Aus der schönen neuen Welt
Expeditionen ins Landesinnere
Günter Wallraffs Reportagen aus einem reichen, armen Land: Wie er als Niedriglöhner für LIDL Brötchen buk, was er als Mitarbeiter in einem Callcenter erlebte, wie er als Obdachloser den Winter 08/09 verbrachte u.v.m.
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Produktinformationen zu „Aus der schönen neuen Welt “
Günter Wallraffs Reportagen aus einem reichen, armen Land: Wie er als Niedriglöhner für LIDL Brötchen buk, was er als Mitarbeiter in einem Callcenter erlebte, wie er als Obdachloser den Winter 08/09 verbrachte u.v.m.
Ein wichtiges Dokument deutscher Realität, vor der viele die Augen verschließen.
Klappentext zu „Aus der schönen neuen Welt “
Günter Wallraff ist wieder da Reportagen aus einem reichen, armen Land Ganz unten, Günter Wallraffs Reportage über den menschenverachtenden Handel mit Leiharbeitern, war mit über fünf Millionen verkauften Exemplaren einer der größten Erfolge in der deutschen Buchhandelsgeschichte. Jetzt ist Wallraff wieder undercover unterwegs Niemand hat mehr Missstände aufgedeckt als er. Millionen haben seine Bücher gelesen, junge Journalisten nehmen sich an ihm ein Vorbild, wenn sie in Rollen schlüpfen, um die dunklen Seiten der gesellschaftlichen Realität aufzudecken eine Vorgehensweise, die im Schwedischen "wallraffa" genannt wird. Doch Günter Wallraff hat sich nicht zur Ruhe gesetzt. Seit einiger Zeit ist er wieder undercover unterwegs. Als "Michael G." recherchierte er den Alltag in deutschen Callcentern das Echo auf die in der Zeit veröffentlichte Reportage war gewaltig: Wallraff war Gast in Fernseh- und Hörfunksendungen; zahlreiche Callcenter-Mitarbeiter meldeten sich, die ihm von eigenenErlebnissen berichteten. Der zweite Coup: Als Niedriglöhner arbeitete Wallraff in einer Fabrik, die für Lidl Brötchen backt, bis zur Erschöpfung, erlitt mehrfach wie auch seine Kollegen Brandverletzungen. Dem Lidl-Aufsichtsratschef Klaus Gehrig schlug Wallraff in der Sendung "Kerner" vor, gemeinsam mit ihm zwei Tage lang unter diesen "Straflager-Bedingungen" zu arbeiten was dieser ablehnte. Und im Winter 2008/2009 hat Günter Wallraff am eigenen Leibe erfahren, wie Obdachlose in Deutschland leben. Er quartierte sich in Obdachlosenheimen ein und verbrachte die kältesten Tage des Winters auf der Straße, bei Temperaturen bis zu minus 20 Grad.Neben einer vierten Rolle, die bis zum Erscheinen geheim bleiben muss, und weiteren Fällen dokumentiert Wallraff in diesem Buch erstmals umfassend die Ergebnisse seiner neuen Recherchen, die auch nach den Presseveröffentlichungen weitergehen. Sein Fazit: In einem reichen Land leben heute immer mehr Menschen "ganz unten", und das droht die Gesellschaft zu
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zerreißen. Gesamtauflage von Ganz unten: über 5 Mio. Exemplare
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Lese-Probe zu „Aus der schönen neuen Welt “
Aus der schönen neuen Welt von Günter WallraffSchwarz auf weiß
Fremd unter Deutschen
Fürstlich sind die Gärten, an denen wir entlang fahren sollen. Der muskelbepackte Gondelkapitän empfängt uns in breitester sächsischer Mundart: »Ich begrüße Sie ganz herzlich hier bei uns an Bord bei Ihrer Gondelfahrt. Wir umrunden den Hauptteil des Fürstenparks Wörlitz, und zwar den Schlossgarten.«
Ich habe mich als Mitfahrer rechtzeitig eingefunden und als einer der Ersten auf dem kleinen flachen Ruderkahn Platz genommen, der ringsum mit Bänken versehen ist. Ich sitze hinten, neben mir bleibt alles frei, obwohl es nach und nach eng wird auf dem Boot. Einer der Gäste, ein auf den ersten Blick nicht unsympathisch wirkender Zeitgenosse – Typ Gymnasiallehrer Physik und Mathematik –, schiebt sich vorsichtig auf der Längsbank zu mir hin, schaut mich an und gibt eine Bestellung auf: »Ich hätt’ gern zwei Bier.« Als ich nicht reagiere, wiederholt er: »Zwei Bier, bitte.«
Wie ist er auf die Idee gekommen? Ich habe keine Kellnerkluft an, keine Bierflaschen in der Hand, keine Gläser, kein Geschirrtuch, ich stehe nicht einmal, sondern sitze hier wie er. »Kein Service, nix Service?« Er lässt nicht locker. »Nee, nee«, antworte ich, »nix Service« und habe erst einmal Ruhe. Dass ich ihm lächelnd Paroli geboten habe, macht mich in seinen Augen jedoch nicht sympathischer. Jedenfalls hält der schlanke, graue Herr Abstand, obwohl es auf dem Boot immer enger wird. Der Bootsführer fordert seine Gäste auf, doch bitte aufzurücken. Aber der Mann hält dagegen: »Ob wir das wollen, das ist hier die Frage. Ich will mal hier genießen meine Bootsfahrt.« Doch der Kapitän der Barke lässt keine Ausrede gelten und wiederholt seine
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Aufforderung. So setzt sich der Vorsichtige schließlich neben mich – »rutsch mal ein Stück hin« –, unter den mitleidig-belustigten Blicken der anderen Reisenden.
Es muss wohl an meinem Aussehen liegen. Ich bin schwarz. Auf dem Kopf trage ich eine Perücke mit krausen schwarzen Haaren. Aber, das hat mich schon bei meinen Recherchen als Türke »Ali« verblüfft , die meisten schauen nicht so genau hin und nehmen einem eine Verkleidung bereitwillig ab, auch wenn man ein eigenartiges »gebrochenes Deutsch« spricht wie ich in meiner Rolle als »Ali« oder sich eben als »Schwarzer« ausgibt.
Ein Jahr lang reise ich immer wieder als »Schwarzer« durch die deutschen Lande, in Ost und West. Ich will auf Straßenfesten mit feiern, suche eine Wohnung, unternehme einen Bootsausflug, versuche einen Campingstellplatz mit meiner »schwarzen Familie« zu mieten, will in Diskos, in Kneipen, mische mich unter Fußballfans und spreche bei Behörden vor. Wie lebt es sich als Schwarzer in Deutschland? Das will ich herausfinden.
Ist die Vorstellung vom unverbesserlich fremdenfeindlichen deutschen Wesen nur noch ein Klischee? Wird mein schwarzes Alter Ego das tolerante Deutschland kennenlernen, wie es zu letzt anlässlich der Fußballweltmeisterschaft 2006 so gepriesen wurde? Oder werde ich umgekehrt entdecken müssen, dass das von der Boulevardpresse so gern gepflegte Schreckbild vom Schwarzen als Dealer, Asylbetrüger und Kriminellen die Stimmung im Lande prägt? Ich will den Lackmustest auf die Stimmung im Lande machen und bin neu gierig und besorgt zu gleich.
Diese Rolle zu spielen entsprang keiner Augenblickslaune. Schon vor Jahren hatte ich einen ersten Anlauf gemacht, das Vorhaben aber wie der abgebrochen, weil ich glaubte, es nicht bewältigen zu können. Nicht, weil diese Rolle anmaßend wäre gegenüber schwarzen Migranten oder schwarzen Deutschen. Jede meiner Rollen ist auf eine bestimmte Art anmaßend. Ohne diesen Schritt auf »fremdes« Terrain, das eigene Ich zu überwinden, um ein anderer zu werden, ist meine Art der verdeckten Recherche nicht möglich. Nein, der Grund für mein Zögern lag in der Befürchtung begründet, dass man mich zu rasch »enttarnen« könnte.
Es gibt nämlich durchaus ein technisches Problem, wenn man sich als Weißer in einen Schwarzen verwandeln will. Theaterschminke reicht da nicht, es müssen intensivere Mittel sein. Einer, der sich da auskannte, war John Howard Griffin. Er reiste 1959 einen Monat lang als »gefärbter« Schwarzer durch die USA und schrieb in seinem Buch »Black Like Me«, auf Deutsch »Reise durch das Dunkel«, seine deprimierenden Erfahrungen nieder.
Griffin starb viel zu früh, weil die Medikamente, die er regelmäßig einnahm, um seine Haut über längere Zeit dunkeln zu lassen, seine Leber extrem belasteten und schwere Erkrankungen auslösten.
Auch die rassistischen Aussprüche von Politikern haben meinen Wunsch nach der schwarzen Rolle über die Jahre wach gehalten: wenn etwa Edmund Stoiber, der ehemalige bayerische Ministerpräsident, vor einer »Durchrassung und Vermischung« der deutschen Gesellschaft warnte oder Ronald Schill, der frühere Innensenator von Hamburg, als »Richter Gnadenlos« sagte:
»Von mir haben die Neger alle immer et was mehr bekommen«
(sollte heißen: ein höheres Strafmaß als weiße Delinquenten).
Oder die rassistische Weltanschauung eines Wolf Schneider, angesehener Journalistenausbilder und Talkmoderator: »Die Neger sind nun mal nicht so intelligent wie die Weißen, weil sie nur auf Körperkraft hingezüchtet worden sind. Wenn der Schöpfer doch so offensichtlich alle Menschen äußerlich verschieden gemacht hat, was die Hautfarbe, Beinlänge, den Augenschnitt usw. angeht, warum sollte er dann die Intelligenz auf einer Goldwaage abgemessen haben?« Derartige Äußerungen bestärkten meinen Wunsch, am eigenen Leib zu erfahren, wie sich von oben an geheizter Rassismus im Alltag bemerkbar macht.
Vor einiger Zeit machte ich dann die Bekanntschaft einer Maskenbildnerin aus Paris, die mit einem besonderen Sprühverfahren arbeitet, mit dem Weiße »umgefärbt« werden können, sodass es einigermaßen »lebensecht« wirkt. Endlich konnte ich meinen lang gehegten Plan in die Tat umsetzen. Parallel zu dieser Recherche entstand ein Dokumentarfilm. Das Team begleitete mich auf den meisten Stationen meiner Reise, wie ich ausgerüstet mit versteckten Miniaturkameras und Mikrofonen.
Zurück nach Wörlitz. Der Kahn gleitet über das Wasser und gondelt durch die zahlreichen Kanäle, manchmal nah am Ufer, sodass eine Dame die Gelegenheit nutzt, einen Farn abzupflücken und sich auf den Schoß zu legen. Als unser Ruderer wieder einmal dem Ufer ganz nahe kommt, strecke auch ich vorsichtig die Hand aus. Brennnesseln stehen da, und ich öffne unter den aufmerksamen Blicken der neben mir sitzenden Gäste meine Hand, um zuzugreifen. Gebannt schauen sie zu, sie mögen wohl nicht glauben, dass ich wirklich so ahnungslos bin und Brennnesseln pflücken will.
Der Kahn zieht träge seine Bahn, ich greife ganz langsam zu und ziehe mir eine Pflanze heraus. Staunen ringsherum, die Schadenfreudigen, deren Blicke ich in aller Ruhe habe studieren können, sind ein wenig enttäuscht: Sie sehen keinen Schrecken bei mir, hören keinen Aufschrei. Ich schüttele nur demonstrativ meine Hand, als wundere ich mich, dass diese Pflanze so brennt.
Eine der Damen nimmt dies zum Anlass, sich als Wächterin der deutschen Fauna aufzuspielen, und weist mich zurecht: »Das machen wir hier nicht! Wir reißen hier nichts ab, sonst sieht das so schlimm aus, wenn das jeder macht.« Und dann klärt sie mich auf: »Das ist ne Brennnessel, da kriegst du gleichzeitig noch ne Rheumabehandlung.«
Die Bootsfahrt geht weiter. Unser Kapitän, der Ruderer, legt sich schwitzend ins Zeug und klärt uns gleichzeitig über die verworrenen Familienverhältnisse des Fürstengeschlechts auf: »Fürst Franz wurde damals gezwungen, seine Frau auf Geheiß des preußischen Königs zu heiraten, obwohl er eine andere liebte. Der wollte Engländer werden … Da hat der König bestimmt, du bleibst in deinem Land und regierst weiter und heiratest meine Cousine. Da dachte er, nehm ich das kleinere Übel und heirate halt die Cousine.«
»Das ist doch verboten«, kann ich mir nicht verkneifen, zur Belustigung der Fahrgäste beizutragen. »Das ist eine – wie sagt man – arrangierte oder Zwangsehe, na, so was!«
»Damals nicht«, belehrt mich mein Nachbar knapp.
Als die Rundfahrt schließlich beendet ist und ich mich erhebe, sieht er sich veranlasst, mich wie ein Kind zu behandeln: »Gemach, gemach! Wir sind die Letzten.« Dann will er wissen: »Woher sprichst du so gut Deutsch?«
Wir sind uns zwar auf der Sitzbank, was die räumliche Distanz betrifft , schließlich doch näher gekommen, doch das »Du« ist unpassend. Die anderen Passagiere, soweit sie sich nicht näher kennen, siezen sich, und normalerweise sind die Ossis mit dem »Du« viel zurückhaltender als die Wessis. Immer hin stellt er mir eine persönliche Frage, und das habe ich als Schwarzer selten erlebt.
Ich antworte, dass ich drei Jahre am Goethe-Institut in Daressalam Deutsch gelernt hätte.
Ob ich Arbeit hätte? Nein, antwortete ich. Und da endet das Gespräch so herablassend, wie es begonnen hat. Er schlägt mir vor, ich solle es doch als Kuli versuchen, am besten gleich hier. »Rudern, rudern!«, sagt er und zeigt auf das Boot, das wir gerade verlassen haben.
Dass die Abneigung gegen Schwarze keine Altersfrage ist, erlebe ich später in einer Fußgängerzone in Cottbus. Ich komme an einem Juweliergeschäft vorbei und will mich dort nach einer Armbanduhr mit Stoppfunktion um schauen. Eine spontane Idee – ich denke an mein Lauftraining –, die nichts mit meiner Rolle zu tun hat. Die junge Verkäuferin behauptet, als ich eintrete, so et was führe sie nicht. Doch ich habe im Schaufenster eine solche Uhr gesehen und weise sie darauf hin. Die Frau lässt sich dann doch auf ein Verkaufsgespräch ein und zieht schließlich eine teure goldene Uhr hervor. Ich würde sie, allein schon um das Gewicht einschätzen zu können, gerne in die Hand nehmen.
Mit verkniffenem Lächeln hält sie die Armbanduhr je doch krampfhaft fest.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Frau schon einmal Erfahrungen – gar schlechte – mit schwarzen Kunden gemacht hat. Aber Fremdenfurcht, genau wie Antisemitismus, hat ja auch nichts mit realen Erfahrungen zu tun, sie tritt sogar umso häufiger auf, je seltener Menschen Fremden begegnen.
Ein Kollege aus unserem Team, der den Laden betritt, als ich ihn gerade frustriert verlasse, bittet die junge Frau eben falls darum, ihm die Uhr über den Tresen zu reichen, und fragt mit fühlend, ob sie gerade Angst gehabt hätte um das gute Stück.
Ihre Antwort: »Ja, Sie sehen noch den Angstschweiß. Das weiß man immer nicht im Vorfeld.«
Er, mein weißer Kollege, darf die Uhr in die Hand nehmen.
Kein Problem.
In den nobleren Regionen der Republik brauche ich solche Demütigungen übrigens nicht einzustecken. Weder in einem Luxusrestaurant auf Düsseldorfs Prachtstraße, der Königsallee, noch in einem der edelsten Schmuckgeschäfte eben dort und auch nicht bei der Probefahrt eines protzigen Bentley, die man mir problemlos gewährt, weil ich in der für diesen Zweck gewählten Verkleidung nach viel Geld aussehe. Acht Monate Wartezeit muss in Kauf nehmen, wer die 250 000 Euro für einen solchen Wagen aufbringen kann. Kein Wunder, dass so viel Geld tolerant macht. Freuen kann ich mich dar über in Zeiten grassierender Armut nicht. Aber solche Ausflüge zu »denen da oben« sind die Ausnahme. Meist verzichte ich in meiner Rolle auf eine persönliche Geschichte, bin – wenn ich, selten genug, danach gefragt werde – ein Flüchtling aus Somalia, der nicht zurück in seine Heimat kann und kein flüssiges Deutsch spricht. Vielleicht erginge es mir als perfekt Deutsch sprechendem schwarzem Arzt, als schwarzem Musiker besser. Aber so habe ich keine Arbeit (wie all jene Flüchtlinge, die in Deutschland einem Arbeitsverbot unterliegen) und kann weder mit besonderen Fähigkeiten noch Erfahrungen punkten, ich bin nicht Kollege unter Kollegen wie in meinen Rollen als türkischer Hilfsarbeiter, BILD-Redakteur, Bäcker oder Callagent. Selbst als Obdachloser war ich Gleicher unter Gleichen – aber als Schwarzer unter Weißen?
Ich bin einfach nur der Fremde, der schwarze Fremde, und biete mich dieser auf Leistung getrimmten Gesellschaft als Wehrloser an, ohne vorzeigbaren Wert. So können diejenigen, denen ich begegne, ihre rassistischen Reflexe – wenn sie denn wollen – unbelastet von Respekt für einen bestimmten Beruf, ein bestimmtes Einkommen, eine freche Schnauze oder einen starken Bizeps auf mich loslassen.
© 2009 by Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co. KG, Köln
Es muss wohl an meinem Aussehen liegen. Ich bin schwarz. Auf dem Kopf trage ich eine Perücke mit krausen schwarzen Haaren. Aber, das hat mich schon bei meinen Recherchen als Türke »Ali« verblüfft , die meisten schauen nicht so genau hin und nehmen einem eine Verkleidung bereitwillig ab, auch wenn man ein eigenartiges »gebrochenes Deutsch« spricht wie ich in meiner Rolle als »Ali« oder sich eben als »Schwarzer« ausgibt.
Ein Jahr lang reise ich immer wieder als »Schwarzer« durch die deutschen Lande, in Ost und West. Ich will auf Straßenfesten mit feiern, suche eine Wohnung, unternehme einen Bootsausflug, versuche einen Campingstellplatz mit meiner »schwarzen Familie« zu mieten, will in Diskos, in Kneipen, mische mich unter Fußballfans und spreche bei Behörden vor. Wie lebt es sich als Schwarzer in Deutschland? Das will ich herausfinden.
Ist die Vorstellung vom unverbesserlich fremdenfeindlichen deutschen Wesen nur noch ein Klischee? Wird mein schwarzes Alter Ego das tolerante Deutschland kennenlernen, wie es zu letzt anlässlich der Fußballweltmeisterschaft 2006 so gepriesen wurde? Oder werde ich umgekehrt entdecken müssen, dass das von der Boulevardpresse so gern gepflegte Schreckbild vom Schwarzen als Dealer, Asylbetrüger und Kriminellen die Stimmung im Lande prägt? Ich will den Lackmustest auf die Stimmung im Lande machen und bin neu gierig und besorgt zu gleich.
Diese Rolle zu spielen entsprang keiner Augenblickslaune. Schon vor Jahren hatte ich einen ersten Anlauf gemacht, das Vorhaben aber wie der abgebrochen, weil ich glaubte, es nicht bewältigen zu können. Nicht, weil diese Rolle anmaßend wäre gegenüber schwarzen Migranten oder schwarzen Deutschen. Jede meiner Rollen ist auf eine bestimmte Art anmaßend. Ohne diesen Schritt auf »fremdes« Terrain, das eigene Ich zu überwinden, um ein anderer zu werden, ist meine Art der verdeckten Recherche nicht möglich. Nein, der Grund für mein Zögern lag in der Befürchtung begründet, dass man mich zu rasch »enttarnen« könnte.
Es gibt nämlich durchaus ein technisches Problem, wenn man sich als Weißer in einen Schwarzen verwandeln will. Theaterschminke reicht da nicht, es müssen intensivere Mittel sein. Einer, der sich da auskannte, war John Howard Griffin. Er reiste 1959 einen Monat lang als »gefärbter« Schwarzer durch die USA und schrieb in seinem Buch »Black Like Me«, auf Deutsch »Reise durch das Dunkel«, seine deprimierenden Erfahrungen nieder.
Griffin starb viel zu früh, weil die Medikamente, die er regelmäßig einnahm, um seine Haut über längere Zeit dunkeln zu lassen, seine Leber extrem belasteten und schwere Erkrankungen auslösten.
Auch die rassistischen Aussprüche von Politikern haben meinen Wunsch nach der schwarzen Rolle über die Jahre wach gehalten: wenn etwa Edmund Stoiber, der ehemalige bayerische Ministerpräsident, vor einer »Durchrassung und Vermischung« der deutschen Gesellschaft warnte oder Ronald Schill, der frühere Innensenator von Hamburg, als »Richter Gnadenlos« sagte:
»Von mir haben die Neger alle immer et was mehr bekommen«
(sollte heißen: ein höheres Strafmaß als weiße Delinquenten).
Oder die rassistische Weltanschauung eines Wolf Schneider, angesehener Journalistenausbilder und Talkmoderator: »Die Neger sind nun mal nicht so intelligent wie die Weißen, weil sie nur auf Körperkraft hingezüchtet worden sind. Wenn der Schöpfer doch so offensichtlich alle Menschen äußerlich verschieden gemacht hat, was die Hautfarbe, Beinlänge, den Augenschnitt usw. angeht, warum sollte er dann die Intelligenz auf einer Goldwaage abgemessen haben?« Derartige Äußerungen bestärkten meinen Wunsch, am eigenen Leib zu erfahren, wie sich von oben an geheizter Rassismus im Alltag bemerkbar macht.
Vor einiger Zeit machte ich dann die Bekanntschaft einer Maskenbildnerin aus Paris, die mit einem besonderen Sprühverfahren arbeitet, mit dem Weiße »umgefärbt« werden können, sodass es einigermaßen »lebensecht« wirkt. Endlich konnte ich meinen lang gehegten Plan in die Tat umsetzen. Parallel zu dieser Recherche entstand ein Dokumentarfilm. Das Team begleitete mich auf den meisten Stationen meiner Reise, wie ich ausgerüstet mit versteckten Miniaturkameras und Mikrofonen.
Zurück nach Wörlitz. Der Kahn gleitet über das Wasser und gondelt durch die zahlreichen Kanäle, manchmal nah am Ufer, sodass eine Dame die Gelegenheit nutzt, einen Farn abzupflücken und sich auf den Schoß zu legen. Als unser Ruderer wieder einmal dem Ufer ganz nahe kommt, strecke auch ich vorsichtig die Hand aus. Brennnesseln stehen da, und ich öffne unter den aufmerksamen Blicken der neben mir sitzenden Gäste meine Hand, um zuzugreifen. Gebannt schauen sie zu, sie mögen wohl nicht glauben, dass ich wirklich so ahnungslos bin und Brennnesseln pflücken will.
Der Kahn zieht träge seine Bahn, ich greife ganz langsam zu und ziehe mir eine Pflanze heraus. Staunen ringsherum, die Schadenfreudigen, deren Blicke ich in aller Ruhe habe studieren können, sind ein wenig enttäuscht: Sie sehen keinen Schrecken bei mir, hören keinen Aufschrei. Ich schüttele nur demonstrativ meine Hand, als wundere ich mich, dass diese Pflanze so brennt.
Eine der Damen nimmt dies zum Anlass, sich als Wächterin der deutschen Fauna aufzuspielen, und weist mich zurecht: »Das machen wir hier nicht! Wir reißen hier nichts ab, sonst sieht das so schlimm aus, wenn das jeder macht.« Und dann klärt sie mich auf: »Das ist ne Brennnessel, da kriegst du gleichzeitig noch ne Rheumabehandlung.«
Die Bootsfahrt geht weiter. Unser Kapitän, der Ruderer, legt sich schwitzend ins Zeug und klärt uns gleichzeitig über die verworrenen Familienverhältnisse des Fürstengeschlechts auf: »Fürst Franz wurde damals gezwungen, seine Frau auf Geheiß des preußischen Königs zu heiraten, obwohl er eine andere liebte. Der wollte Engländer werden … Da hat der König bestimmt, du bleibst in deinem Land und regierst weiter und heiratest meine Cousine. Da dachte er, nehm ich das kleinere Übel und heirate halt die Cousine.«
»Das ist doch verboten«, kann ich mir nicht verkneifen, zur Belustigung der Fahrgäste beizutragen. »Das ist eine – wie sagt man – arrangierte oder Zwangsehe, na, so was!«
»Damals nicht«, belehrt mich mein Nachbar knapp.
Als die Rundfahrt schließlich beendet ist und ich mich erhebe, sieht er sich veranlasst, mich wie ein Kind zu behandeln: »Gemach, gemach! Wir sind die Letzten.« Dann will er wissen: »Woher sprichst du so gut Deutsch?«
Wir sind uns zwar auf der Sitzbank, was die räumliche Distanz betrifft , schließlich doch näher gekommen, doch das »Du« ist unpassend. Die anderen Passagiere, soweit sie sich nicht näher kennen, siezen sich, und normalerweise sind die Ossis mit dem »Du« viel zurückhaltender als die Wessis. Immer hin stellt er mir eine persönliche Frage, und das habe ich als Schwarzer selten erlebt.
Ich antworte, dass ich drei Jahre am Goethe-Institut in Daressalam Deutsch gelernt hätte.
Ob ich Arbeit hätte? Nein, antwortete ich. Und da endet das Gespräch so herablassend, wie es begonnen hat. Er schlägt mir vor, ich solle es doch als Kuli versuchen, am besten gleich hier. »Rudern, rudern!«, sagt er und zeigt auf das Boot, das wir gerade verlassen haben.
Dass die Abneigung gegen Schwarze keine Altersfrage ist, erlebe ich später in einer Fußgängerzone in Cottbus. Ich komme an einem Juweliergeschäft vorbei und will mich dort nach einer Armbanduhr mit Stoppfunktion um schauen. Eine spontane Idee – ich denke an mein Lauftraining –, die nichts mit meiner Rolle zu tun hat. Die junge Verkäuferin behauptet, als ich eintrete, so et was führe sie nicht. Doch ich habe im Schaufenster eine solche Uhr gesehen und weise sie darauf hin. Die Frau lässt sich dann doch auf ein Verkaufsgespräch ein und zieht schließlich eine teure goldene Uhr hervor. Ich würde sie, allein schon um das Gewicht einschätzen zu können, gerne in die Hand nehmen.
Mit verkniffenem Lächeln hält sie die Armbanduhr je doch krampfhaft fest.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Frau schon einmal Erfahrungen – gar schlechte – mit schwarzen Kunden gemacht hat. Aber Fremdenfurcht, genau wie Antisemitismus, hat ja auch nichts mit realen Erfahrungen zu tun, sie tritt sogar umso häufiger auf, je seltener Menschen Fremden begegnen.
Ein Kollege aus unserem Team, der den Laden betritt, als ich ihn gerade frustriert verlasse, bittet die junge Frau eben falls darum, ihm die Uhr über den Tresen zu reichen, und fragt mit fühlend, ob sie gerade Angst gehabt hätte um das gute Stück.
Ihre Antwort: »Ja, Sie sehen noch den Angstschweiß. Das weiß man immer nicht im Vorfeld.«
Er, mein weißer Kollege, darf die Uhr in die Hand nehmen.
Kein Problem.
In den nobleren Regionen der Republik brauche ich solche Demütigungen übrigens nicht einzustecken. Weder in einem Luxusrestaurant auf Düsseldorfs Prachtstraße, der Königsallee, noch in einem der edelsten Schmuckgeschäfte eben dort und auch nicht bei der Probefahrt eines protzigen Bentley, die man mir problemlos gewährt, weil ich in der für diesen Zweck gewählten Verkleidung nach viel Geld aussehe. Acht Monate Wartezeit muss in Kauf nehmen, wer die 250 000 Euro für einen solchen Wagen aufbringen kann. Kein Wunder, dass so viel Geld tolerant macht. Freuen kann ich mich dar über in Zeiten grassierender Armut nicht. Aber solche Ausflüge zu »denen da oben« sind die Ausnahme. Meist verzichte ich in meiner Rolle auf eine persönliche Geschichte, bin – wenn ich, selten genug, danach gefragt werde – ein Flüchtling aus Somalia, der nicht zurück in seine Heimat kann und kein flüssiges Deutsch spricht. Vielleicht erginge es mir als perfekt Deutsch sprechendem schwarzem Arzt, als schwarzem Musiker besser. Aber so habe ich keine Arbeit (wie all jene Flüchtlinge, die in Deutschland einem Arbeitsverbot unterliegen) und kann weder mit besonderen Fähigkeiten noch Erfahrungen punkten, ich bin nicht Kollege unter Kollegen wie in meinen Rollen als türkischer Hilfsarbeiter, BILD-Redakteur, Bäcker oder Callagent. Selbst als Obdachloser war ich Gleicher unter Gleichen – aber als Schwarzer unter Weißen?
Ich bin einfach nur der Fremde, der schwarze Fremde, und biete mich dieser auf Leistung getrimmten Gesellschaft als Wehrloser an, ohne vorzeigbaren Wert. So können diejenigen, denen ich begegne, ihre rassistischen Reflexe – wenn sie denn wollen – unbelastet von Respekt für einen bestimmten Beruf, ein bestimmtes Einkommen, eine freche Schnauze oder einen starken Bizeps auf mich loslassen.
© 2009 by Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co. KG, Köln
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Autoren-Porträt von Günter Wallraff
Günter Wallraff, geb. 1942 in Burscheid bei Köln, war zuerst Buchhändler, dann Journalist und Schriftsteller. Heute engagiert er sich vor allem in Ostdeutschland gegen Rechtsradikalismus und Rassismus. Zahlreiche weitere Veröffentlichungen. 2010 wird ihm der Gerty-Spies-Literaturpreis der rheinland-pfälzischen Landeszentrale für politische Bildung verliehen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Günter Wallraff
- 2009, 325 Seiten, Maße: 13,5 x 21,5 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: KIEPENHEUER & WITSCH
- ISBN-10: 3462040499
- ISBN-13: 9783462040494
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