Beraubt
Roman. Auf der Shortlist zu Gold Dagger Award 2012
Ein packender Roman über menschliche Abgründe und das Streben nach Wahrheit
Ein entsetzliches Verbrechen. Australien, 1919: Quinn Walker kehrt aus dem Großen Krieg in seine Geburtsstadt Flint zurück, aus der er zehn Jahre zuvor fliehen musste, einer...
Ein entsetzliches Verbrechen. Australien, 1919: Quinn Walker kehrt aus dem Großen Krieg in seine Geburtsstadt Flint zurück, aus der er zehn Jahre zuvor fliehen musste, einer...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Beraubt “
Klappentext zu „Beraubt “
Ein packender Roman über menschliche Abgründe und das Streben nach WahrheitEin entsetzliches Verbrechen. Australien, 1919: Quinn Walker kehrt aus dem Großen Krieg in seine Geburtsstadt Flint zurück, aus der er zehn Jahre zuvor fliehen musste, einer abscheulichen Tat angeklagt. Eine unverzeihliche Lüge. In dem Wissen, dass die Bewohner des Städtchens sich seinen Tod wünschen, versteckt er sich in den Bergen, ohne einen Plan und unsicher, was er tun soll. Dort trifft er das Waisenmädchen Sadie Fox. Ein Versprechen, das nicht gebrochen werden darf. Das seltsame Mädchen scheint seine dunkelsten Ängste genau zu kennen und sogar zu teilen. Eine ungewöhnliche Freundschaft entspinnt sich, und Quinn dämmert, was er tun muss, um die Geister der Vergangenheit zur Ruhe zu bringen. Ein beklemmender Roman über Liebe und Verlangen, Rache und Gerechtigkeit. Die literarische Entdeckung Australiens!
Lese-Probe zu „Beraubt “
Beraubt von Chris WomersleyAus dem Englischen von Thomas Gunkel
Prolog
An dem Tag im Jahre 1909, als die zwölfjährige Sarah Walker ermordet wurde, tobte über den westlichen Ebenen von New South Wales ein Gewitter, das sich über dem winzigen Städtchen Flint entlud. Der Mord an Sarah bildete das warme, reglose Herz der tagelangen fiebrigen Aktivitäten, in deren Verlauf jeder Einzelne der etwa zweihundert Einwohner Chaos und Verlust erlebte. Bäume duckten sich im Wind und knickten um, Pferde gingen durch. Auf der Flucht vor dem steigenden Wasser des Flusses drangen Schlangen ins Haus der Familie Porteous ein und zwangen Mrs. Porteous und ihre beiden kleinen Töchter, mehrere Stunden mit über die Knie hochgezogenen Kleidern auf dem Küchentisch zu stehen, bis der Hausherr von der Arbeit zurückkam und alle drei rettete. Jack Sully, der Schmied, brach sich den Arm bei dem Versuch, sein Dach zu sichern, doch begründeten Gerüchten zufolge war er dabei betrunken. Tagelang trieben aufgedunsene Kuh kadaver in den Fluten. Und die alte Mrs. Mabel Crink verlor das Augenlicht, was zum Teil den Namen erklärt, unter dem dieser Wirbelsturm bekannt wurde: der Blender.
... mehr
Sarahs Vater, Nathaniel Walker, sagte, er habe die ganze Gegend nach Sarah und ihrem älteren Bruder Quinn durchkämmt, die beide fast den ganzen Nachmittag von niemandem gesehen worden waren. Er habe in ihren üblichen Verstecken nachgeschaut: hinter dem Hühnerstall, unterm Haus, in dem ausgehöhlten Eukalyptusbaum am östlichen Rand ihres Grundstücks. Nichts. Schließlich fand er sie auf Wilson's Point in dem verlassenen Schuppen am See, drei Kilometer von zu Hause entfernt. Doch inzwischen war es natürlich zu spät. Das Ganze verschlug Nathaniel die Sprache. Der Junge appellierte an seinen Vater, doch seine Worte wurden vom Donnergrollen übertönt. Im selben Augenblick tauchte Nathaniels Schwager Robert Dalton schnaufend neben Nathaniel auf und fragte: »Großer Gott, was ist hier passiert?«, obwohl - angesichts des Blutes an Sarahs Schenkeln, ihrer zerzausten Kleidung, des Messers in Quinns Faust und der blau gefärbten Lippen seiner Schwester - sogar Blind Freddy erkannt hätte, was sich zugetragen hatte. Der kleine Quinn warf das Messer weg, kletterte durch ein Loch in der Schuppenwand und verschwand in der stürmischen Dunkelheit. All das vollzog sich so schnell, dass Nathaniel und Robert zu fassungslos waren, um die Verfolgung aufzunehmen. Und so konnte sich der Junge ungehindert davonmachen.
Mary, Sarahs und Quinns Mutter, saß zu Hause am Bett ihres ältesten Sohnes William, der Fieber hatte, und las ihm etwas vor. Das Regenwasser sprudelte über die Dachrinne, und es donnerte heftig. Ihr Haus war solide gebaut und stabil, doch sie hatte Angst um ihre Familie, und auch viele Jahre später konnte sie sich noch erinnern, wie sie mitten auf der Seite innegehalten und in einem Anflug von Furcht aufgeblickt hatte. Dieses Gefühl kannte sie von damals, 1890, als sie ein Kind verloren hatte, das, noch nicht voll entwickelt, drei Monate zu früh zwischen ihren Beinen hervorgeglitten war. Komm rein, Huck, aber guck dir nicht sein Gesicht an - 's is' zu schaurig. Mary schloss behutsam das Buch, als wollte sie den dösenden William nicht stören.
Sie war eine fromme Frau, die zum Aberglauben neigte, und den Rest des dunklen Nachmittags wurde sie das Gefühl nicht los, es sei etwas Verhängnisvolles passiert, sodass sie sich, als Nathaniel abends triefnass und weinend nach Hause kam, die entsetzliche Nachricht mit resigniertem Gleichmut anhörte. Von den genauen Einzelheiten wollte sie nichts wissen und sagte, es genüge, dass es passiert sei, es genüge, dass so was überhaupt passiert sei.
Natürlich war das ganze Städtchen in Aufruhr, und überall, wo sich Menschen versammelten, wurden Vermutungen angestellt über die näheren Umstände des schrecklichen Verbrechens - soweit sie bekannt waren oder man sie sich zusammengereimt hatte: in der Bar des Mail Hotel, im Geschepper der Küchen, auf Verandas, hinter Sullys Werkstatt, wo sich die Männer zum Rauchen drängten, an windigen, winterlichen Straßenecken. Ein Reporter der Sydney Sun mit dem seltsamen Namen Mr. Philby Rochester traf in Flint ein und begab sich sofort ins Mail, wo er Informationen sammelte, die dem staunenden Ergötzen seiner städtischen Leser dienen sollten. Schon seit vielen Jahren hatte der Ort nichts derart Dramatisches mehr erlebt, jedenfalls nicht, seit der Goldrausch ins Stocken gekommen war, und auf den öffentlichen Plätzen herrschte die schuldbewusste Atmosphäre sündhafter Erregung.
Da die Familie Walker trauerte, übernahm Robert Dalton die Rolle des inoffiziellen Chronisten der Ereignisse. Er erzählte dem Reporter und allen im Mail, die es hören wollten, er habe schon immer gewusst, dass sich zwischen den beiden Geschwistern ein Unheil zusammenbraue, und hätte das schreckliche Verbrechen verhindern können, wenn er oder der Vater des Jungen früher am Tatort gewesen wären. »Nur ein paar Minuten«, sagte er dann und betonte die tragisch kurze Zeitspanne, indem er Daumen und Zeigefinger ein winziges Stück auseinanderspreizte. »Wenn der Junge sich hier noch mal blicken lässt, knüpf ich ihn am nächsten Baum auf.«
Er behauptete, Quinn sei ihm schon immer sonderbar vorgekommen, ein Gefühl, das auch Nathaniel, der Vater des Jungen, geteilt habe, zu seinem ewigen Leidwesen, jetzt, da es zu spät sei, etwas zu unternehmen. Er habe versucht, die beiden auseinanderzuhalten, aber sie hätten aneinandergeklebt wie verdammte Kletten an einer Socke.
Die traurige Berühmtheit des Ortes war nur von kurzer Dauer. Am dritten Tag nach dem Mord wurde der Reporter Mr. Rochester sturzbetrunken in den Flats, einer Gegend am Fluss, gefunden und kurzerhand in eine Kutsche nach Bathurst gesetzt, das etwa fünfzig Kilometer entfernt lag. Trotz aller Anstrengungen konnten die Polizei und der örtliche Fährtensucher Jim Gracie Quinn Walker nicht aufspüren, da der heftige Regen alle Spuren des Mörders weggespült hatte. Ein paar Tage später wurde Sarah in der vom Regen noch immer durchnässten Erde begraben.
Obwohl man die Polizei in Victoria und Queensland verständigte und eine Belohnung von zweihundert Pfund aussetzte, wurde Quinn nie gefunden. Man ging allgemein davon aus, dass den sechzehnjährigen Flüchtling ein Schicksal ereilt hatte, das dem der Welt innewohnenden Sinn für Gerechtigkeit Genüge tat. Eine Weile erfreuten sich die Theorien großer Beliebtheit, dass ihn im Umland umherstreifende Wildhunde gefressen hätten, er in den Schacht eines stillgelegten Bergwerks gestürzt oder den Speeren der Eingeborenen zum Opfer gefallen sei.
Die Einwohner von Flint erzählten sich Geschichten über das grausige Verbrechen, besonders an stürmischen Nachmittagen, an denen sich die Männer veranlasst sahen, zu ihren Frauen Sätze zu sagen wie: »Schrecklicher Tag. Erinnert mich an den Mord an dem Walker-Mädchen.« Woraufhin die Ehefrau des Mannes beim Teigausrollen oder Hühnerrupfen innehielt, schwermütig in die Luft starrte und den Kopf schüttelte. »Diese arme, arme Frau. So einen Sohn zu haben.«
Jahre später, 1916, erhielt Mary Walker von einem Offizier der australischen Freiwilligenarmee in Frankreich ein Telegramm, in dem er bedauerte, ihr mitteilen zu müssen, dass ihr Sohn Quinn verschollen und mutmaßlich gefallen sei, doch er sei ein äußerst tapferer Mann gewesen usw. usw. Anscheinend war der Junge vor Jahren also doch entwischt, nur um irgendwo fern von zu Hause zu sterben. Als Nathaniel die Neuigkeiten erfuhr, machte er drei Kreuze und ging weiter seinen Geschäften nach. Doch Mary vergoss wieder viele Tränen.
Im Lauf der Jahre frönten die Stadtbewohner ihrer menschlichen Neigung, aus Einzelteilen etwas zusammenzufügen. Sie erschufen eine Geschichte, wie man eine Decke oder einen Quilt anfertigt - hier ein Gerücht, da eine Vermutung -, bis die Erzählung von Sarah Walkers Vergewaltigung und Ermordung historisch wurde, komplett mit Anfang, Mittelteil und Ende.
ERSTER TEIL
Der Ruf des Meeres
1
Das Truppentransportschiff Argyllshire pflügte durchs Meer. Sergeant Quinn Walker lehnte an einer der abgegriffenen Relings, die sich das Deck entlangzogen. Er lauschte dem endlosen Rauschen der Wellen und betrachtete das funkelnde Spiel des Sonnenlichts auf dem Wasser. Zwischen seinen Fingern, deren Spitzen so gelb waren wie elfenbeinerne Klaviertasten, brannte eine Zigarette bis zum durchnässten Stummel herunter. Nicht nur sein Haar war inzwischen stellenweise grau, sondern auch seine Augen, als würde die Asche der verstreichenden Jahre durch seine Eingeweide sickern und sogar seine Leber und sein Herz in Ruß verwandeln. Obwohl er erst sechsundzwanzig war, war er auf unvorhergesehene Art erwachsen geworden. Er ähnelte nicht mehr dem Jungen, der er einmal gewesen war, sondern war zurückhaltend geworden, sich der Drehung der Welt bewusst, ein Mann ständig auf dem Sprung.
Ein Schwarm Delfine schlängelte sich durchs Wasser, die Tiere schnellten aus dem Meer und schwebten einen Augenblick in der Luft, bevor sie wieder in den Wellen verschwanden. Vögel badeten in den Regenbögen, die in der Gischt Gestalt annahmen. Quinn fand es unmöglich, die Meeresoberfläche zu betrachten, ohne sich auszumalen, was wohl in der darunterliegenden dunklen Welt herumschwamm: Wale und Haie, bellende Fische, Eidechsen, die die Korallenbänke durchstreiften, der mächtige Leviathan. Alle bekannten und unbekannten Lebewesen.
Aus einer Tasche seiner Uniformjacke zog er seine Military Medal hervor, eine Tapferkeitsmedaille für den Einsatz in einer Nacht, an die er sich kaum noch erinnern konnte, obwohl sie bloß etwas mehr als zwei Jahre zurücklag. Vielleicht noch an das Geschützfeuer, die Schmerzensschreie der Männer, den Geschmack von Erde im Mund, doch all diese Eindrücke konnten aus jeder beliebigen Kriegsnacht stammen. Von allem, was in seinem Leben ein Grund zur Scham war, schämte er sich dieser Medaille vielleicht am meisten. Für hervorragende Tapferkeit, hatte in seiner Belobigung gestanden, und großen Pflichteifer. Er hat bei der Rettung von Männern, die unter Erdmassen begraben lagen, großen Mut bewiesen und zudem beständig gute Arbeit geleistet. Die Münze und das daran befestigte Band passten genau in seine Handfläche. Was für ein schlechter Witz. Er kümmerte sich keinen Deut um seine eigene Sicherheit: Das hatte nichts mit Tapferkeit zu tun.
Als er überzeugt war, unbeobachtet zu sein, holte er aus und warf die Medaille in die Wellen hinaus. Er war enttäuscht, dass er sie sofort aus den Augen verlor; er hatte auf die grausame Genugtuung gehofft, zu sehen, wie sie, im Sonnenlicht schimmernd, einen glänzenden Bogen beschrieb und mit kurzem Platschen im gewaltigen Meer verschwand. Egal. Das Ding war weg.
Ringsum zogen Männer an ihren englischen Zigaretten und schufen Geister aus Rauch, die vom Wind verscheucht wurden. Soldaten standen aufgereiht an der Reling und starrten zum Horizont hinaus. Jene Soldaten, die eine Angst vor freien Flächen entwickelt hatten, blieben unter Deck bei den Kranken und Lahmen, lagen gemütlich in ihren Hängematten, geborgen in der warmen, rauchigen Kameradschaft von Männern.
Quinn blieb für sich, er war in der Gesellschaft anderer Leute stets gehemmt. Anfangs hatte man ihm den Spitznamen Meek, »der Verschlossene«, gegeben - Meek Walker -, doch als der Krieg sich hinzog und immer mehr Männer unnahbar und vorsichtig geworden waren, wurde solche Schüchternheit nicht mehr als erwähnenswert betrachtet, wurde kaum noch bemerkt.
Manchmal kletterte jemand auf die Reling und schwang sich in die Luft, mit den Armen fuchtelnd, während er aufs Wasser zustürzte, der Kopf vielleicht noch mal aufglänzend, bevor er zum letzten Mal unterging, um nie mehr gesehen zu werden. Ein dunkler, aufgerissener Mund, der einen letzten Atemzug einsog, von der Zauberin Morgan le Fay in ihren Palast unter den Wellen gelockt. Quinn stellte sich vor, wie diese Männer, mit Seetang geschmückt, schaumumkränzt, in das trübe, friedvolle Reich hinabsanken, der Erde und ihres vergänglichen Leids ledig.
Die an Deck Verbliebenen schüttelten den Kopf über diese Vergeudung und riefen sich gegenseitig ins Gedächtnis, dass man sie vor der Abfahrt gewarnt hatte, das Schiff würde, wenn jemand über Bord ging, nicht umdrehen, um ihn zu retten. Es war nicht mal sinnvoll, es zu erwähnen.
Was für eine Vorstellung, alles zu überstehen, was wir überstanden haben, und dann so zu enden! Wo wir so viele Männer verloren haben! Absolut wahnsinnig.
Doch Quinn verstand diesen Ruf des Meeres. Derart von den Wellen verschlungen zu werden. Voll und ganz. Ja.
In der North-Head-Quarantänestation wurden er und die anderen mit einem Schlauch abgespritzt. Trotz allem schockierte ihn der Anblick nackter Männer noch immer. Ihr ungeschütztes Ich war empfindlich, ein sprödes Wesen unter ihrer Uniform. Die Haut so dünn und blass. Verborgen. Viele von ihnen ohne Arme, ohne Beine; mit Brandwunden und münzförmigen Narben übersäte Jungen und Männer. Kein Wunder, dass so viele Millionen gestorben waren: Menschen sind nichts, wenn sie in die Maschinerie der Geschichte geraten.
Ihr Gepäck wurde ausgeräuchert, und danach zwang man sie, eine Zinksulfatlösung einzuatmen, um ihre Lunge zu reinigen und zu verhindern, dass sie die Grippe bekamen.
Die Unterkünfte in North Head waren miserabel, und die Männer beklagten sich wütend. Das sei bei Weitem nicht das, was heimkehrende Soldaten verdient hätten, sagten sie. So behandle man keine Kriegshelden. Nach allem, was sie für ihr Land, für das Empire getan hätten. Einige sprachen heimlich von Flucht, wollten sich ins Buschland aufmachen. Die Stimmung wurde rebellisch, und es dauerte nicht lange, bis sie alle, alle tausend Männer, durch das Tor zum Hafen von Manly marschierten, wo sie den Dampfer nach Fort Macquarie nahmen. Quinn hatte mit flatternden Wimpeln gerechnet, mit Müttern, Schwestern und Gattinnen, einem zähen Gedränge von Frauen, die ihre Männer, oder was von ihnen noch übrig war, zu Hause willkommen hießen.
Doch es gab kein solches Trara. Die Soldaten waren ein heruntergekommener Haufen, schlecht beschuht und ziemlich am Ende, tuberkulös, verstümmelt und blind. Viele hinkten an Krücken, mit bandagierten Beinen. Alle trugen die Mullmasken, die verteilt worden waren, um zu verhindern, dass sich die Epidemie ausbreitete. Sie marschierten, so gut es ging, vom Kai durch Sydney zum Cricketfeld, wo sie bessere Unterkünfte erhalten sollten. An der George und der Oxford Street versammelte sich eine Menschenmenge, um sie sich anzusehen. In dem Gedränge mussten die Straßenbahnen anhalten. Jungen stürzten vor, um die Beine der Soldaten zu berühren oder ihnen die Hand zu schütteln. Junge Frauen lächelten nervös und plauderten miteinander. Quinn schob sich mit seinem Tornister an ihnen vorbei, sich der Enttäuschung auf den Gesichtern der älteren Frauen schmerzlich bewusst, die gehofft hatten, er wäre jemand anders, ein Ehemann, Bruder oder Sohn - oder zumindest ein Mann, den sie kannten. Er war froh über die Maske, die sein übel zugerichtetes Kinn verdeckte; so unwahrscheinlich es auch sein mochte, er wollte nicht erkannt werden.
Quinn konzentrierte sich auf den Boden direkt vor seinen Füßen, bis er es nicht mehr aushielt. Er erinnerte sich an manche der Geschichten, die ihm seine Mutter vorgelesen hatte, und kam zu dem Schluss, dass die Griechen den Göttern hätten dankbar sein müssen, weil diese nach der Plünderung Trojas ihre Heimkehr verhinderten; die Rückkehr aus dem Krieg war jedenfalls schlimmer als der Abschied von zu Hause.
In der aufgeregten Menge war es leicht, aus der Formation auszuscheren, zwischen den Menschen hindurchzuschlüpfen und in den stillen, schwülen Straßen der Stadt zu verschwinden. Sein Herz bebte in seiner Brust. Sein Magen krampfte sich zusammen. In einer modrigen Gasse in Darlinghurst musste er husten und krümmte sich, die Hände auf die Knie gestützt. Schweiß perlte auf seiner Stirn. Ein schreckliches Gefühl, das an seinen Eingeweiden zerrte. Er hatte im Krieg einen Gasangriff erlebt, und die heimtückischen Rückstände waberten noch in den Hohlräumen seines Körpers und setzten sich hier und da fest, wenn er schlief oder reglos dalag. Auch wenn es ihn nicht so schlimm erwischt hatte wie viele andere, bestand kein Zweifel, dass das Gas ihm geschadet hatte, besonders seiner Kehle, die ihm manchmal vorkam wie eine Geige mit einer zerfetzten Saite, die nutzlos und lästig herumschlenkerte und sich in den noch fest gespannten und funktionsfähigen Saiten verhedderte.
Eine orangefarbene Katze beäugte ihn kühl, bevor sie begann, sich die Pfote zu lecken. Quinn dachte an Orangen. Während des ganzen Krieges in Frankreich hatte er sich nach einer gesehnt. Manchmal war er nachts mit staubtrockenen Lippen aufgewacht, nachdem er geträumt hatte, er hätte sich einen Viertelschnitz in den Mund gestopft, wie er es immer als kleiner Junge getan hatte. Oft war er von dem Gedanken besessen gewesen und konnte an keinem Bauernkarren oder Straßenstand vorbeigehen, ohne zu versuchen, eine Orange aufzutreiben. Sie nahmen mythische, magische Ausmaße an, als könnten sie nicht nur seinen Durst löschen, sondern all seine Leiden heilen: sein Heimweh, seine Schuldgefühle, seinen Kummer.
Vor einigen Monaten hatte er eine Orange im Korb eines Mädchens erblickt, als dieses an einem Lastwagen vorbeiging, in dem er saß. Das Mädchen war nicht älter als zehn gewesen, doch wie alle Kinder in jenen langen Jahren wirkte sie wie jemand, der schon viel älter war. Sie hatte den Korb auf die Hüfte gestützt und blieb stehen, um mit einem alten Weib mit Umhängetuch zu reden, bevor sie ihre Last wieder hochhob und ein tabac betrat. Quinn beobachtete sie aus dem kalten, verrauchten Führerhaus des Lastwagens und wollte ihr gerade folgen - hatte schon den Körper angespannt -, als plötzlich der stämmige Sergeant mit den Befehlen zurückkehrte und den rumpelnden Motor anließ. Okay, knöpfen wir uns ein paar von den Deutschen vor, was?
Ein hagerer, genervter Arzt, der im Hauptbahnhof an einem speziellen Tisch arbeitete, untersuchte Quinn und stellte ihm eine Bescheinigung aus, derzufolge er nicht an Grippe erkrankt war. Eine Schwester vom Roten Kreuz drückte ihm eine Papiertüte voller Käsesandwiches in die Hand und machte ihn darauf aufmerksam, dass die Staatsgrenzen wegen der Epidemie geschlossen waren. Er stieg in einen Zug, fuhr, in der Hitze dösend, über die Blue Mountains und dann in das braune Land der westlichen Ebenen hinab.
Im Zug wimmelte es von heimkehrenden Soldaten - ein paar schweigsam und verschlossen, die meisten rauchend und zechend - und von Zivilisten: eine elegante Frau, die den Arm um die Schultern ihres kleinen Sohns gelegt hatte, ein Farmer mit einer Hasenscharte, der nach Bier stank, ein Junge mit trüben Augen und zwei Mädchen, die beide eng um ihr linkes Handgelenk gewundene Bänder trugen - der neueste abergläubische Schutz gegen die Epidemie. In den Waggons war es warm, die Luft erfüllt vom Zigarettenrauch. Quinn stand im schmalen Gang und starrte aus dem Fenster. Er hatte die Grippemaske abgenommen, um den Wind im Gesicht besser spüren zu können. Die Landschaft war graubraun und ausgelaugt. Eine Gruppe von Männern am anderen Ende des Gangs unterhielt sich über den Wynne-Mord: Ein namhafter Arzt aus Bathurst hatte in der vorigen Woche seine untreue Frau erschossen und war geflüchtet. Ein krankes Baby wimmerte.
Wie eine bizarre Spinne, die nicht an ihre vielen Gliedmaßen gewöhnt ist, kamen vier betrunkene Soldaten Arm in Arm den Gang entlanggetorkelt. Alle sangen mit wackligen Beinen, aber großer Begeisterung verschiedene Lieder, und einer von ihnen bat die anderen, noch mal neu anzufangen, damit sie im Takt singen könnten, doch sie schenkten ihm keine Beachtung. Einer stolperte und schnitt sich an einem metallenen Fensterschloss. Der Soldat hielt die blutende Hand hoch. »Ich bin verwundet«, jammerte er in gespielter Verzweiflung, während seine Freunde ihm lachend auf die Schulter klopften, ein breites Grinsen in ihren dummen Gesichtern. »Schicken Sie mich nach Hause, Captain. Ach, bitte schicken Sie mich nach Hause.«
Angeblich waren Menschen, die den Tod gesehen und überlebt hatten - bei einem Unfall, im Krieg oder wo auch immer -, manchmal von einem unnatürlichen Überschwang und Hunger auf Leben erfüllt. Wenn irgendwer mit dem Tod vertraut war, dann diese aus dem Krieg in Europa heimkehrenden Soldaten; Quinn hatte die Stimmung in London, unter denen, die noch demobilisiert werden mussten, als ein kaum gezügeltes Chaos in Erinnerung. Unglaube und Schuldgefühle waren eine gefährliche Mischung. Männer gingen das Risiko ein, johlend und wie wahnsinnig lachend, mit blitzenden Zähnen, in der einen Hand eine Flasche und in der anderen einen Schlapphut, hinten auf fahrende Kutschen aufzuspringen oder an einem eiskalten Morgen in der Themse zu baden. Doch Quinn teilte ihre Begeisterung nicht; er befürchtete, dass ihm das Schlimmste noch bevorstand.
Während der Fahrt musste er immer wieder verstohlene Blicke auf den Farmer mit der Hasenscharte werfen und konnte kaum glauben, dass dieser Mann zur selben Zeit, als Quinn Tausende von Kilometern entfernt bis zur Brust in Schlamm, Blut und Trümmern gestanden hatte, seinem Tagwerk nachgegangen war. Der Farmer lächelte zaghaft zurück, als glaubte er, dass sie wegen ihrer deformierten Gesichter etwas gemeinsam hätten.
Ein junger Mann in schickem Anzug und steifem Strohhut kam auf Quinn zu, bot ihm eine Zigarette an - eine Havelock, mit Freuden angenommen - und begann ein träges Gespräch. Der Fremde roch nach Menthol und Gewürznelken und hatte ein weißes Taschentuch, mit dem er sich in regelmäßigen Zeitabständen die glänzende Oberlippe abtupfte. Er stellte sich als Mark Westbury vor, war ernst, aber freundlich und lauschte aufmerksam dem wenigen, das Quinn ihm von seinen Kriegserlebnissen erzählte. Quinn plauderte nicht gern und fand es schwierig, beim Rattern des Zugs und dem allgemeinen Radau etwas zu verstehen.
»Und wo haben Sie gekämpft, Sergeant ... Walker, oder?« Quinn zuckte zusammen. »Woher kennen Sie meinen Namen?« Mr. Westbury deutete auf das Namensschild an Quinns Uniformjacke. Natürlich.
Der Zug fuhr eine Kurve. Im angrenzenden Abteil fiel ein in braunes Papier eingeschlagenes Paket von der Gepäckablage. »Hauptsächlich in Frankreich«, sagte Quinn, als er das Gleichgewicht zurückerlangt hatte. »Und in der Türkei.«
Mr. Westbury musterte Quinn. Jetzt, wo sie sich einander vorgestellt hatten, traute er sich, Quinns Narbe anzustarren. »Sie haben Glück gehabt«, sagte er.
Das hatte Quinn schon ein Dutzend Mal gehört. Im Feldlazarett in Frankreich und dann auch im Harefield Hospital, als eine verschleierte Schwester das Bett neben seinem machte, nachdem sie einen armen Teufel, der in der Nacht gestorben war, hinausgeschoben hatte. Vielleicht sehn Sie's jetzt noch nicht so, aber Sie gehören zu denen, die Glück hatten. Dann wieder auf dem Transportschiff, das sie nach Hause brachte. Die Leute sagten es ihm ständig und waren enttäuscht, wenn er seine Zustimmung nicht mit der entsprechenden Begeisterung zum Ausdruck brachte.
»Ich meine, Sie hatten Glück, dass Sie überlebt haben«, fügte Mr. Westbury hinzu. »Trotz ... der Narbe und allem.«
»Ja«, sagte er schließlich. »Ich hab Glück gehabt.«
Mr. Westbury sagte irgendwas, das Quinn wegen des Lärms nicht verstand. »Was?« »Ich habe gesagt: Sie wurden verschont.« »Ja.« Nach kurzem betretenem Schweigen fragte der junge
Mann, wohin er unterwegs sei.
»Flint«, erwiderte Quinn.
Mr. Westbury nickte, obwohl klar war, dass er noch nie von dem Ort gehört hatte. Das ging fast allen so. Jetzt, wo das Gold abgebaut war, gab es kaum einen Grund, dort hinzufahren. Es gab nur noch wenige Einwohner. Nicht einmal die Kartografen befassten sich noch mit dem Ort.
»Das ist Ihre Heimat, nehme ich an?«
Quinn betrachtete diesen Burschen mit seinem gestärkten Hemd, der ihm erzählt hatte, er sei wegen einer Sehschwäche für den Militärdienst untauglich. Er zuckte mit den Schultern und zog an seiner Zigarette, woraufhin er einen leichten Hustenanfall bekam.
»Ich glaube schon«, sagte er, als er sich erholt hatte. »Es ist mein Geburtsort. Ich muss da was in Ordnung bringen.«
Mr. Westbury tupfte sich mit seinem Taschentuch ungeduldig die Stirn ab. »Tja, viele Orte sind vor die Hunde gegangen. Jede Menge.« Anscheinend hatte er das Interesse verloren.
Quinn warf seine Zigarette auf den Boden und trat sie mit dem Stiefelabsatz aus. Eine Frau mit ihrer kleinen Tochter gab zu verstehen, dass sie vorbeiwollte, und Quinn und sein neuer Begleiter traten so weit zurück, wie der enge Gang es erlaubte.
Dann schwiegen die beiden, bis der Mann, der wieder die schartige Narbe an seinem Kinn angestarrt hatte, ihn heranwinkte und im Flüsterton sagte: »Sie sollten sich etwas für Ihr Gesicht einfallen lassen. Es vielleicht abdecken? Haben Sie keine Grippemaske? Sie jagen den Kindern sonst Angst ein.«
Und Quinn, gewöhnlich zurückhaltend, aber jetzt vom Teufel geritten, erwiderte ebenfalls flüsternd: »Tja, die Kinder haben allen Grund, sich zu ängstigen.«
In Bathurst schlich er aus dem Bahnhof und wandte sich nach Nordwesten. Er verließ die Stadt und ging immer weiter, manchmal an der Straße entlang, dann wieder schleppte er sich durch Ebenen oder kletterte über zerklüftete Felsen. Die Erde unter seinen Füßen war trocken und hart, und der Himmel - blau und wolkenlos - gähnte über ihm, höher und gewaltiger als jeder Himmel, den er irgendwo auf der Welt gesehen hatte, ein eigener Kontinent. Habichte kreisten wie dunkle, wachsame Sterne, die sich aus ihrer Umlaufbahn gelöst hatten.
Er trennte sein Namensschild von der Uniformjacke ab und mied Orte, an denen er Leuten begegnen könnte, die ihn vielleicht erkennen würden. Die wenigen Farmer, die er sah, nickten oder wedelten mit dem Hut, erfreut, einen Soldaten aus dem Weltkrieg zu Hause begrüßen zu können. Eine Familie rumpelte vorbei, ihre ganzen Besitztümer und die fünf Kinder auf einem Pferdekarren zusammengedrängt. Ihre Münder und Nasen waren mit Mullmasken bedeckt, sie wandten den Blick ab und entboten ihm keinen Gruß, da sie offenbar Angst hatten, sich anzustecken. Zumeist schenkten die Leute ihm keine Beachtung. Nach einem Krieg war es nicht so ungewöhnlich, jemanden allein umherziehen zu sehen; vermutlich gab es ganze Heere heimkehrender Männer, alle in zerlumpter Uniform, als winzige Punkte auf der Erde wandelnd. Um die Mittagszeit hielt er unter einer Gruppe Zypressen ein Nickerchen und marschierte dann weiter, bis es zu dunkel wurde.
Auf dem Lande wimmelte es von Tieren: Eidechsen und Schlangen, Buntsittiche und Elstern. In der Abenddämmerung hüpften graue Kängurus auf den Wiesen und stellten sich auf die Hinterbeine, um zu beobachten, wie er vorbeistapfte. Kaninchen hoppelten am Rand seines Blickfelds entlang, und wo er auch ging, umflatterten ihn Paare orangefarbener Schmetterlinge. Und das Summen, immer wieder dieses Summen von Fliegen und Bienen, das er trotz seines schlechten Gehörs vernahm.
Er war es gewohnt, lange Strecken zu marschieren, und kam gut voran. Es war angenehm, sich so frei zu fühlen, trotz des Kriegszubehörs, das er noch bei sich trug - seinen Tornister, die Umhängetasche mit seiner Gasmaske und seinen Revolver, der unter der offenen Uniformjacke steckte. Er hielt sich an keinen festen Kurs, sondern marschierte einfach, als könnte sein Vorwärtsdrang den Gestank des Krieges und alles, was während seiner Abwesenheit passiert war, zunichtemachen. Am Horizont waren zitternde Luftspiegelungen zu sehen. Riesige Schiffe, eine Kolonne von Elefanten, einmal sogar eine ganze Stadt mit Gebäuden und Kirchtürmen, eine riesige Metropole, die sich jedes Mal, wenn er näher kam, weiter zurückzog.
Am Ende des Tages verschwand die Sonne stets aus seinem Blickfeld und ließ für zehn Minuten den Horizont erglühen. Er schlug sein Lager abseits der Straße auf und starrte in die Flammen des Feuers, das sein Ersatz für die untergegangene Sonne war. Seine Sandwiches teilte er sich sorgfältig ein. Er betete auf seine seltsame Art, die eher einer Befragung glich. Wenigstens ahnte er jetzt, nach all den Jahren, warum er verschont worden war. Das war ein Trost.
Mit dem Gedanken an seine Schwester Sarah schlief er ein. Selbst mit geschlossenen Augen wusste er, wo auf der Erde er sich befand, konnte sich seine genaue Position vorstellen, während sein innerer Kompass ausschlug, um ihn nach Hause zu führen.
2 Nach mehreren Tagen wurde die Landschaft vertrauter. Quinn begann, Örtlichkeiten zu erkennen: eine Felsengruppe, die aussah wie eine Horde im Gestrüpp schnüffelnder Schweine; den Baum, an dem sich Bill Clayton 1905 erhängt hatte, nachdem seine Frau mit dem Trommler der Heilsarmee durchgebrannt war; die Abraumhalden verlassener Goldminen. Er stieß auf Schluchten, die vom Bergbau herrührten, verlassene Schächte, die verrosteten Überreste von Maschinen, die halb in der roten Erde versunken waren.
Noch vor fünfzig Jahren waren diese Hügel voller Gold gewesen, und in Flint hatte es von hungrigen Männern und ihren noch hungrigeren Familien gewimmelt, doch der Boom ging rasch vorbei und hinterließ eine gequälte, zerklüftete Landschaft, verschandelt von den Überresten der Steinstampfer und der Holzgerüste, die man über den Schächten errichtet hatte. Alles, was blieb, war die große Sparrowhawk Mine, doch die Berge und Schluchten in der ganzen Gegend waren mit den Trümmern kleiner Siedlungen überzogen, in denen sich die Familien nach ihren Herkunftsländern niedergelassen hatten: das Welsh Village, Irish Town, Chinese Flat. Der Boden war hart und steinig. Überall blühten schottische Disteln. Selbst die einheimischen Bäume schienen nicht aus diesem Land gesprossen, sondern - gegen ihren Willen, da sie himmelwärts strebten - in die Erde gesteckt worden zu sein, aus der sie sich jetzt herauszuwinden versuchten.
Quinn hatte diese Hügel als kleiner Junge durchstreift, hatte Vögel und Kaninchen erlegt, und oft war Sarah hinter ihm hermarschiert und hatte ihn für Fehlschüsse getadelt. Sie hatten kleine Goldklumpen gefunden, die sie horteten und, wenn sie älter waren, verkaufen wollten, um in fremde Länder reisen und exotische Tiere und Juwelen erstehen zu können. Sarah nannte diese Klümpchen Schätze, wenn sie sie feierlich in eine Zigarrenkiste legte, zu verschiedenen Knöpfen, die sie als wertvoll betrachtete, einer Brosche, seltenen Federn und einer Briefmarke, die sie eines Tages in der Orchard Street gefunden hatte. Oft hatte Sarah einen dieser Gegenstände als Glücksbringer dabei und zog ihn irgendwann hervor, um ihn sich anzusehen.
Copyright © Deutsche Verlags Anstalt
Sarahs Vater, Nathaniel Walker, sagte, er habe die ganze Gegend nach Sarah und ihrem älteren Bruder Quinn durchkämmt, die beide fast den ganzen Nachmittag von niemandem gesehen worden waren. Er habe in ihren üblichen Verstecken nachgeschaut: hinter dem Hühnerstall, unterm Haus, in dem ausgehöhlten Eukalyptusbaum am östlichen Rand ihres Grundstücks. Nichts. Schließlich fand er sie auf Wilson's Point in dem verlassenen Schuppen am See, drei Kilometer von zu Hause entfernt. Doch inzwischen war es natürlich zu spät. Das Ganze verschlug Nathaniel die Sprache. Der Junge appellierte an seinen Vater, doch seine Worte wurden vom Donnergrollen übertönt. Im selben Augenblick tauchte Nathaniels Schwager Robert Dalton schnaufend neben Nathaniel auf und fragte: »Großer Gott, was ist hier passiert?«, obwohl - angesichts des Blutes an Sarahs Schenkeln, ihrer zerzausten Kleidung, des Messers in Quinns Faust und der blau gefärbten Lippen seiner Schwester - sogar Blind Freddy erkannt hätte, was sich zugetragen hatte. Der kleine Quinn warf das Messer weg, kletterte durch ein Loch in der Schuppenwand und verschwand in der stürmischen Dunkelheit. All das vollzog sich so schnell, dass Nathaniel und Robert zu fassungslos waren, um die Verfolgung aufzunehmen. Und so konnte sich der Junge ungehindert davonmachen.
Mary, Sarahs und Quinns Mutter, saß zu Hause am Bett ihres ältesten Sohnes William, der Fieber hatte, und las ihm etwas vor. Das Regenwasser sprudelte über die Dachrinne, und es donnerte heftig. Ihr Haus war solide gebaut und stabil, doch sie hatte Angst um ihre Familie, und auch viele Jahre später konnte sie sich noch erinnern, wie sie mitten auf der Seite innegehalten und in einem Anflug von Furcht aufgeblickt hatte. Dieses Gefühl kannte sie von damals, 1890, als sie ein Kind verloren hatte, das, noch nicht voll entwickelt, drei Monate zu früh zwischen ihren Beinen hervorgeglitten war. Komm rein, Huck, aber guck dir nicht sein Gesicht an - 's is' zu schaurig. Mary schloss behutsam das Buch, als wollte sie den dösenden William nicht stören.
Sie war eine fromme Frau, die zum Aberglauben neigte, und den Rest des dunklen Nachmittags wurde sie das Gefühl nicht los, es sei etwas Verhängnisvolles passiert, sodass sie sich, als Nathaniel abends triefnass und weinend nach Hause kam, die entsetzliche Nachricht mit resigniertem Gleichmut anhörte. Von den genauen Einzelheiten wollte sie nichts wissen und sagte, es genüge, dass es passiert sei, es genüge, dass so was überhaupt passiert sei.
Natürlich war das ganze Städtchen in Aufruhr, und überall, wo sich Menschen versammelten, wurden Vermutungen angestellt über die näheren Umstände des schrecklichen Verbrechens - soweit sie bekannt waren oder man sie sich zusammengereimt hatte: in der Bar des Mail Hotel, im Geschepper der Küchen, auf Verandas, hinter Sullys Werkstatt, wo sich die Männer zum Rauchen drängten, an windigen, winterlichen Straßenecken. Ein Reporter der Sydney Sun mit dem seltsamen Namen Mr. Philby Rochester traf in Flint ein und begab sich sofort ins Mail, wo er Informationen sammelte, die dem staunenden Ergötzen seiner städtischen Leser dienen sollten. Schon seit vielen Jahren hatte der Ort nichts derart Dramatisches mehr erlebt, jedenfalls nicht, seit der Goldrausch ins Stocken gekommen war, und auf den öffentlichen Plätzen herrschte die schuldbewusste Atmosphäre sündhafter Erregung.
Da die Familie Walker trauerte, übernahm Robert Dalton die Rolle des inoffiziellen Chronisten der Ereignisse. Er erzählte dem Reporter und allen im Mail, die es hören wollten, er habe schon immer gewusst, dass sich zwischen den beiden Geschwistern ein Unheil zusammenbraue, und hätte das schreckliche Verbrechen verhindern können, wenn er oder der Vater des Jungen früher am Tatort gewesen wären. »Nur ein paar Minuten«, sagte er dann und betonte die tragisch kurze Zeitspanne, indem er Daumen und Zeigefinger ein winziges Stück auseinanderspreizte. »Wenn der Junge sich hier noch mal blicken lässt, knüpf ich ihn am nächsten Baum auf.«
Er behauptete, Quinn sei ihm schon immer sonderbar vorgekommen, ein Gefühl, das auch Nathaniel, der Vater des Jungen, geteilt habe, zu seinem ewigen Leidwesen, jetzt, da es zu spät sei, etwas zu unternehmen. Er habe versucht, die beiden auseinanderzuhalten, aber sie hätten aneinandergeklebt wie verdammte Kletten an einer Socke.
Die traurige Berühmtheit des Ortes war nur von kurzer Dauer. Am dritten Tag nach dem Mord wurde der Reporter Mr. Rochester sturzbetrunken in den Flats, einer Gegend am Fluss, gefunden und kurzerhand in eine Kutsche nach Bathurst gesetzt, das etwa fünfzig Kilometer entfernt lag. Trotz aller Anstrengungen konnten die Polizei und der örtliche Fährtensucher Jim Gracie Quinn Walker nicht aufspüren, da der heftige Regen alle Spuren des Mörders weggespült hatte. Ein paar Tage später wurde Sarah in der vom Regen noch immer durchnässten Erde begraben.
Obwohl man die Polizei in Victoria und Queensland verständigte und eine Belohnung von zweihundert Pfund aussetzte, wurde Quinn nie gefunden. Man ging allgemein davon aus, dass den sechzehnjährigen Flüchtling ein Schicksal ereilt hatte, das dem der Welt innewohnenden Sinn für Gerechtigkeit Genüge tat. Eine Weile erfreuten sich die Theorien großer Beliebtheit, dass ihn im Umland umherstreifende Wildhunde gefressen hätten, er in den Schacht eines stillgelegten Bergwerks gestürzt oder den Speeren der Eingeborenen zum Opfer gefallen sei.
Die Einwohner von Flint erzählten sich Geschichten über das grausige Verbrechen, besonders an stürmischen Nachmittagen, an denen sich die Männer veranlasst sahen, zu ihren Frauen Sätze zu sagen wie: »Schrecklicher Tag. Erinnert mich an den Mord an dem Walker-Mädchen.« Woraufhin die Ehefrau des Mannes beim Teigausrollen oder Hühnerrupfen innehielt, schwermütig in die Luft starrte und den Kopf schüttelte. »Diese arme, arme Frau. So einen Sohn zu haben.«
Jahre später, 1916, erhielt Mary Walker von einem Offizier der australischen Freiwilligenarmee in Frankreich ein Telegramm, in dem er bedauerte, ihr mitteilen zu müssen, dass ihr Sohn Quinn verschollen und mutmaßlich gefallen sei, doch er sei ein äußerst tapferer Mann gewesen usw. usw. Anscheinend war der Junge vor Jahren also doch entwischt, nur um irgendwo fern von zu Hause zu sterben. Als Nathaniel die Neuigkeiten erfuhr, machte er drei Kreuze und ging weiter seinen Geschäften nach. Doch Mary vergoss wieder viele Tränen.
Im Lauf der Jahre frönten die Stadtbewohner ihrer menschlichen Neigung, aus Einzelteilen etwas zusammenzufügen. Sie erschufen eine Geschichte, wie man eine Decke oder einen Quilt anfertigt - hier ein Gerücht, da eine Vermutung -, bis die Erzählung von Sarah Walkers Vergewaltigung und Ermordung historisch wurde, komplett mit Anfang, Mittelteil und Ende.
ERSTER TEIL
Der Ruf des Meeres
1
Das Truppentransportschiff Argyllshire pflügte durchs Meer. Sergeant Quinn Walker lehnte an einer der abgegriffenen Relings, die sich das Deck entlangzogen. Er lauschte dem endlosen Rauschen der Wellen und betrachtete das funkelnde Spiel des Sonnenlichts auf dem Wasser. Zwischen seinen Fingern, deren Spitzen so gelb waren wie elfenbeinerne Klaviertasten, brannte eine Zigarette bis zum durchnässten Stummel herunter. Nicht nur sein Haar war inzwischen stellenweise grau, sondern auch seine Augen, als würde die Asche der verstreichenden Jahre durch seine Eingeweide sickern und sogar seine Leber und sein Herz in Ruß verwandeln. Obwohl er erst sechsundzwanzig war, war er auf unvorhergesehene Art erwachsen geworden. Er ähnelte nicht mehr dem Jungen, der er einmal gewesen war, sondern war zurückhaltend geworden, sich der Drehung der Welt bewusst, ein Mann ständig auf dem Sprung.
Ein Schwarm Delfine schlängelte sich durchs Wasser, die Tiere schnellten aus dem Meer und schwebten einen Augenblick in der Luft, bevor sie wieder in den Wellen verschwanden. Vögel badeten in den Regenbögen, die in der Gischt Gestalt annahmen. Quinn fand es unmöglich, die Meeresoberfläche zu betrachten, ohne sich auszumalen, was wohl in der darunterliegenden dunklen Welt herumschwamm: Wale und Haie, bellende Fische, Eidechsen, die die Korallenbänke durchstreiften, der mächtige Leviathan. Alle bekannten und unbekannten Lebewesen.
Aus einer Tasche seiner Uniformjacke zog er seine Military Medal hervor, eine Tapferkeitsmedaille für den Einsatz in einer Nacht, an die er sich kaum noch erinnern konnte, obwohl sie bloß etwas mehr als zwei Jahre zurücklag. Vielleicht noch an das Geschützfeuer, die Schmerzensschreie der Männer, den Geschmack von Erde im Mund, doch all diese Eindrücke konnten aus jeder beliebigen Kriegsnacht stammen. Von allem, was in seinem Leben ein Grund zur Scham war, schämte er sich dieser Medaille vielleicht am meisten. Für hervorragende Tapferkeit, hatte in seiner Belobigung gestanden, und großen Pflichteifer. Er hat bei der Rettung von Männern, die unter Erdmassen begraben lagen, großen Mut bewiesen und zudem beständig gute Arbeit geleistet. Die Münze und das daran befestigte Band passten genau in seine Handfläche. Was für ein schlechter Witz. Er kümmerte sich keinen Deut um seine eigene Sicherheit: Das hatte nichts mit Tapferkeit zu tun.
Als er überzeugt war, unbeobachtet zu sein, holte er aus und warf die Medaille in die Wellen hinaus. Er war enttäuscht, dass er sie sofort aus den Augen verlor; er hatte auf die grausame Genugtuung gehofft, zu sehen, wie sie, im Sonnenlicht schimmernd, einen glänzenden Bogen beschrieb und mit kurzem Platschen im gewaltigen Meer verschwand. Egal. Das Ding war weg.
Ringsum zogen Männer an ihren englischen Zigaretten und schufen Geister aus Rauch, die vom Wind verscheucht wurden. Soldaten standen aufgereiht an der Reling und starrten zum Horizont hinaus. Jene Soldaten, die eine Angst vor freien Flächen entwickelt hatten, blieben unter Deck bei den Kranken und Lahmen, lagen gemütlich in ihren Hängematten, geborgen in der warmen, rauchigen Kameradschaft von Männern.
Quinn blieb für sich, er war in der Gesellschaft anderer Leute stets gehemmt. Anfangs hatte man ihm den Spitznamen Meek, »der Verschlossene«, gegeben - Meek Walker -, doch als der Krieg sich hinzog und immer mehr Männer unnahbar und vorsichtig geworden waren, wurde solche Schüchternheit nicht mehr als erwähnenswert betrachtet, wurde kaum noch bemerkt.
Manchmal kletterte jemand auf die Reling und schwang sich in die Luft, mit den Armen fuchtelnd, während er aufs Wasser zustürzte, der Kopf vielleicht noch mal aufglänzend, bevor er zum letzten Mal unterging, um nie mehr gesehen zu werden. Ein dunkler, aufgerissener Mund, der einen letzten Atemzug einsog, von der Zauberin Morgan le Fay in ihren Palast unter den Wellen gelockt. Quinn stellte sich vor, wie diese Männer, mit Seetang geschmückt, schaumumkränzt, in das trübe, friedvolle Reich hinabsanken, der Erde und ihres vergänglichen Leids ledig.
Die an Deck Verbliebenen schüttelten den Kopf über diese Vergeudung und riefen sich gegenseitig ins Gedächtnis, dass man sie vor der Abfahrt gewarnt hatte, das Schiff würde, wenn jemand über Bord ging, nicht umdrehen, um ihn zu retten. Es war nicht mal sinnvoll, es zu erwähnen.
Was für eine Vorstellung, alles zu überstehen, was wir überstanden haben, und dann so zu enden! Wo wir so viele Männer verloren haben! Absolut wahnsinnig.
Doch Quinn verstand diesen Ruf des Meeres. Derart von den Wellen verschlungen zu werden. Voll und ganz. Ja.
In der North-Head-Quarantänestation wurden er und die anderen mit einem Schlauch abgespritzt. Trotz allem schockierte ihn der Anblick nackter Männer noch immer. Ihr ungeschütztes Ich war empfindlich, ein sprödes Wesen unter ihrer Uniform. Die Haut so dünn und blass. Verborgen. Viele von ihnen ohne Arme, ohne Beine; mit Brandwunden und münzförmigen Narben übersäte Jungen und Männer. Kein Wunder, dass so viele Millionen gestorben waren: Menschen sind nichts, wenn sie in die Maschinerie der Geschichte geraten.
Ihr Gepäck wurde ausgeräuchert, und danach zwang man sie, eine Zinksulfatlösung einzuatmen, um ihre Lunge zu reinigen und zu verhindern, dass sie die Grippe bekamen.
Die Unterkünfte in North Head waren miserabel, und die Männer beklagten sich wütend. Das sei bei Weitem nicht das, was heimkehrende Soldaten verdient hätten, sagten sie. So behandle man keine Kriegshelden. Nach allem, was sie für ihr Land, für das Empire getan hätten. Einige sprachen heimlich von Flucht, wollten sich ins Buschland aufmachen. Die Stimmung wurde rebellisch, und es dauerte nicht lange, bis sie alle, alle tausend Männer, durch das Tor zum Hafen von Manly marschierten, wo sie den Dampfer nach Fort Macquarie nahmen. Quinn hatte mit flatternden Wimpeln gerechnet, mit Müttern, Schwestern und Gattinnen, einem zähen Gedränge von Frauen, die ihre Männer, oder was von ihnen noch übrig war, zu Hause willkommen hießen.
Doch es gab kein solches Trara. Die Soldaten waren ein heruntergekommener Haufen, schlecht beschuht und ziemlich am Ende, tuberkulös, verstümmelt und blind. Viele hinkten an Krücken, mit bandagierten Beinen. Alle trugen die Mullmasken, die verteilt worden waren, um zu verhindern, dass sich die Epidemie ausbreitete. Sie marschierten, so gut es ging, vom Kai durch Sydney zum Cricketfeld, wo sie bessere Unterkünfte erhalten sollten. An der George und der Oxford Street versammelte sich eine Menschenmenge, um sie sich anzusehen. In dem Gedränge mussten die Straßenbahnen anhalten. Jungen stürzten vor, um die Beine der Soldaten zu berühren oder ihnen die Hand zu schütteln. Junge Frauen lächelten nervös und plauderten miteinander. Quinn schob sich mit seinem Tornister an ihnen vorbei, sich der Enttäuschung auf den Gesichtern der älteren Frauen schmerzlich bewusst, die gehofft hatten, er wäre jemand anders, ein Ehemann, Bruder oder Sohn - oder zumindest ein Mann, den sie kannten. Er war froh über die Maske, die sein übel zugerichtetes Kinn verdeckte; so unwahrscheinlich es auch sein mochte, er wollte nicht erkannt werden.
Quinn konzentrierte sich auf den Boden direkt vor seinen Füßen, bis er es nicht mehr aushielt. Er erinnerte sich an manche der Geschichten, die ihm seine Mutter vorgelesen hatte, und kam zu dem Schluss, dass die Griechen den Göttern hätten dankbar sein müssen, weil diese nach der Plünderung Trojas ihre Heimkehr verhinderten; die Rückkehr aus dem Krieg war jedenfalls schlimmer als der Abschied von zu Hause.
In der aufgeregten Menge war es leicht, aus der Formation auszuscheren, zwischen den Menschen hindurchzuschlüpfen und in den stillen, schwülen Straßen der Stadt zu verschwinden. Sein Herz bebte in seiner Brust. Sein Magen krampfte sich zusammen. In einer modrigen Gasse in Darlinghurst musste er husten und krümmte sich, die Hände auf die Knie gestützt. Schweiß perlte auf seiner Stirn. Ein schreckliches Gefühl, das an seinen Eingeweiden zerrte. Er hatte im Krieg einen Gasangriff erlebt, und die heimtückischen Rückstände waberten noch in den Hohlräumen seines Körpers und setzten sich hier und da fest, wenn er schlief oder reglos dalag. Auch wenn es ihn nicht so schlimm erwischt hatte wie viele andere, bestand kein Zweifel, dass das Gas ihm geschadet hatte, besonders seiner Kehle, die ihm manchmal vorkam wie eine Geige mit einer zerfetzten Saite, die nutzlos und lästig herumschlenkerte und sich in den noch fest gespannten und funktionsfähigen Saiten verhedderte.
Eine orangefarbene Katze beäugte ihn kühl, bevor sie begann, sich die Pfote zu lecken. Quinn dachte an Orangen. Während des ganzen Krieges in Frankreich hatte er sich nach einer gesehnt. Manchmal war er nachts mit staubtrockenen Lippen aufgewacht, nachdem er geträumt hatte, er hätte sich einen Viertelschnitz in den Mund gestopft, wie er es immer als kleiner Junge getan hatte. Oft war er von dem Gedanken besessen gewesen und konnte an keinem Bauernkarren oder Straßenstand vorbeigehen, ohne zu versuchen, eine Orange aufzutreiben. Sie nahmen mythische, magische Ausmaße an, als könnten sie nicht nur seinen Durst löschen, sondern all seine Leiden heilen: sein Heimweh, seine Schuldgefühle, seinen Kummer.
Vor einigen Monaten hatte er eine Orange im Korb eines Mädchens erblickt, als dieses an einem Lastwagen vorbeiging, in dem er saß. Das Mädchen war nicht älter als zehn gewesen, doch wie alle Kinder in jenen langen Jahren wirkte sie wie jemand, der schon viel älter war. Sie hatte den Korb auf die Hüfte gestützt und blieb stehen, um mit einem alten Weib mit Umhängetuch zu reden, bevor sie ihre Last wieder hochhob und ein tabac betrat. Quinn beobachtete sie aus dem kalten, verrauchten Führerhaus des Lastwagens und wollte ihr gerade folgen - hatte schon den Körper angespannt -, als plötzlich der stämmige Sergeant mit den Befehlen zurückkehrte und den rumpelnden Motor anließ. Okay, knöpfen wir uns ein paar von den Deutschen vor, was?
Ein hagerer, genervter Arzt, der im Hauptbahnhof an einem speziellen Tisch arbeitete, untersuchte Quinn und stellte ihm eine Bescheinigung aus, derzufolge er nicht an Grippe erkrankt war. Eine Schwester vom Roten Kreuz drückte ihm eine Papiertüte voller Käsesandwiches in die Hand und machte ihn darauf aufmerksam, dass die Staatsgrenzen wegen der Epidemie geschlossen waren. Er stieg in einen Zug, fuhr, in der Hitze dösend, über die Blue Mountains und dann in das braune Land der westlichen Ebenen hinab.
Im Zug wimmelte es von heimkehrenden Soldaten - ein paar schweigsam und verschlossen, die meisten rauchend und zechend - und von Zivilisten: eine elegante Frau, die den Arm um die Schultern ihres kleinen Sohns gelegt hatte, ein Farmer mit einer Hasenscharte, der nach Bier stank, ein Junge mit trüben Augen und zwei Mädchen, die beide eng um ihr linkes Handgelenk gewundene Bänder trugen - der neueste abergläubische Schutz gegen die Epidemie. In den Waggons war es warm, die Luft erfüllt vom Zigarettenrauch. Quinn stand im schmalen Gang und starrte aus dem Fenster. Er hatte die Grippemaske abgenommen, um den Wind im Gesicht besser spüren zu können. Die Landschaft war graubraun und ausgelaugt. Eine Gruppe von Männern am anderen Ende des Gangs unterhielt sich über den Wynne-Mord: Ein namhafter Arzt aus Bathurst hatte in der vorigen Woche seine untreue Frau erschossen und war geflüchtet. Ein krankes Baby wimmerte.
Wie eine bizarre Spinne, die nicht an ihre vielen Gliedmaßen gewöhnt ist, kamen vier betrunkene Soldaten Arm in Arm den Gang entlanggetorkelt. Alle sangen mit wackligen Beinen, aber großer Begeisterung verschiedene Lieder, und einer von ihnen bat die anderen, noch mal neu anzufangen, damit sie im Takt singen könnten, doch sie schenkten ihm keine Beachtung. Einer stolperte und schnitt sich an einem metallenen Fensterschloss. Der Soldat hielt die blutende Hand hoch. »Ich bin verwundet«, jammerte er in gespielter Verzweiflung, während seine Freunde ihm lachend auf die Schulter klopften, ein breites Grinsen in ihren dummen Gesichtern. »Schicken Sie mich nach Hause, Captain. Ach, bitte schicken Sie mich nach Hause.«
Angeblich waren Menschen, die den Tod gesehen und überlebt hatten - bei einem Unfall, im Krieg oder wo auch immer -, manchmal von einem unnatürlichen Überschwang und Hunger auf Leben erfüllt. Wenn irgendwer mit dem Tod vertraut war, dann diese aus dem Krieg in Europa heimkehrenden Soldaten; Quinn hatte die Stimmung in London, unter denen, die noch demobilisiert werden mussten, als ein kaum gezügeltes Chaos in Erinnerung. Unglaube und Schuldgefühle waren eine gefährliche Mischung. Männer gingen das Risiko ein, johlend und wie wahnsinnig lachend, mit blitzenden Zähnen, in der einen Hand eine Flasche und in der anderen einen Schlapphut, hinten auf fahrende Kutschen aufzuspringen oder an einem eiskalten Morgen in der Themse zu baden. Doch Quinn teilte ihre Begeisterung nicht; er befürchtete, dass ihm das Schlimmste noch bevorstand.
Während der Fahrt musste er immer wieder verstohlene Blicke auf den Farmer mit der Hasenscharte werfen und konnte kaum glauben, dass dieser Mann zur selben Zeit, als Quinn Tausende von Kilometern entfernt bis zur Brust in Schlamm, Blut und Trümmern gestanden hatte, seinem Tagwerk nachgegangen war. Der Farmer lächelte zaghaft zurück, als glaubte er, dass sie wegen ihrer deformierten Gesichter etwas gemeinsam hätten.
Ein junger Mann in schickem Anzug und steifem Strohhut kam auf Quinn zu, bot ihm eine Zigarette an - eine Havelock, mit Freuden angenommen - und begann ein träges Gespräch. Der Fremde roch nach Menthol und Gewürznelken und hatte ein weißes Taschentuch, mit dem er sich in regelmäßigen Zeitabständen die glänzende Oberlippe abtupfte. Er stellte sich als Mark Westbury vor, war ernst, aber freundlich und lauschte aufmerksam dem wenigen, das Quinn ihm von seinen Kriegserlebnissen erzählte. Quinn plauderte nicht gern und fand es schwierig, beim Rattern des Zugs und dem allgemeinen Radau etwas zu verstehen.
»Und wo haben Sie gekämpft, Sergeant ... Walker, oder?« Quinn zuckte zusammen. »Woher kennen Sie meinen Namen?« Mr. Westbury deutete auf das Namensschild an Quinns Uniformjacke. Natürlich.
Der Zug fuhr eine Kurve. Im angrenzenden Abteil fiel ein in braunes Papier eingeschlagenes Paket von der Gepäckablage. »Hauptsächlich in Frankreich«, sagte Quinn, als er das Gleichgewicht zurückerlangt hatte. »Und in der Türkei.«
Mr. Westbury musterte Quinn. Jetzt, wo sie sich einander vorgestellt hatten, traute er sich, Quinns Narbe anzustarren. »Sie haben Glück gehabt«, sagte er.
Das hatte Quinn schon ein Dutzend Mal gehört. Im Feldlazarett in Frankreich und dann auch im Harefield Hospital, als eine verschleierte Schwester das Bett neben seinem machte, nachdem sie einen armen Teufel, der in der Nacht gestorben war, hinausgeschoben hatte. Vielleicht sehn Sie's jetzt noch nicht so, aber Sie gehören zu denen, die Glück hatten. Dann wieder auf dem Transportschiff, das sie nach Hause brachte. Die Leute sagten es ihm ständig und waren enttäuscht, wenn er seine Zustimmung nicht mit der entsprechenden Begeisterung zum Ausdruck brachte.
»Ich meine, Sie hatten Glück, dass Sie überlebt haben«, fügte Mr. Westbury hinzu. »Trotz ... der Narbe und allem.«
»Ja«, sagte er schließlich. »Ich hab Glück gehabt.«
Mr. Westbury sagte irgendwas, das Quinn wegen des Lärms nicht verstand. »Was?« »Ich habe gesagt: Sie wurden verschont.« »Ja.« Nach kurzem betretenem Schweigen fragte der junge
Mann, wohin er unterwegs sei.
»Flint«, erwiderte Quinn.
Mr. Westbury nickte, obwohl klar war, dass er noch nie von dem Ort gehört hatte. Das ging fast allen so. Jetzt, wo das Gold abgebaut war, gab es kaum einen Grund, dort hinzufahren. Es gab nur noch wenige Einwohner. Nicht einmal die Kartografen befassten sich noch mit dem Ort.
»Das ist Ihre Heimat, nehme ich an?«
Quinn betrachtete diesen Burschen mit seinem gestärkten Hemd, der ihm erzählt hatte, er sei wegen einer Sehschwäche für den Militärdienst untauglich. Er zuckte mit den Schultern und zog an seiner Zigarette, woraufhin er einen leichten Hustenanfall bekam.
»Ich glaube schon«, sagte er, als er sich erholt hatte. »Es ist mein Geburtsort. Ich muss da was in Ordnung bringen.«
Mr. Westbury tupfte sich mit seinem Taschentuch ungeduldig die Stirn ab. »Tja, viele Orte sind vor die Hunde gegangen. Jede Menge.« Anscheinend hatte er das Interesse verloren.
Quinn warf seine Zigarette auf den Boden und trat sie mit dem Stiefelabsatz aus. Eine Frau mit ihrer kleinen Tochter gab zu verstehen, dass sie vorbeiwollte, und Quinn und sein neuer Begleiter traten so weit zurück, wie der enge Gang es erlaubte.
Dann schwiegen die beiden, bis der Mann, der wieder die schartige Narbe an seinem Kinn angestarrt hatte, ihn heranwinkte und im Flüsterton sagte: »Sie sollten sich etwas für Ihr Gesicht einfallen lassen. Es vielleicht abdecken? Haben Sie keine Grippemaske? Sie jagen den Kindern sonst Angst ein.«
Und Quinn, gewöhnlich zurückhaltend, aber jetzt vom Teufel geritten, erwiderte ebenfalls flüsternd: »Tja, die Kinder haben allen Grund, sich zu ängstigen.«
In Bathurst schlich er aus dem Bahnhof und wandte sich nach Nordwesten. Er verließ die Stadt und ging immer weiter, manchmal an der Straße entlang, dann wieder schleppte er sich durch Ebenen oder kletterte über zerklüftete Felsen. Die Erde unter seinen Füßen war trocken und hart, und der Himmel - blau und wolkenlos - gähnte über ihm, höher und gewaltiger als jeder Himmel, den er irgendwo auf der Welt gesehen hatte, ein eigener Kontinent. Habichte kreisten wie dunkle, wachsame Sterne, die sich aus ihrer Umlaufbahn gelöst hatten.
Er trennte sein Namensschild von der Uniformjacke ab und mied Orte, an denen er Leuten begegnen könnte, die ihn vielleicht erkennen würden. Die wenigen Farmer, die er sah, nickten oder wedelten mit dem Hut, erfreut, einen Soldaten aus dem Weltkrieg zu Hause begrüßen zu können. Eine Familie rumpelte vorbei, ihre ganzen Besitztümer und die fünf Kinder auf einem Pferdekarren zusammengedrängt. Ihre Münder und Nasen waren mit Mullmasken bedeckt, sie wandten den Blick ab und entboten ihm keinen Gruß, da sie offenbar Angst hatten, sich anzustecken. Zumeist schenkten die Leute ihm keine Beachtung. Nach einem Krieg war es nicht so ungewöhnlich, jemanden allein umherziehen zu sehen; vermutlich gab es ganze Heere heimkehrender Männer, alle in zerlumpter Uniform, als winzige Punkte auf der Erde wandelnd. Um die Mittagszeit hielt er unter einer Gruppe Zypressen ein Nickerchen und marschierte dann weiter, bis es zu dunkel wurde.
Auf dem Lande wimmelte es von Tieren: Eidechsen und Schlangen, Buntsittiche und Elstern. In der Abenddämmerung hüpften graue Kängurus auf den Wiesen und stellten sich auf die Hinterbeine, um zu beobachten, wie er vorbeistapfte. Kaninchen hoppelten am Rand seines Blickfelds entlang, und wo er auch ging, umflatterten ihn Paare orangefarbener Schmetterlinge. Und das Summen, immer wieder dieses Summen von Fliegen und Bienen, das er trotz seines schlechten Gehörs vernahm.
Er war es gewohnt, lange Strecken zu marschieren, und kam gut voran. Es war angenehm, sich so frei zu fühlen, trotz des Kriegszubehörs, das er noch bei sich trug - seinen Tornister, die Umhängetasche mit seiner Gasmaske und seinen Revolver, der unter der offenen Uniformjacke steckte. Er hielt sich an keinen festen Kurs, sondern marschierte einfach, als könnte sein Vorwärtsdrang den Gestank des Krieges und alles, was während seiner Abwesenheit passiert war, zunichtemachen. Am Horizont waren zitternde Luftspiegelungen zu sehen. Riesige Schiffe, eine Kolonne von Elefanten, einmal sogar eine ganze Stadt mit Gebäuden und Kirchtürmen, eine riesige Metropole, die sich jedes Mal, wenn er näher kam, weiter zurückzog.
Am Ende des Tages verschwand die Sonne stets aus seinem Blickfeld und ließ für zehn Minuten den Horizont erglühen. Er schlug sein Lager abseits der Straße auf und starrte in die Flammen des Feuers, das sein Ersatz für die untergegangene Sonne war. Seine Sandwiches teilte er sich sorgfältig ein. Er betete auf seine seltsame Art, die eher einer Befragung glich. Wenigstens ahnte er jetzt, nach all den Jahren, warum er verschont worden war. Das war ein Trost.
Mit dem Gedanken an seine Schwester Sarah schlief er ein. Selbst mit geschlossenen Augen wusste er, wo auf der Erde er sich befand, konnte sich seine genaue Position vorstellen, während sein innerer Kompass ausschlug, um ihn nach Hause zu führen.
2 Nach mehreren Tagen wurde die Landschaft vertrauter. Quinn begann, Örtlichkeiten zu erkennen: eine Felsengruppe, die aussah wie eine Horde im Gestrüpp schnüffelnder Schweine; den Baum, an dem sich Bill Clayton 1905 erhängt hatte, nachdem seine Frau mit dem Trommler der Heilsarmee durchgebrannt war; die Abraumhalden verlassener Goldminen. Er stieß auf Schluchten, die vom Bergbau herrührten, verlassene Schächte, die verrosteten Überreste von Maschinen, die halb in der roten Erde versunken waren.
Noch vor fünfzig Jahren waren diese Hügel voller Gold gewesen, und in Flint hatte es von hungrigen Männern und ihren noch hungrigeren Familien gewimmelt, doch der Boom ging rasch vorbei und hinterließ eine gequälte, zerklüftete Landschaft, verschandelt von den Überresten der Steinstampfer und der Holzgerüste, die man über den Schächten errichtet hatte. Alles, was blieb, war die große Sparrowhawk Mine, doch die Berge und Schluchten in der ganzen Gegend waren mit den Trümmern kleiner Siedlungen überzogen, in denen sich die Familien nach ihren Herkunftsländern niedergelassen hatten: das Welsh Village, Irish Town, Chinese Flat. Der Boden war hart und steinig. Überall blühten schottische Disteln. Selbst die einheimischen Bäume schienen nicht aus diesem Land gesprossen, sondern - gegen ihren Willen, da sie himmelwärts strebten - in die Erde gesteckt worden zu sein, aus der sie sich jetzt herauszuwinden versuchten.
Quinn hatte diese Hügel als kleiner Junge durchstreift, hatte Vögel und Kaninchen erlegt, und oft war Sarah hinter ihm hermarschiert und hatte ihn für Fehlschüsse getadelt. Sie hatten kleine Goldklumpen gefunden, die sie horteten und, wenn sie älter waren, verkaufen wollten, um in fremde Länder reisen und exotische Tiere und Juwelen erstehen zu können. Sarah nannte diese Klümpchen Schätze, wenn sie sie feierlich in eine Zigarrenkiste legte, zu verschiedenen Knöpfen, die sie als wertvoll betrachtete, einer Brosche, seltenen Federn und einer Briefmarke, die sie eines Tages in der Orchard Street gefunden hatte. Oft hatte Sarah einen dieser Gegenstände als Glücksbringer dabei und zog ihn irgendwann hervor, um ihn sich anzusehen.
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Autoren-Porträt von Chris Womersley
Chris Womersley wurde 1968 in Melbourne geboren, wo er heute nach ausgedehnten Reisen in Asien, Afrika und Südamerika wieder lebt. Er studierte Kreatives Schreiben, arbeitete als Journalist und veröffentlicht seit 2006 Kurzgeschichten.Thomas Gunkel, geb 1956 in Treysa, Erzieher, studierte Germanistik und Geographie und ist als Übersetzer tätig.
Bibliographische Angaben
- Autor: Chris Womersley
- 2013, 317 Seiten, Maße: 14,4 x 21,9 cm, Geb. mit Su., Deutsch
- Übersetzer: Thomas Gunkel
- Verlag: DVA
- ISBN-10: 3421045720
- ISBN-13: 9783421045720
Rezension zu „Beraubt “
"Knapp und kühl erzählt, und trotzdem voller Feuer. Eine Entdeckung." ECHO (A), 03/13
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