Auf Amerika
Roman
Ein Dorf kurz nach dem letzten Krieg. Ein Junge wächst in der Beengtheit der ländlichen Idylle auf. Sein einziger Vertrauter, der Knecht Veit, hat eine große Geschichte, man sagt, er sei in Amerika gewesen. Bernd Schroeder erzählt von Kindheit und Jugend...
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Klappentext zu „Auf Amerika “
Ein Dorf kurz nach dem letzten Krieg. Ein Junge wächst in der Beengtheit der ländlichen Idylle auf. Sein einziger Vertrauter, der Knecht Veit, hat eine große Geschichte, man sagt, er sei in Amerika gewesen. Bernd Schroeder erzählt von Kindheit und Jugend und vom Aufbruch in eine neue Welt. Er entwirft das Porträt eines Dorfes und seiner Menschen, einer Vergangenheit, die langsam in Vergessenheit gerät. »Eine Photographie vom Veit hatte ich nie. Woher sollte ich sie haben? Den Veit hat doch keiner photographiert. Der ist wahrscheinlich in seinem ganzen Leben nicht photographiert worden. Vielleicht gab es ein Photo auf seinem Ausweis, seiner Kennkarte, wie man bei uns sagte. Wenn er überhaupt eine Kennkarte hatte. Einerseits hieß es immer, dass es den Veit amtlicherseits gar nicht gegeben hat, andererseits musste man sich fragen, wie er ohne Kennkarte nach Amerika hätte kommen können. Wenn er überhaupt in Amerika war.«
Lese-Probe zu „Auf Amerika “
Auf Amerika von Bernd Schroeder1
Eine Fotografie vom Veit hatte ich nie. Woher sollte ich sie haben? Den Veit hat doch keiner fotografiert. Der ist wahrscheinlich in seinem ganzen Leben nicht fotografiert worden. Vielleicht gab es ein Foto auf seinem Ausweis, seiner Kennkarte, wie man bei uns sagte. Wenn er überhaupt eine Kennkarte hatte. Einerseits hieß es immer, dass es den Veit amtlicherseits gar nicht gegeben hat, andererseits musste man sich fragen, wie er ohne Kennkarte nach Amerika hätte kommen können. Wenn er überhaupt in Amerika war. Gewissheit darüber bekamen die Hausener nie. Ich in späten Jahren schon.
Mein Vater, der selbst wohl nie in Amerika war, aber so tat, als wäre er dort gewesen, sagte damals, unmöglich, ohne Ausweis kommt man nicht nach Amerika, da kenne er sich aus. Vielleicht hatte mein Vater auch keinen Ausweis, denn er war, glaube ich, nie irgendwo anders als in Berlin, von woher er und meine Mutter kamen. Selbst im Krieg schien er nicht herumgekommen zu sein, jedenfalls war er nie an einer Front. Auch Hausen und die Dörfer ringsherum verließ er kaum. Er hatte kein Auto und konnte wegen einer Gleichgewichtsstörung, wie er sagte, nicht Rad fahren. Er ging alles zu Fuß - mit langen Schritten, denen zu folgen ich mich immer schwertat.
2
... mehr
Einmal fahren wir mit dem Bus auf München hinein in den Tierpark Hellabrunn. Mein Vater schimpft furchtbar, weil alle Viecher in viel zu kleine Käfige eingesperrt sind. Ein Leopard kann sich in seinem Käfig nicht einmal umdrehen, ohne dass er an die Stäbe stößt. Eine Sauerei ist das, sagt mein Vater, er hat die Tiere in der freien Natur - nein, er sagt nicht Natur, er sagt Wildbahn -, in der freien Wildbahn hat er die Tiere gesehen. Wann und wo mein Vater einen Leoparden gesehen hat, der nicht in einem Käfig war, weiß ich nicht, und ich wundere mich, dass mein Vater, wenn er einen gesehen hat in der freien Wildbahn, noch lebt. Wir gehen danach nie mehr in den Tierpark. Ein andermal gehen wir aufs Oktoberfest, wo sie meinem Vater beim Aufgeht's beim Schichtl den Kopf abschlagen und wieder dranmachen. Ich habe ganz wenig Angst um den Vater und seinen Kopf. Nach dem Schichtl gehen wir in ein großes Zelt, wo der Vater zwei Maß trinkt, was ihn sehr fröhlich macht. Alle Leute, sogar ganz fremde, mögen den Vater, weil er so viele Geschichten weiß. Einmal fahren wir nach Riem, zum Flugplatz, wo alle die Flugzeuge stehen, die man sonst bei uns draußen nur wie einen silbernen Pfeil am Himmel sieht. Wie sie so dastehen, die Flugzeuge, glaube ich nicht, dass die fliegen können, noch dazu mit so vielen Menschen im Innern. Aber dann sehen wir sie starten und landen. Mein Vater sagt, dass er Fernweh hat. Das kenne ich nicht, ich kenne nur Heimweh. Das hatte ich, als ich mal im Waisenhaus war. Andere Ausflüge machen wir nicht. Meine Mutter bleibt immer daheim. Sie mag die vielen Menschen nicht.
Da mein Vater immer da ist, glaube ich nicht, dass er überall da war, wo er sagt, dass er war. Aber er kann von überall in der Welt erzählen, als wäre er dort gewesen. Manchmal, wenn er betrunken ist, höre ich meinen Vater sagen: Als ich seinerzeit in Indien war. Oder: Die Bären in Kanada, die waren größer als wir. Oder: Wenn man den Petersdom von innen sieht, dann ist der so groß wieder nicht.
Eigentlich wird bei uns im Dorf niemand fotografiert. Außer meiner Mutter hat ja niemand einen Fotoapparat. Meine Mutter fotografiert viel mit ihrer AgfaBox. Blumen fotografiert sie und Bäume und Felder und den Wald, und das alles zu allen Jahreszeiten. Einmal fotografiert sie den Nebel, nichts als den Nebel. Da ist auf dem Foto nur alles grau, und mein Vater lacht und sagt zur Mutter, Elfriede, so sieht es in deinem Kopf aus.
Hunde und Katzen fotografiert die Mutter auch und ganz kleine Viecher, Käfer und Bienen und so was. Weil sie aber die Menschen nicht mag, fotografiert sie die nicht. Keinen einzigen, meinen Vater nicht, mich nicht, keinen Menschen, nicht einmal kleine Kinder. Auch die Amisoldaten und die Neger, mit denen mein Vater amerikanisch spricht, fotografiert sie nicht. Am Mittwoch fährt die Mutter mit den Weibern aus dem Dorf mit dem Bus in die Kreisstadt und bringt die Filme zum Entwickeln. Die Woche drauf, wieder am Mittwoch, bringt sie die Bilder mit, die sie in große Bücher hineinklebt. Auch den Nebel klebt sie hinein. Unter die Bilder schreibt sie mit ihrer schönen Schrift, was man auf dem Bild in Schwarzweiß sieht: Eiche. Sonnenblume. Käfer. Nebel. Kirche. Pfarrhaus. Schule. Feuerwehrteich. Hölle. Haus vom Lammer. Dahinter schreibt sie jeweils das Datum, was für mich keinen Sinn hat, weil das Haus vom Lammerbauern, in dem wir wohnen, immer gleich aussieht. Jahrelang. Und nicht nur das Haus vom Lammer, fast alles, was sie fotografiert, sieht immer gleich aus.
Als wir später ein eigenes Haus haben, von dem mein Vater immer sagt, dass es nicht uns und auch nicht der Berliner Oma, sondern der Raiffeisenbank gehört, fotografiert sie das nicht, weil sie sagt, so ein hässliches Haus, so eine Schuhschachtel, die einem nicht einmal selber gehört, muss man nicht auch noch fotografieren. Ich mag das Haus auch nicht, darum macht es mir nichts aus, dass es dem dicken Mann von der Raiffeisen gehört. Wegen mir hätten wir das Haus nicht gebraucht. Ich habe viel lieber auf dem Lammerhof gewohnt.
Auch Kühe und Ochsen und Pferde fotografiert meine Mutter nicht. Vor denen hat sie Angst. Die sind ihr zu groß. Und den Stier vom Wirt fotografiert sie nicht, und den Veit, den Knecht vom Wirt, erst recht nicht.
Darum habe ich keine Fotografie vom Veit.
3
Mein Vater glaubte sehr häufig annehmen zu dürfen, meine Mutter habe nur Nebel im Kopf, nichts als Nebel. Er hielt jeden Menschen, der nicht wie er mit großen Gesten und hochtrabenden Worten daherkam, für schlicht, einfältig oder dumm. Das betraf beinahe alle Dorfbewohner, aber vor allem meine Mutter und den Veit.
Den hielt er für einen Trottel, der seiner Meinung nach in der Kindheit eine Hirnkrankheit gehabt haben musste. Meine Mutter betrachtete er als das Opfer ihrer Großeltern, die sich 1940 umgebracht hatten, warum, darüber spekulierte nur er. Lebensuntüchtig, depressiv, erblich belastet. Meine Mutter sagte dazu nichts. Als ich ihn, in der Schule mit der Nazizeit konfrontiert, einmal fragte, ob diese Großeltern Juden gewesen seien, sagte er: Höchstens ein Achtel, wenn überhaupt. Jedenfalls, sagte er, sei das damals kein Grund gewesen, sich umzubringen, sie hätten ja auswandern können, wie Millionen andere Juden auch. Dann hättest du aber die Mutter gar nicht kennengelernt, gab ich ihm zu bedenken. Das wäre dann, meinte er, für sein Leben auch kein allzu großes Drama gewesen.
Meinem Vater, für den Streiten zu seiner Natur gehörte, gelang es selten, mit meiner Mutter zu streiten, sosehr er es darauf anlegte und geradezu Gelegenheiten suchte oder heraufbeschwor. Meine Mutter steckte seine Bosheiten ein, verteidigte sich selten, gab kaum ein Widerwort. Nur dadurch, glaube ich, haben sie es so lange miteinander ausgehalten.
Einmal, erinnere ich mich, ließ meine Mutter allerdings eine seiner Anschuldigungen nicht auf sich sitzen. Es gab den einzigen großen Streit, den ich zwischen ihnen erlebt habe. Und das kam so.
Wenn gewählt wurde, regional oder bundesweit, kamen in Hausen zu den ganzen christsozialen Stimmen stets zwei Stimmen für die Sozialdemokraten dazu. Auf diese Stimmen war mein Vater stolz, waren sie doch der Beweis dafür, dass er weiter dachte, moderner war, weltgewandter und mutiger als alle anderen in Hausen, und dass seine Frau ihm gehorchte. Es war kein Geheimnis, jeder wußte es, dass mein Vater, der Rote, der Kommunist, der harmlos war, weil er ja nur einer war, SPD wählte und dass meine Mutter das auch tat, gehorsam, wie sie in solchen Sachen war.
Eines Tages kam am Abend nach der Wahl der Bürgermeister Lehner aufgeregt zu meinem Vater. Seiler, sagte er, wir haben ein paarmal nachgezählt und noch mal in die Urne geschaut, es ist nur eine SPD-Stimme da, hat deine Frau nicht gewählt? Natürlich hat sie gewählt, sagte mein Vater entrüstet, aber je mehr der Lehner schwor, dass alles mit rechten Dingen zugegangen sei, desto größer wurden die Zweifel am Verstand meiner Mutter und die Erkenntnis, dass sie nun auch zum Wählen zu dumm war. Als der Bürgermeister zerknirscht gegangen war, kam es zu diesem heftigen Streit. Natürlich habe sie gewählt und auch richtig, und es könne doch vielleicht auch einmal sein, dass er sich auf dem Wahlzettel vertan habe, das gehe ja schnell. Auch Männer, sagte sie, seien fehlbar. Das ihm! Er tobte, sie ertrug es und fuhr am nächsten Tag für eine Woche zu ihrer Schwester nach München. Er sprach von Scheidung und einem Internat, in das ich gesteckt würde, und er hielt in der Wirtschaft eine flammende Rede darüber, was es doch für ein Unfug gewesen sei, den Frauen das Wahlrecht einzuräumen. Er lobte die Schweiz und irgendwelche karibischen Inseln, auf denen die Frauen angeblich auch nicht wählen dürften, und die Mehrheit der Männer stimmte ihm zu, obwohl ihre Frauen, wenn überhaupt, dann doch richtig gewählt hatten.
Als ich meine Mutter später - sie ließen sich nicht scheiden - auf die Geschichte ansprach, lächelte sie nur.
4
Den Schreibnamen, wie man bei uns sagt, also den Familiennamen vom Veit weiß ich nicht. Der Veit ist halt der Veit, weil er ja keine Familie hat, wo man sich den Schreibnamen merken müsste. Und einen Hof hat er auch nicht, wo es ja einen Hofnamen und den Schreibnamen gibt. Der Lammer schreibt sich Pflügler. Wir haben auch keinen Hof, aber wir sind eine Familie. Da bin ich der Seilerbub und mein Vater ist der Seiler. Nur meine Mutter ist die Frau Seiler oder auch die Frau Seilerin. Zu ihr sagen die Leute Sie, zu meinem Vater Du. Du, Seiler, oder du, Herr Seiler, sagen sie. Und der Wirt ist der Wirt und die Wirtin ist die Wirtin. Und der Lehrer ist der Herr Lehrer. Du, Lehrer, oder du, Herr Lehrer, der Wiggerl muss heute im Heu helfen, der geht nicht in die Schule, heißt es. Der Pfarrer ist der Hochwürden. Du, Hochwürden, kannst du für den Großvater selig eine Messe lesen lassen, sagt man. Und der Schuster ist der Schuster, und der hat sogar den Schreibnamen Schuster, weil, wie mein Vater sagt, bei dem alle Vorfahren Schuster waren und man ihnen dann irgendwann den Namen Schuster gegeben hat. Beim Schneider ist es genauso, und der Holzer schreibt sich Holzer, weil er Schreiner war und man zum Schreiner früher Holzer sagte. Und wir heißen dann, denke ich mir, Seiler, weil unsere Vorfahren Seile gemacht haben. Das sei wohl so gewesen, sagt meine Mutter, aber mein Vater, der, wie ich glaube, alles besser weiß als meine Mutter, sagt, dass unsere Vorfahren Henker gewesen sind, die man aber Seiler genannt hat, weil sie mit den Seilen die Menschen aufgehängt haben, vor allem, sagt er, die Frauen. Warum denn die Frauen?, will ich wissen. Weil die Hexen waren und ihren Männern untreu, sagt er. Meine Mutter widerspricht meinem Vater, wie gesagt, selten. Da aber ist sie wütend und sagt zu meinem Vater, er soll doch dem Jungen keinen solchen Unsinn erzählen, schlimm genug, dass er solche Ansichten habe, und wenn er recht hätte, dann müssten wir ja wohl Henker heißen, weil kein Mensch jemals einen Henker Seiler genannt habe, und im übrigen habe man die Hexen nicht aufgehängt, sondern verbrannt, zu Unrecht meistens, zu Unrecht!
Henker, antwortet mein Vater, hat man die Henker nicht genannt, denn wer hätte schon Henker mit Namen heißen wollen? Und den Namen Seiler hat er doch in die Familie gebracht, sagt er, und es handelt sich also um seine Vorfahren, und da müsse er wohl wissen, was die gewesen sind. Und was die Hexen betrifft, so hat man die da, wo die Seilers herkommen, im Osten, sehr wohl aufgehängt, und das ist sogar heute noch üblich, weil dort jetzt der Russe das Sagen hat, und deswegen sollen wir froh sein, dass wir jetzt hier leben und nicht beim Russen.
Ja, ich bin froh, dass wir nicht beim Russen leben, sondern in Bayern, in Hausen, in der Nähe von München. Bei uns sind die amerikanischen Soldaten. Die bringen Schokolade und Kaugummi. Ich hab Angst vor denen, besonders vor den Negern, weil sie so furchtbar schwarz sind. Ich weiß ja, dass sie einem nichts tun, gerade die Neger nicht. Die lachen fast immer. Die anderen Ami - wir sagen die Ami, mein Vater sagt die Amis, wenn er nicht überhaupt sagt die Amerikaner - die Ami lachen auch viel, aber da sieht man es nicht so wie bei den Negern. Die Bauern mögen die Ami nicht, weil die, wenn sie Manöver haben, mit den Panzern mitten durch die Felder fahren, egal, was da gerade wächst oder gerade reif ist für die Ernte. Die dürfen das, sagt mein Vater, weil sie den Krieg gewonnen haben, denn hätten wir den Krieg gewonnen, würden wir heute in Russland mit Panzern durch die Felder fahren. Oder sogar in Amerika.
5
Den Bauern, die ahnten, dass meinem Vater die Hitlerei, wie sie jene Jahre nannten, ganz gut gefallen hat, war das kein Trost. Sie hatten den Hitler und die ganze Nazibagage nicht gewollt, so wie sie auch den Krieg verfluchten. In Hausen hatte keiner gefragt, wollt ihr den totalen Krieg?, und darum hatte auch keiner ja geschrien. Doch, einer, der Lechner, der sich Ortsgruppenführer nannte und in Uniform herumrannte. Man mied ihn, misstraute ihm, legte sich aber nicht mit ihm an. Er war ein Häusler, wohnte im Gemeindearmenhaus, hatte keinen Hof, kein Hab und Gut und keine Familie. War er vorher einer, der nicht einmal am Bauerstammtisch geduldet wurde, geschweige denn irgendetwas zu sagen gehabt hatte, so war er plötzlich wichtig. Es gab jetzt welche, die Angst vor ihm haben mussten. Jetzt war er wer, jetzt ging er aufrechter als sonst, und man renovierte ihm das Hüterhaus, ließ ihn am Bauerntisch sitzen, hörte sich an, was er über die neuen Zeiten und die neuen Sitten und die wichtigen Köpfe und den einen einzigen wichtigsten Kopf aller Köpfe im Lande zu sagen hatte, und man widersprach ihm vorsichtshalber nicht. Der Lechner, sagte man sich, braucht das Hakenkreuz, das er an seine Hauswand gemalt hat. Mit ihm sollte es allerdings gleich nach dem Krieg böse enden. Der Lechner, so sagte man jetzt, erledigte sich selber.
Copyright © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main.
Einmal fahren wir mit dem Bus auf München hinein in den Tierpark Hellabrunn. Mein Vater schimpft furchtbar, weil alle Viecher in viel zu kleine Käfige eingesperrt sind. Ein Leopard kann sich in seinem Käfig nicht einmal umdrehen, ohne dass er an die Stäbe stößt. Eine Sauerei ist das, sagt mein Vater, er hat die Tiere in der freien Natur - nein, er sagt nicht Natur, er sagt Wildbahn -, in der freien Wildbahn hat er die Tiere gesehen. Wann und wo mein Vater einen Leoparden gesehen hat, der nicht in einem Käfig war, weiß ich nicht, und ich wundere mich, dass mein Vater, wenn er einen gesehen hat in der freien Wildbahn, noch lebt. Wir gehen danach nie mehr in den Tierpark. Ein andermal gehen wir aufs Oktoberfest, wo sie meinem Vater beim Aufgeht's beim Schichtl den Kopf abschlagen und wieder dranmachen. Ich habe ganz wenig Angst um den Vater und seinen Kopf. Nach dem Schichtl gehen wir in ein großes Zelt, wo der Vater zwei Maß trinkt, was ihn sehr fröhlich macht. Alle Leute, sogar ganz fremde, mögen den Vater, weil er so viele Geschichten weiß. Einmal fahren wir nach Riem, zum Flugplatz, wo alle die Flugzeuge stehen, die man sonst bei uns draußen nur wie einen silbernen Pfeil am Himmel sieht. Wie sie so dastehen, die Flugzeuge, glaube ich nicht, dass die fliegen können, noch dazu mit so vielen Menschen im Innern. Aber dann sehen wir sie starten und landen. Mein Vater sagt, dass er Fernweh hat. Das kenne ich nicht, ich kenne nur Heimweh. Das hatte ich, als ich mal im Waisenhaus war. Andere Ausflüge machen wir nicht. Meine Mutter bleibt immer daheim. Sie mag die vielen Menschen nicht.
Da mein Vater immer da ist, glaube ich nicht, dass er überall da war, wo er sagt, dass er war. Aber er kann von überall in der Welt erzählen, als wäre er dort gewesen. Manchmal, wenn er betrunken ist, höre ich meinen Vater sagen: Als ich seinerzeit in Indien war. Oder: Die Bären in Kanada, die waren größer als wir. Oder: Wenn man den Petersdom von innen sieht, dann ist der so groß wieder nicht.
Eigentlich wird bei uns im Dorf niemand fotografiert. Außer meiner Mutter hat ja niemand einen Fotoapparat. Meine Mutter fotografiert viel mit ihrer AgfaBox. Blumen fotografiert sie und Bäume und Felder und den Wald, und das alles zu allen Jahreszeiten. Einmal fotografiert sie den Nebel, nichts als den Nebel. Da ist auf dem Foto nur alles grau, und mein Vater lacht und sagt zur Mutter, Elfriede, so sieht es in deinem Kopf aus.
Hunde und Katzen fotografiert die Mutter auch und ganz kleine Viecher, Käfer und Bienen und so was. Weil sie aber die Menschen nicht mag, fotografiert sie die nicht. Keinen einzigen, meinen Vater nicht, mich nicht, keinen Menschen, nicht einmal kleine Kinder. Auch die Amisoldaten und die Neger, mit denen mein Vater amerikanisch spricht, fotografiert sie nicht. Am Mittwoch fährt die Mutter mit den Weibern aus dem Dorf mit dem Bus in die Kreisstadt und bringt die Filme zum Entwickeln. Die Woche drauf, wieder am Mittwoch, bringt sie die Bilder mit, die sie in große Bücher hineinklebt. Auch den Nebel klebt sie hinein. Unter die Bilder schreibt sie mit ihrer schönen Schrift, was man auf dem Bild in Schwarzweiß sieht: Eiche. Sonnenblume. Käfer. Nebel. Kirche. Pfarrhaus. Schule. Feuerwehrteich. Hölle. Haus vom Lammer. Dahinter schreibt sie jeweils das Datum, was für mich keinen Sinn hat, weil das Haus vom Lammerbauern, in dem wir wohnen, immer gleich aussieht. Jahrelang. Und nicht nur das Haus vom Lammer, fast alles, was sie fotografiert, sieht immer gleich aus.
Als wir später ein eigenes Haus haben, von dem mein Vater immer sagt, dass es nicht uns und auch nicht der Berliner Oma, sondern der Raiffeisenbank gehört, fotografiert sie das nicht, weil sie sagt, so ein hässliches Haus, so eine Schuhschachtel, die einem nicht einmal selber gehört, muss man nicht auch noch fotografieren. Ich mag das Haus auch nicht, darum macht es mir nichts aus, dass es dem dicken Mann von der Raiffeisen gehört. Wegen mir hätten wir das Haus nicht gebraucht. Ich habe viel lieber auf dem Lammerhof gewohnt.
Auch Kühe und Ochsen und Pferde fotografiert meine Mutter nicht. Vor denen hat sie Angst. Die sind ihr zu groß. Und den Stier vom Wirt fotografiert sie nicht, und den Veit, den Knecht vom Wirt, erst recht nicht.
Darum habe ich keine Fotografie vom Veit.
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Mein Vater glaubte sehr häufig annehmen zu dürfen, meine Mutter habe nur Nebel im Kopf, nichts als Nebel. Er hielt jeden Menschen, der nicht wie er mit großen Gesten und hochtrabenden Worten daherkam, für schlicht, einfältig oder dumm. Das betraf beinahe alle Dorfbewohner, aber vor allem meine Mutter und den Veit.
Den hielt er für einen Trottel, der seiner Meinung nach in der Kindheit eine Hirnkrankheit gehabt haben musste. Meine Mutter betrachtete er als das Opfer ihrer Großeltern, die sich 1940 umgebracht hatten, warum, darüber spekulierte nur er. Lebensuntüchtig, depressiv, erblich belastet. Meine Mutter sagte dazu nichts. Als ich ihn, in der Schule mit der Nazizeit konfrontiert, einmal fragte, ob diese Großeltern Juden gewesen seien, sagte er: Höchstens ein Achtel, wenn überhaupt. Jedenfalls, sagte er, sei das damals kein Grund gewesen, sich umzubringen, sie hätten ja auswandern können, wie Millionen andere Juden auch. Dann hättest du aber die Mutter gar nicht kennengelernt, gab ich ihm zu bedenken. Das wäre dann, meinte er, für sein Leben auch kein allzu großes Drama gewesen.
Meinem Vater, für den Streiten zu seiner Natur gehörte, gelang es selten, mit meiner Mutter zu streiten, sosehr er es darauf anlegte und geradezu Gelegenheiten suchte oder heraufbeschwor. Meine Mutter steckte seine Bosheiten ein, verteidigte sich selten, gab kaum ein Widerwort. Nur dadurch, glaube ich, haben sie es so lange miteinander ausgehalten.
Einmal, erinnere ich mich, ließ meine Mutter allerdings eine seiner Anschuldigungen nicht auf sich sitzen. Es gab den einzigen großen Streit, den ich zwischen ihnen erlebt habe. Und das kam so.
Wenn gewählt wurde, regional oder bundesweit, kamen in Hausen zu den ganzen christsozialen Stimmen stets zwei Stimmen für die Sozialdemokraten dazu. Auf diese Stimmen war mein Vater stolz, waren sie doch der Beweis dafür, dass er weiter dachte, moderner war, weltgewandter und mutiger als alle anderen in Hausen, und dass seine Frau ihm gehorchte. Es war kein Geheimnis, jeder wußte es, dass mein Vater, der Rote, der Kommunist, der harmlos war, weil er ja nur einer war, SPD wählte und dass meine Mutter das auch tat, gehorsam, wie sie in solchen Sachen war.
Eines Tages kam am Abend nach der Wahl der Bürgermeister Lehner aufgeregt zu meinem Vater. Seiler, sagte er, wir haben ein paarmal nachgezählt und noch mal in die Urne geschaut, es ist nur eine SPD-Stimme da, hat deine Frau nicht gewählt? Natürlich hat sie gewählt, sagte mein Vater entrüstet, aber je mehr der Lehner schwor, dass alles mit rechten Dingen zugegangen sei, desto größer wurden die Zweifel am Verstand meiner Mutter und die Erkenntnis, dass sie nun auch zum Wählen zu dumm war. Als der Bürgermeister zerknirscht gegangen war, kam es zu diesem heftigen Streit. Natürlich habe sie gewählt und auch richtig, und es könne doch vielleicht auch einmal sein, dass er sich auf dem Wahlzettel vertan habe, das gehe ja schnell. Auch Männer, sagte sie, seien fehlbar. Das ihm! Er tobte, sie ertrug es und fuhr am nächsten Tag für eine Woche zu ihrer Schwester nach München. Er sprach von Scheidung und einem Internat, in das ich gesteckt würde, und er hielt in der Wirtschaft eine flammende Rede darüber, was es doch für ein Unfug gewesen sei, den Frauen das Wahlrecht einzuräumen. Er lobte die Schweiz und irgendwelche karibischen Inseln, auf denen die Frauen angeblich auch nicht wählen dürften, und die Mehrheit der Männer stimmte ihm zu, obwohl ihre Frauen, wenn überhaupt, dann doch richtig gewählt hatten.
Als ich meine Mutter später - sie ließen sich nicht scheiden - auf die Geschichte ansprach, lächelte sie nur.
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Den Schreibnamen, wie man bei uns sagt, also den Familiennamen vom Veit weiß ich nicht. Der Veit ist halt der Veit, weil er ja keine Familie hat, wo man sich den Schreibnamen merken müsste. Und einen Hof hat er auch nicht, wo es ja einen Hofnamen und den Schreibnamen gibt. Der Lammer schreibt sich Pflügler. Wir haben auch keinen Hof, aber wir sind eine Familie. Da bin ich der Seilerbub und mein Vater ist der Seiler. Nur meine Mutter ist die Frau Seiler oder auch die Frau Seilerin. Zu ihr sagen die Leute Sie, zu meinem Vater Du. Du, Seiler, oder du, Herr Seiler, sagen sie. Und der Wirt ist der Wirt und die Wirtin ist die Wirtin. Und der Lehrer ist der Herr Lehrer. Du, Lehrer, oder du, Herr Lehrer, der Wiggerl muss heute im Heu helfen, der geht nicht in die Schule, heißt es. Der Pfarrer ist der Hochwürden. Du, Hochwürden, kannst du für den Großvater selig eine Messe lesen lassen, sagt man. Und der Schuster ist der Schuster, und der hat sogar den Schreibnamen Schuster, weil, wie mein Vater sagt, bei dem alle Vorfahren Schuster waren und man ihnen dann irgendwann den Namen Schuster gegeben hat. Beim Schneider ist es genauso, und der Holzer schreibt sich Holzer, weil er Schreiner war und man zum Schreiner früher Holzer sagte. Und wir heißen dann, denke ich mir, Seiler, weil unsere Vorfahren Seile gemacht haben. Das sei wohl so gewesen, sagt meine Mutter, aber mein Vater, der, wie ich glaube, alles besser weiß als meine Mutter, sagt, dass unsere Vorfahren Henker gewesen sind, die man aber Seiler genannt hat, weil sie mit den Seilen die Menschen aufgehängt haben, vor allem, sagt er, die Frauen. Warum denn die Frauen?, will ich wissen. Weil die Hexen waren und ihren Männern untreu, sagt er. Meine Mutter widerspricht meinem Vater, wie gesagt, selten. Da aber ist sie wütend und sagt zu meinem Vater, er soll doch dem Jungen keinen solchen Unsinn erzählen, schlimm genug, dass er solche Ansichten habe, und wenn er recht hätte, dann müssten wir ja wohl Henker heißen, weil kein Mensch jemals einen Henker Seiler genannt habe, und im übrigen habe man die Hexen nicht aufgehängt, sondern verbrannt, zu Unrecht meistens, zu Unrecht!
Henker, antwortet mein Vater, hat man die Henker nicht genannt, denn wer hätte schon Henker mit Namen heißen wollen? Und den Namen Seiler hat er doch in die Familie gebracht, sagt er, und es handelt sich also um seine Vorfahren, und da müsse er wohl wissen, was die gewesen sind. Und was die Hexen betrifft, so hat man die da, wo die Seilers herkommen, im Osten, sehr wohl aufgehängt, und das ist sogar heute noch üblich, weil dort jetzt der Russe das Sagen hat, und deswegen sollen wir froh sein, dass wir jetzt hier leben und nicht beim Russen.
Ja, ich bin froh, dass wir nicht beim Russen leben, sondern in Bayern, in Hausen, in der Nähe von München. Bei uns sind die amerikanischen Soldaten. Die bringen Schokolade und Kaugummi. Ich hab Angst vor denen, besonders vor den Negern, weil sie so furchtbar schwarz sind. Ich weiß ja, dass sie einem nichts tun, gerade die Neger nicht. Die lachen fast immer. Die anderen Ami - wir sagen die Ami, mein Vater sagt die Amis, wenn er nicht überhaupt sagt die Amerikaner - die Ami lachen auch viel, aber da sieht man es nicht so wie bei den Negern. Die Bauern mögen die Ami nicht, weil die, wenn sie Manöver haben, mit den Panzern mitten durch die Felder fahren, egal, was da gerade wächst oder gerade reif ist für die Ernte. Die dürfen das, sagt mein Vater, weil sie den Krieg gewonnen haben, denn hätten wir den Krieg gewonnen, würden wir heute in Russland mit Panzern durch die Felder fahren. Oder sogar in Amerika.
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Den Bauern, die ahnten, dass meinem Vater die Hitlerei, wie sie jene Jahre nannten, ganz gut gefallen hat, war das kein Trost. Sie hatten den Hitler und die ganze Nazibagage nicht gewollt, so wie sie auch den Krieg verfluchten. In Hausen hatte keiner gefragt, wollt ihr den totalen Krieg?, und darum hatte auch keiner ja geschrien. Doch, einer, der Lechner, der sich Ortsgruppenführer nannte und in Uniform herumrannte. Man mied ihn, misstraute ihm, legte sich aber nicht mit ihm an. Er war ein Häusler, wohnte im Gemeindearmenhaus, hatte keinen Hof, kein Hab und Gut und keine Familie. War er vorher einer, der nicht einmal am Bauerstammtisch geduldet wurde, geschweige denn irgendetwas zu sagen gehabt hatte, so war er plötzlich wichtig. Es gab jetzt welche, die Angst vor ihm haben mussten. Jetzt war er wer, jetzt ging er aufrechter als sonst, und man renovierte ihm das Hüterhaus, ließ ihn am Bauerntisch sitzen, hörte sich an, was er über die neuen Zeiten und die neuen Sitten und die wichtigen Köpfe und den einen einzigen wichtigsten Kopf aller Köpfe im Lande zu sagen hatte, und man widersprach ihm vorsichtshalber nicht. Der Lechner, sagte man sich, braucht das Hakenkreuz, das er an seine Hauswand gemalt hat. Mit ihm sollte es allerdings gleich nach dem Krieg böse enden. Der Lechner, so sagte man jetzt, erledigte sich selber.
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Autoren-Porträt von Bernd Schroeder
Bernd Schroeder, 1944 geboren, ist Autor und Regisseur zahlreicher Hör- und Fernsehspiele und wurde mit dem Adolf-Grimme-Preis und dem Bundesfilmpreis ausgezeichnet. Er veröffentlichte die Romane »Versunkenes Land«, »Unter Brüdern«, »Die Madonnina«, »Mutter & Sohn«, »Hau«, »Auf Amerika«, »Wir sind doch alle da« sowie zuletzt »Warten auf Goebbels«. Elke Heidenreich und Bernd Schroeder schrieben gemeinsam die Geschichten »Rudernde Hunde« und den Roman »Alte Liebe«. Bernd Schroeder lebte in Ahrenshoop und starb im Juni 2023.
Bibliographische Angaben
- Autor: Bernd Schroeder
- 2014, 1. Auflage, 176 Seiten, Maße: 12,6 x 19,1 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596195896
- ISBN-13: 9783596195893
- Erscheinungsdatum: 16.04.2014
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