America
América ist der Name einer 17-jährigen, schwangeren Mexikanerin, die mit ihrem Freund Cándido unter einem Highway in Los Angeles in Dornenhecken haust. Cándido versucht jeden Tag, irgendeinen Job, ein bisschen Geld, etwas zu essen zu ergaunern. Bei einem...
América ist der Name einer 17-jährigen, schwangeren Mexikanerin, die mit ihrem Freund Cándido unter einem Highway in Los Angeles in Dornenhecken haust. Cándido versucht jeden Tag, irgendeinen Job, ein bisschen Geld, etwas zu essen zu ergaunern. Bei einem dieser Versuche wird er oben auf dem Highway von Delaney Mossbacher angefahren. Fortan sind ihre Lebensgeschichten verbunden.
América von T.C. Boyle
LESEPROBE
Im nachhinein versuchte er, sich die Sache in abstraktenBegriffen zu erklären, als Unfall in einer unfallträchtigen Welt, als Kollisiongegenläufiger Kräfte - seiner Stoßstange und der schmächtigen, geduckten,plötzlich hervorstürzenden Gestalt eines dunkelhäutigen Kerlchens mit gehetztemBlick -, aber allzugut gelang es ihm nicht. Dies war keine statistische Größein einer Versicherungstabelle, die in irgendeiner Schublade verstaubte, dieswar kein unpersönlicher reiner Zufall. Passiert war es ihm, Delaney Mossbacher,wohnhaft Piñon Drive 32, Arroyo Blanco Estates, liberaler Humanist ohneVerkehrssündenregister und in einem wachsgepflegten japanischen Auto mitpersönlichem Kennzeichen, und es traf ihn bis ins Mark. Wohin er den Blick auchwandte, überall sah er diese geröteten Augen, den weit aufgerissenen Mund, dieschlechten Zähne und die merkwürdigen grauen Stellen in dem buschigen,schwarzen Schnurrbart - das Bild suchte seine Träume heim, schob sich auchtagsüber in seine Gedankenwelt, wie ein Fenster zu einer anderen Wirklichkeit.Er erkannt sein Opfer auf einem Briefmarkenbogen in der Post wieder, alsSpiegelung in den blitzblanken Glasscheiben der langsam zuschwingendenDoppeltür von Jordans Grundschule, und es starrte ihm aus seinem Omelett auxfines herbes entgegen, wenn er am frühen Abend bei Emilio essen ging.
Das Ganze war so rasch gegangen. Eben noch war er den Cañon hinaufgekurvt, denRücksitz voll mit Zeitungen, Mayonnaisegläsern und Cola-light-Dosen für dieAltstoffcontainer, und hatte an nichts, an absolut gar nichts gedacht, und imnächsten Augenblick schleuderte das Auto in einer Staubwolke quer zur Fahrbahnauf die Bankette. Der Mann mußte in den Büschen gekauert haben wie irgendeinRaubtier, ein streunender Hund oder eine Katze auf Vogeljagd, um sich imallerletzten Moment in einem wahnwitzigen, selbstmörderischen Akt auf dieStraße zu stürzen. Da waren auf einmal dieser entgeisterte Blick, der buschigeSchnurrbart, der zum stummen Schrei aufgerissene Mund und dann der Bremsruck,der Aufprall, das Marimba-Geprassel der Steine gegen den Unterboden undschließlich die Staubwolke. Der Motor war abgewürgt, die Klimaanlage lief aufHochtouren, im Radio brabbelte eine Stimme über Einfuhrquoten und denamerikanischen Arbeitsmarkt. Der Mann war verschwunden. Delaney öffnete dieAugen wieder und entspannte die zusammengebissenen Kiefer. Der Unfall warvorbei, gehörte bereits der Vergangenheit an. Zu seiner Beschämung dachteDelaney als erstes an das Auto (war es beschädigt, verbeult, zerkratzt?), dannan die Versicherungsprämie (was würde nun aus seinem Bonus für unfallfreiesFahren werden?) und erst danach, reichlich spät, an das Opfer. Wer war derMann? Wohin war er verschwunden? War ihm was passiert? War er verletzt? AmVerbluten? Am Sterben? Delaneys Hände am Lenkrad zitterten. Automatisch zog erden Schlüssel heraus und schaltete das Radio ab. Erst jetzt, noch in den Gurtgespannt und vom Adrenalin durchpulst, wurde ihm klar, was da wirklichgeschehen war: er hatte einen anderen Menschen verletzt, möglicherweisegetötet. Es war nicht seine Schuld, weiß Gott nicht - der Mann war offenkundigein Verrückter, ein durchgedrehter Selbstmörder, und kein Geschworenengerichtwürde ihn je verurteilen -, aber trotzdem, es war passiert. Mit rasendemHerzklopfen ließ er den Gurt zurückschnappen, machte behutsam die Tür auf undtrat vorsichtig auf den sonnenheißen Randstreifen aus blankem Kies und Unrat.
Sofort und noch ehe er auch nur Atem holen konnte, wurde er fast umgeworfen vomFahrtwind der Autos, die dicht an dicht den Cañon hinaufrasten wie ein endloserbedrohlicher Eisenbahnzug. Er klammerte sich an seinem Wagen fest, während dieSonne seinen Kopf in einem Würgegriff packte und die nicht klimatisierte Hitzedes Asphalts ihm wie eine Faust entgegenfuhr, ein K.-o.-Schlag ins Gesicht.Wieder schossen zwei Autos vorbei. Ihm war schwindlig. Er schwitzte. SeineHände zitterten. "Ich habe einen Unfall gehabt", sagte er vor sichhin, wiederholte es immer wieder wie ein Mantra, "ich habe einen Unfall gehabt."
© Brigitte Edition
Übersetzung: aus dem Amerikanischen von Werner Richter
- Autor: T. C. Boyle
- 2005, 520 Seiten, Maße: 12 x 20 cm, Deutsch
- Übersetzung: Richter, Werner
- Verlag: Gruner + Jahr
- ISBN-10: 3570195112
- ISBN-13: 9783570195116
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