Als ich ein kleiner Junge war
'Kinder werden dieses Buch als ein Kästner-Kinderbuch lieben. Erwachsene werden es bewundern.' Friedrich Luft in Die Welt
Eine Kindheit in Dresden: Erich Kästner, geboren 1899, erzählt von seinen Eltern und Großeltern, dem Familienleben, den...
Eine Kindheit in Dresden: Erich Kästner, geboren 1899, erzählt von seinen Eltern und Großeltern, dem Familienleben, den...
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Produktinformationen zu „Als ich ein kleiner Junge war “
Klappentext zu „Als ich ein kleiner Junge war “
'Kinder werden dieses Buch als ein Kästner-Kinderbuch lieben. Erwachsene werden es bewundern.' Friedrich Luft in Die WeltEine Kindheit in Dresden: Erich Kästner, geboren 1899, erzählt von seinen Eltern und Großeltern, dem Familienleben, den gesellschaftlichen Zwängen und Konventionen, dem Treiben auf den Straßen und Plätzen der Stadt. Kästners Erinnerungen, die junge wie alte Leser seit über 50 Jahren in ihren Bann schlagen, sind ein zeitloses Meisterwerk voller Witz, Esprit und menschlicher Wärme.
Lese-Probe zu „Als ich ein kleiner Junge war “
Als ich ein kleiner Junge war von Erich KästnerLiebe Kinder und Nichtkinder,
... mehr
Meine Freunde machen sich schon seit langem darüber
lustig, dass keines meiner Bücher ohne ein Vorwort erscheint.
Ja, ich hab auch schon Bücher mit zwei und sogar
mit drei Vorworten zustande gebracht! In dieser Hinsicht
bin ich unermüdlich. Und auch wenn es eine Unart sein
sollte - ich werde mir's nicht abgewöhnen können. Erstens
gewöhnt man sich Unarten am schwersten ab, und
zweitens halte ich es für gar keine Unart.
Ein Vorwort ist für ein Buch so wichtig und so hübsch
wie der Vorgarten für ein Haus. Natürlich gibt es auch
Häuser ohne Vorgärtchen und Bücher ohne Vorwörtchen,
Verzeihung, ohne Vorwort. Aber mit einem Vorgarten,
nein, mit einem Vorwort sind mir die Bücher lieber. Ich bin
nicht dafür, dass die Besucher gleich mit der Tür ins Haus
fallen. Es ist weder für die Besucher gut noch fürs Haus.
Und für die Tür auch nicht.
So ein Vorgarten mit Blumenrabatten, beispielsweise
mit bunten, kunterbunten Stiefmütterchen, und einem
kleinen, kurzen Weg aufs Haus zu, mit drei, vier Stufen bis
zur Tür und zur Klingel, das soll eine Unart sein? Mietskasernen,
ja siebzigstöckige Wolkenkratzer, sie sind im
Laufe der Zeit notwendig geworden. Und dicke Bücher,
schwer wie Ziegelsteine, natürlich auch. Trotzdem gehört
meine ganze Liebe nach wie vor den kleinen gemütlichen
Häusern mit den Stiefmütterchen und Dahlien im Vorgarten.
Und den schmalen, handlichen Büchern mit ihrem
Vorwort.
Vielleicht liegt es daran, dass ich in Mietskasernen aufgewachsen
bin. Ganz und gar ohne Vorgärtchen. Mein Vorgarten
war der Hinterhof, und die Teppichstange war mein
Lindenbaum. Das ist kein Grund zum Weinen, und es war
kein Grund zum Weinen. Höfe und Teppichstangen sind
etwas sehr Schönes. Und ich habe wenig geweint und viel
gelacht. Nur, Fliederbüsche und Holundersträucher sind
auf andere und noch schönere Weise schön. Das wusste
ich schon, als ich ein kleiner Junge war. Und heute weiß
ich's fast noch besser. Denn heute hab ich endlich ein Vorgärtchen
und hinterm Haus eine Wiese. Und Rosen und
Veilchen und Tulpen und Schneeglöckchen und Narzissen
und Hahnenfuß und Männertreu und Glockenblumen und
Vergissmeinnicht und meterhohe blühende Gräser, die der
Sommerwind streichelt. Und Faulbaumsträucher und Fliederbüsche
und zwei hohe Eschen und eine alte, morsche
Erle hab ich außerdem. Sogar Blaumeisen, Kohlmeisen,
Hänflinge, Kleiber, Dompfaffen, Amseln, Buntspechte und
Elstern hab ich. Manchmal könnte ich mich fast beneiden!
In diesem Buche will ich Kindern einiges aus meiner Kindheit
erzählen. Nur einiges, nicht alles. Sonst würde es eines
der dicken Bücher, die ich nicht mag, schwer wie ein
Ziegelstein, und mein Schreibtisch ist ja schließlich keine
Ziegelei, und überdies: Nicht alles, was Kinder erleben, eignet
sich dafür, dass Kinder es lesen! Das klingt ein bisschen
merkwürdig. Doch es stimmt. Ihr dürft mir's glauben.
Dass ich ein kleiner Junge war, ist nun fünfzig Jahre her,
und fünfzig Jahre sind immerhin ein halbes Jahrhundert.
(Hoffentlich hab ich mich nicht verrechnet!) Und ich dachte
mir eines schönen Tages, es könne euch interessieren, wie
ein kleiner Junge vor einem halben Jahrhundert gelebt hat.
(Auch darin hab ich mich hoffentlich nicht verrechnet.)
Damals war ja so vieles anders als heute! Ich bin noch
mit der Pferdebahn gefahren. Der Wagen lief schon auf
Schienen, aber er wurde von einem Pferde gezogen, und
der Schaffner war zugleich der Kutscher und knallte mit
der Peitsche. Als sich die Leute an die »Elektrische« gewöhnt
hatten, wurden die Humpelröcke Mode. Die Damen
trugen ganz lange, ganz enge Röcke. Sie konnten nur winzige
Schrittchen machen, und in die Straßenbahn klettern
konnten sie schon gar nicht. Sie wurden von den Schaffnern
und anderen kräftigen Männern, unter Gelächter,
auf die Plattform hinaufgeschoben, und dabei mussten sie
auch noch den Kopf schräghalten, weil sie Hüte trugen,
so groß wie Wagenräder, mit gewaltigen Federn und mit
ellenlangen Hutnadeln und polizeilich verordneten Hutnadelschützern!
Damals gab es noch einen deutschen Kaiser. Er hatte
einen hochgezwirbelten Schnurrbart im Gesicht, und sein
Berliner Hof-Friseur machte in den Zeitungen und Zeitschriften
für die vom Kaiser bevorzugte Schnurrbartbinde
Reklame. Deshalb banden sich die deutschen Männer
morgens nach dem Rasieren eine breite Schnurrbartbinde
über den Mund, sahen albern aus und konnten eine halbe
Stunde lang nicht reden.
Einen König von Sachsen hatten wir übrigens auch.
Des Kaisers wegen fand jedes Jahr ein Kaisermanöver statt,
und dem König zuliebe, anlässlich seines Geburtstags,
eine Königsparade. Die Uniformen der Grenadiere und
Schützen, vor allem aber der Kavallerieregimenter, waren
herrlich bunt. Und wenn, auf dem Alaunplatz in Dresden,
die Gardereiter mit ihren Kürassierhelmen, die Großenhainer
und Bautzener Husaren mit verschnürter Attila und
brauner Pelzmütze, die Oschatzer und Rochlitzer Ulanen
mit Ulanka und Tschapka und die Reitenden Jäger, allesamt
hoch zu Ross, mit gezogenem Säbel und erhobener
Lanze an der königlichen Tribüne vorübertrabten, dann
war die Begeisterung groß, und alles schrie Hurra. Die
Trompeten schmetterten. Die Schellenbäume klingelten.
Und die Pauker schlugen auf ihre Kesselpauken, dass es
nur so dröhnte. Diese Paraden waren die prächtigsten und
teuersten Revuen und Operetten, die ich in meinem Leben
gesehen habe.
Der Monarch, dessen Geburtstage so bunt und laut gefeiert
wurden, hieß Friedrich August. Und er war der letzte
sächsische König. Doch das wusste er damals noch nicht.
Manchmal fuhr er mit seinen Kindern durch die Residenzstadt.
Neben dem Kutscher saß, mit verschränkten Armen
und einem schillernden Federhut, der Leibjäger. Und aus
dem offenen Wagen winkten die kleinen Prinzen und
Prinzessinnen uns anderen Kindern zu. Der König winkte
auch. Und er lächelte freundlich. Wir winkten zurück
und bedauerten ihn ein bisschen. Denn wir und alle Welt
wussten ja, dass ihm seine Frau, die Königin von Sachsen,
davongelaufen war. Mit Signore Toselli, einem italienischen
Geiger! So war der König eine lächerliche Figur geworden,
und die Prinzessinnen und Prinzen hatten keine
Mutter mehr.
Um die Weihnachtszeit spazierte er manchmal, ganz
allein und mit hochgestelltem Mantelkragen, wie andere
Offiziere auch, durch die abendlich funkelnde Prager
Straße und blieb nachdenklich vor den schimmernden
Schaufenstern stehen. Für Kinderkleider und Spielwaren
interessierte er sich am meisten. Es schneite. In den Läden
glitzerten die Christbäume. Die Passanten stießen sich
an, flüsterten: »Der König!« und gingen eilig weiter, um
ihn nicht zu stören. Er war einsam. Er liebte seine Kinder.
Und deshalb liebte ihn die Bevölkerung. Wenn er in die
Fleischerei Rarisch hineingegangen wäre und zu einer der
Verkäuferinnen gesagt hätte: »Ein Paar heiße Altdeutsche,
mit viel Senf, zum Gleichessen!«, wäre sie bestimmt nicht
in die Knie gesunken, und sie hätte sicher nicht geantwortet:
»Es ist uns eine hohe Ehre, Majestät!« Sie hätte nur
gefragt: »Mit oder ohne Semmel?« Und wir anderen, auch
meine Mutter und ich, hätten beiseitegeschaut, um ihm
den Appetit nicht zu verderben. Aber er traute sich wohl
nicht recht. Er ging nicht zu Rarisch, sondern die Seestraße
entlang, blieb vor Lehmann & Leichsenring, einem
schönen Delikatessengeschäft, stehen, passierte den Altmarkt,
schlenderte die Schlossstraße hinunter, musterte,
bei Zeuner in der Auslage, die in Schlachtformation aufgestellten
Nürnberger Zinnsoldaten, und dann war es mit
seinem Weihnachtsbummel auch schon vorbei! Denn auf
der anderen Straßenseite stand das Schloss. Man hatte ihn
bemerkt. Die Wache sprang heraus. Kommandoworte
ertönten. Das Gewehr wurde präsentiert. Und der letzte
König von Sachsen verschwand, unter Anlegen der Hand
an die Mütze, in seiner viel zu großen Wohnung.
Ja, ein halbes Jahrhundert ist eine lange Zeit. Aber manchmal
denk ich: Es war gestern. Was gab es seitdem nicht
alles! Kriege und elektrisches Licht, Revolutionen und
Inflationen, lenkbare Luftschiffe und den Völkerbund, die
Entzifferung der Keilschrift und Flugzeuge, die schneller
sind als der Schall! Doch die Jahreszeiten und die Schularbeiten,
die gab es immer schon, und es gibt sie auch heute
noch. Meine Mutter musste zu ihren Eltern noch »Sie«
sagen. Aber die Liebe zwischen Eltern und Kindern hat
sich nicht geändert. Mein Vater schrieb in der Schule noch
»Brod« und »Thür«. Aber ob nun Brod oder Brot, man aß
und isst es gerne. Und ob nun Thür oder Tür, ohne sie kam
und käme man nicht ins Haus. Fast alles hat sich geändert,
und fast alles ist sich gleich geblieben.
War es erst gestern, oder ist es wirklich schon ein halbes
Jahrhundert her, dass ich meine Rechenaufgaben unter der
blakenden Petroleumlampe machte? Dass plötzlich, mit
einem dünnen »Klick«, der gläserne Zylinder zersprang?
Und dass er vorsichtig mit dem Topflappen ausgewechselt
werden musste? Heutzutage brennt die Sicherung durch,
und man muss, mit dem Streichholz, eine neue suchen
und einschrauben. Ist der Unterschied so groß? Nun ja, das
Licht schimmert heute heller als damals, und man braucht
den elektrischen Strom nicht in der Petroleumkanne einzukaufen.
Manches ist bequemer geworden. Wurde es
dadurch schöner? Ich weiß nicht recht. Vielleicht. Vielleicht
auch nicht.
Als ich ein kleiner Junge war, trabte ich, morgens vor
der Schule, zum Konsumverein in die Grenadierstraße.
»Anderthalb Liter Petroleum und ein frisches Vierpfundbrot,
zweite Sorte«, sagte ich zur Verkäuferin. Dann rannte
ich - mit dem Wechselgeld, den Rabattmarken, dem Brot
und der schwappenden Kanne - weiter. Vor den zwinkernden
Gaslaternen tanzten die Schneeflocken. Der
Frost nähte mir mit feinen Nadelstichen die Nasenlöcher
zu. Jetzt ging's zu Fleischermeister Kießling. »Bitte,
ein Viertelpfund hausschlachtene Blut- und Leberwurst,
halb und halb!« Und nun in den Grünkramladen zu Frau
Kletsch. »Ein Stück Butter und sechs Pfund Kartoffeln.
Einen schönen Gruß, und die letzten waren erfroren!« Und
dann nach Hause! Mit Brot, Petroleum, Wurst, Butter und
Kartoffeln! Der Atem quoll weiß aus dem Mund, wie der
Rauch eines Eibdampfers. Das warme Vierpfundbrot unterm
Arm kam ins Rutschen. In der Tasche klimperte das
Geld. In der Kanne schaukelte das Petroleum. Das Netz mit
den Kartoffeln schlug gegen das Knie. Die quietschende
Haustür. Die Treppe, drei Stufen auf einmal. Die Klingel im
dritten Stock, und zum Klingeln keine Hand frei. Mit dem
Schuh gegen die Tür. Sie öffnete sich. »Kannst du denn
nicht klingeln?« »Nein, Muttchen, womit denn?« Sie lacht.
»Hast du auch nichts vergessen?« »Na, erlaube mal!« »Treten
Sie näher, junger Mann!« Und dann gab's, am Küchentisch,
eine Tasse Malzkaffee mit Karlsbader Feigenzusatz und
den warmen Brotkanten, das »Ränftchen« mit frischer
Butter. Und der gepackte Schulranzen stand im Flur und
trat ungeduldig von einem Bein aufs andre.
»Seitdem sind mehr als fünfzig Jahre vergangen«, erklärt
nüchtern der Kalender, dieser hornalte, kahle Buchhalter
im Büro der Geschichte, der die Zeitrechnung kontrolliert
und, mit Tinte und Lineal, die Schaltjahre blau und
jeden Jahrhundertbeginn rot unterstreicht. »Nein!«, ruft
die Erinnerung und schüttelt die Locken. »Es war gestern!«,
und lächelnd fügt sie, leise, hinzu: »Oder allerhöchstens
vorgestern.« Wer hat unrecht?
Beide haben recht. Es gibt zweierlei Zeit. Die eine
kann man mit der Elle messen, mit der Bussole und dem
Sextanten. Wie man Straßen und Grundstücke ausmisst.
Unsere Erinnerung aber, die andere Zeitrechnung, hat mit
Meter und Monat, mit Jahrzehnt und Hektar nichts zu
schaffen. Alt ist, was man vergessen hat. Und das Unvergessliche
war gestern. Der Maßstab ist nicht die Uhr, sondern
der Wert. Und das Wertvollste, ob lustig oder traurig,
ist die Kindheit. Vergesst das Unvergessliche nicht! Diesen
Rat kann man, glaub ich, nicht früh genug geben.
Damit ist die Einleitung zu Ende. Und auf der nächsten
Seite beginnt das erste Kapitel. Das gehört sich so. Denn
auch wenn der Satz »Kein Buch ohne Vorwort« eine gewisse
Berechtigung haben sollte - seine Umkehrung stimmt
erst recht. Sie lautet:
KEIN VORWORT OHNE BUCH
© Weltbild
www.atrium-verlag.com
Meine Freunde machen sich schon seit langem darüber
lustig, dass keines meiner Bücher ohne ein Vorwort erscheint.
Ja, ich hab auch schon Bücher mit zwei und sogar
mit drei Vorworten zustande gebracht! In dieser Hinsicht
bin ich unermüdlich. Und auch wenn es eine Unart sein
sollte - ich werde mir's nicht abgewöhnen können. Erstens
gewöhnt man sich Unarten am schwersten ab, und
zweitens halte ich es für gar keine Unart.
Ein Vorwort ist für ein Buch so wichtig und so hübsch
wie der Vorgarten für ein Haus. Natürlich gibt es auch
Häuser ohne Vorgärtchen und Bücher ohne Vorwörtchen,
Verzeihung, ohne Vorwort. Aber mit einem Vorgarten,
nein, mit einem Vorwort sind mir die Bücher lieber. Ich bin
nicht dafür, dass die Besucher gleich mit der Tür ins Haus
fallen. Es ist weder für die Besucher gut noch fürs Haus.
Und für die Tür auch nicht.
So ein Vorgarten mit Blumenrabatten, beispielsweise
mit bunten, kunterbunten Stiefmütterchen, und einem
kleinen, kurzen Weg aufs Haus zu, mit drei, vier Stufen bis
zur Tür und zur Klingel, das soll eine Unart sein? Mietskasernen,
ja siebzigstöckige Wolkenkratzer, sie sind im
Laufe der Zeit notwendig geworden. Und dicke Bücher,
schwer wie Ziegelsteine, natürlich auch. Trotzdem gehört
meine ganze Liebe nach wie vor den kleinen gemütlichen
Häusern mit den Stiefmütterchen und Dahlien im Vorgarten.
Und den schmalen, handlichen Büchern mit ihrem
Vorwort.
Vielleicht liegt es daran, dass ich in Mietskasernen aufgewachsen
bin. Ganz und gar ohne Vorgärtchen. Mein Vorgarten
war der Hinterhof, und die Teppichstange war mein
Lindenbaum. Das ist kein Grund zum Weinen, und es war
kein Grund zum Weinen. Höfe und Teppichstangen sind
etwas sehr Schönes. Und ich habe wenig geweint und viel
gelacht. Nur, Fliederbüsche und Holundersträucher sind
auf andere und noch schönere Weise schön. Das wusste
ich schon, als ich ein kleiner Junge war. Und heute weiß
ich's fast noch besser. Denn heute hab ich endlich ein Vorgärtchen
und hinterm Haus eine Wiese. Und Rosen und
Veilchen und Tulpen und Schneeglöckchen und Narzissen
und Hahnenfuß und Männertreu und Glockenblumen und
Vergissmeinnicht und meterhohe blühende Gräser, die der
Sommerwind streichelt. Und Faulbaumsträucher und Fliederbüsche
und zwei hohe Eschen und eine alte, morsche
Erle hab ich außerdem. Sogar Blaumeisen, Kohlmeisen,
Hänflinge, Kleiber, Dompfaffen, Amseln, Buntspechte und
Elstern hab ich. Manchmal könnte ich mich fast beneiden!
In diesem Buche will ich Kindern einiges aus meiner Kindheit
erzählen. Nur einiges, nicht alles. Sonst würde es eines
der dicken Bücher, die ich nicht mag, schwer wie ein
Ziegelstein, und mein Schreibtisch ist ja schließlich keine
Ziegelei, und überdies: Nicht alles, was Kinder erleben, eignet
sich dafür, dass Kinder es lesen! Das klingt ein bisschen
merkwürdig. Doch es stimmt. Ihr dürft mir's glauben.
Dass ich ein kleiner Junge war, ist nun fünfzig Jahre her,
und fünfzig Jahre sind immerhin ein halbes Jahrhundert.
(Hoffentlich hab ich mich nicht verrechnet!) Und ich dachte
mir eines schönen Tages, es könne euch interessieren, wie
ein kleiner Junge vor einem halben Jahrhundert gelebt hat.
(Auch darin hab ich mich hoffentlich nicht verrechnet.)
Damals war ja so vieles anders als heute! Ich bin noch
mit der Pferdebahn gefahren. Der Wagen lief schon auf
Schienen, aber er wurde von einem Pferde gezogen, und
der Schaffner war zugleich der Kutscher und knallte mit
der Peitsche. Als sich die Leute an die »Elektrische« gewöhnt
hatten, wurden die Humpelröcke Mode. Die Damen
trugen ganz lange, ganz enge Röcke. Sie konnten nur winzige
Schrittchen machen, und in die Straßenbahn klettern
konnten sie schon gar nicht. Sie wurden von den Schaffnern
und anderen kräftigen Männern, unter Gelächter,
auf die Plattform hinaufgeschoben, und dabei mussten sie
auch noch den Kopf schräghalten, weil sie Hüte trugen,
so groß wie Wagenräder, mit gewaltigen Federn und mit
ellenlangen Hutnadeln und polizeilich verordneten Hutnadelschützern!
Damals gab es noch einen deutschen Kaiser. Er hatte
einen hochgezwirbelten Schnurrbart im Gesicht, und sein
Berliner Hof-Friseur machte in den Zeitungen und Zeitschriften
für die vom Kaiser bevorzugte Schnurrbartbinde
Reklame. Deshalb banden sich die deutschen Männer
morgens nach dem Rasieren eine breite Schnurrbartbinde
über den Mund, sahen albern aus und konnten eine halbe
Stunde lang nicht reden.
Einen König von Sachsen hatten wir übrigens auch.
Des Kaisers wegen fand jedes Jahr ein Kaisermanöver statt,
und dem König zuliebe, anlässlich seines Geburtstags,
eine Königsparade. Die Uniformen der Grenadiere und
Schützen, vor allem aber der Kavallerieregimenter, waren
herrlich bunt. Und wenn, auf dem Alaunplatz in Dresden,
die Gardereiter mit ihren Kürassierhelmen, die Großenhainer
und Bautzener Husaren mit verschnürter Attila und
brauner Pelzmütze, die Oschatzer und Rochlitzer Ulanen
mit Ulanka und Tschapka und die Reitenden Jäger, allesamt
hoch zu Ross, mit gezogenem Säbel und erhobener
Lanze an der königlichen Tribüne vorübertrabten, dann
war die Begeisterung groß, und alles schrie Hurra. Die
Trompeten schmetterten. Die Schellenbäume klingelten.
Und die Pauker schlugen auf ihre Kesselpauken, dass es
nur so dröhnte. Diese Paraden waren die prächtigsten und
teuersten Revuen und Operetten, die ich in meinem Leben
gesehen habe.
Der Monarch, dessen Geburtstage so bunt und laut gefeiert
wurden, hieß Friedrich August. Und er war der letzte
sächsische König. Doch das wusste er damals noch nicht.
Manchmal fuhr er mit seinen Kindern durch die Residenzstadt.
Neben dem Kutscher saß, mit verschränkten Armen
und einem schillernden Federhut, der Leibjäger. Und aus
dem offenen Wagen winkten die kleinen Prinzen und
Prinzessinnen uns anderen Kindern zu. Der König winkte
auch. Und er lächelte freundlich. Wir winkten zurück
und bedauerten ihn ein bisschen. Denn wir und alle Welt
wussten ja, dass ihm seine Frau, die Königin von Sachsen,
davongelaufen war. Mit Signore Toselli, einem italienischen
Geiger! So war der König eine lächerliche Figur geworden,
und die Prinzessinnen und Prinzen hatten keine
Mutter mehr.
Um die Weihnachtszeit spazierte er manchmal, ganz
allein und mit hochgestelltem Mantelkragen, wie andere
Offiziere auch, durch die abendlich funkelnde Prager
Straße und blieb nachdenklich vor den schimmernden
Schaufenstern stehen. Für Kinderkleider und Spielwaren
interessierte er sich am meisten. Es schneite. In den Läden
glitzerten die Christbäume. Die Passanten stießen sich
an, flüsterten: »Der König!« und gingen eilig weiter, um
ihn nicht zu stören. Er war einsam. Er liebte seine Kinder.
Und deshalb liebte ihn die Bevölkerung. Wenn er in die
Fleischerei Rarisch hineingegangen wäre und zu einer der
Verkäuferinnen gesagt hätte: »Ein Paar heiße Altdeutsche,
mit viel Senf, zum Gleichessen!«, wäre sie bestimmt nicht
in die Knie gesunken, und sie hätte sicher nicht geantwortet:
»Es ist uns eine hohe Ehre, Majestät!« Sie hätte nur
gefragt: »Mit oder ohne Semmel?« Und wir anderen, auch
meine Mutter und ich, hätten beiseitegeschaut, um ihm
den Appetit nicht zu verderben. Aber er traute sich wohl
nicht recht. Er ging nicht zu Rarisch, sondern die Seestraße
entlang, blieb vor Lehmann & Leichsenring, einem
schönen Delikatessengeschäft, stehen, passierte den Altmarkt,
schlenderte die Schlossstraße hinunter, musterte,
bei Zeuner in der Auslage, die in Schlachtformation aufgestellten
Nürnberger Zinnsoldaten, und dann war es mit
seinem Weihnachtsbummel auch schon vorbei! Denn auf
der anderen Straßenseite stand das Schloss. Man hatte ihn
bemerkt. Die Wache sprang heraus. Kommandoworte
ertönten. Das Gewehr wurde präsentiert. Und der letzte
König von Sachsen verschwand, unter Anlegen der Hand
an die Mütze, in seiner viel zu großen Wohnung.
Ja, ein halbes Jahrhundert ist eine lange Zeit. Aber manchmal
denk ich: Es war gestern. Was gab es seitdem nicht
alles! Kriege und elektrisches Licht, Revolutionen und
Inflationen, lenkbare Luftschiffe und den Völkerbund, die
Entzifferung der Keilschrift und Flugzeuge, die schneller
sind als der Schall! Doch die Jahreszeiten und die Schularbeiten,
die gab es immer schon, und es gibt sie auch heute
noch. Meine Mutter musste zu ihren Eltern noch »Sie«
sagen. Aber die Liebe zwischen Eltern und Kindern hat
sich nicht geändert. Mein Vater schrieb in der Schule noch
»Brod« und »Thür«. Aber ob nun Brod oder Brot, man aß
und isst es gerne. Und ob nun Thür oder Tür, ohne sie kam
und käme man nicht ins Haus. Fast alles hat sich geändert,
und fast alles ist sich gleich geblieben.
War es erst gestern, oder ist es wirklich schon ein halbes
Jahrhundert her, dass ich meine Rechenaufgaben unter der
blakenden Petroleumlampe machte? Dass plötzlich, mit
einem dünnen »Klick«, der gläserne Zylinder zersprang?
Und dass er vorsichtig mit dem Topflappen ausgewechselt
werden musste? Heutzutage brennt die Sicherung durch,
und man muss, mit dem Streichholz, eine neue suchen
und einschrauben. Ist der Unterschied so groß? Nun ja, das
Licht schimmert heute heller als damals, und man braucht
den elektrischen Strom nicht in der Petroleumkanne einzukaufen.
Manches ist bequemer geworden. Wurde es
dadurch schöner? Ich weiß nicht recht. Vielleicht. Vielleicht
auch nicht.
Als ich ein kleiner Junge war, trabte ich, morgens vor
der Schule, zum Konsumverein in die Grenadierstraße.
»Anderthalb Liter Petroleum und ein frisches Vierpfundbrot,
zweite Sorte«, sagte ich zur Verkäuferin. Dann rannte
ich - mit dem Wechselgeld, den Rabattmarken, dem Brot
und der schwappenden Kanne - weiter. Vor den zwinkernden
Gaslaternen tanzten die Schneeflocken. Der
Frost nähte mir mit feinen Nadelstichen die Nasenlöcher
zu. Jetzt ging's zu Fleischermeister Kießling. »Bitte,
ein Viertelpfund hausschlachtene Blut- und Leberwurst,
halb und halb!« Und nun in den Grünkramladen zu Frau
Kletsch. »Ein Stück Butter und sechs Pfund Kartoffeln.
Einen schönen Gruß, und die letzten waren erfroren!« Und
dann nach Hause! Mit Brot, Petroleum, Wurst, Butter und
Kartoffeln! Der Atem quoll weiß aus dem Mund, wie der
Rauch eines Eibdampfers. Das warme Vierpfundbrot unterm
Arm kam ins Rutschen. In der Tasche klimperte das
Geld. In der Kanne schaukelte das Petroleum. Das Netz mit
den Kartoffeln schlug gegen das Knie. Die quietschende
Haustür. Die Treppe, drei Stufen auf einmal. Die Klingel im
dritten Stock, und zum Klingeln keine Hand frei. Mit dem
Schuh gegen die Tür. Sie öffnete sich. »Kannst du denn
nicht klingeln?« »Nein, Muttchen, womit denn?« Sie lacht.
»Hast du auch nichts vergessen?« »Na, erlaube mal!« »Treten
Sie näher, junger Mann!« Und dann gab's, am Küchentisch,
eine Tasse Malzkaffee mit Karlsbader Feigenzusatz und
den warmen Brotkanten, das »Ränftchen« mit frischer
Butter. Und der gepackte Schulranzen stand im Flur und
trat ungeduldig von einem Bein aufs andre.
»Seitdem sind mehr als fünfzig Jahre vergangen«, erklärt
nüchtern der Kalender, dieser hornalte, kahle Buchhalter
im Büro der Geschichte, der die Zeitrechnung kontrolliert
und, mit Tinte und Lineal, die Schaltjahre blau und
jeden Jahrhundertbeginn rot unterstreicht. »Nein!«, ruft
die Erinnerung und schüttelt die Locken. »Es war gestern!«,
und lächelnd fügt sie, leise, hinzu: »Oder allerhöchstens
vorgestern.« Wer hat unrecht?
Beide haben recht. Es gibt zweierlei Zeit. Die eine
kann man mit der Elle messen, mit der Bussole und dem
Sextanten. Wie man Straßen und Grundstücke ausmisst.
Unsere Erinnerung aber, die andere Zeitrechnung, hat mit
Meter und Monat, mit Jahrzehnt und Hektar nichts zu
schaffen. Alt ist, was man vergessen hat. Und das Unvergessliche
war gestern. Der Maßstab ist nicht die Uhr, sondern
der Wert. Und das Wertvollste, ob lustig oder traurig,
ist die Kindheit. Vergesst das Unvergessliche nicht! Diesen
Rat kann man, glaub ich, nicht früh genug geben.
Damit ist die Einleitung zu Ende. Und auf der nächsten
Seite beginnt das erste Kapitel. Das gehört sich so. Denn
auch wenn der Satz »Kein Buch ohne Vorwort« eine gewisse
Berechtigung haben sollte - seine Umkehrung stimmt
erst recht. Sie lautet:
KEIN VORWORT OHNE BUCH
© Weltbild
www.atrium-verlag.com
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Autoren-Porträt von Erich Kästner
Erich Kästner, 1899 in Dresden geboren, begründete gleich mit zwei seiner ersten Bücher seinen Weltruhm: 'Herz auf Taille' (1928) und 'Emil und die Detektive' (1929). Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurden seine Bücher verbrannt, sein Werk erschien nunmehr in der Schweiz im Atrium Verlag. Erich Kästner erhielt zahlreiche literarische Auszeichnungen, u.a.den 'Georg-Büchner-Preis'.Er starb 1974 in München.
Bibliographische Angaben
- Autor: Erich Kästner
- Altersempfehlung: Ab 6 Jahre
- 2011, 1. Auflage, neue Ausgabe, 240 Seiten, Maße: 13,4 x 20,8 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Atrium Verlag
- ISBN-10: 3855353786
- ISBN-13: 9783855353781
- Erscheinungsdatum: 20.04.2011
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