Alles für dich
Roman. Deutsche Erstausgabe
Nova und Mal sind gute Freunde - bis Nova von Mal schwanger wird und ihre Freundschaft zerbricht. Erst als ihr Sohn Leo sieben ist und in Lebensgefahr schwebt, begreift Mal, dass er Nova schon immer geliebt hat. Kann Nova ihm jemals verzeihen, dass er sie einst schwanger allein ließ?
Leider schon ausverkauft
Buch
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Produktdetails
Produktinformationen zu „Alles für dich “
Nova und Mal sind gute Freunde - bis Nova von Mal schwanger wird und ihre Freundschaft zerbricht. Erst als ihr Sohn Leo sieben ist und in Lebensgefahr schwebt, begreift Mal, dass er Nova schon immer geliebt hat. Kann Nova ihm jemals verzeihen, dass er sie einst schwanger allein ließ?
Klappentext zu „Alles für dich “
Ergreifend, mutig und ehrlich: Liebe ist ihre einzige Chance<br /><br />Nova und Mal sind seit ihrer Kindheit eng befreundet. Nie waren sie für längere Zeit ein Paar, und doch wird Nova eines Tages von Mal schwanger. An diesem Kind, Leo, zerbricht ihre Freundschaft. Erst als Leo sieben ist und in Lebensgefahr schwebt, lernt Mal seinen Sohn kennen, und er begreift, dass er Nova schon immer geliebt hat. Doch die Fehler der Vergangenheit können nicht ungeschehen gemacht werden, und Leos kritischer Zustand sorgt für neue Ängste und Sorgen. Kann Nova Mal jemals verzeihen, dass er sie damals, als sie mit Leo schwanger war, alleinließ?<br /><br />
Lese-Probe zu „Alles für dich “
Alles für dich von DOROTHY KOOMSONProlog
... mehr
Er weint die ganze Zeit.
Selbst wenn keine Tränen zu sehen sind, haben seine Augen den verlorenen Ausdruck eines Menschen, der innerlich schluchzt.
Ich möchte ihm helfen, aber er lässt mich nicht an sich heran. Er weint allein, eingeschlossen in das Zimmer, das einst das Kinderzimmer hätte werden sollen. Er schläft mit dem Rücken zu mir, wie eine feste menschliche Wand, die die Welt draußen hält. Er spricht in leeren Worten zu mir, in Sätzen, die keine tiefere Bedeutung haben. Einst hat er alles, was er sagte, mit den Fäden seiner tiefen Liebe verwoben. Jetzt spricht er nur mit mir, weil er muss. Jetzt ist alles, was er sagt, flach und bedeutungslos.
Der Kummer ist so uferlos, so unendlich, dass er sich darin verliert. Er schwimmt blind in einem tosenden Meer in der Nacht. Er schwimmt gegen die krachenden Wogen an und kommt nirgendwo hin. Jeden Tag wird er weiter hinuntergezogen, weiter in die Tiefe. Weg von der Wasseroberfläche. Weg vom Leben. Weg von mir. Alles, woran er sich festhält, ist der Verlust. Nichts sonst ist von Bedeutung. Ich möchte seine Hand nehmen, uns beide in Sicherheit schwimmen. Um ihn wieder ganz zu machen; um seine Wunden zu pflegen und ihm zu helfen, gesund zu werden.
Aber er wird meine Hand nicht ergreifen. Stattdessen schreckt er vor mir zurück und zieht es vor, allein zu bleiben. Er gibt mir die Schuld. Er gibt sich selbst die Schuld. Aber vor allem gibt er mir die Schuld.
Auch ich gebe mir die Schuld. Aber ich gebe auch ihr die Schuld. Ihr, Nova. Dies ist auch ihr Fehler, auch sie trägt Verantwortung. Wenn sie nicht gewesen wäre ...
Am allermeisten aber gebe ich mir selbst die Schuld. Am allermeisten will ich, dass er aufhört zu weinen, dass er aufhört, so versehrt zu sein, zu leiden mit jeder Faser seines Herzens.
Ich verstehe den Verlust nicht, den er und Nova teilen. Ich bezweifle, dass ich das jemals tun werde. Aber ich verstehe meinen Mann. Und bald werde ich ihn verlieren. Genau das, was ich verhindern wollte, indem ich tat, was ich getan habe, indem ich sagte, was ich gesagt habe, wird geschehen. Aber diesmal werde ich ihn nicht an eine andere Frau und ihr ungeborenes Baby verlieren, nicht an sie und ihr Kind werde ich ihn verlieren, sondern einfach nur an sich selbst.
Ich kann zusehen, wie es geschieht: Er wird in seinem Kummer ertrinken, er wird so tief hinuntergezogen werden, dass er nicht mehr fähig ist, an die Oberfläche durchzubrechen. Er wird hinuntergezogen werden in diese trostlosen, grauen Untiefen und wird nie mehr anfangen zu leben. Und alles, was ich tun kann, ist an der Küste zu stehen und zuzuschauen.
Sie machte an seinen Schuhen herum, zog sie aus, und er sah zu, wie sie seine Socken herunterrollte, und dann war es kalt unter seinen Zehen. Wie im Bad, bevor er sich waschen sollte, kalt.
Und da war Wasser.
Ein großes, großes Bad.
»Das ist der Strand«, sagte Mummy.
»Strand!«, sagte er.
»Und das ist das Meer.«
»Meer!«
»Komm, wir machen unsere Füße nass.«
Er zeigte hinunter. »Zehen?«
»Ja«, sagte sie. »Zehen ins Meer.«
Sie nahm seine Hand, die ihre war warm wie immer. Ihre
Hand warm, seine Zehen kalt. Sie ging mit ihm zum Meer.
»Jetzt wird's gleich kalt«, sagte sie.
»Kalt!«
Dann waren seine Zehen weg. Keine Zehen mehr, nur Meer.
»Brrr!«, schrie Mummy - ihre Zehen waren auch unter dem
Meer.
»Brrr!«, schrie er.
»Brrr!«, schrien sie zusammen. »Brrr!«
Leo, 18 Monate alt
1
»Hey, Marm.«
Es würde einer dieser Tage werden.
Ich hatte es schon gewusst, als ich am Morgen die Augen aufschlug. Da schon hatte ich dieses ganz starke, durchdringende Gefühl gehabt, dass alles irgendwie schieflaufen, irgendwie danebengehen würde. Dass ich mal wieder so einen Tag hinter mich bringen musste. Allerdings hoffte ich noch, dass ich Unrecht hatte, als ich duschte, als ich mich anzog, als ich das Radio anschaltete, damit es mir Gesellschaft leistete, während ich den Porridge anrührte und das Obst aufschnitt.
Aber Leo hat mir gerade die Bestätigung geliefert. Es würde tatsächlich einer dieser Tage werden. Nichts wird einfach gut laufen, die Stimmung wird gereizt sein, das Leben wird sich von seiner unangenehmsten Seite zeigen. Mein Siebenjähriger wird sich von seiner unangenehmsten Seite zeigen. Er wird es darauf anlegen, mir auf die Nerven zu gehen.
»Marm« nennt er mich nur, wenn er mich ärgern will. Er weiß genau, dass ich das nicht leiden kann; er weiß, dass er mich noch eher »Nova« nennen könnte als »Marm«. Er hat es in den amerikanischen Fernsehshows aufgeschnappt, diesen schrecklichen Tonfall, wenn sie »Mum« sagen. Ich kann es nun mal auf den Tod nicht ausstehen, wenn er so spricht, weil ich insgeheim befürchte, dass er tatsächlich anfangen könnte, mit diesem amerikanischen Akzent zu sprechen.
Ich stehe am Spülbecken, fülle den Porridgetopf mit Spülwasser, und beobachte im Fensterglas, wie Leo hinter mir seelenruhig durch die Küche zu dem massiven Eichenholztisch schlendert und sich auf seinem Stuhl niederlässt. Er schafft es tatsächlich sofort, mich auf die Palme zu bringen. Nicht nur, dass er mich »Marm« genannt hat, nein, er trägt auch noch seinen Superheldenanzug. Dabei muss er gleich in die Schule!
Ich drehe den Wasserhahn zu und drehe mich vom Spülbecken weg, um meinen Sohn anzusehen. Ihn in seiner ganzen Pracht zu bestaunen: Der Anzug ist hellgrün mit abnehmbarem, rotem Cape, das gegenwärtig in einem seltsamen Winkel, nur mit einem kleinen Stück Klettverschluss befestigt, von seiner linken Schulter baumelt. Außerdem hat er die Maske aufgesetzt, die nicht nur dazu angetan ist, einen Teil seines Gesichts zu verbergen, sondern auch, seine große Augen mit den langen Wimpern zu betonen.
Ein gerade mal 1,20 Meter großer, sieben Jahre alter Superheld mit Beulen-Bizeps, Sixpackmuskeln, Waschbrettbauch und gemeißeltem Hintern.
Tief einatmen, denke ich. Tief ausatmen.
Ich schließe die Augen. Zähle bis zehn. Rufe mir ein paar der Momente in Erinnerung, die der Grund sind, dass ich ihn liebe: Mit zwei Tagen, wie er mich anlächelt, in meine Armbeuge gekuschelt. Mit achtzehn Monaten, wie wir zum ersten Mal am Strand stehen und zuschauen, wie die See schäumend an die Küste rollt und mühelos unsere Füße verschluckt. Mit fünf Jahren, wie er meine Hände in die seinen nimmt und ganz ernst zu mir sagt: »Du bist die beste Mummy der Welt!«, nur weil ich an seinem Geburtstag sein Lieblingsessen gekocht hatte. Nur so schaffe ich es, mir ins Gedächtnis zu rufen, dass ich das nicht verlieren darf. Es gibt nur zwei Menschen auf der Welt, die durch sämtliche Schichten meines Seelenkorsetts dringen und alle Alarmknöpfe zum Schrillen bringen können; die mich dazu bringen können, zu schreien. Leo ist einer davon, und er tut es regelmäßig.
Ich öffne die Augen. Er trägt den Anzug immer noch. Es ist immer noch ein Schultag. Ich kann mich noch immer nicht dafür begeistern.
»Marm, ist das alles, was es zum Frühstück gibt?«, fragt er lang gezogen, indem er den Kopf auf die Seite legt und mich herausfordernd mustert.
Das Blut wallt in meinen Adern, die Hitze rast mir erst in die Kehle, dann in die Wangen. Sehr bald schon werde ich anfangen zu weinen. Wenn ich ihn anschreie, werde ich mich hinterher schrecklich fühlen und in mein Zimmer gehen und weinen. Wenn ich ihn nicht anschreie, werde ich wahrscheinlich irgendetwas anderes tun müssen, ihn zum Beispiel bis zum Wochenende nicht an die PlayStation lassen, was wiederum ihn zum Weinen bringen wird. So oder so werde ich also auch weinen - leise zwar, nur für mich, aber immerhin -, weil ich es einfach nicht ertragen kann, ihn weinen zu sehen.
»Leo, du musst jetzt gehen und dich fertig machen«, sage ich sehr ruhig. »Zieh deine Schuluniform an.«
»Ich bin fertig«, sagt er.
»Nein, bist du nicht.«
Er nickt, runzelt die Stirn. »Ich bin fertig«, insistiert er. »Ich werde so gehen.«
»Ich will nicht mit dir diskutieren, geh und mach dich fertig. Jetzt!«
»Ich werde so gehen. Ich muss so gehen.«
»Leo.« Ich beiße die Zähne zusammen, bevor ich fortfahre. »Bi...«
In dem Moment klingelt es. Leos dunkle Augen leuchten auf, als wäre es sein Geburtstag und er hätte die übliche Flut von Geschenken zu erwarten, die ihm vom Postboten ausgehändigt wird. Er ist schon vom Stuhl gerutscht und durch die Küchentür geflitzt, bevor ich überhaupt begreifen kann, was vor sich geht. Schließlich schicke ich mich an, mit einem »Wehe, du!« auf den Lippen hinter ihm her zu rennen.
Aber noch bevor ich die Worte ausgesprochen habe, tut er schon das, wovon er genau weiß, dass er es unter keinen Umständen tun darf. Er langt hinauf, schließt seine relativ breite, rundliche Hand um den Türgriff und zieht die Haustür weit auf.
Plötzlich ist der Gang mit Licht geflutet. Ein strahlendes, herrliches weißes Licht. Ich hebe den Arm, lege meine Hand über die Augen, um sie vor der Helligkeit zu schützen, die den ganzen Flur durchtränkt und alles um uns herum mit Licht übergießt.
Da ist kein Postbote auf der anderen Seite der Tür, im weißen Licht. Nur ein großer, ungewöhnlich hagerer Mann, der einen weißen Anzug mit weißem Hemd, weißer Krawatte und weißen Schuhen trägt. Er ist die Quelle des Lichts, das uns umgibt. Sein Haar ist schwarz und ordentlich gekämmt, mit einem kerzengeraden Seitenscheitel und einer kecken Locke, die ihm in die Stirn fällt; seine Haut ist weiß und sehr blass, was seine großen, walnussbraunen Augen betont; das Gesicht kündet von Lebenserfahrung, seine Züge sind freundlich und offen. Der Mann lächelt mich an, beruhigend und liebenswürdig, wendet dann aber seine Aufmerksamkeit Leo zu, wobei sein Lächeln noch breiter und liebevoller wird.
»Bist du fertig, junger Mann?«, fragt er Leo. Er spricht, ohne die Lippen zu bewegen. Er spricht geradewegs in meinen Kopf, mein Herz hinein. Ich kenne ihn, wird mir jetzt klar. Ich kenne ihn, und er kennt mich, aber die volle Erinnerung an ihn ist außerhalb meiner Reichweite, und ich kann ihn nicht einordnen.
»Ja«, sagt Leo mit einem Nicken und einem Grinsen. »Ja, bin ich.« Leo bewegt sehr wohl die Lippen beim Reden. »Was geht da vor sich?«, frage ich.
»Du siehst mir auch so aus, als wärst du bereit«, sagt der Mann zu Leo.
»Sie gehen nirgendwo mit ihm hin«, sage ich.
Der Mann hebt den Blick wieder zu mir, fixiert mich mit seinen warmen, freundlichen braunen Augen. Ein Blick, der nett ist, aber auch entschieden. Endgültig. »Es ist Zeit, Nova«, sagt er, wieder ohne seine Lippen zu bewegen.
Leo kommt zu mir gerannt, wirft seine Arme um meine Hüften, gräbt seinen Kopf in meinen Bauch, kuschelt sich einen Moment an mich, zieht sich aber dann zurück. »Ich vermisse dich, Mum«, sagt Leo, während er zu mir hochsieht, ein Lächeln auf dem Gesicht. »Ich vermisse dich sehr.«
Ich strecke meine Arme aus, um ihn zu halten, um ihn eng an mich zu drücken, aber ich greife in die Luft; was ich umklammere, ist das Nichts. Leo ist jetzt bei dem Mann, er hält die Hand des Mannes. Sie sind so unterschiedlich, aber sie ähneln sich auch. Ich weiß, Leo wird bei ihm in Sicherheit sein. Aber ich kann ihn nicht gehen lassen. Wie könnte ich ihn gehen lassen?
»Wo bringen Sie ihn denn hin?«, frage ich. »Er ist ja nicht mal angezogen. Wo bringen Sie ihn denn hin?«
»Es ist schon gut, Mum«, sagt Leo, »ich will ja gehen. Ich bin so weit. Ich hab dir doch gesagt, dass ich bereit bin. Ich werde so gehen. Ich bin so weit.«
Ich schüttle den Kopf. Nein. Er ist nicht bereit. Wie kann mein kleiner Junge bereit sein, ohne mich irgendwohin zu gehen? Wie? Er ist nicht bereit. Ich bin nicht bereit. »Ich komme mit«, sage ich.
Leo grinst, hebt die Hand und winkt. »Bye, Mum. Bye.« »Nein ...«
Meine Augen klappen auf, und für einen Moment bin ich noch ganz verwirrt und durcheinander, während mein Geist umhertastet und versucht, sich zurechtzufinden, und während ich versuche, mich zu erinnern, wo ich bin. Das Zimmer ist in künstliches Dunkel getaucht; in horizontalen Streifen kriecht die orangefarbene Straßenbeleuchtung durch die Jalousien herein, und vom Gang her fällt weißes Licht durch die quadratischen Sicherheitsglasscheiben in der Tür, sodass es nicht ganz schwarz im Zimmer ist. Ich habe wohl geschlafen, aber ich liege gar nicht im Bett. Meine Augen wandern durch den Raum, überall unbekannte Winkel und Formen.
Dann höre ich sie, die Piepstöne. Die rhythmischen Piepstöne im Hintergrund, die mich daran erinnern, wo ich bin, und schon fliegen meine Augen zum Bett.
Er ist immer noch da. Immer noch da. Immer noch in dem Bett. Ich beuge mich in meinem Stuhl nach vorn und schnappe nach Luft, als Muskeln und Nerven in meinem Rücken und Nacken vor Schmerz aufschreien. Ich wische den Schmerz beiseite und versuche zu sehen, ob es eine Veränderung gibt, ob Leo sich bewegt hat, während ich geschlafen habe.
Leo liegt immer noch auf dem Rücken, seine Augen sanft geschlossen, immer noch gefangen in jener Welt, die er jetzt bewohnt. Eine Zwischenwelt: nicht wach, aber auch nicht auf der anderen Seite. Ich rutsche weiter vor auf meinem Stuhl, damit ich sein Gesicht genau sehen kann. Der Traum war so realistisch. Er hat sich bewegt darin. Er ist gelaufen, hat geredet. Das muss sich doch auf die Gegenwart übertragen haben. Nicht wahr?
Seine Augenlider bleiben aufeinander liegen, sanft. Seine Lippen sind weich und ein wenig geöffnet. Seine Gesichtszüge sind glatt und ausdruckslos, nicht wie normalerweise, wenn er schläft. Ich kann mich in allen Details an die vielen Gesichtsausdrücke erinnern, die er hat, wenn er schläft, die Art, wie seine Züge sich beleben, seine Muskeln sich regen und zucken, während er ein Schlafleben durchlebt, das ebenso aufregend ist wie das richtige Leben. Dieser Schlaf hier ... er will so gar nicht zu ihm passen: Es kommt selten vor, dass er lange stillhält, dauernd geschieht etwas, das ihn aufhorchen lässt, immer will er sprechen oder herumrennen. Er hält nie inne für so lange Zeit.
»Es ist schon gut, Mum. Ich will ja gehen.« Diesmal hat er die Hand des Mannes genommen. Im Traum war er diesmal wirklich im Begriff zu gehen.
Mein Blick wandert weiter über das Bett zu Keith; sein muskulöser, fast zwei Meter langer Körper ist in dem Stuhl auf der anderen Seite zusammengekauert, der rasierte Kopf im Schlaf auf die Schulter gesackt, er trägt immer noch seine Polizeiuniform. Er ist also direkt von seiner Schicht hierhergekommen und hat mich tief schlafend vorgefunden, ich bin nicht mal hochgeschreckt, als er hereinkam. Normalerweise bin ich wach, wenn er kommt, und er fragt mich dann, wie mein Tag war, bevor ich nach Hause und ins Bett gehe, aber heute war ich offenbar völlig weggetreten. Eine vage Erinnerung an seine Lippen auf meiner Stirn, seine Finger, die meine Wange streicheln, driftet durch meinen Kopf. Irgendwie habe ich seine Anwesenheit wohl doch wahrgenommen.
Ich wende mich wieder Leo zu und frage mich, ob er weiß, dass wir die ganze Zeit hier sind. Einer von uns ist immer da, sitzt neben ihm, schaut, wartet. Wartet.
Dringen die Geräusche der Maschinen zu ihm durch? Was ist mit den Begrüßungen, den Gesprächen, den Büchern, die ich ihm vorlese, dem Gutenachtgruß? Weiß er, dass heute Donnerstag ist? Sein zweiter Donnerstag hier? Rutschen diese kleinen Fetzen unserer Realität durch die Ritzen in seinem Schlaf und schenken ihm ein Bewusstsein von der Welt, die sich um ihn herum weiterdreht? Oder ist er von alledem abgeschlossen? Verborgen. Entfernt. Irgendwo ganz für sich. Ich könnte es nicht ertragen, wenn es so wäre. Wenn er ganz allein wäre und nicht wüsste, dass ich da bin und nur darauf warte, dass er zurückkommt.
»Ist schon gut, Mum. Ich bin bereit.«
Ich reibe mir mit dem Daumenknöchel die Augen, entferne die Schlafkörnchen, versuche, etwas Wachheit und Leben in mein Gesicht zu massieren.
»Ich bin bereit.«
Nach dreizehn Tagen in diesem Zustand hätte ich gedacht, dass mein Körper sich daran gewöhnt hat, stundenlang in diesem Stuhl zu sitzen; dass er nicht mehr so weh und steif wäre und nicht mehr mit Ächzen reagieren würde, jedes Mal, wenn ich versuche, mich zu bewegen. Ich stehe auf, trete ans Bett, ignoriere automatisch die Infusionsschläuche und Elektroden, die ihn an die Maschinen anschließen, und schaue auf meinen Jungen hinunter. Meinen Jungen. Er war der Anlass, dass ich Tag für Tag die Augen geöffnet habe und aus dem Bett geklettert bin in den letzten siebeneinhalb Jahren; auch wenn ich keine Lust hatte, habe ich es getan. Meine Welt hat angefangen, um ihn zu kreisen, seit dem Moment seiner Geburt, und jetzt ist sie aus dem Lot.
Ich streichle mit den äußersten Spitzen meiner Finger seine Stirn, ganz sacht. Sogar jetzt noch berühre ich ihn instinktiv nur sehr sanft, um ihn nicht zu stören. Und das, obwohl ich mir so sehr wünsche, dass er endlich aufwacht.
Sein Kopf ist kahl geschoren, ein schwarzer Flaum ist schon nachgewachsen. Das haben sie getan, sie haben seine schönen, dicken, schwarzen Locken abgeschnitten und wegrasiert, vor acht Tagen. Seine mokkacremefarbene Kopfhaut ist glatt, außer an der Stelle am Schädelansatz, wo sie ein Loch gebohrt haben, um drei Blutgefäße abzuklemmen, im Versuch, eine Blutung zu verhindern. Die Operation war ein voller Erfolg gewesen, hatten sie mir mitgeteilt.
Ich hatte den Chirurgen angestarrt, mit seiner grünen Haube auf dem Kopf, seiner Maske um den Hals, seinem grünen Operationskittel, der so überraschend sauber war.
»Erfolg?«, wiederholte ich.
Er nickte. Erklärte, dass das andere Aneurysma, um das sie sich Sorgen gemacht hatten, nicht aufgebrochen war, und jetzt keine Bedrohung mehr darstellte.
»Erfolg«, echote ich nochmals, meine Stimme weit weg und irgendwie entrückt. Keith legte seine Hand beruhigend auf meinen Unterarm. Dieses Wort hatte für den Chirurgen und mich eine ganz unterschiedliche Bedeutung, so viel stand fest. Mein Junge schlief noch, war immer noch mehr »dort« als hier, er redete nicht und lief nicht herum, seine Augen waren nicht offen, sein Gesicht bewegte sich nicht, aber trotzdem war es ein Erfolg gewesen. »Danke«, sagte ich, als sich Keiths breite, warme Hand um meine schloss. Es war nicht die Schuld des Chirurgen, dass er nicht verstand, was das Wort »Erfolg« in Wirklichkeit bedeutete. Es bedeutete, dass Leo wieder normal war. Oder wenigstens, dass sie mir endlich sagen konnten, wann er wieder aufwachen würde.
Ich kehre zurück auf meinen braun gepolsterten Stuhl und schlage die Beine unter, lege den Kopf zurück und beobachte Leo.
Dies ist die Welt, in der ich jetzt lebe. Eine Welt, in der »Erfolg« diese Bedeutung hat. Eine Welt, in der ich Träume habe, die aus einem Gefühl, einem Wissen geboren sind, das sich klammheimlich, aber entschlossen jeden Tag ein Stückchen mehr in mir breitmacht.
Das Gefühl, dass Leo vielleicht bereit ist.
Vielleicht werde ich zulassen müssen, dass er geht.
»Schau mal, der Bauch von der Frau!«, rief er.
Er sah, wie Mummy ihre Augen schloss, bevor sie »Pscht!« sagte und ihn auf den Kopf küsste, während sie ihn auf ihrem Schoß festhielt und wiegte.
»Schau mal, der Bauch von der Frau!«, rief er wieder. Er zeigte auf die Frau. Sie hatte wirklich einen dicken Bauch. Er war rund wie sein Fußball und groß wie Mummys großes, großes Kissen. »Pscht!«, sagte Mummy. Sie nahm seinen Finger und küsste ihn.
»Mummy! Schau doch, der Bauch von der Frau!«
Mummy schaute nicht, sie drückte den Knopf, und es passierte wieder, dass diese Klingel klingelte, wie bei seinem Feuerwehrauto. Dann hielt der Bus an, wie immer. Mummy packte seinen Buggy und ihre große Tasche und ließ ihn jede einzelne Treppe hinunterhüpfen, bevor sie ausstiegen.
Sie klappte den Buggy auf und schob die Riemen zur Seite, damit er sich hineinsetzen konnte, aber er wollte nicht. »Laufen«, sagte er zu ihr. »Will laufen.«
Mummy schaute weiter in seinen Buggy, und als der Bus wegfuhr, stand sie auf. »Leo, warum musst du immer auf die Bäuche von anderen Leuten zeigen? Oder auf diesen kleinen Mann? Oder auf den großen Busen von dieser Frau? Oder auf die lustigen Haare von dem anderen Mann?«, sagte sie zu ihm. »Das ist das dritte Mal in zwei Tagen, dass du das getan hast. Ich werde noch Autofahren lernen müssen, weil ich einfach nicht mehr mit dir in einem Bus fahren will.«
Sie legte ihre Tasche in seinen Buggy. »Irgendwann wird mir jemand eine dafür runterhauen.«
»Mummy frech?«, fragte er. War Mummy etwa ein freches Mädchen, genauso wie er ein frecher Junge war, und würde dafür eine Ohrfeige bekommen?
Mummy starrte ihn mit zur Seite gelegtem Kopf an. »Ich frage mich manchmal, ob ich das in einem früheren Leben gewesen bin.« Sie fing an, den Buggy mit einer Hand die Straße runterzuschieben, denn in der anderen Hand hielt sie die seine. »Komm, wir haben noch einen weiten Weg vor uns.«
Eine Frau, die so alt war wie Grandma, lächelte ihn an. »Mummy frech«, teilte er ihr mit.
Die Frau schaute Mummy an. »Das glaube ich dir gern«, sagte die Frau und ging weiter.
Er lächelte Mummy an, aber sie sah es gar nicht - sie war damit beschäftigt, mit offenem Mund der Frau nachzusehen.
Leo, 2 Jahre alt
2
»Hast du gesehen, wie viel die Frau mit der 117 rennt?« »Die Blonde?«
»Ja. Sie ist jeden Tag hier. Manchmal macht sie Yoga oder Pilates, dann läuft sie noch. Es ist echt verrückt!«
Ich hatte das Schließfach mit der Nummer 117. Ich wollte gerade die Toilettentür entriegeln, als ich die Frau über mich sprechen hörte. Jetzt verharrt meine Hand über dem Schloss, und ich weiß nicht, ob ich aufsperren und gehen oder drinbleiben soll. Ich bin schon ein wenig spät dran für meine Verabredung mit Mal, wir wollen zu einem Abendessen mit Freunden, und ich habe keine Zeit, hier festzusitzen und eine Gefangene ihres Klatschs zu sein.
»Das überrascht mich nicht«, erwidert die andere Frau.
Okay, im Moment gehe ich also nirgendwo hin. Ich lasse leise den Toilettendeckel herunter und setze mich darauf. Meine Hände zittern leicht, mein Mund ist trocken, mein Herz hüpft ein wenig in meiner Brust. Gedankenverloren spiele ich an dem Träger meines schwarzen Kleids, während ich warte, dass sie weiterreden.
»Hast du ihren Mann gesehen? Er ist ab-so-lut hinreißend. Ich würde jeden Tag meilenweit laufen, um ihn zu halten.«
»Ja ich weiß, ich habe ihn ein paarmal gesehen, als er sie abholen kam ... Er ist wirklich zum Anbeißen!«
»Glaubst du, sie ist eine von diesen Frauen, die aufgehen wie Hefeteig, wenn sie nicht die ganze Zeit dagegenarbeiten?«
»O ja! Das sehe ich an ihrem Gesicht.«
Ihre Worte hallen wie ein Echo von den Marmorwänden wider. Ich erkenne ihre Stimmen, es sind die zwei Frauen, die alles miteinander machen: Sie sind immer gemeinsam an den Geräten, ihre Matten liegen in den Yoga- und Pilatesstunden immer nebeneinander. Wir kennen uns vom Sehen und grüßen uns flüchtig, und ich dachte eigentlich, sie mögen mich. Selbst wenn nicht, wäre ich nie auf den Gedanken gekommen, dass sie sich das Maul über mich zerreißen.
Dabei ist das meine größte Angst. Wahrscheinlich mehr als jeder andere vernunftbegabte erwachsene Mensch habe ich Angst, dass die Leute über mich reden. Mich heimlich auseinandernehmen, die Schutzschichten abschälen, die ich mit großer Sorgfalt und Akribie angelegt habe; ich habe Angst, dass die Leute sich eine Realität schaffen, die anders ist als die, die mein Leben tatsächlich ausmacht; die mit dem schönen Heim, dem perfekten Ehemann, den erfolgreichen Freunden, die mich auf ihre Dinnerpartys einladen.
»Ach, gönn es ihr doch, wahrscheinlich war sie ein ziemlicher Fettmops, als sie jünger war, und jetzt ist sie ganz gut in Form.«
Das war ich nicht!, will ich ihnen durch die Tür hindurch zurufen. Das war ich wirklich nicht. Ich war immer in Form, hatte immer schon meine Figur. Jetzt bin ich nur fester. Ich mache auf jeden Fall keinen Sport, um mir mein gutes Aussehen zu erhalten, Speckrollen abzubauen oder mich der Treue meines Ehemanns zu versichern. Ich brauche den Sport, um auf dem Boden zu bleiben. Um sicher zu sein, stabil. Um ich selbst zu sein.
Wenn ich nicht jeden Tag den Blutstoß spüre, der Endorphine und Adrenalin in Höchstgeschwindigkeit durch meine Adern jagt, fangen die Dinge an wegzurutschen. Mein Kontakt zur Realität wird dann stumpf, und es beginnt ein langsamer Niedergang, bis ich das Gefühl habe, die Kontrolle zu verlieren. Das ist der Grund, warum ich jeden Tag laufe - sogar am Freitagabend. Was ist wohl ihre Ausrede dafür, dass sie hier sind?
»Tja, da werden wir beide wohl nie hinkommen. Alan fragt mich immer, warum ich mich eigentlich im Fitness abmühe, wenn ich mich dann zu Hause immer gleich mit Heißhunger auf den Kühlschrank stürze.«
»Ja, das fragt Ian mich auch dauernd. Er würde Stielaugen kriegen, wenn er sie sehen würde.«
Als ich jünger war, haben die Leute oft über meine Familie getratscht, vor allem über mich. Es war eine Art Zeitvertreib in der Kleinstadt, in der wir lebten. Die Leute flüsterten miteinander, warfen uns missbilligende Blicke zu, verstummten, wenn einer von uns vorbeiging. Ich spürte jedes Wispern, jeden Stupser, jeden Blick. Das ist der Grund, warum ich so darauf bedacht bin, dass niemand Anlass hat, über mich zu tratschen. Ein toller Job, ein schönes Heim, ein attraktiver Ehemann, ein netter Freundeskreis. Warum sollte man sich darüber das Maul zerreißen? Neidisch sein konnte man vielleicht, aber sicher nichts Falsches daran finden.
»Hast du Lust auf ein Bier?«, fragt die eine der beiden Frauen auf der anderen Seite.
»Oh, klar. Ich habe den ganzen Tag schon über Salt-and-Vinegar-Chips fantasiert. Wenn ich nächste Woche mehr Gerätetraining mache, ist ein bisschen Sündigen doch nicht schlimm, oder?«
»Okay, ich sag jetzt mal Ja, damit du deinen Frieden hast. Fünf Minuten zusätzliches Training - und alles Extrafett schmilzt einfach weg wie durch Zauberei.«
»Du bist echt gemein, weißt du! Hey, sollen wir die, die so viel rennt, fragen, ob sie mitkommt?«
Ich sehe das Grinsen der anderen Frau förmlich vor mir, fies und hämisch, ein perfekter Ausdruck ihrer Schadenfreude. »Wahrscheinlich isst und trinkt sie grundsätzlich nicht.«
»Das glaub' ich auch!«
Meine Mutter hat solche Gemeinheiten immer mit Beten umschifft. »Der ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein«, pflegte sie zu sagen, als ob das dem Spott der anderen Einhalt gebieten würde - oder auch nur den Schmerz in Grenzen halten konnte, den er verursachte. Wann immer meine Schwester Mary weinen musste wegen der Dinge, die sie zu hören bekam, sagte meine Mutter: »Schließe diese Leute in deine Gebete mit ein, Mary.« Und vergiss auch nicht, Gott darum zu bitten, dass ihnen recht viele schlimme Dinge passieren!, dachte ich dann, sprach es aber nie aus. Es geschah ihnen ja auch nichts Schlimmes, unseren Angreifern, nie, ob mit oder ohne Sünde, sondern sie warfen einfach immer weiter Steine nach uns; sie riefen mich weiterhin Schlampe oder Hure und jede Menge anderer Dinge, manchmal hinter meinem Rücken, manchmal auch ganz offen; sie schrieben es auf alle Wände, die sie auftreiben konnten. Beten half nicht; aber auch Weinen half nicht. Nichts half. Nichts machte dem Treiben ein Ende.
Die beiden Frauen sind inzwischen verstummt, jetzt hallen ihre Schritte wider, laut und deutlich, wie es vorher ihre Worte taten. Die Tür knallt hinter ihnen zu. Ich warte noch einen Moment, auch wenn ich wirklich schon ziemlich spät dran bin für meine Verabredung mit Mal, aber ich will sichergehen, dass sie wirklich weg sind. Dann entriegle ich die Tür und befreie mich aus meinem selbst auferlegten Gefängnis, trete in den Waschraum mit den Marmorwänden und den breiten Spiegeln über den Waschbecken, gleich gegenüber von den Toilettenkabinen.
Ich bleibe abrupt stehen, und im selben Moment setzt mein Herz aus: Sie sind noch da! Sie sind noch hier, und jetzt wissen sie, dass ich weiß, was sie gesagt haben. Dass ich in der Kabine gesessen und zugehört habe, wie sie mich in Stücke reißen.
Die eine der beiden, eine große Blonde, die ihre Haare hinter die Ohren gestreift hat, lehnt über einem Waschbecken und ist gerade damit beschäftigt, eine dicke Schicht Eyeliner aufzulegen; die andere, klein und brünett, kauert am Ende der Beckenreihe und dreht sich auf ihrem Oberschenkel eine Zigarette.
Unsere Augen treffen sich, und es wird unnatürlich, fast gespenstisch still im Raum, als sich eine tödliche Wolke aus bestürztem Schweigen über uns legt. Die eine hält inne mit Schminken und verliert alle Farbe, bis ihr Gesicht nur noch eine aschgraue Maske des Entsetzens ist; die andere hat aufgehört, sich ihre Zigarette zu drehen, und ist rot angelaufen, sie sieht jetzt aus wie eine reife, pulsierende Tomate.
Ich senke den Blick und setze mich in Richtung nächstgelegenes Waschbecken in Bewegung, drücke mir dann blaues Waschgel auf die Handfläche und reibe meine Hände unter dem sensorbetriebenen Wasserhahn. Eigentlich hatte ich vorgehabt, Lippenstift und Wimperntusche aufzulegen und mein Make-up aufzufrischen, bevor ich mich mit Mal treffe. Jetzt wage ich es nicht mal, von dem blauen Gel aufzusehen, das schäumend durch meine Finger quillt, um einen Blick auf meine Frisur zu werfen.
Ich trockne mir die Hände mit zwei kratzigen Papierhandtüchern, zerknülle sie in einer Hand und werfe sie in den Mülleimer unter dem Waschbecken. Ganz sicher können die beiden Frauen hören, wie das Herz in meiner Brust dröhnt und der Puls in meiner Kehle rauscht; das leiseste Geräusch wird hier drin verstärkt, und überdies haben sie beide keinen Mucks gemacht, seit sie mich entdeckt haben.
Die gehässigen Worte der einen klingen noch immer in meinen Ohren, als ich meine lange und abenteuerliche Reise zur Tür beginne. Jeder Schritt in ihre Richtung, noch dazu auf diesen gut fünfzehn Zentimeter hohen Absätzen, verursacht eine Geräuschexplosion.
Zu allem Überfluss schrillt jetzt auch noch mein Handy überlaut aus meiner Handtasche. Es ist Mals Klingelton. Wahrscheinlich will er fragen, wieso ich noch nicht da bin, wo ich ihn doch wiederholt gewarnt hatte, dass ich ihm die Haut am lebendigen Leib abziehen würde, wenn er auf die Idee käme, heute Abend länger zu arbeiten.
KLINGELINGELING!, insistiert mein Telefon, während ich meine Wanderung in Richtung Tür fortsetze. Natürlich kann ich nicht rangehen. Wenn ich auch nur für den Bruchteil einer Sekunde anhalte, wird etwas Schlimmes geschehen. Etwas noch Schlimmeres als das, was soeben geschehen ist. Ich weiß zwar nicht was, aber ich weiß, dass es geschehen wird.
KLINGELINGELING! Ich muss einfach nur hier raus. Raus aus dieser Toilette, raus aus diesem Fitnesscenter. Wenn ich das geschafft habe, wird alles gut.
KLINGELINGELING! Ich bin schon fast da. Nur ein einziger Schritt noch. Oder zwei höchstens. Dann habe ich es hinter mir.
KLINGELIN...! Das letzte Klingeln bricht abrupt ab, und die plötzliche Stille sorgt dafür, dass mir das Herz in die Kehle hüpft und meine Beine ganz kraftlos werden. Aber das macht nichts, ich bin schon da, an der Tür.
Ich drücke sie auf und trete hinaus, fühle den süßen Rausch der Freiheit, der wie eine Willkommenswoge über mir zusammenschlägt.
Ich weiß nicht, was nun passiert: Lachen sie sich krank, vergehen sie vor Scham oder beschließen sie, dasselbe zu tun, was auch ich tun werde - sich ein neues Fitnesscenter suchen.
Übersetzung: Elvira Bittner
© 2013 der deutschsprachigen Ausgabe by Diana Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Er weint die ganze Zeit.
Selbst wenn keine Tränen zu sehen sind, haben seine Augen den verlorenen Ausdruck eines Menschen, der innerlich schluchzt.
Ich möchte ihm helfen, aber er lässt mich nicht an sich heran. Er weint allein, eingeschlossen in das Zimmer, das einst das Kinderzimmer hätte werden sollen. Er schläft mit dem Rücken zu mir, wie eine feste menschliche Wand, die die Welt draußen hält. Er spricht in leeren Worten zu mir, in Sätzen, die keine tiefere Bedeutung haben. Einst hat er alles, was er sagte, mit den Fäden seiner tiefen Liebe verwoben. Jetzt spricht er nur mit mir, weil er muss. Jetzt ist alles, was er sagt, flach und bedeutungslos.
Der Kummer ist so uferlos, so unendlich, dass er sich darin verliert. Er schwimmt blind in einem tosenden Meer in der Nacht. Er schwimmt gegen die krachenden Wogen an und kommt nirgendwo hin. Jeden Tag wird er weiter hinuntergezogen, weiter in die Tiefe. Weg von der Wasseroberfläche. Weg vom Leben. Weg von mir. Alles, woran er sich festhält, ist der Verlust. Nichts sonst ist von Bedeutung. Ich möchte seine Hand nehmen, uns beide in Sicherheit schwimmen. Um ihn wieder ganz zu machen; um seine Wunden zu pflegen und ihm zu helfen, gesund zu werden.
Aber er wird meine Hand nicht ergreifen. Stattdessen schreckt er vor mir zurück und zieht es vor, allein zu bleiben. Er gibt mir die Schuld. Er gibt sich selbst die Schuld. Aber vor allem gibt er mir die Schuld.
Auch ich gebe mir die Schuld. Aber ich gebe auch ihr die Schuld. Ihr, Nova. Dies ist auch ihr Fehler, auch sie trägt Verantwortung. Wenn sie nicht gewesen wäre ...
Am allermeisten aber gebe ich mir selbst die Schuld. Am allermeisten will ich, dass er aufhört zu weinen, dass er aufhört, so versehrt zu sein, zu leiden mit jeder Faser seines Herzens.
Ich verstehe den Verlust nicht, den er und Nova teilen. Ich bezweifle, dass ich das jemals tun werde. Aber ich verstehe meinen Mann. Und bald werde ich ihn verlieren. Genau das, was ich verhindern wollte, indem ich tat, was ich getan habe, indem ich sagte, was ich gesagt habe, wird geschehen. Aber diesmal werde ich ihn nicht an eine andere Frau und ihr ungeborenes Baby verlieren, nicht an sie und ihr Kind werde ich ihn verlieren, sondern einfach nur an sich selbst.
Ich kann zusehen, wie es geschieht: Er wird in seinem Kummer ertrinken, er wird so tief hinuntergezogen werden, dass er nicht mehr fähig ist, an die Oberfläche durchzubrechen. Er wird hinuntergezogen werden in diese trostlosen, grauen Untiefen und wird nie mehr anfangen zu leben. Und alles, was ich tun kann, ist an der Küste zu stehen und zuzuschauen.
Sie machte an seinen Schuhen herum, zog sie aus, und er sah zu, wie sie seine Socken herunterrollte, und dann war es kalt unter seinen Zehen. Wie im Bad, bevor er sich waschen sollte, kalt.
Und da war Wasser.
Ein großes, großes Bad.
»Das ist der Strand«, sagte Mummy.
»Strand!«, sagte er.
»Und das ist das Meer.«
»Meer!«
»Komm, wir machen unsere Füße nass.«
Er zeigte hinunter. »Zehen?«
»Ja«, sagte sie. »Zehen ins Meer.«
Sie nahm seine Hand, die ihre war warm wie immer. Ihre
Hand warm, seine Zehen kalt. Sie ging mit ihm zum Meer.
»Jetzt wird's gleich kalt«, sagte sie.
»Kalt!«
Dann waren seine Zehen weg. Keine Zehen mehr, nur Meer.
»Brrr!«, schrie Mummy - ihre Zehen waren auch unter dem
Meer.
»Brrr!«, schrie er.
»Brrr!«, schrien sie zusammen. »Brrr!«
Leo, 18 Monate alt
1
»Hey, Marm.«
Es würde einer dieser Tage werden.
Ich hatte es schon gewusst, als ich am Morgen die Augen aufschlug. Da schon hatte ich dieses ganz starke, durchdringende Gefühl gehabt, dass alles irgendwie schieflaufen, irgendwie danebengehen würde. Dass ich mal wieder so einen Tag hinter mich bringen musste. Allerdings hoffte ich noch, dass ich Unrecht hatte, als ich duschte, als ich mich anzog, als ich das Radio anschaltete, damit es mir Gesellschaft leistete, während ich den Porridge anrührte und das Obst aufschnitt.
Aber Leo hat mir gerade die Bestätigung geliefert. Es würde tatsächlich einer dieser Tage werden. Nichts wird einfach gut laufen, die Stimmung wird gereizt sein, das Leben wird sich von seiner unangenehmsten Seite zeigen. Mein Siebenjähriger wird sich von seiner unangenehmsten Seite zeigen. Er wird es darauf anlegen, mir auf die Nerven zu gehen.
»Marm« nennt er mich nur, wenn er mich ärgern will. Er weiß genau, dass ich das nicht leiden kann; er weiß, dass er mich noch eher »Nova« nennen könnte als »Marm«. Er hat es in den amerikanischen Fernsehshows aufgeschnappt, diesen schrecklichen Tonfall, wenn sie »Mum« sagen. Ich kann es nun mal auf den Tod nicht ausstehen, wenn er so spricht, weil ich insgeheim befürchte, dass er tatsächlich anfangen könnte, mit diesem amerikanischen Akzent zu sprechen.
Ich stehe am Spülbecken, fülle den Porridgetopf mit Spülwasser, und beobachte im Fensterglas, wie Leo hinter mir seelenruhig durch die Küche zu dem massiven Eichenholztisch schlendert und sich auf seinem Stuhl niederlässt. Er schafft es tatsächlich sofort, mich auf die Palme zu bringen. Nicht nur, dass er mich »Marm« genannt hat, nein, er trägt auch noch seinen Superheldenanzug. Dabei muss er gleich in die Schule!
Ich drehe den Wasserhahn zu und drehe mich vom Spülbecken weg, um meinen Sohn anzusehen. Ihn in seiner ganzen Pracht zu bestaunen: Der Anzug ist hellgrün mit abnehmbarem, rotem Cape, das gegenwärtig in einem seltsamen Winkel, nur mit einem kleinen Stück Klettverschluss befestigt, von seiner linken Schulter baumelt. Außerdem hat er die Maske aufgesetzt, die nicht nur dazu angetan ist, einen Teil seines Gesichts zu verbergen, sondern auch, seine große Augen mit den langen Wimpern zu betonen.
Ein gerade mal 1,20 Meter großer, sieben Jahre alter Superheld mit Beulen-Bizeps, Sixpackmuskeln, Waschbrettbauch und gemeißeltem Hintern.
Tief einatmen, denke ich. Tief ausatmen.
Ich schließe die Augen. Zähle bis zehn. Rufe mir ein paar der Momente in Erinnerung, die der Grund sind, dass ich ihn liebe: Mit zwei Tagen, wie er mich anlächelt, in meine Armbeuge gekuschelt. Mit achtzehn Monaten, wie wir zum ersten Mal am Strand stehen und zuschauen, wie die See schäumend an die Küste rollt und mühelos unsere Füße verschluckt. Mit fünf Jahren, wie er meine Hände in die seinen nimmt und ganz ernst zu mir sagt: »Du bist die beste Mummy der Welt!«, nur weil ich an seinem Geburtstag sein Lieblingsessen gekocht hatte. Nur so schaffe ich es, mir ins Gedächtnis zu rufen, dass ich das nicht verlieren darf. Es gibt nur zwei Menschen auf der Welt, die durch sämtliche Schichten meines Seelenkorsetts dringen und alle Alarmknöpfe zum Schrillen bringen können; die mich dazu bringen können, zu schreien. Leo ist einer davon, und er tut es regelmäßig.
Ich öffne die Augen. Er trägt den Anzug immer noch. Es ist immer noch ein Schultag. Ich kann mich noch immer nicht dafür begeistern.
»Marm, ist das alles, was es zum Frühstück gibt?«, fragt er lang gezogen, indem er den Kopf auf die Seite legt und mich herausfordernd mustert.
Das Blut wallt in meinen Adern, die Hitze rast mir erst in die Kehle, dann in die Wangen. Sehr bald schon werde ich anfangen zu weinen. Wenn ich ihn anschreie, werde ich mich hinterher schrecklich fühlen und in mein Zimmer gehen und weinen. Wenn ich ihn nicht anschreie, werde ich wahrscheinlich irgendetwas anderes tun müssen, ihn zum Beispiel bis zum Wochenende nicht an die PlayStation lassen, was wiederum ihn zum Weinen bringen wird. So oder so werde ich also auch weinen - leise zwar, nur für mich, aber immerhin -, weil ich es einfach nicht ertragen kann, ihn weinen zu sehen.
»Leo, du musst jetzt gehen und dich fertig machen«, sage ich sehr ruhig. »Zieh deine Schuluniform an.«
»Ich bin fertig«, sagt er.
»Nein, bist du nicht.«
Er nickt, runzelt die Stirn. »Ich bin fertig«, insistiert er. »Ich werde so gehen.«
»Ich will nicht mit dir diskutieren, geh und mach dich fertig. Jetzt!«
»Ich werde so gehen. Ich muss so gehen.«
»Leo.« Ich beiße die Zähne zusammen, bevor ich fortfahre. »Bi...«
In dem Moment klingelt es. Leos dunkle Augen leuchten auf, als wäre es sein Geburtstag und er hätte die übliche Flut von Geschenken zu erwarten, die ihm vom Postboten ausgehändigt wird. Er ist schon vom Stuhl gerutscht und durch die Küchentür geflitzt, bevor ich überhaupt begreifen kann, was vor sich geht. Schließlich schicke ich mich an, mit einem »Wehe, du!« auf den Lippen hinter ihm her zu rennen.
Aber noch bevor ich die Worte ausgesprochen habe, tut er schon das, wovon er genau weiß, dass er es unter keinen Umständen tun darf. Er langt hinauf, schließt seine relativ breite, rundliche Hand um den Türgriff und zieht die Haustür weit auf.
Plötzlich ist der Gang mit Licht geflutet. Ein strahlendes, herrliches weißes Licht. Ich hebe den Arm, lege meine Hand über die Augen, um sie vor der Helligkeit zu schützen, die den ganzen Flur durchtränkt und alles um uns herum mit Licht übergießt.
Da ist kein Postbote auf der anderen Seite der Tür, im weißen Licht. Nur ein großer, ungewöhnlich hagerer Mann, der einen weißen Anzug mit weißem Hemd, weißer Krawatte und weißen Schuhen trägt. Er ist die Quelle des Lichts, das uns umgibt. Sein Haar ist schwarz und ordentlich gekämmt, mit einem kerzengeraden Seitenscheitel und einer kecken Locke, die ihm in die Stirn fällt; seine Haut ist weiß und sehr blass, was seine großen, walnussbraunen Augen betont; das Gesicht kündet von Lebenserfahrung, seine Züge sind freundlich und offen. Der Mann lächelt mich an, beruhigend und liebenswürdig, wendet dann aber seine Aufmerksamkeit Leo zu, wobei sein Lächeln noch breiter und liebevoller wird.
»Bist du fertig, junger Mann?«, fragt er Leo. Er spricht, ohne die Lippen zu bewegen. Er spricht geradewegs in meinen Kopf, mein Herz hinein. Ich kenne ihn, wird mir jetzt klar. Ich kenne ihn, und er kennt mich, aber die volle Erinnerung an ihn ist außerhalb meiner Reichweite, und ich kann ihn nicht einordnen.
»Ja«, sagt Leo mit einem Nicken und einem Grinsen. »Ja, bin ich.« Leo bewegt sehr wohl die Lippen beim Reden. »Was geht da vor sich?«, frage ich.
»Du siehst mir auch so aus, als wärst du bereit«, sagt der Mann zu Leo.
»Sie gehen nirgendwo mit ihm hin«, sage ich.
Der Mann hebt den Blick wieder zu mir, fixiert mich mit seinen warmen, freundlichen braunen Augen. Ein Blick, der nett ist, aber auch entschieden. Endgültig. »Es ist Zeit, Nova«, sagt er, wieder ohne seine Lippen zu bewegen.
Leo kommt zu mir gerannt, wirft seine Arme um meine Hüften, gräbt seinen Kopf in meinen Bauch, kuschelt sich einen Moment an mich, zieht sich aber dann zurück. »Ich vermisse dich, Mum«, sagt Leo, während er zu mir hochsieht, ein Lächeln auf dem Gesicht. »Ich vermisse dich sehr.«
Ich strecke meine Arme aus, um ihn zu halten, um ihn eng an mich zu drücken, aber ich greife in die Luft; was ich umklammere, ist das Nichts. Leo ist jetzt bei dem Mann, er hält die Hand des Mannes. Sie sind so unterschiedlich, aber sie ähneln sich auch. Ich weiß, Leo wird bei ihm in Sicherheit sein. Aber ich kann ihn nicht gehen lassen. Wie könnte ich ihn gehen lassen?
»Wo bringen Sie ihn denn hin?«, frage ich. »Er ist ja nicht mal angezogen. Wo bringen Sie ihn denn hin?«
»Es ist schon gut, Mum«, sagt Leo, »ich will ja gehen. Ich bin so weit. Ich hab dir doch gesagt, dass ich bereit bin. Ich werde so gehen. Ich bin so weit.«
Ich schüttle den Kopf. Nein. Er ist nicht bereit. Wie kann mein kleiner Junge bereit sein, ohne mich irgendwohin zu gehen? Wie? Er ist nicht bereit. Ich bin nicht bereit. »Ich komme mit«, sage ich.
Leo grinst, hebt die Hand und winkt. »Bye, Mum. Bye.« »Nein ...«
Meine Augen klappen auf, und für einen Moment bin ich noch ganz verwirrt und durcheinander, während mein Geist umhertastet und versucht, sich zurechtzufinden, und während ich versuche, mich zu erinnern, wo ich bin. Das Zimmer ist in künstliches Dunkel getaucht; in horizontalen Streifen kriecht die orangefarbene Straßenbeleuchtung durch die Jalousien herein, und vom Gang her fällt weißes Licht durch die quadratischen Sicherheitsglasscheiben in der Tür, sodass es nicht ganz schwarz im Zimmer ist. Ich habe wohl geschlafen, aber ich liege gar nicht im Bett. Meine Augen wandern durch den Raum, überall unbekannte Winkel und Formen.
Dann höre ich sie, die Piepstöne. Die rhythmischen Piepstöne im Hintergrund, die mich daran erinnern, wo ich bin, und schon fliegen meine Augen zum Bett.
Er ist immer noch da. Immer noch da. Immer noch in dem Bett. Ich beuge mich in meinem Stuhl nach vorn und schnappe nach Luft, als Muskeln und Nerven in meinem Rücken und Nacken vor Schmerz aufschreien. Ich wische den Schmerz beiseite und versuche zu sehen, ob es eine Veränderung gibt, ob Leo sich bewegt hat, während ich geschlafen habe.
Leo liegt immer noch auf dem Rücken, seine Augen sanft geschlossen, immer noch gefangen in jener Welt, die er jetzt bewohnt. Eine Zwischenwelt: nicht wach, aber auch nicht auf der anderen Seite. Ich rutsche weiter vor auf meinem Stuhl, damit ich sein Gesicht genau sehen kann. Der Traum war so realistisch. Er hat sich bewegt darin. Er ist gelaufen, hat geredet. Das muss sich doch auf die Gegenwart übertragen haben. Nicht wahr?
Seine Augenlider bleiben aufeinander liegen, sanft. Seine Lippen sind weich und ein wenig geöffnet. Seine Gesichtszüge sind glatt und ausdruckslos, nicht wie normalerweise, wenn er schläft. Ich kann mich in allen Details an die vielen Gesichtsausdrücke erinnern, die er hat, wenn er schläft, die Art, wie seine Züge sich beleben, seine Muskeln sich regen und zucken, während er ein Schlafleben durchlebt, das ebenso aufregend ist wie das richtige Leben. Dieser Schlaf hier ... er will so gar nicht zu ihm passen: Es kommt selten vor, dass er lange stillhält, dauernd geschieht etwas, das ihn aufhorchen lässt, immer will er sprechen oder herumrennen. Er hält nie inne für so lange Zeit.
»Es ist schon gut, Mum. Ich will ja gehen.« Diesmal hat er die Hand des Mannes genommen. Im Traum war er diesmal wirklich im Begriff zu gehen.
Mein Blick wandert weiter über das Bett zu Keith; sein muskulöser, fast zwei Meter langer Körper ist in dem Stuhl auf der anderen Seite zusammengekauert, der rasierte Kopf im Schlaf auf die Schulter gesackt, er trägt immer noch seine Polizeiuniform. Er ist also direkt von seiner Schicht hierhergekommen und hat mich tief schlafend vorgefunden, ich bin nicht mal hochgeschreckt, als er hereinkam. Normalerweise bin ich wach, wenn er kommt, und er fragt mich dann, wie mein Tag war, bevor ich nach Hause und ins Bett gehe, aber heute war ich offenbar völlig weggetreten. Eine vage Erinnerung an seine Lippen auf meiner Stirn, seine Finger, die meine Wange streicheln, driftet durch meinen Kopf. Irgendwie habe ich seine Anwesenheit wohl doch wahrgenommen.
Ich wende mich wieder Leo zu und frage mich, ob er weiß, dass wir die ganze Zeit hier sind. Einer von uns ist immer da, sitzt neben ihm, schaut, wartet. Wartet.
Dringen die Geräusche der Maschinen zu ihm durch? Was ist mit den Begrüßungen, den Gesprächen, den Büchern, die ich ihm vorlese, dem Gutenachtgruß? Weiß er, dass heute Donnerstag ist? Sein zweiter Donnerstag hier? Rutschen diese kleinen Fetzen unserer Realität durch die Ritzen in seinem Schlaf und schenken ihm ein Bewusstsein von der Welt, die sich um ihn herum weiterdreht? Oder ist er von alledem abgeschlossen? Verborgen. Entfernt. Irgendwo ganz für sich. Ich könnte es nicht ertragen, wenn es so wäre. Wenn er ganz allein wäre und nicht wüsste, dass ich da bin und nur darauf warte, dass er zurückkommt.
»Ist schon gut, Mum. Ich bin bereit.«
Ich reibe mir mit dem Daumenknöchel die Augen, entferne die Schlafkörnchen, versuche, etwas Wachheit und Leben in mein Gesicht zu massieren.
»Ich bin bereit.«
Nach dreizehn Tagen in diesem Zustand hätte ich gedacht, dass mein Körper sich daran gewöhnt hat, stundenlang in diesem Stuhl zu sitzen; dass er nicht mehr so weh und steif wäre und nicht mehr mit Ächzen reagieren würde, jedes Mal, wenn ich versuche, mich zu bewegen. Ich stehe auf, trete ans Bett, ignoriere automatisch die Infusionsschläuche und Elektroden, die ihn an die Maschinen anschließen, und schaue auf meinen Jungen hinunter. Meinen Jungen. Er war der Anlass, dass ich Tag für Tag die Augen geöffnet habe und aus dem Bett geklettert bin in den letzten siebeneinhalb Jahren; auch wenn ich keine Lust hatte, habe ich es getan. Meine Welt hat angefangen, um ihn zu kreisen, seit dem Moment seiner Geburt, und jetzt ist sie aus dem Lot.
Ich streichle mit den äußersten Spitzen meiner Finger seine Stirn, ganz sacht. Sogar jetzt noch berühre ich ihn instinktiv nur sehr sanft, um ihn nicht zu stören. Und das, obwohl ich mir so sehr wünsche, dass er endlich aufwacht.
Sein Kopf ist kahl geschoren, ein schwarzer Flaum ist schon nachgewachsen. Das haben sie getan, sie haben seine schönen, dicken, schwarzen Locken abgeschnitten und wegrasiert, vor acht Tagen. Seine mokkacremefarbene Kopfhaut ist glatt, außer an der Stelle am Schädelansatz, wo sie ein Loch gebohrt haben, um drei Blutgefäße abzuklemmen, im Versuch, eine Blutung zu verhindern. Die Operation war ein voller Erfolg gewesen, hatten sie mir mitgeteilt.
Ich hatte den Chirurgen angestarrt, mit seiner grünen Haube auf dem Kopf, seiner Maske um den Hals, seinem grünen Operationskittel, der so überraschend sauber war.
»Erfolg?«, wiederholte ich.
Er nickte. Erklärte, dass das andere Aneurysma, um das sie sich Sorgen gemacht hatten, nicht aufgebrochen war, und jetzt keine Bedrohung mehr darstellte.
»Erfolg«, echote ich nochmals, meine Stimme weit weg und irgendwie entrückt. Keith legte seine Hand beruhigend auf meinen Unterarm. Dieses Wort hatte für den Chirurgen und mich eine ganz unterschiedliche Bedeutung, so viel stand fest. Mein Junge schlief noch, war immer noch mehr »dort« als hier, er redete nicht und lief nicht herum, seine Augen waren nicht offen, sein Gesicht bewegte sich nicht, aber trotzdem war es ein Erfolg gewesen. »Danke«, sagte ich, als sich Keiths breite, warme Hand um meine schloss. Es war nicht die Schuld des Chirurgen, dass er nicht verstand, was das Wort »Erfolg« in Wirklichkeit bedeutete. Es bedeutete, dass Leo wieder normal war. Oder wenigstens, dass sie mir endlich sagen konnten, wann er wieder aufwachen würde.
Ich kehre zurück auf meinen braun gepolsterten Stuhl und schlage die Beine unter, lege den Kopf zurück und beobachte Leo.
Dies ist die Welt, in der ich jetzt lebe. Eine Welt, in der »Erfolg« diese Bedeutung hat. Eine Welt, in der ich Träume habe, die aus einem Gefühl, einem Wissen geboren sind, das sich klammheimlich, aber entschlossen jeden Tag ein Stückchen mehr in mir breitmacht.
Das Gefühl, dass Leo vielleicht bereit ist.
Vielleicht werde ich zulassen müssen, dass er geht.
»Schau mal, der Bauch von der Frau!«, rief er.
Er sah, wie Mummy ihre Augen schloss, bevor sie »Pscht!« sagte und ihn auf den Kopf küsste, während sie ihn auf ihrem Schoß festhielt und wiegte.
»Schau mal, der Bauch von der Frau!«, rief er wieder. Er zeigte auf die Frau. Sie hatte wirklich einen dicken Bauch. Er war rund wie sein Fußball und groß wie Mummys großes, großes Kissen. »Pscht!«, sagte Mummy. Sie nahm seinen Finger und küsste ihn.
»Mummy! Schau doch, der Bauch von der Frau!«
Mummy schaute nicht, sie drückte den Knopf, und es passierte wieder, dass diese Klingel klingelte, wie bei seinem Feuerwehrauto. Dann hielt der Bus an, wie immer. Mummy packte seinen Buggy und ihre große Tasche und ließ ihn jede einzelne Treppe hinunterhüpfen, bevor sie ausstiegen.
Sie klappte den Buggy auf und schob die Riemen zur Seite, damit er sich hineinsetzen konnte, aber er wollte nicht. »Laufen«, sagte er zu ihr. »Will laufen.«
Mummy schaute weiter in seinen Buggy, und als der Bus wegfuhr, stand sie auf. »Leo, warum musst du immer auf die Bäuche von anderen Leuten zeigen? Oder auf diesen kleinen Mann? Oder auf den großen Busen von dieser Frau? Oder auf die lustigen Haare von dem anderen Mann?«, sagte sie zu ihm. »Das ist das dritte Mal in zwei Tagen, dass du das getan hast. Ich werde noch Autofahren lernen müssen, weil ich einfach nicht mehr mit dir in einem Bus fahren will.«
Sie legte ihre Tasche in seinen Buggy. »Irgendwann wird mir jemand eine dafür runterhauen.«
»Mummy frech?«, fragte er. War Mummy etwa ein freches Mädchen, genauso wie er ein frecher Junge war, und würde dafür eine Ohrfeige bekommen?
Mummy starrte ihn mit zur Seite gelegtem Kopf an. »Ich frage mich manchmal, ob ich das in einem früheren Leben gewesen bin.« Sie fing an, den Buggy mit einer Hand die Straße runterzuschieben, denn in der anderen Hand hielt sie die seine. »Komm, wir haben noch einen weiten Weg vor uns.«
Eine Frau, die so alt war wie Grandma, lächelte ihn an. »Mummy frech«, teilte er ihr mit.
Die Frau schaute Mummy an. »Das glaube ich dir gern«, sagte die Frau und ging weiter.
Er lächelte Mummy an, aber sie sah es gar nicht - sie war damit beschäftigt, mit offenem Mund der Frau nachzusehen.
Leo, 2 Jahre alt
2
»Hast du gesehen, wie viel die Frau mit der 117 rennt?« »Die Blonde?«
»Ja. Sie ist jeden Tag hier. Manchmal macht sie Yoga oder Pilates, dann läuft sie noch. Es ist echt verrückt!«
Ich hatte das Schließfach mit der Nummer 117. Ich wollte gerade die Toilettentür entriegeln, als ich die Frau über mich sprechen hörte. Jetzt verharrt meine Hand über dem Schloss, und ich weiß nicht, ob ich aufsperren und gehen oder drinbleiben soll. Ich bin schon ein wenig spät dran für meine Verabredung mit Mal, wir wollen zu einem Abendessen mit Freunden, und ich habe keine Zeit, hier festzusitzen und eine Gefangene ihres Klatschs zu sein.
»Das überrascht mich nicht«, erwidert die andere Frau.
Okay, im Moment gehe ich also nirgendwo hin. Ich lasse leise den Toilettendeckel herunter und setze mich darauf. Meine Hände zittern leicht, mein Mund ist trocken, mein Herz hüpft ein wenig in meiner Brust. Gedankenverloren spiele ich an dem Träger meines schwarzen Kleids, während ich warte, dass sie weiterreden.
»Hast du ihren Mann gesehen? Er ist ab-so-lut hinreißend. Ich würde jeden Tag meilenweit laufen, um ihn zu halten.«
»Ja ich weiß, ich habe ihn ein paarmal gesehen, als er sie abholen kam ... Er ist wirklich zum Anbeißen!«
»Glaubst du, sie ist eine von diesen Frauen, die aufgehen wie Hefeteig, wenn sie nicht die ganze Zeit dagegenarbeiten?«
»O ja! Das sehe ich an ihrem Gesicht.«
Ihre Worte hallen wie ein Echo von den Marmorwänden wider. Ich erkenne ihre Stimmen, es sind die zwei Frauen, die alles miteinander machen: Sie sind immer gemeinsam an den Geräten, ihre Matten liegen in den Yoga- und Pilatesstunden immer nebeneinander. Wir kennen uns vom Sehen und grüßen uns flüchtig, und ich dachte eigentlich, sie mögen mich. Selbst wenn nicht, wäre ich nie auf den Gedanken gekommen, dass sie sich das Maul über mich zerreißen.
Dabei ist das meine größte Angst. Wahrscheinlich mehr als jeder andere vernunftbegabte erwachsene Mensch habe ich Angst, dass die Leute über mich reden. Mich heimlich auseinandernehmen, die Schutzschichten abschälen, die ich mit großer Sorgfalt und Akribie angelegt habe; ich habe Angst, dass die Leute sich eine Realität schaffen, die anders ist als die, die mein Leben tatsächlich ausmacht; die mit dem schönen Heim, dem perfekten Ehemann, den erfolgreichen Freunden, die mich auf ihre Dinnerpartys einladen.
»Ach, gönn es ihr doch, wahrscheinlich war sie ein ziemlicher Fettmops, als sie jünger war, und jetzt ist sie ganz gut in Form.«
Das war ich nicht!, will ich ihnen durch die Tür hindurch zurufen. Das war ich wirklich nicht. Ich war immer in Form, hatte immer schon meine Figur. Jetzt bin ich nur fester. Ich mache auf jeden Fall keinen Sport, um mir mein gutes Aussehen zu erhalten, Speckrollen abzubauen oder mich der Treue meines Ehemanns zu versichern. Ich brauche den Sport, um auf dem Boden zu bleiben. Um sicher zu sein, stabil. Um ich selbst zu sein.
Wenn ich nicht jeden Tag den Blutstoß spüre, der Endorphine und Adrenalin in Höchstgeschwindigkeit durch meine Adern jagt, fangen die Dinge an wegzurutschen. Mein Kontakt zur Realität wird dann stumpf, und es beginnt ein langsamer Niedergang, bis ich das Gefühl habe, die Kontrolle zu verlieren. Das ist der Grund, warum ich jeden Tag laufe - sogar am Freitagabend. Was ist wohl ihre Ausrede dafür, dass sie hier sind?
»Tja, da werden wir beide wohl nie hinkommen. Alan fragt mich immer, warum ich mich eigentlich im Fitness abmühe, wenn ich mich dann zu Hause immer gleich mit Heißhunger auf den Kühlschrank stürze.«
»Ja, das fragt Ian mich auch dauernd. Er würde Stielaugen kriegen, wenn er sie sehen würde.«
Als ich jünger war, haben die Leute oft über meine Familie getratscht, vor allem über mich. Es war eine Art Zeitvertreib in der Kleinstadt, in der wir lebten. Die Leute flüsterten miteinander, warfen uns missbilligende Blicke zu, verstummten, wenn einer von uns vorbeiging. Ich spürte jedes Wispern, jeden Stupser, jeden Blick. Das ist der Grund, warum ich so darauf bedacht bin, dass niemand Anlass hat, über mich zu tratschen. Ein toller Job, ein schönes Heim, ein attraktiver Ehemann, ein netter Freundeskreis. Warum sollte man sich darüber das Maul zerreißen? Neidisch sein konnte man vielleicht, aber sicher nichts Falsches daran finden.
»Hast du Lust auf ein Bier?«, fragt die eine der beiden Frauen auf der anderen Seite.
»Oh, klar. Ich habe den ganzen Tag schon über Salt-and-Vinegar-Chips fantasiert. Wenn ich nächste Woche mehr Gerätetraining mache, ist ein bisschen Sündigen doch nicht schlimm, oder?«
»Okay, ich sag jetzt mal Ja, damit du deinen Frieden hast. Fünf Minuten zusätzliches Training - und alles Extrafett schmilzt einfach weg wie durch Zauberei.«
»Du bist echt gemein, weißt du! Hey, sollen wir die, die so viel rennt, fragen, ob sie mitkommt?«
Ich sehe das Grinsen der anderen Frau förmlich vor mir, fies und hämisch, ein perfekter Ausdruck ihrer Schadenfreude. »Wahrscheinlich isst und trinkt sie grundsätzlich nicht.«
»Das glaub' ich auch!«
Meine Mutter hat solche Gemeinheiten immer mit Beten umschifft. »Der ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein«, pflegte sie zu sagen, als ob das dem Spott der anderen Einhalt gebieten würde - oder auch nur den Schmerz in Grenzen halten konnte, den er verursachte. Wann immer meine Schwester Mary weinen musste wegen der Dinge, die sie zu hören bekam, sagte meine Mutter: »Schließe diese Leute in deine Gebete mit ein, Mary.« Und vergiss auch nicht, Gott darum zu bitten, dass ihnen recht viele schlimme Dinge passieren!, dachte ich dann, sprach es aber nie aus. Es geschah ihnen ja auch nichts Schlimmes, unseren Angreifern, nie, ob mit oder ohne Sünde, sondern sie warfen einfach immer weiter Steine nach uns; sie riefen mich weiterhin Schlampe oder Hure und jede Menge anderer Dinge, manchmal hinter meinem Rücken, manchmal auch ganz offen; sie schrieben es auf alle Wände, die sie auftreiben konnten. Beten half nicht; aber auch Weinen half nicht. Nichts half. Nichts machte dem Treiben ein Ende.
Die beiden Frauen sind inzwischen verstummt, jetzt hallen ihre Schritte wider, laut und deutlich, wie es vorher ihre Worte taten. Die Tür knallt hinter ihnen zu. Ich warte noch einen Moment, auch wenn ich wirklich schon ziemlich spät dran bin für meine Verabredung mit Mal, aber ich will sichergehen, dass sie wirklich weg sind. Dann entriegle ich die Tür und befreie mich aus meinem selbst auferlegten Gefängnis, trete in den Waschraum mit den Marmorwänden und den breiten Spiegeln über den Waschbecken, gleich gegenüber von den Toilettenkabinen.
Ich bleibe abrupt stehen, und im selben Moment setzt mein Herz aus: Sie sind noch da! Sie sind noch hier, und jetzt wissen sie, dass ich weiß, was sie gesagt haben. Dass ich in der Kabine gesessen und zugehört habe, wie sie mich in Stücke reißen.
Die eine der beiden, eine große Blonde, die ihre Haare hinter die Ohren gestreift hat, lehnt über einem Waschbecken und ist gerade damit beschäftigt, eine dicke Schicht Eyeliner aufzulegen; die andere, klein und brünett, kauert am Ende der Beckenreihe und dreht sich auf ihrem Oberschenkel eine Zigarette.
Unsere Augen treffen sich, und es wird unnatürlich, fast gespenstisch still im Raum, als sich eine tödliche Wolke aus bestürztem Schweigen über uns legt. Die eine hält inne mit Schminken und verliert alle Farbe, bis ihr Gesicht nur noch eine aschgraue Maske des Entsetzens ist; die andere hat aufgehört, sich ihre Zigarette zu drehen, und ist rot angelaufen, sie sieht jetzt aus wie eine reife, pulsierende Tomate.
Ich senke den Blick und setze mich in Richtung nächstgelegenes Waschbecken in Bewegung, drücke mir dann blaues Waschgel auf die Handfläche und reibe meine Hände unter dem sensorbetriebenen Wasserhahn. Eigentlich hatte ich vorgehabt, Lippenstift und Wimperntusche aufzulegen und mein Make-up aufzufrischen, bevor ich mich mit Mal treffe. Jetzt wage ich es nicht mal, von dem blauen Gel aufzusehen, das schäumend durch meine Finger quillt, um einen Blick auf meine Frisur zu werfen.
Ich trockne mir die Hände mit zwei kratzigen Papierhandtüchern, zerknülle sie in einer Hand und werfe sie in den Mülleimer unter dem Waschbecken. Ganz sicher können die beiden Frauen hören, wie das Herz in meiner Brust dröhnt und der Puls in meiner Kehle rauscht; das leiseste Geräusch wird hier drin verstärkt, und überdies haben sie beide keinen Mucks gemacht, seit sie mich entdeckt haben.
Die gehässigen Worte der einen klingen noch immer in meinen Ohren, als ich meine lange und abenteuerliche Reise zur Tür beginne. Jeder Schritt in ihre Richtung, noch dazu auf diesen gut fünfzehn Zentimeter hohen Absätzen, verursacht eine Geräuschexplosion.
Zu allem Überfluss schrillt jetzt auch noch mein Handy überlaut aus meiner Handtasche. Es ist Mals Klingelton. Wahrscheinlich will er fragen, wieso ich noch nicht da bin, wo ich ihn doch wiederholt gewarnt hatte, dass ich ihm die Haut am lebendigen Leib abziehen würde, wenn er auf die Idee käme, heute Abend länger zu arbeiten.
KLINGELINGELING!, insistiert mein Telefon, während ich meine Wanderung in Richtung Tür fortsetze. Natürlich kann ich nicht rangehen. Wenn ich auch nur für den Bruchteil einer Sekunde anhalte, wird etwas Schlimmes geschehen. Etwas noch Schlimmeres als das, was soeben geschehen ist. Ich weiß zwar nicht was, aber ich weiß, dass es geschehen wird.
KLINGELINGELING! Ich muss einfach nur hier raus. Raus aus dieser Toilette, raus aus diesem Fitnesscenter. Wenn ich das geschafft habe, wird alles gut.
KLINGELINGELING! Ich bin schon fast da. Nur ein einziger Schritt noch. Oder zwei höchstens. Dann habe ich es hinter mir.
KLINGELIN...! Das letzte Klingeln bricht abrupt ab, und die plötzliche Stille sorgt dafür, dass mir das Herz in die Kehle hüpft und meine Beine ganz kraftlos werden. Aber das macht nichts, ich bin schon da, an der Tür.
Ich drücke sie auf und trete hinaus, fühle den süßen Rausch der Freiheit, der wie eine Willkommenswoge über mir zusammenschlägt.
Ich weiß nicht, was nun passiert: Lachen sie sich krank, vergehen sie vor Scham oder beschließen sie, dasselbe zu tun, was auch ich tun werde - sich ein neues Fitnesscenter suchen.
Übersetzung: Elvira Bittner
© 2013 der deutschsprachigen Ausgabe by Diana Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
... weniger
Autoren-Porträt von Dorothy Koomson
Dorothy Koomson ist Journalistin und arbeitete bereits für eine ganze Reihe von Frauenzeitschriften und Zeitungen. Heute ist sie für ein australisches Magazin tätig und pendelt zwischen Sydney und London.
Bibliographische Angaben
- Autor: Dorothy Koomson
- 2013, 544 Seiten, Maße: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Bittner, Elvira
- Übersetzer: Elvira Bittner
- Verlag: Diana
- ISBN-10: 3453357221
- ISBN-13: 9783453357228
- Erscheinungsdatum: 14.01.2013
Kommentare zu "Alles für dich"
0 Gebrauchte Artikel zu „Alles für dich“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
4.5 von 5 Sternen
5 Sterne 1Schreiben Sie einen Kommentar zu "Alles für dich".
Kommentar verfassen