Alfred Rosenberg
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Ernst Piper, ein ausgewiesener Experte für das Dritte Reich, hat Archive auf der ganzen Welt aufgesucht und den Lebensweg dieser entscheidenden, von der Forschung bislang vernachlässigten NS-Figur umfassend rekonstruiert.
Die Macht im Staat zu erringen, war Alfred Rosenberg nicht genug. Sein eigentlicher Kampf begann erst nach der »Machtergreifung«, der Kampf um die Seelen der Menschen. Wer die ideologische Formierung des NS-Staates verstehen will, kommt an Alfred Rosenberg nicht vorbei. Nach bescheidenen Anfängen als völkischer Publizist und Agitator wurde er zum Weltanschauungsbeauftragten eines totalitären Regimes.
Ernst Piper, ein ausgewiesener Experte für das Dritte Reich, hat Archive auf der ganzen Welt aufgesucht und den Lebensweg dieser entscheidenden, von der Forschung bislang vernachlässigten NS-Figur umfassend rekonstruiert.
Alfred Rosenberg, Hitlers Weggefährte in dessen ersten Jahren in München, gilt gemeinhin als Chefideologe der NSDAP. Er war Herausgeber vieler wichtiger nationalsozialistischer Periodika wie zum Beispiel dem »Völkischen Beobachter« und befehligte eine Reihe von Organisationen, unter anderem den Kampfbund für deutsche Kultur, das Amt Rosenberg, die Nordische Gesellschaft, den Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg. 1941, als mit dem Überfall auf die Sowjetunion der Kampf mit dem »jüdischbolschewistischen Weltfeind« begann, wurde er Reichsminister für die besetzten Ostgebiete. War er bis dahin vor allem Vordenker eines Weltanschauungsstaats gewesen, stand er nun auch als Politiker in vorderster Front. Der Krieg im Osten war von Anfang an ein ideologischer Vernichtungskrieg, zu dessen Legitimation ein Rosenberg gebraucht wurde. Im Rücken der Front vollzog sich der Mord an sechs Millionen Juden. Rosenberg hatte maßgeblichen Anteil an der Entstehung des antisemitischen Weltbilds der Nazis, spielte eine zentrale Rolle bei der öffentlichen Legitimierung der Vernichtungsmaßnahmen und war auch an ihrer Durchführung beteiligt. In Nürnberg wurde Rosenberg vor dem Internationalen Gerichtshof als Hauptkriegsverbrecher angeklagt, in allen Punkten der Anklage
Alfred Rosenberg hatte maßgeblichen Anteil an der Entstehung des antisemitischen Weltbilds der Nazis; er spielte eine zentrale Rolle bei der öffentlichen Legitimierung der NS-Verbrechen, an deren Durchführung er auch beteiligt war. Ernst Piper, ein ausgewiesener Historiker des Nationalsozialismus, hat Archive auf der ganzen Welt aufgesucht und den Lebensweg sowie die Bedeutung dieser von der Forschung bislang vernachlässigten Figur umfassend rekonstruiert. Wer die weltanschauliche Perfidie des NS-Staats verstehen will, kommt an dieser Biographie nicht vorbei.
"Piper hat ein Standardwerk vorgelegt, an dem die zukünftige NS-Forschung nicht vorbeikommen wird." - Prof. Dr. Sönke Neitzel, Damals
"Ernst Piper hat [eine repräsentative Biografie] vorgelegt, voluminös, zuverlässig, souverän, auf breitester Literatur- und Quellenbasis geschrieben, ein Werk, das für lange Zeit die massgebliche Studie zu Rosenberg bleiben wird." - Ulrich Teusch, Neue Zürcher Zeitung
"Piper erzählt dieses Leben nicht im Stil der klassischen Biographie, die möglichst nah an ihr Objekt heran will, sondern aus ironischer Distanz, die Rosenbergs moralische Beurteilung ebenso im Blick behält wie sie dem historischen Umfeld viel Platz einräumt. Quasi ein Porträt im Weitwinkel, das sich auch als Geschichte der NSDAP betrachten lässt." - Süddeutsche Zeitung
AlfredRosenberg von Ernst Piper
LESEPROBE
Einleitung
Wer sich mit der Person Alfred Rosenbergs beschäftigt,stößt auf eigentümlich kontrastierende Urteile. In der zeitgenössischenLiteratur galt er als ideologischer Kopf der nationalsozialistischen Bewegung,als Programmatiker, als Chefdenker. So hieß es zum Beispiel in dem 1934 im PariserExil erschienenen Buch »Naziführer sehen Dich an«: »Hitler befiehlt, was Rosenbergwill.«1 Hitler galt als das Medium, mit dessen Hilfe Rosenberg die Bewegungdirigierte. Ähnliche Urteile kann man bei so unterschiedlichen Autoren wieKonrad Heiden und Otto Strasser und noch vielen anderen finden. Ein ganz andersgeartetes Bild Alfred Rosenbergs zeigt sich in der Nachkriegsliteratur. Prägendhat hier, zumindest im deutschen Sprachraum, Joachim Fest gewirkt, derRosenberg in seinem frühen Werk »Das Gesicht des Dritten Reiches« als»vergessenen Gefolgsmann« porträtierte:
»Die Tragödie Alfred Rosenbergs war, dass er an denNationalsozialismus wirklich geglaubt hat. Die rechthaberische Gewissheit, mitder er sich als der Schriftgelehrte einer neuen irdischen Heilsbotschaftempfand, machte ihn innerhalb der Führungsspitze der NSDAP zu einem kuriosenund vielfach belächelten Einzelgänger - zum Philosophen einer Bewegung, derenPhilosophie am Ende nahezu immer die Macht war. Rosenberg selbst hat dasfreilich nie erkannt oder gar anerkannt und wurde gerade deshalb im Verlauf derJahre, als der Machtgedanke die ideologischen Drapierungen zusehendsüberspielte, zum vergessenen Gefolgsmann: kaum noch ernst genommen, mutwilligübersehen und herumgestoßen, ein Requisit aus der ideologisch gestimmtenFrühzeit, der Werbephase der Partei.«2
Fest unterschied damals zwischen »Technikern undPraktikern der totalitären Herrschaft« einerseits, das waren die mächtigenMänner wie Göring, Goebbels, Himmler und Bormann, und dem »Personal dertotalitären Herrschaft« andererseits. »Personal« klingt nach Staffage.Tatsächlich bildete Fest hier eine höchst ungleichgewichtige Equipe, der sounterschiedliche Leute angehörten wie der unsägliche Papen, der überausmächtige Speer, außerdem Ribbentrop, Heß und von Schirach sowie Typen wie »Generalvon Icks« und »Professor NSDAP« und eben Alfred Rosenberg. Fests Diktum hatteeinen langen Nachhall. Bis heute fehlt eine umfassende Biographie Rosenbergs,obwohl andererseits dieser Umstand in der Literatur immer wieder beklagt wordenist.3 Den Lebensgang dieses »vergessenen Gefolgsmannes« nachzuzeichnen,erschien nicht als lohnendes Unterfangen. Und der Ideologe war in der nach denErfahrungen des Dritten Reiches dezidiert antiideologisch gestimmtenBundesrepublik kein Thema. Die erste bedeutende Arbeit über Alfred Rosenbergwar die Dissertation von Reinhard Bollmus (1968, gedruckt 1970). Sie hatte dasAmt Rosenberg zum Gegenstand, ähnlich wie schon eine amerikanische Dissertationeinige Jahre zuvor. Doch die Titel der beiden Arbeiten hätten unterschiedlichernicht sein können. Bollmus Arbeit hieß »Das Amt Rosenberg und seine Gegner.Zum Machtkampf im nationalsozialistischen Herrschaftssystem«, während Rothfederfür die seine den Titel »A Study of Alfred Rosenberg s Organization forNational Socialist Ideology« gewählt hatte. Der eine hob auf die PositionRosenbergs in der nationalsozialistischen Polykratie ab, auf die bekanntenFragen, inwieweit Rosenberg sich wann gegen wen in welchem Umfang durchsetzenkonnte. Dem anderen ging es um die praktische Implementierung der von Rosenbergvertretenen Ideologie. Beide fragten nach der Wirkung, verwendeten dabei aberhöchst unterschiedliche Parameter. Und so sollte es bleiben. Die deutschenAutoren bewegten sich in den Bahnen der Institutionengeschichte.
Jacobsen (1968), Lutzhöft (1971), Gimmel (1999) undZellhuber (2005) verdanken wir material- und aufschlussreiche Arbeiten zum AußenpolitischenAmt, der Nordischen Gesellschaft, dem Kampfbund für deutsche Kultur und demReichsministerium für die besetzten Ostgebiete, während über andereArbeitsfelder, wie z.B. den Völkischen Beobachter4 und den EinsatzstabReichsleiter Rosenberg, Darstellungen von vergleichbarer Qualität immer nochfehlen. Die genannten Arbeiten leisten bedeutende Beiträge zu unserem Wissenüber die Zeit des Nationalsozialismus, aber wir erfahren nur wenig über dasDenken jenes Mannes, der die untersuchten Institutionen geleitet hat. DieserFrage haben sich dagegen Autoren wie Chandler (1968), Cecil (1972), Hutchinson(1977) und Whisker (1982) gewidmet, die sämtlich im angloamerikanischenSprachraum beheimatet sind und hierzulande kaum Beachtung gefunden haben. Wennwir einmal von dem gänzlich unbeachtlichen Beitrag von Molau (1993) absehen,der inzwischen für die NPD tätig ist, haben sich erst Bärsch und Kroll (beide1998) mit Rosenberg unter ideengeschichtlichen Vorzeichen auseinander gesetzt.
Zu der These von der angeblichen BedeutungslosigkeitRosenbergs tritt noch der Umstand hinzu, dass viele Historiker in den letztenJahrzehnten der Ereignisgeschichte mit großer Reserve gegenüberstanden. Derstrukturalistische Angriff auf einen historiographischen Geschichtsbegriffuntergrub vielfach das Vertrauen in die Valenz des Narrativen. Biographen hattendeshalb bis in die letzten Jahre hinein einen schweren Stand. Selbst IanKershaw sah sich veranlasst, seine monumentale Arbeit, deren Nützlichkeit nunwirklich über jeden Zweifel erhaben ist, mit dem Hinweis zu rechtfertigen, erhabe eine nicht auf Hitler zentrierte Biographie Hitlers geschrieben, der ingewisser Weise ein Mann ohne Eigenschaften gewesen sei.5 Sein Wirken erkläresich durch die Reaktionen und Projektionen der Gesellschaft auf ihn. DieGesellschaft habe Hitlers Erfolg entgegengearbeitet. Wenn wir einmal von derFrage absehen, warum unter all den vielen völkischen Agitatoren gerade AdolfHitler derjenige war, den Millionen Deutsche zum Objekt ihrer Reaktionen undProjektionen machten, warum sie nicht einem anderen Agitator entgegengearbeitethaben, so ist doch jedenfalls bei ihm ein solcher Zugriff möglich. Man denkenur an den Marsch zur Feldherrnhalle, die durch den gescheiterten Putschversuchsprunghaft gesteigerte Popularität der Nationalsozialisten und Hitlers rhetorischeGlanznummern beim anschließenden Prozess.
Wollte man ähnlich Alfred Rosenberg in den Blicknehmen, käme man nicht sehr weit. Er ging am 9. November 1923 nur einen Meterhinter Hitler, doch niemand nahm es zur Kenntnis; er gehörte auch nicht zu denAngeklagten im folgenden Prozess. Zu beschreiben, wie die deutsche Gesellschaftauf sein Auftreten reagierte, wäre nicht möglich, denn Rosenberg trat nichtauf. Er wurde in der »Kampfzeit« außerhalb von Parteitagen kaum je als Rednereingesetzt und suchte auch nicht, wie Hitler, in Salons den Kontakt zumMünchner Bürgertum. Seine Tribüne war der Schreibtisch. Er schrieb mehr alsalle anderen Naziführer zusammen genommen, verfasste Parteitagsführer,kommentierte das Programm und war Chefredakteur oder Herausgeber fast allerwichtigen Periodika, vom Völkischen Beobachter über den Weltkampfbis zu den Nationalsozialistischen Monatsheften.Wenn er als »der bedeutendste Publizist der antijüdischen Bewegung«6 bezeichnetwurde, empfand er das zweifellos als Anerkennung seiner Leistung.
Hitler wäre empört gewesen, hätte man ihn socharakterisiert. Er wollte nicht Publizist, sondern unter allen UmständenPolitiker sein, das hatte er schon als junger Mann beschlossen. Rosenberg aberwar, soweit er Politiker war, ein »Ideologe als Politiker«, wie Kroll estreffend formuliert hat.7
Die Mutation vom Ideologen zum Politiker, vor allemnach 1933, war eine große Herausforderung für Alfred Rosenberg, die er nurteilweise erfolgreich bestand. Immerhin gelang es ihm, sich bis zum Ende in deninneren Zirkeln der Macht zu halten, während es in Hitlers Entourage der frühenJahre viele gab, die aus jeweils ganz unterschiedlichen Gründen gänzlich ausseinem Umfeld verschwanden: Feder, Ludendorff, Drexler, Esser, Heß, Röhm,Hanfstaengl, Gregor Strasser, Scheubner-Richter und in gewisser Weise auchStreicher. Wenige konnten so wie Rosenberg ihre Position halten; Schwarz,Amann, Ley und Ribbentrop wären zu nennen. Und nur ganz wenige wie Himmler undGoebbels und mit Einschränkungen Göring überflügelten ihn deutlich. Diejenigen,die wie Bormann und Speer erst später in Hitlers Umkreis traten und dannebenfalls eine große Machtfülle gewannen, dürfen bei dieser Betrachtungnatürlich nicht vergessen werden. Wenn man sich aber einmal vom Primat derOrganisations- und Institutionengeschichte freimacht, wird man rasch erkennen, dassvon den Menschen im Umkreis des großen Diktators nur Goebbels und HimmlerRosenberg an Wirkungsmacht gleichkamen. Max Weinreich, ein weiterer hierzulandekaum rezipierter angloamerikanischer Autor, sah in Rosenberg eineSchlüsselfigur für die Implementierung des Antisemitismus in dienationalsozialistische Weltanschauung,8 während Potthast, auf derselben Linieargumentierend, konstatiert: »Der Vernunftantisemitismus war maßgeblich seinWerk.«9 Auch Kroll betont den weitreichenden Einfluss, den Rosenberg ausübte:
»Seine Gedankengänge waren nach 1933 in denverschiedensten Bereichen des öffentlichen Lebens präsent. Schulbücher, Lehr-und Unterrichtspläne, parteiinterne Leithefte und Schulungsbriefe der einzelnennationalsozialistischen Organisationen - vor allem der SA und der SS -, aberauch populäre literarische Geschichtswerke wie zeitgenössische Bestseller vonWerner Beumelburg, Gustav Frenssen oder Hans Friedrich Blunck gaben das von Rosenbergverfochtene Welt- und Geschichtsbild wieder und wirkten als wichtigeMultiplikationsfaktoren seiner Lehren.«10
Ähnlich hatte eine zeitgenössische Darstellungargumentiert:
»Der Einfluß Rosenbergs auf Erziehung und geistigeNeuformung reicht bis in die feinsten Kanäle des gesamten kulturellen undpolitischen Lebens unseres Volkes.«11
Für die Zeitgenossen war Alfred Rosenberg der»Parteipapst«12, wie es die respektlose Bella Fromm formulierte, oder HitlersErzieher13, der »einmalige(n) philosophische(n) Kopf in der unmittelbarenGefolgschaft des Führers«14, »nächst dem Führer selbst der wichtigste Trägerund Verkünder der nationalsozialistischen Weltanschauung«15 und in des»Führers« eigenen Worten der »erste(n) geistige(n) Mitgestalter der Partei«16.Die Ankläger in Nürnberg hatten kein anderes Bild. Robert Kempner sprach vonRosenberg als »Hitlers Weltanschauungschef« und »Präzeptor der nationalsozialistischenWeltanschauung«.17 Robert Jackson nannte ihn den »geistigen Priester der Herrenrasse , der die Lehre des Hasses schuf, die den Anstoß zur Vernichtungdes Judentums gab«.18 Und Walter Brudno stellte fest, dass »Rosenberg einebesonders hervorragende Rolle bei der Schaffung und Verbreitung des doktrinärenUnterbaus der Verschwörung gespielt hat ; er hat dies getan, indem er denEinfluß der Kirchen auf das deutsche Volk untergrub, indem er das Programm der mitleidlosenJudenverfolgung betrieb, und indem er das Erziehungssystem umgestaltete mit derAbsicht, das deutsche Volk dem Willen der Verschwörer gefügig zu machen und dasVolk für einen Angriffskrieg psychologisch vorzubereiten.«19 Die NürnbergerRichter, die andere Angeklagte zu Zeitstrafen verurteilten und einige sogarfreisprachen, befanden Alfred Rosenberg in allen vier Anklagepunkten fürschuldig und verurteilten ihn zum Tod durch den Strang. Sie wussten warum.
Ernst Nolte blieb es vorbehalten, die Bedeutung derIdeologie für den Nationalsozialismus grundsätzlich in Frage zu stellen. Sosprach er schon zu Beginn seines großen Werkes »Der Faschismus in seinerEpoche« vom unideologischen Charakter des Faschismus, der in dieser Hinsichtinkommensurabel mit dem Marxismus sei.20 Die Absurdität dieser These wird nochdadurch gesteigert, dass Nolte sich dabei ausgerechnet auf Rosenberg berief.Dessen »Mythus des 20. Jahrhunderts«, das »Grundbuch der nationalsozialistischenWeltanschauung«, trage »unverkennbar die Züge der protestantisch-liberalenHerkunft des Verfassers«.21 Dass der Aberwitz dieser Behauptung damals nichtaufgefallen ist, ist wohl nur mit dem Erscheinungsjahr 1963 dieserFaschismus-Analyse zu erklären, das in eine Hochphase des Kalten Krieges fiel.Über Rosenberg kann man vieles sagen, aber eines war er ganz gewiss zu keinerZeit seines Lebens: liberal. Nolte, der von der Idee besessen ist, denNationalsozialismus zu einer liberalen antikommunistischen Bewegung zuverklären, wiederholte seine These vom liberalen Rosenberg Jahrzehnte später in»Der europäische Bürgerkrieg«, dem dritten Band seiner »Trilogie«:
» Hitler und Alfred Rosenberg und Heinrich Himmlerwaren nicht ursprünglich Ideologen, sondern Künstler, liberale Angehörigefreier Berufe, Kleinbürger, die durch ungeheure Ereignisse beunruhigt undverstört waren, die nach Antworten suchten und über die Schwäche derRegierungen erzürnt waren. Daß sie Deutschland in die Mitte ihres Empfindensund Denkens stellten, gefährdete zwar die nächste historische Aufgabe, wenn diesein der Überwindung der Nationalstaatsidee und in einer europäischen Einigungbestand, aber das war in einem Zeitalter nicht verwunderlich, das immer nochein Zeitalter des Nationalismus war. Daß sie sich trotzdem als europäischeBürger betrachteten, war vielleicht nicht konsequent und blieb keineunangetastete Maxime, doch sie standen damit auf der Seite eines historischenRechts, das dieser übernationalen Klasse noch eine bedeutende Zukunftvorbehielt. Aber entscheidend war erst, daß sie aus ihrer Urerfahrung undGrundemotion die Forderung ableiteten, ebenso konsequent und unerbittlich zusein wie der Feind, ja noch konsequenter und unerbittlicher. Erst dadurchwurden sie zu Ideologen, und bloß deshalb griffen sie jene Differenzen alsschädlich an, auf denen die Geschichte Europas bis dahin beruht hatte.«22
Die Groteskheit dieser Darstellung ist offensichtlich.Keiner der Genannten war ein Künstler, keiner auch gehörte den artes liberalesan, denn Rosenberg hatte Architektur, Himmler Landwirtschaft und Hitler garnicht studiert. Auch europäische Bürger waren sie, vielleicht mit derpartiellen Ausnahme Rosenbergs, nicht, jedenfalls in keiner sinnvollenBedeutung des Wortes. Dass der ideologisch motivierte Vernichtungskrieg gegendie Sowjetunion auf einen bloßen Reflex auf die Bedrohung durch denSowjetkommunismus reduziert wird, mit der Vernichtung der europäischen Judenheitals »Nebenprodukt«, so Noltes Kernthese, will ich an dieser Stelle nichtdiskutieren, wohl aber die Negation des Apriori des Ideologischen ausdrücklichbestreiten.
Diesmal, anders als 1963, war der Widerspruch gegenNolte vehement. Seine Thesen, 1980 weithin unbemerkt erstmals vorgetragen,führten zu einer Debatte, die unter dem Namen »Historikerstreit« in dieHistoriographie eingegangen ist, wobei Nolte in seinem Widerspruch gegen denvon mir gewählten Untertitel der Dokumentation dieser Debatte seine Position nocheinmal deutlich gemacht hat.23 Nolte war im Übrigen, meines Erachtens zu Recht,der Auffassung, dass er dieselben Positionen wie in »Der europäischeBürgerkrieg« schon 1963 vertreten habe. Nicht er habe sich verändert. Richtigsei vielmehr, dass er sich »heute in stärkerem Gegensatz zu vorherrschendenZeitströmungen befinde«.24
Vieles spricht in der Tat dafür, insoweit hat Nolte Recht,dass die Ur- sachen für den politischen Erfolg der nationalsozialistischenBewegung in der Zeit nach 1914 zu suchen sind, dass die ganz anders geartetepolitische Konstellation in Deutschland und Europa nach dem Ersten Weltkrieg Voraussetzungfür die Wirksamkeit der nationalsozialistischen Propaganda war. Ebenso vielspricht aber auch dafür, dass die ideologische Fundierung der Bewegung ihreWurzeln in dem davorliegenden Zeitraum hat. Nolte verkehrt die Prioritäten,wenn er schreibt: »Den Antisemitismus der Nationalsozialisten von ihremAntibolschewismus ablösen zu wollen, ist töricht.«25 Wenn man diesen Satzumdreht, dann gewinnt er Sinn: Den Antibolschewismus der Nationalsozialistenvon ihrem Antisemitismus ablösen zu wollen, ist töricht.
Yehuda Bauer, der im Gegensatz zu Nolte nicht dieIntention hat, den Nationalsozialismus zum Faschismus zu diminuieren, hat inseinem souveränen Alterswerk »Die dunkle Seite der Geschichte« eindringlichdargetan, dass die antisemitische Ideologie eine zentrale Determinante der Shoahgewesen ist.26 Die Vernichtung der europäischen Judenheit war eben kein»Nebenprodukt«, dem ein anderes »Prius« (Nolte) vorausging, auch wenn Hitler,Rosenberg und die anderen 1919, als sie bereits die Entfernung der Juden forderten,dabei noch nicht die Gaskammern von Auschwitz-Birkenau vor Augen hatten.
Rosenberg hat entscheidend dazu beigetragen, Hitlerdas Bild vom jüdischen Charakter der russischen Revolution zu vermitteln. Indiesem Punkt sind die so unterschiedlichen Biographen Joachim Fest und Ian Kershawsich einig, auch wenn Letzterer Rosenbergs Einfluss höher zu bewerten geneigtist als Ersterer.27 Beide, Hitler und Rosenberg glaubten an einjüdisch-bolschewistisches Weltherrschaftsstreben, weswegen der Kampf gegen die Sowjetunionimmer auch Kampf gegen das Weltjudentum war. Und beide wollten beweisen, dasssie Recht hatten, jeder auf seine Weise, der eine, indem er die staatlichenMachtmittel eroberte, ein von Diktatoren gerne gewählter Weg zur Durchsetzungihrer Wahrheiten, der andere, indem er danach strebte, ein möglichstlückenloses Dogmengebäude zu errichten, dessen überwältigende Plausibilitäternsthaften Widerspruch auf die Dauer nicht zuließ; auch dies ein Weg, der von totalitärenRegimen jedweder Couleur regelmäßig beschritten wird und ebenso regelmäßig aufDauer nicht zum Erfolg führt. Wo der Zwang zur Zustimmung entfällt, entfälltauch die Zustimmung. Deshalb bedarf das Meinungsmonopol zu seiner Durchsetzungfrüher oder später stets des Gewaltmonopols.
Die Person Alfred Rosenberg ist, diesseits undjenseits des Interesses an seinem Lebensgang, in hohem Maße geeignet, denideologischen Charak- ter des nationalsozialistischen Regimes paradigmatisch zuzeigen. Wenn man unter Ideologie die Gesamtheit der von einer Bewegunghervorgebrachten Denksysteme, Wertungen und geistigen Grundeinstellungen versteht,war er selbst zweifellos ein Ideologe. Und wenn man sich seine Weltsicht zuEigen machen und von klangvollen Titeln auf reale Macht schließen wollte, könnteman ihn sogar einen Chefideologen nennen. Der Glaube an die Macht der Ideen warder primäre Antrieb für sein Wirken, ein Wirken, unter dessen Folgen Millionenvon Menschen zu leiden hatten. In seiner Rezension von Fests Speer-Biographiehat Hans Mommsen angemerkt: »Bei Hitler hebt man zunehmend hervor, dass er imGrund eine Unperson war und letztlich nur als Vollstrecker von allgemeinengesellschaftlichen Triebkräften erklärt werden kann. Dies trifft für seineSatrapen, deren Physiognomie Fest am Beispiel Speers darstellen möchte, in nochstärkerem Umfang zu. Hinter deren Unfähigkeit zu positiver Gestaltung, ihrem Absinkenin eine Korruption ohnegleichen und ihre in unaufhebbarem Widerspruch zwischenIdeologie und Realität stehende Lebensführung lässt die individuelle Biographiebedeutungslos erscheinen oder gänzlich zurücktreten.«28
Dieser Auffassung kann ich nicht folgen. DieVorstellung, wir hätten ein klareres Bild des nationalsozialistischenTerrorregimes, wenn wir von der Persönlichkeit der Hauptakteure absehen würden,erscheint mir wenig hilfreich. Man muss nur Hermann Göring und Alfred Rosenbergbetrachten, die zufällig beide am 12. Januar 1893 zur Welt kamen, um zu sehen, welcheshohe Maß an Individualität auch auf der Ebene der Satrapen möglich war. DerLebemann Göring und der »Moralathlet« (Ernst Röhm) Rosenberg sanken in höchstunterschiedlichem Maße in die Korruption ab. Und während der eine die ethischenMaßstäbe eines besonders erfolgreichen Räuberhauptmanns pflegte, versuchte derandere bis zum letzten Atemzug, Ideologie und Realität in Einklang zu bringen,was seiner politischen Wirksamkeit oft genug eher hinderlich als förderlichwar. Als Einziger der in Nürnberg zum Tode Verurteilten verweigerte Rosenbergnoch im Angesicht des Schafotts jeden geistlichen Beistand, denn die Kirche hatteer schließlich immer bekämpft. Von Göring, der sich der Hinrichtung durchSelbstmord entzog, ist der Ausspruch überliefert: »Wenigstens zwölf Jahre gutgelebt.« Rosenberg interessierte das gute Leben nur mäßig. Er arbeitete inseiner Gefängniszelle an einem Verfassungsentwurf für Nachkriegsdeutschland,wobei es für seine Illusionsfähigkeit spricht, dass er daran glaubte, man werdebeim Aufbau dieses Nachkriegsdeutschlands auf seine Mitarbeit nicht verzichtenkönnen.
Für die antisemitische Ausrichtung dernationalsozialistischen Bewegung, die programmatische Fundierung desErlösungsantisemitismus war Alfred Rosenberg der wichtigste Kopf in HitlersMannschaft gewesen. Lebensraum im Osten und die Entfernung der Juden, diebeiden wichtigsten Ziele in Hitlers Weltsicht,29 verbanden sich gerade in denvom Ostminister verwalteten Territorien. Rosenberg war dort zum einenadministrativ in die Judenvernichtung involviert, zum anderen verfolgte erseine Aufgabe weiter, das deutsche Volk auf das Mordprogramm einzustimmen.
Den Aufzeichnungen, die Rosenberg im NürnbergerGefängnis angefertigt hatte und die zu seinen Lebzeiten nicht mehrveröffentlicht wurden, gab ein treuer Anhänger später den Titel »Großdeutschland.Traum und Tragödie«,30 während zwei kritische Publizisten denselben Text unter demTitel »Portrait eines Menschheitsverbrechers« veröffentlichten31.
Diese Polarität von Innensicht und Außensicht istemblematisch für das Wirken des Mannes, der mit seinen Ideen einmal Europabeherrschen wollte.
© PantheonVerlag
- Autor: Ernst Piper
- 2007, 830 Seiten, 24 Abbildungen, Maße: 13,7 x 21,8 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Pantheon
- ISBN-10: 3570550214
- ISBN-13: 9783570550212
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