Asche auf sein Haupt / Jessica Campbell Bd.3
Ein Fall für Jessica Campbell
Das alte Herrschaftsanwesen "Key House" steht seit Jahren leer. Sein Besitzer, der vermögende Gervais Crown, lebt in Portugal. Eines Tages brennt Key House ab - und in der Asche wird die Leiche eines Mannes gefunden. Jessica Campbell ermittelt und gewinnt erstaunliche Erkenntnisse
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Produktinformationen zu „Asche auf sein Haupt / Jessica Campbell Bd.3 “
Das alte Herrschaftsanwesen "Key House" steht seit Jahren leer. Sein Besitzer, der vermögende Gervais Crown, lebt in Portugal. Eines Tages brennt Key House ab - und in der Asche wird die Leiche eines Mannes gefunden. Jessica Campbell ermittelt und gewinnt erstaunliche Erkenntnisse
Klappentext zu „Asche auf sein Haupt / Jessica Campbell Bd.3 “
Das Key House ist ein altes Gebäude aus dem frühen 18. Jahrhundert und ein wenig heruntergekommen, denn es steht seit Jahren leer. Gervase Crown, der nicht unvermögende Besitzer, lebt inzwischen in Portugal. Niemand interessiert sich für das alte Haus...... bis eines Tages ein Feuer darin ausbricht und man in der Asche die Leiche eines Mannes findet. Zuerst fürchtet man, dass es Gervase sein könnte, doch dieser lebt. Eine tödliche Verwechslung? Jessica Campbell beginnt zu ermitteln ...
Lese-Probe zu „Asche auf sein Haupt / Jessica Campbell Bd.3 “
ASCHE AUF SEIN HAUPT von Ann GrangerKapitel 1
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Früher, als es der Brandstifter beabsichtigt haben mochte, durchzog ein blutroter Dunstschleier den nächtlichen Himmel und warnte vor den darunterliegenden Flammen. Die glühende Asche sandte golden funkelnde Punkte in die rötlich gefärbten Wolken, sodass es aussah wie ein kleines Feuerwerk. Vom Sirenengeheul der Einsatzwagen geweckt, hingen im Umkreis von einer Meile Leute an den Fenstern der oberen Stockwerke. »Das muss Key House sein.«
»Merk dir meine Worte«, sagte Roger Trenton zu seiner Frau. »Das setzt dem Treiben der Hausbesetzer ein Ende. Habe ich es nicht wieder und immer wieder gesagt? So, wie das Haus dastand, war es ein Pulverfass. Leer stehend und nicht ausreichend gesichert - als hätte es nur darauf gewartet, dass so etwas passiert. Die Gemeinde hat Schuld.«
»Es ist nicht der Fehler der Gemeinde«, murmelte seine Frau, während sie ins Bett zurückkroch. »Sie sind schließlich nicht hinaufgegangen und haben ein Streichholz drangehalten. «
Ihr Ehemann wandte ihr das Gesicht zu. »Was sie getan haben, ist genauso schlimm!« Sein schütterer Haarkranz um die ausgeprägte Glatze herum hob sich von dem rötlichen Lichtschein des Feuers ab wie ein Halo. »Eine hohe Stirn, das ist es, was ich habe«, pflegte er zu sagen.»Ich habe immer noch jede Menge Haare, aber ich habe die hohe Stirn meines Vaters geerbt.«
Der war genauso kahl, dachte Poppy Trenton und vergrub den Kopf in den Kissen. Hohe Stirn, dass ich nicht lache! Soweit ich mich erinnere, war sein Vater schon kahl, als er mich das erste Mal mit nach Hause nahm und seiner Familie vorstellte. Ich hätte mir meinen zukünftigen Schwiegervater besser genauer angesehen. Wenn ich geahnt hätte, dass Roger genauso wird wie dieser alte Kerl, hätte ich die Verlobung vielleicht auf der Stelle gelöst. Sieh ihn nur an! Er trägt sogar die gleichen Schlafanzüge wie sein Vater, gestreifter Flanell mit einem Tunnelzug in der Taille, und Kordpantoffeln dazu.
»He, he, he!«, rief Roger. Er hob eine Hand und wedelte triumphierend mit einem Finger in Richtung des fernen Feuers. »Ich hab's dir gesagt!«
Die Frau spähte über die Bettdecke in Richtung des Fensters, wo ihr Ehemann unverändert die Stellung hielt. Es war ein Wunder, dass er nicht vor Schadenfreude hüpfte. »Auch wenn Hausbesetzer für das Feuer verantwortlich sind, so hoffe ich, dass keiner dort in den Flammen eingeschlossen ist«, sagte sie.
»Es gibt genügend Fenster, durch die sie rauskönnen, falls nötig«, entgegnete Roger. »Sie nehmen den Weg, auf dem sie auch reingekommen sind. Keines der Fenster ist vernagelt. Das Türschloss könnte jedes Kind knacken. Du weißt, dass ich immer wieder die Gemeinde wegen Key House angeschrieben habe. Du kannst die Briefe gerne lesen. Sie befinden sich alle im Ordner mit dem Schriftwechsel, den ich mit der Gemeinde geführt habe. Es hat die Landschaft verschandelt, das ist es. Es ist überflüssig, absolut überflüssig. Ein schönes altes Haus, das man dem Verfall preisgegeben hat. Ich habe diesem jungen Mann bei der Gemeinde gesagt, er soll sich mit dem Eigentümer in Verbindung setzen, damit er etwas dagegen unternimmt. «
»Gervase Crown . . .«, murmelte seine Frau. »Er ist nach Portugal ausgewandert.«
»Das weiß ich selbst!«, fuhr Roger ihr ins Wort. »Ein richtiger Playboy. Es war wohl zu viel verlangt, von ihm zu erwarten, dass er etwas tut.«
»Er hatte einen recht attraktiven Vater«, murmelte Poppy unbedacht.
Roger fühlte sich veranlasst, sich von seinem Beobachtungsposten umzudrehen. »›Attraktiven Vater‹?«
»Gervase' Vater, Sebastian Crown.«
»Stimmt doch gar nicht. Ich bin mit ihm zur Schule gegangen. An Sebastian war überhaupt nichts attraktiv. Du redest Blödsinn, Poppy. Er war ein guter Kerl, sehr solide, wenngleich er auch kein Glück hatte, weder mit seiner Ehe noch mit diesem nutzlosen Taugenichts von einem Jungen. Gut, dass der junge Crown von hier abgehauen ist.«
»Es ist eigenartig, aber vor ein paar Tagen habe -«, setzte Poppy an, doch Roger hatte sich bereits wieder zum Fenster umgedreht. Sie ließ den Satz unbeendet. In Rogers Augen war es wahrscheinlich ohnehin Unfug. Sie hatte es im ersten Moment wirklich geglaubt. Und jetzt dieses Feuer . . . Es war beunruhigend. Vielleicht sollte ich Serena anrufen, dachte sie.
»Aha!«, frohlockte Roger von seinem Fensterplatz. Mit seinem feuerrot schimmernden Haarkranz sah er aus wie ein verrückter übergroßer Gockel. »Weißt du, was mich nicht im Geringsten überraschen würde? Wenn sie eine Leiche in der Asche finden, sobald das Feuer heruntergebrannt ist.«
»Oh nein!«, rief Poppy erschrocken. Plötzlich war sie hellwach und setzte sich im Bett auf. »So etwas darfst du nicht sagen, Roger!«
»Ach Herrgott, Poppy, leg dich wieder hin«, erwiderte ihr Ehemann.
Das Feuer hatte nach Kräften gewütet, doch Key House war nicht so einfach zu vernichten. Es war ein massives Steingebäude aus dem frühen achtzehnten Jahrhundert. Seine ersten Bewohner waren bereits zu Queen Annes Zeiten eingezogen. Nach Queen Annes Tod hatten die Mitglieder des Hauses Hannover die Herrschaft übernommen, und die ins Exil verbannten Stuarts hatten sich gegen sie verschworen. Key House hatte sie und die folgenden Generationen kommen und gehen sehen und allen Stürmen bis heute getrotzt. Seine Wände waren an der Basis annähernd einen Meter dick und verjüngten sich nach oben hin. Unter dem Dach maßen sie weniger als dreißig Zentimeter. Das Dach war mit den traditionellen Cotswold-Schieferplatten in sechsundzwanzig verschiedenen Größen gedeckt, von denen jede ihre eigene Bezeichnung und feste Position auf dem Dach hatte. Jetzt nicht mehr - die Platten waren in den darunterliegenden Innenbereich gestürzt, und dort lagen sie nun kreuz und quer durcheinander: lange und kurze Bachelors, Becks und Wivutts und wie sie alle hießen. Sie würden irgendwann geborgen werden, schon wegen ihres Wertes, und wenn sie nicht zum Wiederaufbau von Key House benutzt wurden, dann eben für ein anderes Dach.
Der Rest, die Eichentreppe mit dem gedrechselten Geländer und den von Schnitzereien überladenen Pfosten, das Parkett, das Gebälk und die vom Alter dunklen Holzvertäfelungen in Eingangshalle, Studierzimmer und Speisesaal - alles war fort. Die Überreste des aus alten Baumstämmen gezimmerten Gebälks waren noch zu sehen. Sie schwelten vor sich hin, vom Feuer geschwärzt und verkohlt und in unregelmäßige Stücke geborsten. Sogar die Astlöcher waren noch zu erkennen sowie die gelegentlichen Narben, wo die Zimmerleute einst mit der Axt zu tief gezielt hatten.
Es war bereits Nachmittag, als man die Leiche unter den Trümmern der ehemaligen Küche entdeckte, wo Reste der modernen Einbaumöbel geschwärzt an den Wänden hingen. Roger Trenton sollte bald erfahren, dass er recht gehabt hatte.
Inspector Jessica Campbell traf erst spät am Tatort ein, als Folge des grausigen Fundes. Sie betrachtete den dampfenden Qualm, der immer noch aus der Ruine waberte. Auf ihren Wangen spürte sie die Hitze, die von den einst glatt behauenen Cotswoldsteinen herrührte. Auch die Steine hatten das Feuer überlebt, wenngleich rußgeschwärzt und immer noch zu heiß zum Anfassen. Jessica legte sich die kalten Finger auf das Gesicht und spürte, wie die Spitzen die Wärme aufnahmen und zu kribbeln anfingen.
Bis jetzt war es ein milder Monat gewesen, doch in den letzten beiden Tagen hatte sich der Winter auf unnachgiebige Weise mit zunehmenden Winden und erstem Frost angekündigt. Die Büsche, Sträucher und Straßenbäume wurden in dieser verlassenen Straße anscheinend von niemandem zurückgeschnitten und gaben ein beinahe unwirkliches Bild ab mit ihren zu langen, kahlen Zweigen. Totes Laub häufte sich in windstillen Ecken und füllte die Gräben. Nur einige wenige Bäume wuchsen voller Trotz weiter, als wüssten sie, dass die wenigen übriggebliebenen Blätter das Rot und Gelb ihrer herbstlichen Pracht nicht zu ersetzen vermochten, geschweige denn das üppige frische Grün des nächsten Frühlings, wenn er denn endlich kam.
Trockenes Laub war über die vernachlässigten Rasenflächen von Key House geweht und hatte sich zwischen den dichten Ranken der Brombeersträucher gesammelt, wo es zu Mulch zerfallen war. Die Brombeeren hatten den Garten im Lauf der Jahre regelrecht überwuchert und reichten inzwischen fast bis zum Gebäude. Die Feuerwehrmänner hatten bei ihrer Arbeit viele der dornigen Tentakel niedergetrampelt, und das Löschwasser aus den Schläuchen ließ die Laubdecke vor Nässe glänzen. Wenn die Menschen diesen Ort erst wieder verlassen hatten, würden sich die Brombeeren von ihrer vorübergehenden Niederlage erholen und unerbittlich ihren Weg über den ehemaligen Rasen in Richtung Haus fortsetzen. Falls sich niemand fand, der Key House wieder aufbaute, würden sich Ranken und Gestrüpp einen Weg durch die im Mauerwerk klaffenden Löcher der zerbrochenen Fenster und ausgebrannten Türen suchen.
Gegenwärtig war das zerstörte Haus eins mit der verwelkenden Natur ringsum. Für einen kurzen Moment sah Jess vor ihrem geistigen Auge, wie das Haus unter einem Wust aus Ranken und Dornen verschwand wie ein Dornröschenschloss. Die Stimme des Doktors riss sie aus ihren Tagträumen.
»Junkies«, bemerkte er lakonisch. Sein Name war Layton, und er war ein großer, gebeugter Mann im fortgeschrittenen Alter, womöglich kurz vor dem Ruhestand. Sein grüner Tweed- Anzug war hochwertig gearbeitet, doch altmodisch geschnitten und hing ihm in einer Art und Weise am Leib, die vermuten ließ, dass er früher deutlich korpulenter gewesen war. Während er zu sprechen ansetzte, versuchte er ohne großen Erfolg eine Rußflocke von seinem Ärmel zu wischen. Als er feststellte, dass er aus der Flocke einen schwarzen verschmierten Fleck gemacht hatte, grunzte er frustriert. »Sie glauben ja nicht, wie oft sie sich bis zur Bewusstlosigkeit zudröhnen, und dann passiert so was. Das heißt, Sie natürlich schon, Inspector! Ich wage zu behaupten, dass Sie so etwas kennen.«
Layton bedachte sie mit einem entschuldigenden Nicken. Sein graues Haar, welches er ein wenig zu lang trug, geriet noch mehr in Unordnung.
Obwohl die Nebenstraße einsam gelegen war, waren sie nicht die einzigen Zuschauer. Es würde Jess stets ein Rätsel bleiben, wie die meisten Neugierigen es immer wieder schafften, rechtzeitig aufzutauchen, um einen Unfall oder dessen Folgen zu beobachten, sogar in einer Gegend wie dieser hier. Wahrscheinlich war das Publikum deshalb diesmal nicht besonders zahlreich. Ein groß gewachsener, hagerer älterer Mann in einer Öljacke mit einem schütteren grauen Haarkranz, der gleich einem Heiligenschein seinen ansonsten kahlen Schädel umrahmte. Wo um alles in der Welt war er bloß hergekommen? Ein Stück weiter entfernt standen zwei jüngere Männer mit wettergegerbter, gebräunter Haut und beobachteten das Treiben diskret aus sicherer Entfernung. Jess nahm an, dass es sich um Pavee handelte, fahrendes Volk. Vermutlich überlegten sie, ob es sich lohnte, zu einem späteren Zeitpunkt zurückzukehren, wenn alle anderen fort waren, und nachzusehen, ob sie irgendetwas an Metall ergattern konnten.
Ganz in Jess' Nähe stand eine ältere Dame mit einer Brille und einer über die Ohren gezogenen Wollmütze. Sie trug eine hellgelbe Wachsjacke und dazu passende Hosen - vermutlich, damit sie gut zu erkennen war, wenn sie ihren Hund auf den Straßen ausführte, da neben den Straßen keine Fußwege angelegt waren. Was den Hund anging, so machte er einen missmutigen Eindruck. Sein Auslauf war unterbrochen worden. Er hatte keinerlei Interesse an dem Feuer. Er war ein Boxermischling mit stämmigem Körperbau und krummen Vorderbeinen, doch größer als für die Rasse üblich, was auf die Beimischung einer anderen Rasse unter seinen Ahnen hindeutete. Er besaß die üblichen zerknautschten Gesichtszüge, und Jess überlegte, dass seine vorstehenden Augen wohl ständig diesen leicht missmutigen Blick hatten. Vielleicht aber war es auch nur ein Beispiel dafür, dass Hundebesitzer ihren Tieren ähnelten. Die Hundebesitzerin jedenfalls blickte derart grimmig drein, als wäre das Feuer ein persönlicher Angriff auf ihre eigene Person gewesen.
Layton hob erneut an. »Sie werden vermutlich feststellen, dass der Typ sich irgendwas geschossen hat und weggetreten ist. Dann ist eine Kerze umgefallen, und das Feuer nahm seinen Lauf. Das Haus war nicht mehr an das Stromnetz angeschlossen, soviel ich weiß. Das Gas war ebenfalls abgestellt. Das Haus stand seit dem Tod von Sebastian Crown leer. Vermutlich gehört das Anwesen noch seinem Sohn, doch der war noch nie hier. Eine Schande, wirklich, schließlich war es ein hübsches altes Haus.
Hey! Wahrscheinlich liegen überall Nadeln in der Asche. Seien Sie vorsichtig!«, rief er unvermittelt, indem er sich abwandte. Sein Rat galt den in der Nähe stehenden Brandermittlern und den mit Ruß beschmutzen und nach Rauch stinkenden Feuerwehrleuten, die noch immer mit Löscharbeiten beschäftigt waren. Sie würden noch einige Male im Verlauf der nächsten Tage zurückkommen und diese Arbeit wiederholen. Auch wenn ein Feuer gelöscht zu sein schien, konnte es jederzeit ohne Vorwarnung an einem heißen Punkt zu einem erneuten Brand kommen, wie Jess wusste.
»Diese verdammten Nadeln gehen mühelos durch die Stiefelsohle «, rief der am nächsten stehende Feuerwehrmann. Alle nickten.
Die verkohlte Leiche ruhte nach wie vor unbehelligt in ihrem Bett aus verkohlter Schlacke und Asche, zusammengekauert in einer fötalen Haltung, das Gesicht dem Boden zugewandt. Das herabgestürzte Gebälk hatte eine Art Dach über ihr gebildet, sodass sie nicht zerquetscht worden war. Die Arme waren abwehrend erhoben und verharrten in einer Haltung, die typisch war für Leichen, die man nach Bränden fand: die Fäuste geballt in einer absurden Parodie einer Boxerhaltung, als verspotteten sie die prasselnden Flammen, und als riefen sie ihnen zu: »Kommt schon, wenn ihr euch traut!«
Eine Gestalt in einem Schutzanzug erstellte aus angemessenem Sicherheitsabstand eine Videoaufnahme des Schauplatzes.
»Er ist tot, ohne Zweifel«, fasste Layton zusammen. »So weit, so gut. Es besteht kein Grund, jetzt dort herumzufummeln, um ihn zu untersuchen, selbst wenn es möglich wäre, an ihn heranzukommen. Nebenbei, die Überreste sind vermutlich spröde und zerbröseln wie Kekse unter den Händen. Ich möchte nicht dafür verantwortlich gemacht werden, solange der Leichnam nicht obduziert wurde.«
Er schien darauf bedacht, sich nicht noch schmutziger zu machen, indem er eine verkohlte Leiche hin und her wälzte. Womöglich verbrannte er sich dabei die Hände, und eventuell trat er in eine der erwähnten weggeworfenen Nadeln. Jess fühlte mit ihm. Layton war kein Polizeiarzt, den man üblicherweise in Fällen wie diesem herbeirief, sondern unterhielt eine eigene Praxis. Doch er war am schnellsten erreichbar gewesen, und sie hatten ihn schon bei früheren Gelegenheiten hinzugezogen. Eins musste man ihm lassen: Er war ohne Murren gekommen und hatte seine Arbeit gemacht - den Tod des Opfers festgestellt.
Vielleicht lag es daran, dass es ein wenig anders als die ärztliche Tätigkeit war, die er normalerweise ausübte, doch er konnte der Versuchung nicht widerstehen, ein wenig zu spekulieren. »Natürlich ist es Sache Ihres Pathologen, die genaue Todesursache festzustellen und ob das Opfer unter Drogen stand, doch die Muskelkontraktion sagt mir, dass es noch am Leben war, als das Feuer ausbrach. Vermutlich war die Bewusstlosigkeit zu tief, als dass es sich selbst hätte helfen können. Außerdem finden sich Spuren von Rauch in seiner Lunge, wenn es noch am Leben gewesen ist. Wahrscheinlich hat es von alldem nichts mitbekommen. Ich schätze, es starb durch den Rauch, nicht durch das Feuer.«
Layton straffte sich. »Ich muss weiter. Ich habe noch eine Reihe von Hausbesuchen vor mir.« Er fuhr sich mit der Hand durch die wirren grauen Haare in dem Versuch, sie ein wenig zu glätten.
Jess begleitete ihn zu seinem Wagen. »Sie sagten, Sie kennen die Familie, der das Haus gehört?«
Die Frage schien ihn zu überraschen, und für einen Augenblick starrte er sie an, als hätte sie sich einen Fauxpas erlaubt. Doch dann schien ihm einzufallen, dass sie ja schließlich ein Police Officer war und am Anfang eines Ermittlungsverfahrens zu einem Brand mit tödlichem Ausgang stand, und er setzte zu einer vorsichtigen Antwort an.
»Ich kannte Sebastian - den früheren Besitzer. Er war ein Patient von mir. Oh, es ist Jahre her - er ist schon eine ganze Weile tot. Er war einer meiner ersten Patienten, als ich hier am Ort meine Praxis eröffnete, darum erinnere ich mich an ihn. Es gibt immer noch Leute, die den Nationalen Gesundheitsdienst ablehnen und Alternativen vorziehen. Ich war zwanzig Jahre lang sein Arzt. Ich kann nicht sagen, dass ich seinen Sohn Gervase kannte. Zumindest nicht als erwachsenen Mann, heißt das. Ich weiß, dass es ihn gibt. Er war die meiste Zeit im Internat und bereitete seinem Vater die üblichen Kopfschmerzen. Vermutlich hat ihn der Schularzt im Krankheitsfall behandelt. Soweit ich mich erinnern kann, ist er als Jugendlicher nicht mehr in meiner Praxis gewesen, und ganz sicher nicht als Erwachsener. Seine Mutter war ein paar Mal mit ihm da, als er noch ein Kind war. Die üblichen Impfungen und Kinderkrankheiten. Ich kann nicht sagen, wo er in den Jahren danach ärztlich versorgt wurde. Vielleicht war er als Kassenpatient bei einer anderen Praxis. Sein Vater hat stets über ihn gejammert, wie alle Eltern über ihre halbwüchsigen Kinder schimpfen.«
Erneut warf Jess einen Blick auf die verkohlten Überreste des Hauses. »Dann war Sebastian Crown ein reicher Mann?«
»Recht wohlhabend, würde ich sagen. Hier in der Gegend wohnen einige reiche Leute. Wenn ich mich recht entsinne, hat er sein Geld mit Hundeshampoo gemacht.«
»Wie bitte?«, staunte Jess.
»Kein gewöhnliches Shampoo, eher Pflegeprodukte und Anwendungen für Hunde«, erläuterte Layton. »Die Leute geben eine Menge Geld für ihre Haustiere aus. Glauben Sie mir, als Arzt kenne ich Fälle, wo Patienten sich mehr um ihre Tiere gekümmert haben als um ihre Kinder.«
»Hat Sebastian Crown sich um sein Kind gekümmert?«, fragte Jess vorsichtig.
Layton zögerte, bevor er umständlich fortfuhr. »Was ich jetzt sage, gilt mehr im Allgemeinen und nicht speziell für die Familie Crown, wenn Sie verstehen. Jedermann weiß, wie schwer es ist, eine Familie durchzubringen, wenn man arm ist. Kaum jemand hingegen weiß um die Probleme, eine Familie zusammenzuhalten, wenn Geld da ist. Natürlich keine finanziellen Probleme. Doch besonders ein Sohn kann das Gefühl haben, im Schatten eines sehr erfolgreichen Vaters zu stehen. Wenn der Vater ein Selfmademan ist, führt er seinem Sohn unter Umständen immer wieder ungewollt vor Augen, dass es seine harte Arbeit war, die der Familie den großzügigen Lebensstil ermöglicht. Womöglich ist er unerwartet geizig, wenn es darum geht, dem Sohn Geld zu geben, weil er möchte, dass sein Sohn erkennt, dass Geld verdient werden muss. Ich sage damit nicht, dass dies bei Sebastian und Gervase Crown der Fall war.«
»Nein, selbstverständlich nicht«, versicherte ihm Jess.
»In der Beziehung zwischen einem heranreifenden jungen Mann und seinem Vater ist eine gewisse Rivalität nur natürlich. In der Tierwelt könnte man es etwa mit einer Herausforderung an den etablierten Rudelführer vergleichen. Vielleicht schauen Sie ja die ein oder andere Tiersendung im Fernsehen? Der jüngere Mann hat das Gefühl, sich beweisen zu müssen. Manchmal findet er Gefallen an der Herausforderung, und manchmal, nun, manchmal hat er keine Lust dazu. Verstehen Sie? Er bricht einfach aus und weigert sich, es überhaupt zu probieren - was für sich genommen der Versuch ist, sich auf andere Art zu beweisen. Eben nicht zu tun, was von ihm erwartet wird. Nach der Schule verschwand Gervase für etwa ein Jahr. Er trampte durch die Welt, mit dem Rucksack, wie man das halt so macht. Soweit ich weiß, ist er bis nach Australien gekommen und hat das Surfen für sich entdeckt. Als er wieder nach Hause kam. .. nun ja. Ich nehme an, er hatte sich angewöhnt, das zu tun, wozu er Lust hatte. Er geriet in Schwierigkeiten, doch es ist nicht an mir, Ihnen das zu erzählen. Es war keine gute Zeit. Sebastian hörte auf, von ihm zu erzählen.« Layton runzelte die Stirn.
»Was ist mit Mrs Crown?«, hakte Jess nach, bemüht, den Strom der Informationen nicht abreißen zu lassen.
»Mrs Crown? Ach, Sie meinen Sebastians Frau. Sie verließ die beiden - den Mann und das Kind -, als der Junge noch sehr klein war, vielleicht zehn oder elf Jahre alt. Einige Leute sagen, sie ist mit einem anderen Kerl durchgebrannt...« Womöglich wollte Layton nicht länger darüber reden. »Ich setze mich nächstes Jahr zur Ruhe«, wechselte er das Thema. »Die Zeit rast dahin.«
Jess dachte über das Gehörte nach. »Wie alt ist Gervase Crown heute?«
Der Doktor überlegte. »Mitte dreißig? Er lebt im Ausland. Ich verstehe nicht, warum er den Besitz nicht einfach verkauft hat, wenn er nicht vorhatte, darin zu wohnen. Es war eine unübersehbare Aufforderung für jegliche Art von Abschaum, sich hier niederzulassen.«
»War es denn noch eingerichtet?« Jess lächelte aufmunternd. »Momentan kann man das nämlich nicht so genau erkennen.«
Layton wand sich. Die allgemeine Richtung des Gesprächs schien ihn nervös zu machen. Er hatte nicht vorgehabt, länger hierzubleiben und ein Schwätzchen zu halten, ganz sicher nicht über Sebastian Crown, einen ehemaligen Patienten. Er hatte klargestellt, dass Gervase Crown nicht zu seinen Patienten gehörte, doch die Grenze zwischen beruflicher Diskretion und »der Polizei behilflich sein«, auf der er sich bewegte, war äußerst schmal. Dort in den Trümmern lag eine Leiche, darüber konnte man nicht hinwegsehen. Wie sie dort hingekommen war, würde Inhalt einer umfangreichen Ermittlung sein. Er war lediglich hier, um den Tod festzustellen, weiter nichts. Er wurde tiefer in die Geschichte hineingezogen, als ihm recht war.
»Oh, keine Ahnung! Ich denke nicht. Falls überhaupt noch Mobiliar vorhanden war, hat es in der Zwischenzeit bestimmt irgendjemand gestohlen! Ich glaube, der junge Gervase hat das Mobiliar entweder abholen lassen oder verkauft. Wahrscheinlich hat er die Antiquitäten bei einer Auktion angeboten. Ich erinnere mich dunkel an eine Versteigerung, die hier im Haus abgehalten wurde. Doch ich wüsste nicht, dass er auch sein Elternhaus verkauft hat. Ich denke, dass ich es erfahren hätte. Derartige Neuigkeiten sprechen sich schnell herum. Die Leute hier in der Gegend wollen wissen, wenn sie neue Nachbarn bekommen.«
Demonstrativ öffnete er die Autotür. Jess' Informationsquelle war versiegt. Sie dankte ihm für sein Erscheinen.
»Alles Teil meiner Arbeit«, antwortete der Doktor gut gelaunt darüber, dass er sich endlich verabschieden konnte. »Schade, dass es kein Mord war, dann könnte ich ein höheres Honorar fordern.«
Jess blickte ihm nach, als er davonfuhr. Genau wie Layton wäre sie normalerweise nicht hier gewesen, nicht zu diesem frühen Zeitpunkt und ganz gewiss nicht in Abwesenheit jeglicher Hinweise auf eine Gewalttat. Doch die Polizeibeamten, die von der Einsatzzentrale ursprünglich hergeschickt worden waren, hatten unterwegs wegen eines Verkehrsunfalls auf der Hauptstraße anhalten müssen.
Jess war zufällig frei gewesen, als die Information hereinkam, dass man eine Leiche gefunden hatte. Sie hatte sich in ihr Auto gesetzt und war losgefahren.
Jetzt drehte sie sich zu den Schaulustigen um. Die beiden Pavee hatten ihre Aktionen vorausgeahnt und sich rechtzeitig aus dem Staub gemacht. Jess war allein mit dem großen Mann und der Frau mit dem Boxer.
Sie wandte sich zuerst an den Mann, da er ohnehin darauf zu warten schien, und stellte sich vor. Er musterte sie abschätzend von oben bis unten, bevor er sie informierte, dass er Roger Trenton hieß. Er wohnte etwas weniger als einen Kilometer entfernt in Ivy Lodge und hatte vom Fenster seines Schlafzimmers aus das rote Leuchten des Nachthimmels gesehen, etwa um Mitternacht. »Es hat direkt ins Zimmer geleuchtet, wie eine Kerze.« Er hatte gleich gewusst, dass es sich um Key House handeln musste.
»Warum?«, fragte Jess.
Trenton reagierte ungehalten. »Weil man das Haus dem Verfall preisgegeben hat und es nur eine Frage der Zeit war, bis Hausbesetzer dort einzogen! Entweder die oder irgendein Taugenichts oder Landstreicher! Ich habe die Gemeinde schon mehrere Male wegen dieses Missstands angeschrieben, und zweimal den Eigentümer direkt, Mr Gervase Crown.«
»Sie haben die Adresse von Mr Crown?«, fragte Jess hoffnungsvoll.
»Nein. Ich habe die Adresse seiner Anwälte, die kann ich Ihnen gerne geben. Ich habe Crown über seine Anwälte kontaktiert. Ich nahm an, dass sie die Briefe weiterleiten würden. Ich erhielt keine Antwort. Jedenfalls, in meinen Briefen fragte ich Crown, ob und wann er etwas zu unternehmen gedächte. Das war ein großartiges Anwesen in gepflegtem Zustand, als er es geerbt hat. Er hat weniger als sechs Monate darin gewohnt, dann hat er Mobiliar und Hausrat in einer Auktion vor Ort verkauft. Das halbe County ist deswegen hier aufgelaufen! Crown hat das Geld eingesackt und sich davongemacht. Das Haus blieb leer und verlassen zurück. Der Mann ist ein Irrer.«
»Sie erwähnten Hausbesetzer«, sagte Jess. »Haben Sie in der letzten Zeit jemanden hier gesehen?«
»Nein«, gestand Trenton widerwillig. »Ich betrachte es nicht als meine Aufgabe, nach Key House zu sehen, wenn Crown keine Zeit dafür hat - oder keine Lust.«
Diese Aussage stand im Widerspruch zu seiner vorher geäußerten Behauptung, er habe zweimal den Eigentümer wegen des Hauses angeschrieben und die Gemeinde mit Beschwerdebriefen bombardiert.
»Denken Sie nur nicht . . .«, setzte Trenton an und richtete sich zu seiner vollen Größe auf. »Kommen Sie bloß nicht auf die Idee, ich wäre hier, weil ich einer von diesen abartigen Gaffern bin! Ich mache jeden Morgen einen Ertüchtigungsspaziergang. Ich komme oft hier lang.«
Bei diesem Satz drehte sich die Frau mit dem Hund zu ihnen und bedachte den Sprecher mit einem spöttischen Grinsen.
»Es wird später noch mal jemand bei Ihnen vorbeischauen, um Ihre Aussage zu protokollieren, Mr Trenton, falls Sie keine Einwände haben«, sagte Jess. »Ivy Lodge, ist das richtig?«
»Dort entlang, immer geradeaus . . .« Trenton deutete die Straße hinunter, vorbei an der Ruine. »Sie können es nicht verfehlen. Direkt dahinter steht eine prachtvolle uralte Eiche.«
Trenton ging davon, und Jess wandte sich der Frau mit dem Hund zu.
»So ein Schwätzer!«, sagte diese wenig zurückhaltend in Trentons Richtung. Der so titulierte große Mann entfernte sich mit schnellen Schritten und war längst außer Hörweite.
»Sie sind . . .?«
»Muriel Pickering - und ich gehe tatsächlich jeden Tag hier entlang, zusammen mit Hamlet.« Sie zeigte auf den Boxer, der Jess mit einem unheilvollen Blick bedachte.
»Dann wohnen Sie in der Nähe? Oder sind Sie mit dem Auto hier?«
»Ich bin selbstverständlich zu Fuß!«, wiederholte Ms Picke- ring. »Das habe ich Ihnen doch gerade gesagt. Ich scheue mich nicht, meine Beine zu gebrauchen. Ich wohne in Mullions, das liegt dort den Weg hinunter.«
Sie deutete auf eine schmale, gerade noch erkennbare Nebenstraße ein paar Meter hinter ihnen. Dann warf sie einen weiteren finsteren Blick in die Richtung, in die Mr Trenton entschwunden war. »Ich habe Roger noch nie diesen Weg nehmen sehen! So ein dummes Zeug. Der einzige Ort, wo er sich je ›ertüchtigt‹, ist der Golfplatz. Nein, er war zum Gaffen hier. Und nein, ich habe keine verdächtige Person hier herumschleichen sehen. Ja, gelegentlich gab es Landstreicher, die sich im Haus aufgehalten haben. Nicht in der letzten Zeit. Es war wohl nicht besonders schwer, reinzukommen. Ich denke mir, wenn man sich die Mühe gemacht hätte, ums Haus herumzugehen, so hätte man vermutlich ein eingeschlagenes Fenster oder eine aufgebrochene Tür gefunden. Nur macht es jetzt wohl keinen Sinn mehr, nachzusehen. Jetzt ist sicher jedes Fenster und jede Tür zerbrochen.«
Da hatte sie recht. Jess notierte ihre Adresse und informierte sie, wie sie es bereits bei Trenton getan hatte, dass ein Beamter zur weiteren Befragung bei ihr vorbeischauen würde.
Was die Pavee anging, das fahrende Volk, war es unwahrscheinlich, dass sie für das Feuer verantwortlich waren. Ansonsten hätten sie die Gegend fluchtartig verlassen. Vermutlich waren sie jetzt in diesem Moment, nachdem sie Jess gesehen hatten, dabei ihre Sachen zu packen und sich davonzumachen. Falls sie entgegen aller Wahrscheinlichkeit doch noch aufgegriffen und vernommen wurden, würden sie zu Protokoll geben, nichts gesehen und nichts gehört zu haben.
Es gibt Leute, die wollen unbedingt mit der Polizei reden, obwohl sie überhaupt nichts wissen. Vermutlich gehörte Roger Trenton zu der Sorte. Dann gibt es wiederum diejenigen, die selbst dann, wenn sie etwas wissen, aus reiner Ablehnung nicht mit der Polizei reden - Muriel Pickering gehörte möglicherweise in diese Kategorie. Und die dritte Gruppe von Leuten will überhaupt nichts mit der Polizei zu tun haben, unabhängig davon, ob sie etwas wissen oder nicht - beispielsweise die beiden Pavee. Gelegentlich - selten wie eine Perle in einem Meer voller Austern - findet sich jemand, der sowohl etwas weiß als auch bereit ist, darüber zu reden. Jess kreuzte die Finger und hoffte, dass sie bald einen solchen Zeugen fanden.
Eine weitere Person war zugegen gewesen, unbemerkt, und hatte den Schauplatz kurz vor Jess Campbells Erscheinen verlassen. Alfie Darrow war bei Tagesanbruch losgezogen, um seine Fallen zu kontrollieren. Alfie war kein Landmensch, obwohl er die meiste Zeit seines Lebens in Weston St. Ambrose gewohnt hatte. Doch sein Großvater war sehr bewandert gewesen in diesen Dingen, und er hatte seinem Enkel auch gezeigt, wie man eine einfache Schlinge anfertigte. Alfies Großvater war die männliche Bezugsperson in Alfies Kindheit gewesen. Sein Vater hatte sich davongemacht, als Alfie noch in der Wiege gelegen hatte. Es gab einen ausgedehnten alten Kaninchenbau am Rand eines verwilderten Waldstücks entlang der Long Lane genannten Straße und dem »Rabbit Field« - der Name, unter dem der Acker gemeinhin bekannt war. Im Verlauf der Jahre hatten die Kaninchen kleine Wildwechsel im Unterholz geschaffen, die ausnahmslos alle zu ihrem Bau führten. Sie waren Gewohnheitstiere. Wenn sie auf den engen Pfaden in ihren Bau flüchteten, mussten sie unter einem Drahtzaun hindurch, der halb verborgen zwischen Nesseln, Disteln und Ampfer lag. Genau an diesem Zaun hatte Alfie seine größten Erfolge, genau da, wo die Kaninchen herauskamen.
Als er an diesem Morgen aufgebrochen war, hatte er sehr bald den rund um Key House herrschenden Betrieb bemerkt. Ein schwerer Geruch nach Feuer hing in der Luft. Von Zeit zu Zeit schoss eine Flamme gen Himmel, wenn einer der verbliebenen Balken oder eines der Dielenbretter des Hauses dem erbarmungslosen Fortschreiten der Flammen zum Opfer fiel. Alfie versteckte sich hinter der verwilderten Hecke an der Straße und beobachtete alles. Es waren die unterhaltsamsten und aufregendsten Stunden, soweit er sich zurückerinnern konnte. Die Feuerwehrmänner waren zum Leben erweckte Helden aus den Computerspielen, die Alfies liebste Freizeitbeschäftigung darstellten. In Uniform und Schutzhelm brüllten sie sich Befehle und Warnrufe zu, während sie Schläuche hielten und dicke Wasserstrahlen über das Feuer schwenkten. Als die brennenden Überreste des ersten Stocks in das Erdgeschoss krachten und die Luft sich mit einem Schauer goldener Funken füllte, presste Alfie die Hände vor den Mund, um seine Begeisterung nicht laut herauszubrüllen. Das Wasser prasselte auf das darunterliegende Gebälk, und das Holz krachte und knisterte und spie Funken gleich wilden, in die Enge getriebenen Bestien. Mit lautem Zischen platschte es auf die heißen Steine, und dichte Dampfschwaden stiegen in die Luft, um sich mit dem Rauch zu vermischen. Alfies Mund stand offen vor Staunen. Glühende Asche schoss raketengleich über die Straße. Es roch wie am Martinsfeuer. Alfie beobachtete alles hingerissen, völlig ungeachtet seines beengten Verstecks und der unbehaglichen Position, in der seine verbogenen Gliedmaßen sich befanden.
Dann war der erste Streifenwagen eingetroffen, mit zwei uniformierten Beamten, und hatte Alfies Spaß ein Ende bereitet. Mit dem Erscheinen des Gesetzes auf der Bildfläche war es Zeit für ihn zu gehen. Er war kein Unbekannter bei der örtlichen Polizei, und er meinte einen der Polizisten zu kennen. Der Bulle würde ihn erkennen, sobald er ihn bemerkte, und bevor er sich's versah, würden sie Alfie der Brandstiftung bezichtigen. So waren die Bullen nach Alfies Erfahrung. Sie griffen sich das erste bekannte Gesicht und dichteten seinem Träger an, was immer gerade nötig war. Nein, er würde am nächsten Tag wiederkommen, um nach seinen Fallen zu sehen. Er kroch aus seinem Versteck, streckte die steif gewordenen Glieder und machte sich querfeldein auf den Weg nach Hause. Was für eine Geschichte er zu erzählen hatte!
Hätte er noch ein wenig länger gewartet, so lange, bis man die Leiche fand, seine Geschichte wäre noch viel dramatischer gewesen.
Aus dem Englischen von Verena und Axel Merz
© 2014 by Bastei Lübbe AG, Köln
Früher, als es der Brandstifter beabsichtigt haben mochte, durchzog ein blutroter Dunstschleier den nächtlichen Himmel und warnte vor den darunterliegenden Flammen. Die glühende Asche sandte golden funkelnde Punkte in die rötlich gefärbten Wolken, sodass es aussah wie ein kleines Feuerwerk. Vom Sirenengeheul der Einsatzwagen geweckt, hingen im Umkreis von einer Meile Leute an den Fenstern der oberen Stockwerke. »Das muss Key House sein.«
»Merk dir meine Worte«, sagte Roger Trenton zu seiner Frau. »Das setzt dem Treiben der Hausbesetzer ein Ende. Habe ich es nicht wieder und immer wieder gesagt? So, wie das Haus dastand, war es ein Pulverfass. Leer stehend und nicht ausreichend gesichert - als hätte es nur darauf gewartet, dass so etwas passiert. Die Gemeinde hat Schuld.«
»Es ist nicht der Fehler der Gemeinde«, murmelte seine Frau, während sie ins Bett zurückkroch. »Sie sind schließlich nicht hinaufgegangen und haben ein Streichholz drangehalten. «
Ihr Ehemann wandte ihr das Gesicht zu. »Was sie getan haben, ist genauso schlimm!« Sein schütterer Haarkranz um die ausgeprägte Glatze herum hob sich von dem rötlichen Lichtschein des Feuers ab wie ein Halo. »Eine hohe Stirn, das ist es, was ich habe«, pflegte er zu sagen.»Ich habe immer noch jede Menge Haare, aber ich habe die hohe Stirn meines Vaters geerbt.«
Der war genauso kahl, dachte Poppy Trenton und vergrub den Kopf in den Kissen. Hohe Stirn, dass ich nicht lache! Soweit ich mich erinnere, war sein Vater schon kahl, als er mich das erste Mal mit nach Hause nahm und seiner Familie vorstellte. Ich hätte mir meinen zukünftigen Schwiegervater besser genauer angesehen. Wenn ich geahnt hätte, dass Roger genauso wird wie dieser alte Kerl, hätte ich die Verlobung vielleicht auf der Stelle gelöst. Sieh ihn nur an! Er trägt sogar die gleichen Schlafanzüge wie sein Vater, gestreifter Flanell mit einem Tunnelzug in der Taille, und Kordpantoffeln dazu.
»He, he, he!«, rief Roger. Er hob eine Hand und wedelte triumphierend mit einem Finger in Richtung des fernen Feuers. »Ich hab's dir gesagt!«
Die Frau spähte über die Bettdecke in Richtung des Fensters, wo ihr Ehemann unverändert die Stellung hielt. Es war ein Wunder, dass er nicht vor Schadenfreude hüpfte. »Auch wenn Hausbesetzer für das Feuer verantwortlich sind, so hoffe ich, dass keiner dort in den Flammen eingeschlossen ist«, sagte sie.
»Es gibt genügend Fenster, durch die sie rauskönnen, falls nötig«, entgegnete Roger. »Sie nehmen den Weg, auf dem sie auch reingekommen sind. Keines der Fenster ist vernagelt. Das Türschloss könnte jedes Kind knacken. Du weißt, dass ich immer wieder die Gemeinde wegen Key House angeschrieben habe. Du kannst die Briefe gerne lesen. Sie befinden sich alle im Ordner mit dem Schriftwechsel, den ich mit der Gemeinde geführt habe. Es hat die Landschaft verschandelt, das ist es. Es ist überflüssig, absolut überflüssig. Ein schönes altes Haus, das man dem Verfall preisgegeben hat. Ich habe diesem jungen Mann bei der Gemeinde gesagt, er soll sich mit dem Eigentümer in Verbindung setzen, damit er etwas dagegen unternimmt. «
»Gervase Crown . . .«, murmelte seine Frau. »Er ist nach Portugal ausgewandert.«
»Das weiß ich selbst!«, fuhr Roger ihr ins Wort. »Ein richtiger Playboy. Es war wohl zu viel verlangt, von ihm zu erwarten, dass er etwas tut.«
»Er hatte einen recht attraktiven Vater«, murmelte Poppy unbedacht.
Roger fühlte sich veranlasst, sich von seinem Beobachtungsposten umzudrehen. »›Attraktiven Vater‹?«
»Gervase' Vater, Sebastian Crown.«
»Stimmt doch gar nicht. Ich bin mit ihm zur Schule gegangen. An Sebastian war überhaupt nichts attraktiv. Du redest Blödsinn, Poppy. Er war ein guter Kerl, sehr solide, wenngleich er auch kein Glück hatte, weder mit seiner Ehe noch mit diesem nutzlosen Taugenichts von einem Jungen. Gut, dass der junge Crown von hier abgehauen ist.«
»Es ist eigenartig, aber vor ein paar Tagen habe -«, setzte Poppy an, doch Roger hatte sich bereits wieder zum Fenster umgedreht. Sie ließ den Satz unbeendet. In Rogers Augen war es wahrscheinlich ohnehin Unfug. Sie hatte es im ersten Moment wirklich geglaubt. Und jetzt dieses Feuer . . . Es war beunruhigend. Vielleicht sollte ich Serena anrufen, dachte sie.
»Aha!«, frohlockte Roger von seinem Fensterplatz. Mit seinem feuerrot schimmernden Haarkranz sah er aus wie ein verrückter übergroßer Gockel. »Weißt du, was mich nicht im Geringsten überraschen würde? Wenn sie eine Leiche in der Asche finden, sobald das Feuer heruntergebrannt ist.«
»Oh nein!«, rief Poppy erschrocken. Plötzlich war sie hellwach und setzte sich im Bett auf. »So etwas darfst du nicht sagen, Roger!«
»Ach Herrgott, Poppy, leg dich wieder hin«, erwiderte ihr Ehemann.
Das Feuer hatte nach Kräften gewütet, doch Key House war nicht so einfach zu vernichten. Es war ein massives Steingebäude aus dem frühen achtzehnten Jahrhundert. Seine ersten Bewohner waren bereits zu Queen Annes Zeiten eingezogen. Nach Queen Annes Tod hatten die Mitglieder des Hauses Hannover die Herrschaft übernommen, und die ins Exil verbannten Stuarts hatten sich gegen sie verschworen. Key House hatte sie und die folgenden Generationen kommen und gehen sehen und allen Stürmen bis heute getrotzt. Seine Wände waren an der Basis annähernd einen Meter dick und verjüngten sich nach oben hin. Unter dem Dach maßen sie weniger als dreißig Zentimeter. Das Dach war mit den traditionellen Cotswold-Schieferplatten in sechsundzwanzig verschiedenen Größen gedeckt, von denen jede ihre eigene Bezeichnung und feste Position auf dem Dach hatte. Jetzt nicht mehr - die Platten waren in den darunterliegenden Innenbereich gestürzt, und dort lagen sie nun kreuz und quer durcheinander: lange und kurze Bachelors, Becks und Wivutts und wie sie alle hießen. Sie würden irgendwann geborgen werden, schon wegen ihres Wertes, und wenn sie nicht zum Wiederaufbau von Key House benutzt wurden, dann eben für ein anderes Dach.
Der Rest, die Eichentreppe mit dem gedrechselten Geländer und den von Schnitzereien überladenen Pfosten, das Parkett, das Gebälk und die vom Alter dunklen Holzvertäfelungen in Eingangshalle, Studierzimmer und Speisesaal - alles war fort. Die Überreste des aus alten Baumstämmen gezimmerten Gebälks waren noch zu sehen. Sie schwelten vor sich hin, vom Feuer geschwärzt und verkohlt und in unregelmäßige Stücke geborsten. Sogar die Astlöcher waren noch zu erkennen sowie die gelegentlichen Narben, wo die Zimmerleute einst mit der Axt zu tief gezielt hatten.
Es war bereits Nachmittag, als man die Leiche unter den Trümmern der ehemaligen Küche entdeckte, wo Reste der modernen Einbaumöbel geschwärzt an den Wänden hingen. Roger Trenton sollte bald erfahren, dass er recht gehabt hatte.
Inspector Jessica Campbell traf erst spät am Tatort ein, als Folge des grausigen Fundes. Sie betrachtete den dampfenden Qualm, der immer noch aus der Ruine waberte. Auf ihren Wangen spürte sie die Hitze, die von den einst glatt behauenen Cotswoldsteinen herrührte. Auch die Steine hatten das Feuer überlebt, wenngleich rußgeschwärzt und immer noch zu heiß zum Anfassen. Jessica legte sich die kalten Finger auf das Gesicht und spürte, wie die Spitzen die Wärme aufnahmen und zu kribbeln anfingen.
Bis jetzt war es ein milder Monat gewesen, doch in den letzten beiden Tagen hatte sich der Winter auf unnachgiebige Weise mit zunehmenden Winden und erstem Frost angekündigt. Die Büsche, Sträucher und Straßenbäume wurden in dieser verlassenen Straße anscheinend von niemandem zurückgeschnitten und gaben ein beinahe unwirkliches Bild ab mit ihren zu langen, kahlen Zweigen. Totes Laub häufte sich in windstillen Ecken und füllte die Gräben. Nur einige wenige Bäume wuchsen voller Trotz weiter, als wüssten sie, dass die wenigen übriggebliebenen Blätter das Rot und Gelb ihrer herbstlichen Pracht nicht zu ersetzen vermochten, geschweige denn das üppige frische Grün des nächsten Frühlings, wenn er denn endlich kam.
Trockenes Laub war über die vernachlässigten Rasenflächen von Key House geweht und hatte sich zwischen den dichten Ranken der Brombeersträucher gesammelt, wo es zu Mulch zerfallen war. Die Brombeeren hatten den Garten im Lauf der Jahre regelrecht überwuchert und reichten inzwischen fast bis zum Gebäude. Die Feuerwehrmänner hatten bei ihrer Arbeit viele der dornigen Tentakel niedergetrampelt, und das Löschwasser aus den Schläuchen ließ die Laubdecke vor Nässe glänzen. Wenn die Menschen diesen Ort erst wieder verlassen hatten, würden sich die Brombeeren von ihrer vorübergehenden Niederlage erholen und unerbittlich ihren Weg über den ehemaligen Rasen in Richtung Haus fortsetzen. Falls sich niemand fand, der Key House wieder aufbaute, würden sich Ranken und Gestrüpp einen Weg durch die im Mauerwerk klaffenden Löcher der zerbrochenen Fenster und ausgebrannten Türen suchen.
Gegenwärtig war das zerstörte Haus eins mit der verwelkenden Natur ringsum. Für einen kurzen Moment sah Jess vor ihrem geistigen Auge, wie das Haus unter einem Wust aus Ranken und Dornen verschwand wie ein Dornröschenschloss. Die Stimme des Doktors riss sie aus ihren Tagträumen.
»Junkies«, bemerkte er lakonisch. Sein Name war Layton, und er war ein großer, gebeugter Mann im fortgeschrittenen Alter, womöglich kurz vor dem Ruhestand. Sein grüner Tweed- Anzug war hochwertig gearbeitet, doch altmodisch geschnitten und hing ihm in einer Art und Weise am Leib, die vermuten ließ, dass er früher deutlich korpulenter gewesen war. Während er zu sprechen ansetzte, versuchte er ohne großen Erfolg eine Rußflocke von seinem Ärmel zu wischen. Als er feststellte, dass er aus der Flocke einen schwarzen verschmierten Fleck gemacht hatte, grunzte er frustriert. »Sie glauben ja nicht, wie oft sie sich bis zur Bewusstlosigkeit zudröhnen, und dann passiert so was. Das heißt, Sie natürlich schon, Inspector! Ich wage zu behaupten, dass Sie so etwas kennen.«
Layton bedachte sie mit einem entschuldigenden Nicken. Sein graues Haar, welches er ein wenig zu lang trug, geriet noch mehr in Unordnung.
Obwohl die Nebenstraße einsam gelegen war, waren sie nicht die einzigen Zuschauer. Es würde Jess stets ein Rätsel bleiben, wie die meisten Neugierigen es immer wieder schafften, rechtzeitig aufzutauchen, um einen Unfall oder dessen Folgen zu beobachten, sogar in einer Gegend wie dieser hier. Wahrscheinlich war das Publikum deshalb diesmal nicht besonders zahlreich. Ein groß gewachsener, hagerer älterer Mann in einer Öljacke mit einem schütteren grauen Haarkranz, der gleich einem Heiligenschein seinen ansonsten kahlen Schädel umrahmte. Wo um alles in der Welt war er bloß hergekommen? Ein Stück weiter entfernt standen zwei jüngere Männer mit wettergegerbter, gebräunter Haut und beobachteten das Treiben diskret aus sicherer Entfernung. Jess nahm an, dass es sich um Pavee handelte, fahrendes Volk. Vermutlich überlegten sie, ob es sich lohnte, zu einem späteren Zeitpunkt zurückzukehren, wenn alle anderen fort waren, und nachzusehen, ob sie irgendetwas an Metall ergattern konnten.
Ganz in Jess' Nähe stand eine ältere Dame mit einer Brille und einer über die Ohren gezogenen Wollmütze. Sie trug eine hellgelbe Wachsjacke und dazu passende Hosen - vermutlich, damit sie gut zu erkennen war, wenn sie ihren Hund auf den Straßen ausführte, da neben den Straßen keine Fußwege angelegt waren. Was den Hund anging, so machte er einen missmutigen Eindruck. Sein Auslauf war unterbrochen worden. Er hatte keinerlei Interesse an dem Feuer. Er war ein Boxermischling mit stämmigem Körperbau und krummen Vorderbeinen, doch größer als für die Rasse üblich, was auf die Beimischung einer anderen Rasse unter seinen Ahnen hindeutete. Er besaß die üblichen zerknautschten Gesichtszüge, und Jess überlegte, dass seine vorstehenden Augen wohl ständig diesen leicht missmutigen Blick hatten. Vielleicht aber war es auch nur ein Beispiel dafür, dass Hundebesitzer ihren Tieren ähnelten. Die Hundebesitzerin jedenfalls blickte derart grimmig drein, als wäre das Feuer ein persönlicher Angriff auf ihre eigene Person gewesen.
Layton hob erneut an. »Sie werden vermutlich feststellen, dass der Typ sich irgendwas geschossen hat und weggetreten ist. Dann ist eine Kerze umgefallen, und das Feuer nahm seinen Lauf. Das Haus war nicht mehr an das Stromnetz angeschlossen, soviel ich weiß. Das Gas war ebenfalls abgestellt. Das Haus stand seit dem Tod von Sebastian Crown leer. Vermutlich gehört das Anwesen noch seinem Sohn, doch der war noch nie hier. Eine Schande, wirklich, schließlich war es ein hübsches altes Haus.
Hey! Wahrscheinlich liegen überall Nadeln in der Asche. Seien Sie vorsichtig!«, rief er unvermittelt, indem er sich abwandte. Sein Rat galt den in der Nähe stehenden Brandermittlern und den mit Ruß beschmutzen und nach Rauch stinkenden Feuerwehrleuten, die noch immer mit Löscharbeiten beschäftigt waren. Sie würden noch einige Male im Verlauf der nächsten Tage zurückkommen und diese Arbeit wiederholen. Auch wenn ein Feuer gelöscht zu sein schien, konnte es jederzeit ohne Vorwarnung an einem heißen Punkt zu einem erneuten Brand kommen, wie Jess wusste.
»Diese verdammten Nadeln gehen mühelos durch die Stiefelsohle «, rief der am nächsten stehende Feuerwehrmann. Alle nickten.
Die verkohlte Leiche ruhte nach wie vor unbehelligt in ihrem Bett aus verkohlter Schlacke und Asche, zusammengekauert in einer fötalen Haltung, das Gesicht dem Boden zugewandt. Das herabgestürzte Gebälk hatte eine Art Dach über ihr gebildet, sodass sie nicht zerquetscht worden war. Die Arme waren abwehrend erhoben und verharrten in einer Haltung, die typisch war für Leichen, die man nach Bränden fand: die Fäuste geballt in einer absurden Parodie einer Boxerhaltung, als verspotteten sie die prasselnden Flammen, und als riefen sie ihnen zu: »Kommt schon, wenn ihr euch traut!«
Eine Gestalt in einem Schutzanzug erstellte aus angemessenem Sicherheitsabstand eine Videoaufnahme des Schauplatzes.
»Er ist tot, ohne Zweifel«, fasste Layton zusammen. »So weit, so gut. Es besteht kein Grund, jetzt dort herumzufummeln, um ihn zu untersuchen, selbst wenn es möglich wäre, an ihn heranzukommen. Nebenbei, die Überreste sind vermutlich spröde und zerbröseln wie Kekse unter den Händen. Ich möchte nicht dafür verantwortlich gemacht werden, solange der Leichnam nicht obduziert wurde.«
Er schien darauf bedacht, sich nicht noch schmutziger zu machen, indem er eine verkohlte Leiche hin und her wälzte. Womöglich verbrannte er sich dabei die Hände, und eventuell trat er in eine der erwähnten weggeworfenen Nadeln. Jess fühlte mit ihm. Layton war kein Polizeiarzt, den man üblicherweise in Fällen wie diesem herbeirief, sondern unterhielt eine eigene Praxis. Doch er war am schnellsten erreichbar gewesen, und sie hatten ihn schon bei früheren Gelegenheiten hinzugezogen. Eins musste man ihm lassen: Er war ohne Murren gekommen und hatte seine Arbeit gemacht - den Tod des Opfers festgestellt.
Vielleicht lag es daran, dass es ein wenig anders als die ärztliche Tätigkeit war, die er normalerweise ausübte, doch er konnte der Versuchung nicht widerstehen, ein wenig zu spekulieren. »Natürlich ist es Sache Ihres Pathologen, die genaue Todesursache festzustellen und ob das Opfer unter Drogen stand, doch die Muskelkontraktion sagt mir, dass es noch am Leben war, als das Feuer ausbrach. Vermutlich war die Bewusstlosigkeit zu tief, als dass es sich selbst hätte helfen können. Außerdem finden sich Spuren von Rauch in seiner Lunge, wenn es noch am Leben gewesen ist. Wahrscheinlich hat es von alldem nichts mitbekommen. Ich schätze, es starb durch den Rauch, nicht durch das Feuer.«
Layton straffte sich. »Ich muss weiter. Ich habe noch eine Reihe von Hausbesuchen vor mir.« Er fuhr sich mit der Hand durch die wirren grauen Haare in dem Versuch, sie ein wenig zu glätten.
Jess begleitete ihn zu seinem Wagen. »Sie sagten, Sie kennen die Familie, der das Haus gehört?«
Die Frage schien ihn zu überraschen, und für einen Augenblick starrte er sie an, als hätte sie sich einen Fauxpas erlaubt. Doch dann schien ihm einzufallen, dass sie ja schließlich ein Police Officer war und am Anfang eines Ermittlungsverfahrens zu einem Brand mit tödlichem Ausgang stand, und er setzte zu einer vorsichtigen Antwort an.
»Ich kannte Sebastian - den früheren Besitzer. Er war ein Patient von mir. Oh, es ist Jahre her - er ist schon eine ganze Weile tot. Er war einer meiner ersten Patienten, als ich hier am Ort meine Praxis eröffnete, darum erinnere ich mich an ihn. Es gibt immer noch Leute, die den Nationalen Gesundheitsdienst ablehnen und Alternativen vorziehen. Ich war zwanzig Jahre lang sein Arzt. Ich kann nicht sagen, dass ich seinen Sohn Gervase kannte. Zumindest nicht als erwachsenen Mann, heißt das. Ich weiß, dass es ihn gibt. Er war die meiste Zeit im Internat und bereitete seinem Vater die üblichen Kopfschmerzen. Vermutlich hat ihn der Schularzt im Krankheitsfall behandelt. Soweit ich mich erinnern kann, ist er als Jugendlicher nicht mehr in meiner Praxis gewesen, und ganz sicher nicht als Erwachsener. Seine Mutter war ein paar Mal mit ihm da, als er noch ein Kind war. Die üblichen Impfungen und Kinderkrankheiten. Ich kann nicht sagen, wo er in den Jahren danach ärztlich versorgt wurde. Vielleicht war er als Kassenpatient bei einer anderen Praxis. Sein Vater hat stets über ihn gejammert, wie alle Eltern über ihre halbwüchsigen Kinder schimpfen.«
Erneut warf Jess einen Blick auf die verkohlten Überreste des Hauses. »Dann war Sebastian Crown ein reicher Mann?«
»Recht wohlhabend, würde ich sagen. Hier in der Gegend wohnen einige reiche Leute. Wenn ich mich recht entsinne, hat er sein Geld mit Hundeshampoo gemacht.«
»Wie bitte?«, staunte Jess.
»Kein gewöhnliches Shampoo, eher Pflegeprodukte und Anwendungen für Hunde«, erläuterte Layton. »Die Leute geben eine Menge Geld für ihre Haustiere aus. Glauben Sie mir, als Arzt kenne ich Fälle, wo Patienten sich mehr um ihre Tiere gekümmert haben als um ihre Kinder.«
»Hat Sebastian Crown sich um sein Kind gekümmert?«, fragte Jess vorsichtig.
Layton zögerte, bevor er umständlich fortfuhr. »Was ich jetzt sage, gilt mehr im Allgemeinen und nicht speziell für die Familie Crown, wenn Sie verstehen. Jedermann weiß, wie schwer es ist, eine Familie durchzubringen, wenn man arm ist. Kaum jemand hingegen weiß um die Probleme, eine Familie zusammenzuhalten, wenn Geld da ist. Natürlich keine finanziellen Probleme. Doch besonders ein Sohn kann das Gefühl haben, im Schatten eines sehr erfolgreichen Vaters zu stehen. Wenn der Vater ein Selfmademan ist, führt er seinem Sohn unter Umständen immer wieder ungewollt vor Augen, dass es seine harte Arbeit war, die der Familie den großzügigen Lebensstil ermöglicht. Womöglich ist er unerwartet geizig, wenn es darum geht, dem Sohn Geld zu geben, weil er möchte, dass sein Sohn erkennt, dass Geld verdient werden muss. Ich sage damit nicht, dass dies bei Sebastian und Gervase Crown der Fall war.«
»Nein, selbstverständlich nicht«, versicherte ihm Jess.
»In der Beziehung zwischen einem heranreifenden jungen Mann und seinem Vater ist eine gewisse Rivalität nur natürlich. In der Tierwelt könnte man es etwa mit einer Herausforderung an den etablierten Rudelführer vergleichen. Vielleicht schauen Sie ja die ein oder andere Tiersendung im Fernsehen? Der jüngere Mann hat das Gefühl, sich beweisen zu müssen. Manchmal findet er Gefallen an der Herausforderung, und manchmal, nun, manchmal hat er keine Lust dazu. Verstehen Sie? Er bricht einfach aus und weigert sich, es überhaupt zu probieren - was für sich genommen der Versuch ist, sich auf andere Art zu beweisen. Eben nicht zu tun, was von ihm erwartet wird. Nach der Schule verschwand Gervase für etwa ein Jahr. Er trampte durch die Welt, mit dem Rucksack, wie man das halt so macht. Soweit ich weiß, ist er bis nach Australien gekommen und hat das Surfen für sich entdeckt. Als er wieder nach Hause kam. .. nun ja. Ich nehme an, er hatte sich angewöhnt, das zu tun, wozu er Lust hatte. Er geriet in Schwierigkeiten, doch es ist nicht an mir, Ihnen das zu erzählen. Es war keine gute Zeit. Sebastian hörte auf, von ihm zu erzählen.« Layton runzelte die Stirn.
»Was ist mit Mrs Crown?«, hakte Jess nach, bemüht, den Strom der Informationen nicht abreißen zu lassen.
»Mrs Crown? Ach, Sie meinen Sebastians Frau. Sie verließ die beiden - den Mann und das Kind -, als der Junge noch sehr klein war, vielleicht zehn oder elf Jahre alt. Einige Leute sagen, sie ist mit einem anderen Kerl durchgebrannt...« Womöglich wollte Layton nicht länger darüber reden. »Ich setze mich nächstes Jahr zur Ruhe«, wechselte er das Thema. »Die Zeit rast dahin.«
Jess dachte über das Gehörte nach. »Wie alt ist Gervase Crown heute?«
Der Doktor überlegte. »Mitte dreißig? Er lebt im Ausland. Ich verstehe nicht, warum er den Besitz nicht einfach verkauft hat, wenn er nicht vorhatte, darin zu wohnen. Es war eine unübersehbare Aufforderung für jegliche Art von Abschaum, sich hier niederzulassen.«
»War es denn noch eingerichtet?« Jess lächelte aufmunternd. »Momentan kann man das nämlich nicht so genau erkennen.«
Layton wand sich. Die allgemeine Richtung des Gesprächs schien ihn nervös zu machen. Er hatte nicht vorgehabt, länger hierzubleiben und ein Schwätzchen zu halten, ganz sicher nicht über Sebastian Crown, einen ehemaligen Patienten. Er hatte klargestellt, dass Gervase Crown nicht zu seinen Patienten gehörte, doch die Grenze zwischen beruflicher Diskretion und »der Polizei behilflich sein«, auf der er sich bewegte, war äußerst schmal. Dort in den Trümmern lag eine Leiche, darüber konnte man nicht hinwegsehen. Wie sie dort hingekommen war, würde Inhalt einer umfangreichen Ermittlung sein. Er war lediglich hier, um den Tod festzustellen, weiter nichts. Er wurde tiefer in die Geschichte hineingezogen, als ihm recht war.
»Oh, keine Ahnung! Ich denke nicht. Falls überhaupt noch Mobiliar vorhanden war, hat es in der Zwischenzeit bestimmt irgendjemand gestohlen! Ich glaube, der junge Gervase hat das Mobiliar entweder abholen lassen oder verkauft. Wahrscheinlich hat er die Antiquitäten bei einer Auktion angeboten. Ich erinnere mich dunkel an eine Versteigerung, die hier im Haus abgehalten wurde. Doch ich wüsste nicht, dass er auch sein Elternhaus verkauft hat. Ich denke, dass ich es erfahren hätte. Derartige Neuigkeiten sprechen sich schnell herum. Die Leute hier in der Gegend wollen wissen, wenn sie neue Nachbarn bekommen.«
Demonstrativ öffnete er die Autotür. Jess' Informationsquelle war versiegt. Sie dankte ihm für sein Erscheinen.
»Alles Teil meiner Arbeit«, antwortete der Doktor gut gelaunt darüber, dass er sich endlich verabschieden konnte. »Schade, dass es kein Mord war, dann könnte ich ein höheres Honorar fordern.«
Jess blickte ihm nach, als er davonfuhr. Genau wie Layton wäre sie normalerweise nicht hier gewesen, nicht zu diesem frühen Zeitpunkt und ganz gewiss nicht in Abwesenheit jeglicher Hinweise auf eine Gewalttat. Doch die Polizeibeamten, die von der Einsatzzentrale ursprünglich hergeschickt worden waren, hatten unterwegs wegen eines Verkehrsunfalls auf der Hauptstraße anhalten müssen.
Jess war zufällig frei gewesen, als die Information hereinkam, dass man eine Leiche gefunden hatte. Sie hatte sich in ihr Auto gesetzt und war losgefahren.
Jetzt drehte sie sich zu den Schaulustigen um. Die beiden Pavee hatten ihre Aktionen vorausgeahnt und sich rechtzeitig aus dem Staub gemacht. Jess war allein mit dem großen Mann und der Frau mit dem Boxer.
Sie wandte sich zuerst an den Mann, da er ohnehin darauf zu warten schien, und stellte sich vor. Er musterte sie abschätzend von oben bis unten, bevor er sie informierte, dass er Roger Trenton hieß. Er wohnte etwas weniger als einen Kilometer entfernt in Ivy Lodge und hatte vom Fenster seines Schlafzimmers aus das rote Leuchten des Nachthimmels gesehen, etwa um Mitternacht. »Es hat direkt ins Zimmer geleuchtet, wie eine Kerze.« Er hatte gleich gewusst, dass es sich um Key House handeln musste.
»Warum?«, fragte Jess.
Trenton reagierte ungehalten. »Weil man das Haus dem Verfall preisgegeben hat und es nur eine Frage der Zeit war, bis Hausbesetzer dort einzogen! Entweder die oder irgendein Taugenichts oder Landstreicher! Ich habe die Gemeinde schon mehrere Male wegen dieses Missstands angeschrieben, und zweimal den Eigentümer direkt, Mr Gervase Crown.«
»Sie haben die Adresse von Mr Crown?«, fragte Jess hoffnungsvoll.
»Nein. Ich habe die Adresse seiner Anwälte, die kann ich Ihnen gerne geben. Ich habe Crown über seine Anwälte kontaktiert. Ich nahm an, dass sie die Briefe weiterleiten würden. Ich erhielt keine Antwort. Jedenfalls, in meinen Briefen fragte ich Crown, ob und wann er etwas zu unternehmen gedächte. Das war ein großartiges Anwesen in gepflegtem Zustand, als er es geerbt hat. Er hat weniger als sechs Monate darin gewohnt, dann hat er Mobiliar und Hausrat in einer Auktion vor Ort verkauft. Das halbe County ist deswegen hier aufgelaufen! Crown hat das Geld eingesackt und sich davongemacht. Das Haus blieb leer und verlassen zurück. Der Mann ist ein Irrer.«
»Sie erwähnten Hausbesetzer«, sagte Jess. »Haben Sie in der letzten Zeit jemanden hier gesehen?«
»Nein«, gestand Trenton widerwillig. »Ich betrachte es nicht als meine Aufgabe, nach Key House zu sehen, wenn Crown keine Zeit dafür hat - oder keine Lust.«
Diese Aussage stand im Widerspruch zu seiner vorher geäußerten Behauptung, er habe zweimal den Eigentümer wegen des Hauses angeschrieben und die Gemeinde mit Beschwerdebriefen bombardiert.
»Denken Sie nur nicht . . .«, setzte Trenton an und richtete sich zu seiner vollen Größe auf. »Kommen Sie bloß nicht auf die Idee, ich wäre hier, weil ich einer von diesen abartigen Gaffern bin! Ich mache jeden Morgen einen Ertüchtigungsspaziergang. Ich komme oft hier lang.«
Bei diesem Satz drehte sich die Frau mit dem Hund zu ihnen und bedachte den Sprecher mit einem spöttischen Grinsen.
»Es wird später noch mal jemand bei Ihnen vorbeischauen, um Ihre Aussage zu protokollieren, Mr Trenton, falls Sie keine Einwände haben«, sagte Jess. »Ivy Lodge, ist das richtig?«
»Dort entlang, immer geradeaus . . .« Trenton deutete die Straße hinunter, vorbei an der Ruine. »Sie können es nicht verfehlen. Direkt dahinter steht eine prachtvolle uralte Eiche.«
Trenton ging davon, und Jess wandte sich der Frau mit dem Hund zu.
»So ein Schwätzer!«, sagte diese wenig zurückhaltend in Trentons Richtung. Der so titulierte große Mann entfernte sich mit schnellen Schritten und war längst außer Hörweite.
»Sie sind . . .?«
»Muriel Pickering - und ich gehe tatsächlich jeden Tag hier entlang, zusammen mit Hamlet.« Sie zeigte auf den Boxer, der Jess mit einem unheilvollen Blick bedachte.
»Dann wohnen Sie in der Nähe? Oder sind Sie mit dem Auto hier?«
»Ich bin selbstverständlich zu Fuß!«, wiederholte Ms Picke- ring. »Das habe ich Ihnen doch gerade gesagt. Ich scheue mich nicht, meine Beine zu gebrauchen. Ich wohne in Mullions, das liegt dort den Weg hinunter.«
Sie deutete auf eine schmale, gerade noch erkennbare Nebenstraße ein paar Meter hinter ihnen. Dann warf sie einen weiteren finsteren Blick in die Richtung, in die Mr Trenton entschwunden war. »Ich habe Roger noch nie diesen Weg nehmen sehen! So ein dummes Zeug. Der einzige Ort, wo er sich je ›ertüchtigt‹, ist der Golfplatz. Nein, er war zum Gaffen hier. Und nein, ich habe keine verdächtige Person hier herumschleichen sehen. Ja, gelegentlich gab es Landstreicher, die sich im Haus aufgehalten haben. Nicht in der letzten Zeit. Es war wohl nicht besonders schwer, reinzukommen. Ich denke mir, wenn man sich die Mühe gemacht hätte, ums Haus herumzugehen, so hätte man vermutlich ein eingeschlagenes Fenster oder eine aufgebrochene Tür gefunden. Nur macht es jetzt wohl keinen Sinn mehr, nachzusehen. Jetzt ist sicher jedes Fenster und jede Tür zerbrochen.«
Da hatte sie recht. Jess notierte ihre Adresse und informierte sie, wie sie es bereits bei Trenton getan hatte, dass ein Beamter zur weiteren Befragung bei ihr vorbeischauen würde.
Was die Pavee anging, das fahrende Volk, war es unwahrscheinlich, dass sie für das Feuer verantwortlich waren. Ansonsten hätten sie die Gegend fluchtartig verlassen. Vermutlich waren sie jetzt in diesem Moment, nachdem sie Jess gesehen hatten, dabei ihre Sachen zu packen und sich davonzumachen. Falls sie entgegen aller Wahrscheinlichkeit doch noch aufgegriffen und vernommen wurden, würden sie zu Protokoll geben, nichts gesehen und nichts gehört zu haben.
Es gibt Leute, die wollen unbedingt mit der Polizei reden, obwohl sie überhaupt nichts wissen. Vermutlich gehörte Roger Trenton zu der Sorte. Dann gibt es wiederum diejenigen, die selbst dann, wenn sie etwas wissen, aus reiner Ablehnung nicht mit der Polizei reden - Muriel Pickering gehörte möglicherweise in diese Kategorie. Und die dritte Gruppe von Leuten will überhaupt nichts mit der Polizei zu tun haben, unabhängig davon, ob sie etwas wissen oder nicht - beispielsweise die beiden Pavee. Gelegentlich - selten wie eine Perle in einem Meer voller Austern - findet sich jemand, der sowohl etwas weiß als auch bereit ist, darüber zu reden. Jess kreuzte die Finger und hoffte, dass sie bald einen solchen Zeugen fanden.
Eine weitere Person war zugegen gewesen, unbemerkt, und hatte den Schauplatz kurz vor Jess Campbells Erscheinen verlassen. Alfie Darrow war bei Tagesanbruch losgezogen, um seine Fallen zu kontrollieren. Alfie war kein Landmensch, obwohl er die meiste Zeit seines Lebens in Weston St. Ambrose gewohnt hatte. Doch sein Großvater war sehr bewandert gewesen in diesen Dingen, und er hatte seinem Enkel auch gezeigt, wie man eine einfache Schlinge anfertigte. Alfies Großvater war die männliche Bezugsperson in Alfies Kindheit gewesen. Sein Vater hatte sich davongemacht, als Alfie noch in der Wiege gelegen hatte. Es gab einen ausgedehnten alten Kaninchenbau am Rand eines verwilderten Waldstücks entlang der Long Lane genannten Straße und dem »Rabbit Field« - der Name, unter dem der Acker gemeinhin bekannt war. Im Verlauf der Jahre hatten die Kaninchen kleine Wildwechsel im Unterholz geschaffen, die ausnahmslos alle zu ihrem Bau führten. Sie waren Gewohnheitstiere. Wenn sie auf den engen Pfaden in ihren Bau flüchteten, mussten sie unter einem Drahtzaun hindurch, der halb verborgen zwischen Nesseln, Disteln und Ampfer lag. Genau an diesem Zaun hatte Alfie seine größten Erfolge, genau da, wo die Kaninchen herauskamen.
Als er an diesem Morgen aufgebrochen war, hatte er sehr bald den rund um Key House herrschenden Betrieb bemerkt. Ein schwerer Geruch nach Feuer hing in der Luft. Von Zeit zu Zeit schoss eine Flamme gen Himmel, wenn einer der verbliebenen Balken oder eines der Dielenbretter des Hauses dem erbarmungslosen Fortschreiten der Flammen zum Opfer fiel. Alfie versteckte sich hinter der verwilderten Hecke an der Straße und beobachtete alles. Es waren die unterhaltsamsten und aufregendsten Stunden, soweit er sich zurückerinnern konnte. Die Feuerwehrmänner waren zum Leben erweckte Helden aus den Computerspielen, die Alfies liebste Freizeitbeschäftigung darstellten. In Uniform und Schutzhelm brüllten sie sich Befehle und Warnrufe zu, während sie Schläuche hielten und dicke Wasserstrahlen über das Feuer schwenkten. Als die brennenden Überreste des ersten Stocks in das Erdgeschoss krachten und die Luft sich mit einem Schauer goldener Funken füllte, presste Alfie die Hände vor den Mund, um seine Begeisterung nicht laut herauszubrüllen. Das Wasser prasselte auf das darunterliegende Gebälk, und das Holz krachte und knisterte und spie Funken gleich wilden, in die Enge getriebenen Bestien. Mit lautem Zischen platschte es auf die heißen Steine, und dichte Dampfschwaden stiegen in die Luft, um sich mit dem Rauch zu vermischen. Alfies Mund stand offen vor Staunen. Glühende Asche schoss raketengleich über die Straße. Es roch wie am Martinsfeuer. Alfie beobachtete alles hingerissen, völlig ungeachtet seines beengten Verstecks und der unbehaglichen Position, in der seine verbogenen Gliedmaßen sich befanden.
Dann war der erste Streifenwagen eingetroffen, mit zwei uniformierten Beamten, und hatte Alfies Spaß ein Ende bereitet. Mit dem Erscheinen des Gesetzes auf der Bildfläche war es Zeit für ihn zu gehen. Er war kein Unbekannter bei der örtlichen Polizei, und er meinte einen der Polizisten zu kennen. Der Bulle würde ihn erkennen, sobald er ihn bemerkte, und bevor er sich's versah, würden sie Alfie der Brandstiftung bezichtigen. So waren die Bullen nach Alfies Erfahrung. Sie griffen sich das erste bekannte Gesicht und dichteten seinem Träger an, was immer gerade nötig war. Nein, er würde am nächsten Tag wiederkommen, um nach seinen Fallen zu sehen. Er kroch aus seinem Versteck, streckte die steif gewordenen Glieder und machte sich querfeldein auf den Weg nach Hause. Was für eine Geschichte er zu erzählen hatte!
Hätte er noch ein wenig länger gewartet, so lange, bis man die Leiche fand, seine Geschichte wäre noch viel dramatischer gewesen.
Aus dem Englischen von Verena und Axel Merz
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Autoren-Porträt von Ann Granger
Ann Granger war früher im diplomatischen Dienst tätig. Sie hat zwei Söhne und lebt heute mit ihrem Mann in der Nähe von Oxford. Bestsellerruhm erlangte sie mit der Mitchell-und-Markby-Reihe und den Fran-Varady-Krimis.
Bibliographische Angaben
- Autor: Ann Granger
- 2014, 400 Seiten, Maße: 12,5 x 18,6 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Axel Merz, Veronika Merz
- Verlag: Bastei Lübbe
- ISBN-10: 3404168380
- ISBN-13: 9783404168385
- Erscheinungsdatum: 11.03.2014
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