stichwort verebben die anderen Tischgespräche. Plötzlich scheinen sich alle für die so unpassende junge Frau mit dem geschmacklosen Kleid zu interessieren.
»Jedes Kind, das anfängt, ein Instrument zu spielen, muss eine festgelegte Anzahl von Stunden pro Woche üben. In diesem Stadium gehen alle noch davon aus, dass sie dereinst imstande sind, in einem Orchester zu spielen. Wenn sie älter werden, fangen einige an, mehr zu üben als die anderen. Zum Schluss bleibt eine kleine Gruppe besonders talentierter Jugendlicher übrig, die wöchentlich vierzig Stunden üben, und wenn die Scouts der großen Orchester auf der Suche nach neuen Talenten in die Musikschule kommen, sind das natürlich die Schüler, die sie sehen wollen. Ich war eine von ihnen.«
»Sie haben offensichtlich Ihre Berufung gefunden«, sagt die Frau des Botschafters, »so viel Glück hat nicht jeder.«
»Ich würde es nicht gerade meine Berufung nennen. Ich habe bloß deshalb so viele Stunden in der Woche geübt, weil ich mit zehn Jahren missbraucht wurde.«
Spätestens jetzt verstummt jede andere Konversation am Tisch. Der Botschafter versucht, das Thema zu wechseln, indem er einwirft, dass Brasilien neuerdings mit Russland über den Ex- und Import von Schwerindustrie verhandelt. Aber keiner am Tisch, nicht einer, ist jetzt an Handelsbilanzen interessiert. Es liegt an mir, den Faden der Geschichte wiederaufzunehmen.
»Hilal, wenn es Ihnen nicht unangenehm ist, ich denke, jeder hier am Tisch würde gerne wissen, welcher Zusammenhang zwischen einer Vergewaltigung und einer Karriere als Geigenvirtuosin besteht.«
»Was bedeutet Ihr Name?«, fragt die Frau des Botschafters in einem letzten verzweifelten Versuch, das Gespräch in andere Bahnen zu lenken.
»Auf Türkisch bedeutet Hilal Neumond, wie das Emblem auf unserer Landesfahne. Mein Vater war ein radikaler Nationalist. Eigentlich ist Hilal eher ein Männer- und weniger ein Frauenname. Im Arabischen scheint Hilal etwas anderes zu heißen, aber ich weiß es nicht genau.«
Ich gebe mich nicht geschlagen.
»Aber, um noch einmal auf das zurückzukommen, worüber wir gerade sprachen. Macht es Ihnen etwas aus, es uns zu erzählen? Wir sind doch sozusagen unter uns.«
Unter uns? Die meisten Leute sind sich bei diesem Abendessen zum ersten Mal begegnet.
Alle sind plötzlich eifrig mit ihren Tellern, ihrem Besteck und ihren Gläsern beschäftigt und tun so, als seien sie ganz auf das Essen konzentriert. In Wahrheit aber brennen sie darauf, auch noch den Rest der Geschichte zu hören. Hilal antwortet, als wäre das alles nichts Besonderes.
»Es war ein Nachbar, freundlich, hilfsbereit, dem man auch in schwierigen Situationen vertraute. Er war verheiratet und hatte zwei Töchter in meinem Alter. Jedes Mal, wenn ich in sein Haus kam, um mit den Mädchen zu spielen, setzte er mich auf seinen Schoß und erzählte mir Geschichten. Allerdings streichelte er mich dabei immer, was ich anfangs als Ausdruck seiner Zuneigung deutete. Irgendwann wanderte seine Hand zwischen meine Beine, und er wollte, dass ich seinen Penis berühre, solche Dinge.«
Sie sieht die fünf Frauen, die mit am Tisch sitzen, an und fügt hinzu:
»Ich glaube, das kommt leider gar nicht so selten vor. Meinen Sie nicht auch?«
Keine von ihnen antwortet. Mein Gefühl sagt mir jedoch, dass mindestens eine oder zwei ähnliche Erfahrungen gemacht haben.
»Doch das war nicht das Schlimmste, sondern dass ich begann, Gefallen daran zu finden, obwohl ich wusste, dass es nicht richtig war. Eines Tages beschloss ich, nicht wieder dorthin zu gehen, obwohl meine Eltern darauf bestanden, ich solle mehr mit den Töchtern unseres Nachbarn spielen. Damals hatte ich gerade begonnen, Geige zu lernen, und erklärte meinen Eltern, dass ich im Unterricht nicht gut genug sei und noch mehr üben müsse. Ich fing an, geradezu zwanghaft und verzweifelt zu spielen.«
Keiner am Tisch rührt sich, keiner weiß so recht, was er dazu sagen soll.
»Und wie alle Opfer fühlte auch ich mich am Ende schuldig, so sehr, dass ich mich unbewusst immer weiter bestrafte. Seither waren all meine Beziehungen zu Männern immer von Leiden, Konflikten und Verzweiflung geprägt.«
Sie starrt mich an, was keinem am Tisch entgeht.
»Aber das wird sich jetzt ändern, nicht wahr?«
Obwohl ich in solchen Situationen sonst immer etwas zu sagen weiß, fällt mir jetzt nichts mehr ein. Ich murmele nur »ich hoffe doch« und spreche dann übergangslos über das schöne Gebäude, in dem die brasilianische Botschaft in Moskau untergebracht ist.
***
Nach dem Abendessen erkundige ich mich, wo Hilal untergebracht ist, und frage meinen Freund, ob er sie nicht nach Hause bringen könnte, bevor er mich im Hotel absetzt. Er willigt ein.
»Vielen Dank für die Musik. Vielen Dank, dass Sie Ihre Geschichte mit Menschen geteilt haben, die Ihnen vollkommen fremd waren. Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf: Widmen Sie jeden Morgen, wenn Ihr Geist noch leer ist, dem Göttlichen etwas Zeit. Die Luft enthält eine kosmische Kraft, für die jede Kultur einen anderen Namen hat, aber der Name ist unwichtig. Es kommt darauf an, zu tun, was ich Ihnen jetzt sage. Atmen Sie tief ein, und bitten Sie, dass die Gnade, die in der Luft enthalten ist, in Ihren Körper eindringt und sich auf jede einzelne Zelle verteilt. Atmen Sie langsam aus, und übertragen Sie die Freude und den Frieden auf Ihre Umgebung. Wiederholen Sie das zehnmal. Damit werden Sie sich selber heilen und so auch zur Heilung der Welt beitragen.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Nichts. Versuchen Sie es. Dann werden sich Ihre negativen Gefühle für die Liebe ändern. Lassen Sie sich nicht von einer Kraft zerstören, die eigentlich in unsere Herzen gelegt wurde, um alles besser zu machen. Atmen Sie ein, und nehmen Sie in sich auf, was im Himmel und auf der Erde existiert. Atmen Sie aus, und bringen Sie dabei Schönheit und Fruchtbarkeit in die Welt. Glauben Sie mir, es wird funktionieren.«
»Ich bin nicht hergekommen, um eine Übung zu lernen, die ich in jedem Yogahandbuch finden kann«, sagt Hilal ärgerlich.
Draußen zieht Moskau an uns vorbei. Ich würde gern durch diese Straßen gehen, einen Kaffee trinken, aber der Tag war lang, und ich muss am nächsten Tag früh aufstehen, um eine Reihe von Terminen wahrzunehmen.
»Dann darf ich also mitkommen?«
Hat diese Frau kein anderes Thema? Ich habe sie vor weniger als vierundzwanzig Stunden kennengelernt - wenn man ein derart seltsames Aufeinandertreffen »Kennenlernen « nennen kann. Mein Freund lacht. Ich versuche, ernst zu bleiben.
»Hören Sie, ich habe Sie schon zum Abendessen beim Botschafter mitgenommen. Ich mache diese Reise nicht, um für meine Bücher zu werben, sondern ...«
Ich zögere etwas.
»... aus ganz persönlichen Gründen.«
»Das weiß ich.«
Etwas in der Art, wie sie diesen Satz ausspricht, versucht mich, ihr zu glauben. Aber ich entscheide mich, diesem Gefühl nicht zu trauen.
»Viele Männer mussten schon meinetwegen leiden, und auch ich habe schon viel gelitten«, fährt Hilal fort. »Meine Seele fließt über vom Licht der Liebe, aber es kann sich keinen Weg bahnen, denn es wird vom Schmerz aufgehalten. Ich könnte für den Rest meines Lebens jeden Morgen ein- und ausatmen, ändern würde es nichts. Ich habe versucht, diese Liebe mit der Geige auszudrücken, aber das ist nicht genug. Ich weiß, dass Sie mich heilen können und dass umgekehrt ich Sie heilen kann. Ich habe das Feuer auf dem benachbarten Berg entzündet, Sie können auf mich zählen.«
Was wollte sie damit sagen?
»Was uns verletzt, heilt uns zugleich«, fährt sie fort. »Das Leben war sehr hart zu mir, hat mich aber gleichzeitig vieles gelehrt. Auch wenn Sie es nicht sehen, mein Körper ist voller offener Wunden, die die ganze Zeit bluten. Morgens erwache ich mit dem Wunsch, zu sterben, bevor der Tag endet, aber ich lebe weiter, leide und kämpfe, kämpfe und leide, während ich mich an die Gewissheit klammere, dass dies alles eines Tages ein Ende haben wird. Bitte lassen Sie mich hier nicht allein zurück. Diese Reise ist meine Rettung. «
Mein Freund bremst seinen Wagen, greift in die Tasche und gibt Hilal ein Bündel Banknoten.
»Der Zug gehört ihm nicht. Nehmen Sie das, ich glaube, es sollte mehr als genug sein für eine Fahrkarte zweiter Klasse und drei Mahlzeiten am Tag.«
Und zu mir gewandt fügt er hinzu:
»Du weißt, was ich gerade durchmache. Die Frau, die ich liebte, ist gestorben, und auch ich kann den Rest meines Lebens ein- und ausatmen, soviel ich will, ich werde nie wieder wirklich glücklich sein können. Ich verstehe genau, was diese junge Frau meint, wenn sie von offenen Wunden spricht. Ich weiß, dass Sie diese Reise aus ganz persönlichen Gründen machen, aber lassen Sie sie nicht einfach so stehen. Wenn Sie an die Worte glauben, die Sie schreiben, erlauben Sie, dass andere mit Ihnen wachsen.«
»Gut, er hat recht, ich kann nicht darüber bestimmen, wer in diesem Zug reist. Aber Sie, Hilal, sollten wissen, dass ich unterwegs die meiste Zeit von Menschen umgeben sein werde und wenig Zeit für Gespräche unter vier Augen bleibt.«
Mein Freund gibt wieder Gas und fährt eine Viertelstunde lang schweigend. Wir erreichen einen baumbestandenen Platz. Hilal bittet dort anzuhalten, steigt aus und verabschiedet sich. Ich begleite sie bis zur Eingangstür des Hauses, wo sie bei Freunden übernachtet.
Sie küsst mich flüchtig auf den Mund.
»Ihr Freund irrt sich, aber wenn ich mich zu offensichtlich freue, würde er das Geld zurückhaben wollen«, sagt sie lächelnd. »Mir geht es längst nicht so schlecht wie ihm. Übrigens war ich noch nie glücklicher als jetzt, weil ich den Zeichen gefolgt bin und ich Geduld hatte und weiß, dass sich jetzt alles verändern wird.«
Sie dreht sich um und geht ins Haus.
Erst in diesem Augenblick, als ich zum Wagen zurückgehe, meinen Freund ansehe, der ausgestiegen ist, um eine Zigarette zu rauchen, und lächelt, weil er den Kuss gesehen hat; als ich höre, wie der Wind das frische Grün der Bäume bewegt; als mir bewusst wird, dass ich mich in einer Stadt befinde, die ich liebe, ohne sie allzu gut zu kennen; als ich in meiner Tasche ebenfalls nach einer Zigarette suche und daran denke, dass morgen ein Abenteuer beginnt, von dem ich schon so lange geträumt habe - erst in diesem Augenblick ...
... erst in diesem Augenblick fällt mir wieder die Prophezeiung des Sehers ein, dem ich im Haus von Véronique begegnet bin. Er hatte irgendetwas über die Türkei gesagt, aber was genau es war, will mir einfach nicht mehr einfallen.
...
Copyright © Diogenes Verlag.
Die Botschaftergattin verneint. Wie auf ein Stichwort verebben die anderen Tischgespräche. Plötzlich scheinen sich alle für die so unpassende junge Frau mit dem geschmacklosen Kleid zu interessieren.
»Jedes Kind, das anfängt, ein Instrument zu spielen, muss eine festgelegte Anzahl von Stunden pro Woche üben. In diesem Stadium gehen alle noch davon aus, dass sie dereinst imstande sind, in einem Orchester zu spielen. Wenn sie älter werden, fangen einige an, mehr zu üben als die anderen. Zum Schluss bleibt eine kleine Gruppe besonders talentierter Jugendlicher übrig, die wöchentlich vierzig Stunden üben, und wenn die Scouts der großen Orchester auf der Suche nach neuen Talenten in die Musikschule kommen, sind das natürlich die Schüler, die sie sehen wollen. Ich war eine von ihnen.«
»Sie haben offensichtlich Ihre Berufung gefunden«, sagt die Frau des Botschafters, »so viel Glück hat nicht jeder.«
»Ich würde es nicht gerade meine Berufung nennen. Ich habe bloß deshalb so viele Stunden in der Woche geübt, weil ich mit zehn Jahren missbraucht wurde.«
Spätestens jetzt verstummt jede andere Konversation am Tisch. Der Botschafter versucht, das Thema zu wechseln, indem er einwirft, dass Brasilien neuerdings mit Russland über den Ex- und Import von Schwerindustrie verhandelt. Aber keiner am Tisch, nicht einer, ist jetzt an Handelsbilanzen interessiert. Es liegt an mir, den Faden der Geschichte wiederaufzunehmen.
»Hilal, wenn es Ihnen nicht unangenehm ist, ich denke, jeder hier am Tisch würde gerne wissen, welcher Zusammenhang zwischen einer Vergewaltigung und einer Karriere als Geigenvirtuosin besteht.«
»Was bedeutet Ihr Name?«, fragt die Frau des Botschafters in einem letzten verzweifelten Versuch, das Gespräch in andere Bahnen zu lenken.
»Auf Türkisch bedeutet Hilal Neumond, wie das Emblem auf unserer Landesfahne. Mein Vater war ein radikaler Nationalist. Eigentlich ist Hilal eher ein Männer- und weniger ein Frauenname. Im Arabischen scheint Hilal etwas anderes zu heißen, aber ich weiß es nicht genau.«
Ich gebe mich nicht geschlagen.
»Aber, um noch einmal auf das zurückzukommen, worüber wir gerade sprachen. Macht es Ihnen etwas aus, es uns zu erzählen? Wir sind doch sozusagen unter uns.«
Unter uns? Die meisten Leute sind sich bei diesem Abendessen zum ersten Mal begegnet.
Alle sind plötzlich eifrig mit ihren Tellern, ihrem Besteck und ihren Gläsern beschäftigt und tun so, als seien sie ganz auf das Essen konzentriert. In Wahrheit aber brennen sie darauf, auch noch den Rest der Geschichte zu hören. Hilal antwortet, als wäre das alles nichts Besonderes.
»Es war ein Nachbar, freundlich, hilfsbereit, dem man auch in schwierigen Situationen vertraute. Er war verheiratet und hatte zwei Töchter in meinem Alter. Jedes Mal, wenn ich in sein Haus kam, um mit den Mädchen zu spielen, setzte er mich auf seinen Schoß und erzählte mir Geschichten. Allerdings streichelte er mich dabei immer, was ich anfangs als Ausdruck seiner Zuneigung deutete. Irgendwann wanderte seine Hand zwischen meine Beine, und er wollte, dass ich seinen Penis berühre, solche Dinge.«
Sie sieht die fünf Frauen, die mit am Tisch sitzen, an und fügt hinzu:
»Ich glaube, das kommt leider gar nicht so selten vor. Meinen Sie nicht auch?«
Keine von ihnen antwortet. Mein Gefühl sagt mir jedoch, dass mindestens eine oder zwei ähnliche Erfahrungen gemacht haben.
»Doch das war nicht das Schlimmste, sondern dass ich begann, Gefallen daran zu finden, obwohl ich wusste, dass es nicht richtig war. Eines Tages beschloss ich, nicht wieder dorthin zu gehen, obwohl meine Eltern darauf bestanden, ich solle mehr mit den Töchtern unseres Nachbarn spielen. Damals hatte ich gerade begonnen, Geige zu lernen, und erklärte meinen Eltern, dass ich im Unterricht nicht gut genug sei und noch mehr üben müsse. Ich fing an, geradezu zwanghaft und verzweifelt zu spielen.«
Keiner am Tisch rührt sich, keiner weiß so recht, was er dazu sagen soll.
»Und wie alle Opfer fühlte auch ich mich am Ende schuldig, so sehr, dass ich mich unbewusst immer weiter bestrafte. Seither waren all meine Beziehungen zu Männern immer von Leiden, Konflikten und Verzweiflung geprägt.«
Sie starrt mich an, was keinem am Tisch entgeht.
»Aber das wird sich jetzt ändern, nicht wahr?«
Obwohl ich in solchen Situationen sonst immer etwas zu sagen weiß, fällt mir jetzt nichts mehr ein. Ich murmele nur »ich hoffe doch« und spreche dann übergangslos über das schöne Gebäude, in dem die brasilianische Botschaft in Moskau untergebracht ist.
***
Nach dem Abendessen erkundige ich mich, wo Hilal untergebracht ist, und frage meinen Freund, ob er sie nicht nach Hause bringen könnte, bevor er mich im Hotel absetzt. Er willigt ein.
»Vielen Dank für die Musik. Vielen Dank, dass Sie Ihre Geschichte mit Menschen geteilt haben, die Ihnen vollkommen fremd waren. Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf: Widmen Sie jeden Morgen, wenn Ihr Geist noch leer ist, dem Göttlichen etwas Zeit. Die Luft enthält eine kosmische Kraft, für die jede Kultur einen anderen Namen hat, aber der Name ist unwichtig. Es kommt darauf an, zu tun, was ich Ihnen jetzt sage. Atmen Sie tief ein, und bitten Sie, dass die Gnade, die in der Luft enthalten ist, in Ihren Körper eindringt und sich auf jede einzelne Zelle verteilt. Atmen Sie langsam aus, und übertragen Sie die Freude und den Frieden auf Ihre Umgebung. Wiederholen Sie das zehnmal. Damit werden Sie sich selber heilen und so auch zur Heilung der Welt beitragen.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Nichts. Versuchen Sie es. Dann werden sich Ihre negativen Gefühle für die Liebe ändern. Lassen Sie sich nicht von einer Kraft zerstören, die eigentlich in unsere Herzen gelegt wurde, um alles besser zu machen. Atmen Sie ein, und nehmen Sie in sich auf, was im Himmel und auf der Erde existiert. Atmen Sie aus, und bringen Sie dabei Schönheit und Fruchtbarkeit in die Welt. Glauben Sie mir, es wird funktionieren.«
»Ich bin nicht hergekommen, um eine Übung zu lernen, die ich in jedem Yogahandbuch finden kann«, sagt Hilal ärgerlich.
Draußen zieht Moskau an uns vorbei. Ich würde gern durch diese Straßen gehen, einen Kaffee trinken, aber der Tag war lang, und ich muss am nächsten Tag früh aufstehen, um eine Reihe von Terminen wahrzunehmen.
»Dann darf ich also mitkommen?«
Hat diese Frau kein anderes Thema? Ich habe sie vor weniger als vierundzwanzig Stunden kennengelernt - wenn man ein derart seltsames Aufeinandertreffen »Kennenlernen « nennen kann. Mein Freund lacht. Ich versuche, ernst zu bleiben.
»Hören Sie, ich habe Sie schon zum Abendessen beim Botschafter mitgenommen. Ich mache diese Reise nicht, um für meine Bücher zu werben, sondern ...«
Ich zögere etwas.
»... aus ganz persönlichen Gründen.«
»Das weiß ich.«
Etwas in der Art, wie sie diesen Satz ausspricht, versucht mich, ihr zu glauben. Aber ich entscheide mich, diesem Gefühl nicht zu trauen.
»Viele Männer mussten schon meinetwegen leiden, und auch ich habe schon viel gelitten«, fährt Hilal fort. »Meine Seele fließt über vom Licht der Liebe, aber es kann sich keinen Weg bahnen, denn es wird vom Schmerz aufgehalten. Ich könnte für den Rest meines Lebens jeden Morgen ein- und ausatmen, ändern würde es nichts. Ich habe versucht, diese Liebe mit der Geige auszudrücken, aber das ist nicht genug. Ich weiß, dass Sie mich heilen können und dass umgekehrt ich Sie heilen kann. Ich habe das Feuer auf dem benachbarten Berg entzündet, Sie können auf mich zählen.«
Was wollte sie damit sagen?
»Was uns verletzt, heilt uns zugleich«, fährt sie fort. »Das Leben war sehr hart zu mir, hat mich aber gleichzeitig vieles gelehrt. Auch wenn Sie es nicht sehen, mein Körper ist voller offener Wunden, die die ganze Zeit bluten. Morgens erwache ich mit dem Wunsch, zu sterben, bevor der Tag endet, aber ich lebe weiter, leide und kämpfe, kämpfe und leide, während ich mich an die Gewissheit klammere, dass dies alles eines Tages ein Ende haben wird. Bitte lassen Sie mich hier nicht allein zurück. Diese Reise ist meine Rettung. «
Mein Freund bremst seinen Wagen, greift in die Tasche und gibt Hilal ein Bündel Banknoten.
»Der Zug gehört ihm nicht. Nehmen Sie das, ich glaube, es sollte mehr als genug sein für eine Fahrkarte zweiter Klasse und drei Mahlzeiten am Tag.«
Und zu mir gewandt fügt er hinzu:
»Du weißt, was ich gerade durchmache. Die Frau, die ich liebte, ist gestorben, und auch ich kann den Rest meines Lebens ein- und ausatmen, soviel ich will, ich werde nie wieder wirklich glücklich sein können. Ich verstehe genau, was diese junge Frau meint, wenn sie von offenen Wunden spricht. Ich weiß, dass Sie diese Reise aus ganz persönlichen Gründen machen, aber lassen Sie sie nicht einfach so stehen. Wenn Sie an die Worte glauben, die Sie schreiben, erlauben Sie, dass andere mit Ihnen wachsen.«
»Gut, er hat recht, ich kann nicht darüber bestimmen, wer in diesem Zug reist. Aber Sie, Hilal, sollten wissen, dass ich unterwegs die meiste Zeit von Menschen umgeben sein werde und wenig Zeit für Gespräche unter vier Augen bleibt.«
Mein Freund gibt wieder Gas und fährt eine Viertelstunde lang schweigend. Wir erreichen einen baumbestandenen Platz. Hilal bittet dort anzuhalten, steigt aus und verabschiedet sich. Ich begleite sie bis zur Eingangstür des Hauses, wo sie bei Freunden übernachtet.
Sie küsst mich flüchtig auf den Mund.
»Ihr Freund irrt sich, aber wenn ich mich zu offensichtlich freue, würde er das Geld zurückhaben wollen«, sagt sie lächelnd. »Mir geht es längst nicht so schlecht wie ihm. Übrigens war ich noch nie glücklicher als jetzt, weil ich den Zeichen gefolgt bin und ich Geduld hatte und weiß, dass sich jetzt alles verändern wird.«
Sie dreht sich um und geht ins Haus.
Erst in diesem Augenblick, als ich zum Wagen zurückgehe, meinen Freund ansehe, der ausgestiegen ist, um eine Zigarette zu rauchen, und lächelt, weil er den Kuss gesehen hat; als ich höre, wie der Wind das frische Grün der Bäume bewegt; als mir bewusst wird, dass ich mich in einer Stadt befinde, die ich liebe, ohne sie allzu gut zu kennen; als ich in meiner Tasche ebenfalls nach einer Zigarette suche und daran denke, dass morgen ein Abenteuer beginnt, von dem ich schon so lange geträumt habe - erst in diesem Augenblick ...
... erst in diesem Augenblick fällt mir wieder die Prophezeiung des Sehers ein, dem ich im Haus von Véronique begegnet bin. Er hatte irgendetwas über die Türkei gesagt, aber was genau es war, will mir einfach nicht mehr einfallen.
...
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Autoren-Porträt von Paulo Coelho
Paulo Coelho, geboren 1947 in Rio de Janeiro, ist einer der meistgelesenen Schriftsteller der Welt. Seine Romane, insbesondere "Der Alchimist, Veronika beschließt zu sterben, Brida, Elf Minuten und Aleph" wurden Weltbestseller, die in einer Auflage von über 150 Millionen Exemplaren in mehr als 80 Sprachen und in über 200 Ländern erschienen sind.Paulo Coelho hat 26 Werke veröffentlicht und ist seit 2002 Mitglied der brasilianischen Academia de Letras. Als Autor hat er mit mehr als 23 Millionen Followern die größte Fangemeinde in den Social Media.
Bibliographische Angaben
- Autor: Paulo Coelho
- 2013, 07. Aufl., 320 Seiten, Maße: 11,2 x 18 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Maralde Meyer-Minnemann
- Verlag: Diogenes
- ISBN-10: 3257242425
- ISBN-13: 9783257242423
- Erscheinungsdatum: 22.08.2013
Pressezitat
»Coelho berührt mit seiner einfachen, schnörkellosen Sprache, die ungeheuer fesseln und begeistern kann, Menschen in ihrem Innersten.« Britta Bingmann / Westdeutsche Allgemeine Zeitung Westdeutsche Allgemeine Zeitung
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