Black Box DDR
Unerzählte Leben unterm SED-Regime
Die DDR, ein gefallener Staat, der sich hüben wie drüben der Wirklichkeit mehr und mehr entzieht. Doch wie dem Leerlauf aus Abwehr und Ignoranz entkommen? Wie das historische Vakuum fassen? Black-Box DDR will konkretes Leben erzählen, mit seinen Hoffnungen,...
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Produktinformationen zu „Black Box DDR “
Die DDR, ein gefallener Staat, der sich hüben wie drüben der Wirklichkeit mehr und mehr entzieht. Doch wie dem Leerlauf aus Abwehr und Ignoranz entkommen? Wie das historische Vakuum fassen? Black-Box DDR will konkretes Leben erzählen, mit seinen Hoffnungen, Aufbrüchen, Zufällen, Lieben und Krisen, mit kleinem Glück und brutalem Scheitern. Ein Erfahrungs-Container, durch vier Jahrzehnte, quer durch das "Kollektiv Ost", durch alle Schichten, Berufe, Gruppierungen: vom geschassten Unternehmer der frühen DDR über die verschollene Tochter Walter Ulbrichts, von der Geschichte der Mauertoten, dem Attentäter Erich Honeckers bis zum Widerstand der Nonnen im Eichsfeld. Wie lebte man mit dem Projekt DDR? Was war möglich? Wo hörte der vermeintliche Spielraum auf? Was erzählt ein Ostberliner Kohlearbeiter, was ein Zeuge Jehovas, was eine Schülerin, die mit 15 Jahren von der Stasi zwangsverpflichtet wurde? Mit Beiträgen u. a. von Grit Poppe, Hans-Joachim Föller, Jochen Staadt, Benedict-Maria Mülder, Roman Grafe, Thomas Purschke.
Klappentext zu „Black Box DDR “
November 2009. Das wiedervereinigte Deutschland feiert sich mit Festtagsreden, Jubel und Feuerwerk. Die erbitterten Debatten in den Feuilletons, die Streits unter Wissenschaftlern und Politikern, haben ausnahmsweise mal Pause: Zu einzigartig war dieser Herbst vor zwanzig Jahren. Warum aber wird seit 1989 so zäh gestritten? Vor allem worüber? Und was war sie denn nun, diese untergegangene DDR? Ein Unrechtsstaat, eine kommode Diktatur, ein nettes Versorgungsheim für 17 Millionen Menschen? Für viele aus dem Westen hat der hinzugekommene Landesteil nie aufgehört, eine Gesellschaft mit sieben Siegeln zu sein. Ferien in Ostdeutschland? Niemals. Stasi, IMs? Grauenhaft. Und die Ostdeutschen? Angesichts von Arbeitslosigkeit und Entvölkerung empfinden sie sich einmal mehr als Verlierer und sind heftig am Verklären. Einfach, gemeinsam und vor allem sicher, war das Leben in der DDR. Und verstehen könne sie nur, wer sie erlebt hat. Dafür brauche man schlichtweg keine Westler. Die DDR, ein gefallener Staat, der sich hüben wie drüben der Wirklichkeit mehr und mehr entzieht. Doch wie dem Leerlauf aus Abwehr und Ignoranz entkommen? Wie das historische Vakuum fassen? Black-Box DDR will konkretes Leben erzählen, mit seinen Hoffnungen, Aufbrüchen, Zufällen, Lieben und Krisen, mit kleinem Glück und brutalem Scheitern. Ein Erfahrungs-Container, durch vier Jahrzehnte, quer durch das "Kollektiv Ost", durch alle Schichten, Berufe, Gruppierungen: vom geschassten Unternehmer der frühen DDR über die verschollene Tochter Walter Ulbrichts, von der Geschichte der Mauertoten, dem Attentäter Erich Honeckers bis zum Widerstand der Nonnen im Eichsfeld. Wie lebte man mit dem Projekt DDR? Was war möglich? Wo hörte der vermeintliche Spielraum auf? Was erzählt ein Ostberliner Kohlearbeiter, was ein Zeuge Jehovas, was eine Schülerin, die mit 15 Jahren von der Stasi zwangsverpflichtet wurde? Mit Beiträgen u. a. von Grit Poppe, Hans-Joachim Föller, Jochen Staadt, Benedict-Maria Mülder, Roman Grafe, Thomas
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Lese-Probe zu „Black Box DDR “
Black Box DDR von Ines Geipel und Andreas Petersen Das Warten auf die Linden
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Aktion »Ungeziefer«Bei der Aktion »Ungeziefer« des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) mussten 8000 Menschen im Mai und Juni 1952 entlang der innerdeutschen Grenze innerhalb von zwei Tagen ohne jede Angabe von Gründen ihre Häuser und Höfe verlassen. Etwa 3000weitere flohen. An der Grenze wurde ein dreifach gestaffeltes Sperrgebiet errichtet (10-Meter-Kontrollstreifen, 500-Meter-Schutzstreifen, 5-Kilometer-Sperrzone), das nur noch mit Spezialbewilligung betreten werden durfte. Alle »politisch Unzuverlässigen« sollten entfernt werden. »Ist ein Feind der Regierung, aber kann es gut verdecken«, so oder ähnlich lauteten die Spitzelmeldungen, die zur Aufnahme in die Stasi-Ausbürgerungslisten führten. Beim Riecken-Großhof ging es vermutlich um die Überführung ins Landwirtschaftskollektiv. Zehn Jahre später, nach dem Bau der Berliner Mauer, wurden bei der Nachfolgeaktion»Festigung« in sechzig Dörfern morgens um sechs Häuserumstellt und erneut 3175 Menschen ohne Begründung aus dem Grenzraum deportiert. Magdalene Riecken 11Das Warten auf die Linden Magdalene Riecken Herbst 1939. Die junge Bäuerin lief über das kurz gemähte Gras der Wegrampe neben dem Hof auf den Deich. Sie mochte den Blick auf die Elbe, die stehenden Altarme, die Weiden, die wieder geschlagen werden mussten, die Frachtkähne, die sich in der Abendsonne flussabwärts nach Hamburg schoben. Das Ziel würden sie heute nicht mehr erreichen. Die Höfe lagen aufgereiht entlang dem Deich, mit der Stirnseite zum nahen Wasser. Gebietsreformen hatten sie zu Landkartendörfern zusammengefasst: Kolepant, Vockfey, Privelack, Pommau. Seit vier Jahren war Magdalene Riecken hier. Es warenschwere Zeiten gewesen, aber ihr Mann und sie hatten etwaserreicht. Der Menschenschlag hier war anders als bei ihnen auf dem Hof im 60 Kilometer entfernten Kogel. Das Platt klang fastgleich, aber man hielt sich in Pommau als Hannoveraner für was Besseres. Manch einer hatte geschaut, als ihr Wilhelm eine aus dem Mecklenburgischen heiratete. Ihr Blick ging zum Hof. Dabei gab es bei ihnen im großen Esszimmer mit den zwölf Stühlen Besteck, auch schon für die dreijährige Gudrun, Biedermeiermöbel im Herrenzimmer und eine Chaiselongue auf den roten Fliesen im großen Flur. Der stattliche Backsteinbau mit Zierverbänden und Buchsbäumen rechts und links der kleinen Freitreppe war gar zum Postkartenmotiv für Sommerfrischler aus Hamburg geworden, samt dem Baumkranz aus Linden um das Haus. Ihr Mann war ein Bauer mit Ideen, und da war er wie ihr Vater. Auch der hatte jung den Hof übernommen und ihn zu einem Musterbetrieb mit Getreidemäh- und Kartoffelpflanzmaschine, samt eigener Stromversorgung ausgebaut. Seine zwei Töchter hatte er nach der Grundschule von einer Hauslehrerin unterrichten lassen. Wo gab es das schon auf dem Land? Sie lernte12 Das Warten auf die Linden Magdalene und Wilhelm Riecken im Schatten ihrerer Linden, Pommau 1938Magdalene Riecken 13Klavier spielen, sprach fehlerfreies Hochdeutsch und besuchte1929 eine Bauernhochschule auf einem Schloss. Mit der Heirat kam viel Vieh, aber auch ihre eigenen Vorstellungen mit auf den Hof hinterm Deich. Mit 14 Hühnern und einem Hund hatte ihr Mann angefangen, und nun besaßen sie Zuchtstuten, Schweine und schwarzbunte Kühe, ja sogar eine Melkmaschine. Von den 50 Hektar des Hofes war nur die Hälfte unter dem Pflug, aber auf ihren schweren Marschböden weidete Pensionsvieh. Nun, unmittelbar mit Beginn des Krieges war ihr Mann mit zwölf anderen eingezogen worden. Über den Krieg gegen Polen hörte man in Pommau wenig. Magdalene Riecken hoffte vor allem, dass erschnell vorbei sein würde. Aber die Hoffnung täuschte. 1940 wurde ihre zweite Tochter Marie-Luise geboren. 1941 kam der zukünftige Hoferbe Franz-Wilhelm zur Welt. Doch der Arzt diagnostizierte bei ihm einen Herzklappenfehler. Die drei Kleinkinder, die Angst um den Mannin der Ferne, die seltenen Briefe von ihm, die fehlenden Knechteund Mägde, die Verantwortung für den großen Hof: Die Dreißigjährige war in diesen Jahren oft am Ende ihrer Kraft. Sie bemühte sich um Unterstützung und war erschrocken über die verschleppten Zwangsarbeiterjugendlichen. Ärmlich, mit Kleiderbündeln, ohne ein Wort Deutsch zu verstehen. Die junge Polin, die letzten Endes zu ihr auf den Hof kam, hieß Sofi. Sie weinte viel und fasste nur langsam Vertrauen. Entgegen allen Vorschriften aß sie mit am Tisch und war bald aus der Familie nicht mehr wegzudenken. Ende 1943 besuchte Magdalene Riecken ihren Mann in seiner Kaserne in Rumänien. »Der Junge soll den Hof übernehmen, die Mädchen etwas lernen«, gab er ihr mit auf den Heimweg. Dann hörte sie nichts mehr von ihm. Wieder zu Hause, musste sie mit ansehen, wie sich die Wehrmacht hinter dem Deich verbarrikadierte. Auf einmal standen amerikanische Truppen auf der anderen Elbseite. Granaten schlugen ein, Kugeln zersplitterten Dachschiefer. In das Durcheinander aus Kriegsgefangenen, Wehrmachtssoldaten, Zwangsarbeitern in Zivil und verängstigten Frauen und Kindern rückten amerikanische Soldaten ein. Ihnen folgte englische Besatzung. Und auf einmal hieß es: »Die Russenkommen!« Nachbarn flohen über die Elbe. Alle Dörfer wurden besetzt, die Wege abgeriegelt, der Deich bewacht. Es gab Haus 14. Das Warten auf die Lindendurchsuchungen, Verdächtigungen, verwirrende Verordnungen und deutsche Zuträger. Leute verschwanden. Magdalene Riecken entdeckte nachts zwei Russen, die in schwachem Lampenschein Gewehre im Stall vergruben. Sie verschwanden wortlos, als die Bäuerin in der Tür stand. Bei einer Hausdurchsuchung am nächsten Tag wäre sie vermutlich verhaftet worden. Einmal wurde Magdalene Riecken als einzige Frau unter lauter Männern aus dem Dorf verhaftet. Eine Nacht in einerdreckigen Zelle. »Wir sollten immer wieder eingeschüchtert werden, und zur Ablieferung unseres Solls gepresst werden«, erklärt sie in ihren Lebenserinnerungen. Schließlich wurden sowjetische Grenztruppen im Haus einquartiert. Fünf, sechs Mann waren regelmäßig da. Sie schnitten ihren Tabak auf dem Schreibtisch, steckten einen Balken querdurch den Raum in den Ofen und schoben ihn in die Glut nach. Magdalene Riecken schlief mit den drei Kindern in einer Kammer oben im Haus, in der Diele. Sie kochten im Schweinestall und aßen in der Mehlkammer. Die Soldaten freuten sich an den Kindern. Doch für die alleinstehende Frau war es schrecklich. »Man war Freiwild«, wird sie im Alter ihrer Tochter über diese Zeit sagen. Tagsüber bewirtschaftete sie den Hof, abends flüchtete sie vor den angetrunkenen Soldaten. Immerhin gab es einen russischen Offizier, der »für sie schaute«, so die Formulierung der Tochter. Überall waren Vertriebene einquartiert, auch bei ihnen. Familie Meier und Familie Hilger. Sie hatten alles verloren. Man wusste gegenseitig um das Schicksal des anderen, war sich schweigendeinig über die neuen Herrscher. Die neu Dazugekommenen packten hart zu. Magdalene Riecken war dankbar. Doch dann starb ihr herzkranker Sohn, mit fünf Jahren. Ein Schock. Nachts, wenn sie mit ihren Kindern in einem Zimmer schlief, weinte sie. Von ihrem Mann hatte sie nicht mehr gehört, auch keine Todesanzeige erhalten, nur auf Umwegen gehört, dass er vermisst war. Vielleicht hatte er in russischer Kriegsgefangenschaft überlebt. Sie unternahmalles, um den Hof weiterzuführen. Aber die langen Erntetage, der fehlende Strom für die Dreschmaschine, das Schwarzschlachten in der Nacht, das schwere Holzschlagen im Wald. Auf Dauer würde sie den Hof nicht allein halten können. Immer öfter half ihr der Ostfriese Heerko Kok. Ein netter Kerl vom Nachbarhof, acht Magdalene Riecken 15Jahre älter, ohne Frau. Bald zog er in die Kemenate neben ihrer, auf der Diele. Das gab Magdalene Riecken Schutz. Dabei hielt sie das Verhältnis so diskret, dass es selbst vor den Kindern in der Schwebe blieb. Die russischen Soldaten zogen nach drei Jahren ab, aber das hohe Soll für die gestaffelten Abgaben, der Druck auf die großen Höfe, lagen als Dauerangst über den langen Hoftagen. Nachbarn gaben auf, andere flohen. Deren Güter wurden in den ÖLB, den Örtlichen Landwirtschaftsbetrieb, überführt. Sie aber kämpfte, wollte den Hof erhalten, egal wie, für ihre Kinder. Insgeheim hoffte sie, dass ihr Mann vielleicht doch eines Tages wieder dastehen würde, dass es zusammen weitergehen würde. In all den Jahren hatte sie gelernt, die Zügel in der Hand zu behalten. Zugleich wusste sie, dass sich die Dinge von heute auf morgen ändern konnten. Realistin war sie geworden, hatte einen Blick für das bekommen, was möglich war. Manchmal war es sehr wenig. Dass der neue Staat gegründet wurde, merkten sie vor allem daran, dass die »Demarkationslinie« wie es hieß, befestigt wurde und deutsche Grenzpolizisten jeden Kahn beäugten. Von Schießbefehl war die Rede.1952. Dreizehn Jahre hatte sie nun den Hof allein geführt. In den Frühling kündigte sich der Sommer an. Hinter dem Deich wurde täglich ein Zehnmeter-Streifen geharkt, Stacheldrahtzäune spannten sich vor ihrem Küchenfenster. Sie bekamen spezielle Ausweise für das Leben im 500-Meter-Niemandsland, in dem es keinen Gang mehr auf den Deich gab und keinen Besuch ohne mühsame Passagierscheinangelegenheiten.»Hast Du auch gehört, dass so viele aus dem Dorf raus müssen?«, fragte die Tochter des Bürgermeisters die 12-jährige Marie-Luise nach dem Klingeln der Schulglocke. Sie rannte nach Hause. Dort standen Mutter und Schwester weinend in der Tür. Sie würdenumgesiedelt, in 48 Stunden müsse alles gepackt sein. Warum? Wohin? Nichts wusste man. Verzweifelt fuhr die Bäuerin mit dem Rad zu Nachbarn. Im Gerüchtegewirr schälte sich heraus: 12 Familien hatten den Bescheidbekommen. Tage wie im Schock: Frau Hilger und die anderen, die beim Packen halfen, ein Verwandter, der abends mit einem Trecker noch Möbel holte. Was mitnehmen, was verräumen, woanders unterbringen? Nächte ohne Schlaf. »Warum16 Das Warten auf die Linden sie?« Am Morgen des 9. Juni 1952 standen Lastwagen vor den Häusern. Auf manch auszusiedelnden Höfen waren Kinder im Krankenhaus, Alte bettlägerig. Möbel, halb offene Kisten, Körbe wurden gestemmt. Verabschiedung von den Flüchtlingsfamilien. Magdalene Riecken stieg mit ihren Töchtern auf die Ladefläche. Unten stand Heerko Kok. Die Ausweisung galt nicht für ihn. Sie hatten abgemacht, dass er den Hof weiterführte. Als der Lastwagen mit ihnen über die Straße hinter den Häusern dahin rumpelte, lag alles wie ausgestorben, war nirgends jemand zu sehen. »Das habe ich erst sehr viel später verstanden«, erzählt die Tochter, »die hatten alle Angst, dass sie die Nächsten sind«.An der nahen Bahnstation wurden sie in Güterwagen verladen.53 Menschen drängten sich in die alten Bahnwagen. Kleinkinder, Alte. Wohin sollte es gehen? Sibirien? Wieso sie? »Nein, nein, wir kommen zurück.« Eine Verwechslung. Dass es Tausenden in diesen Stunden gleich ging, wussten sie nicht.Sie fuhren, standen lange, froren in der Nacht. Weit kamen sie nicht. Am Mittag des nächsten Tages hielt der Zug in Malchin, hundert Kilometer nordöstlich. Lastwagen brachten die Ausgesiedelten in Dörfer der Umgebung. Das Misstrauen der wie immer im Unwissen gelassenen Bevölkerung schlug ihnen entgegen. »Irgendwas werden sie schon gemacht haben«, flüsterten die Nachbarn. Die Mutter kam mit ihren beiden Töchtern in ein Zimmer bei einem Bauern. Vier mal vier Meter. Stühle, ein Tisch. FürBetten war kein Platz. Nachts schliefen sie auf dem Boden. Die Möbel standen im Regen, irgendwann einmal in einem Hühnerstall. Um kochen zu dürfen, mussten sie sich mit der abweisenden Bäuerin einigen. Heimlich trafen sich Heerko Kok, einen Bullen vom Hof im Schlepptau, und Magdalene Riecken im Gewühl eines Rindermarkts. Auf dem Rückweg ließ man ihn nicht mehr in die Sperrzone. Am Abend stand er vor der Tür. Im Dorf sprach sich herum, dass hier zwei ohne Trauschein miteinander lebten. Es gab Gerede. Nach drei Wochen entschied sich Magdalene Riecken weiter zuziehen. Über Umwege und Kontakte kam sie schließlich zu einer Hofstelle in der Nähe von Malchin. Für das lebende und tote Inventar des enteigneten Hofes hatte sie etwas Geld auf ein Sperrkonto bekommen. Bedingung: Verwendung nur für Magdalene Riecken 17eine neue Hofstelle. Land wurde nicht entschädigt. Fünf Wochen nach der Ausschaffung waren alle Höfe der Weggetriebenen in die Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft (LPG) überführt. Einen Teil ihres Viehs konnte sie sich noch holen, aber es gab keine Rückkehr. Selbst das Grab ihres Sohnes auf dem Friedhof in der Sperrzone blieb für sie unerreichbar. Trotz aller Schwere entschied sich Magdalene Riecken für einen Neuanfang. Die Siedlung war ein ausgebauter Schafstall, quer geteilt für vier »Neubauern«, wie es hieß. Die Zimmer im Hochparterre. Acht Hektar Land für jeden, etwas mehr, als sie früher Wald besaß. Aber sie wollte etwas aufbauen, für ihre Töchter, die halfen, wo sie konnten. Sie bewarb sich um die Genehmigung zur Lehrmeisterin und nahm Marie-Luise offiziell als Lehrtochter auf den Hof. Aber das Ganze stand von vornherein unter einem schlechten Stern: Die Wintervorräte fehlten, genauso wie die Kohlen. Sie froren wochenlang während des bitterkalten Jahreswechsels. Im Dorf munkelten einige, »die Neuen« hätten gegen die Regierung agiert. Man enthielt ihnen ihre Zuteilungen, für Tauschgeschäfte war nichts mehr geblieben, und Heerko Kokwar kein Partner für diesen Neuanfang. Am Ende musste Magdalene Riecken an die LPG abgeben. »Manchmal wollten mich die Sorgen schier erdrücken. Ich glaubte mehr als einmal an einem Abgrund zu stehen«, schreibt sie in ihren Erinnerungen. In all den Jahren kreiselten ihre Gedanken immer wieder um Pommau. Von den Veränderungen auf dem Hof erfuhr sie aus den Briefen der Flüchtlingsfrauen, die nun auf den Feldern der LPG standen. Die Berichte der Frauen kursierten im Kreis der ins Exil getriebenen Dorfschar. Die lebten irgendwo zerstreut und doch imaginär auf ihren Elbhöfen weiter. Magdalene Riecken hoffte noch immer auf ihren Mann, las in der Zeitung Namen für Namen die Listen der aus der Kriegsgefangenschaft Entlassenen durch. Als 1956 die letzten Russlandheimkehrer eintrafen, war sie monatelang niedergeschlagen. Im Laufe der Jahre erwarb sie sich das Zutrauen der Dorfbewohner von Altbauhof bei Dargun. Manch einer fragte sie unter der Hand: »Nun mal ehrlich: Warum haben sie Euch ausgewiesen?« Was sollte sie schon darauf sagen? Nur zu gern hätte Gudrun, als älteste Tochter, den Hof hinter dem Deich übernommen.18 Das Warten auf die Linden Doch die Zeiten schienen endgültig vorbei. Magdalene Riecken ermutigte ihre Töchter zu lernen, um nicht in der LPG irgendwo auf dem Feld zu stehen. Gudrun wurde Buchhalterin, später Ökonomin in einer LPG. Marie-Luise meldete sich in der Fachschule für Veterinärwesen in Rostock an und arbeitete dann bei einem Tierarzt. Als Tochter einer Zwangsausgesiedelten kam für sie die Erweiterte Oberschule nicht infrage. Nach fünf Jahren hatte Magdalene Riecken fast alles verloren. Als sie aufgab, erhielt sie die Order, auch ihre Wohnung zu verlassen. In einem ehemaligen Gutshaus in der Nähe kam sie mit ihren Töchtern in zwei Zimmern unter. Heerko Kok zog in eins daneben. Sie brauchte Arbeit und fand sie auch, zum ersten Malin ihrem Leben nicht in der Landwirtschaft. Nun begleitete die einstige Großbäuerin Kinder, die in die Kur geschickt wurden. Und als 1960 die letzten freien Landwirte in die Produktionsgenossenschaften gezwungen worden waren, richtete man in dem alten Gutshof die Großküche der LPG ein. Sie wurde als Köchin angestellt. 12 Jahre versorgte sie die Landarbeiter, jeden Tag. DieArbeit gefiel ihr. In die LPG trat sie nie ein, dafür in die LDPD,die Liberaldemokratische Partei. Die war inzwischen zwar auch gleichgeschaltet, aber immerhin noch die schärfste SED-Gegnerin geblieben. »Dann hast du jemand, der dir hilft«, sagte sie sich und wurde Partei-Kassiererin. Ihre Form der stillen Opposition. In den seltenen, stillen Stunden träumte sie auch weiterhin von Pommau, aber ihr war klar, dass sie dort nicht um die LPG herumgekommen wäre. Sie wollte nicht hadern, versuchte vorauszuschauen.»Den Flüchtlingen ging es noch schlechter«, sagte sie zu sich. Dennoch: In einer Tasche hatte sie alle Belege des Hofes, alle Rechnungen, die Grundbucheintragungen, die Bücher aufbewahrt.»Man kann nicht wissen, wie mal alles kommt«, meinte sie.Heerko Kok fand schließlich Anstellung in der LPG, trank oft und ging seiner Wege. Aber noch immer kochte und wusch Magdalene Riecken für ihn. 1975 starb er. 1985 erfuhr sie, dass ihr Pommau-Hof ganz abgerissen worden war. Die Grenztruppen brauchten freies Sicht- und Schussfeld. Als die Mauer fiel, war Magdalene Riecken 77 Jahre alt. Als sie mit ihrer Tochter Marie-Luise und dem Schwiegersohn Jörg Busse Wochen später in Magdalene Riecken 19Pommau eintraf, wuchs hohes Gras, wo einst der Hof gestanden hatte. Einzig eine Jauchegrube war noch zu sehen. »Alles wiederunser!«, sagte sie mit fester Stimme, während sie aufrecht über das Land hinter dem Deich schritt. Kurze Zeit später gab es ein Dorffest. Alle kamen, die Gebliebenen und die vor vier Jahrzehnten Ausgesiedelten. Jemand vor Ort fragte: »Ihr kommt doch aber alle zurück?«
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Autoren-Porträt von Ines Geipel, Andreas Petersen
nes Geipel ist Schriftstellerin, Professorin für Verssprache in Berlin und ehemalige Weltklasse-Sprinterin. Nach ihrem Germanistik-Studium in Jena floh sie 1989 nach Westdeutschland und studierte Philosophie in Darmstadt. Sie hat vielfach zur DDR und Nachwendethemen publiziert (Doping, Schulmassaker in Erfurt, unveröffentlichte Literatur in der DDR) und gesellschaftliche Debatten angeregt. Zuletzt erschien "Zensiert, verschwiegen, vergessen - Autorinnen in Ostdeutschland 1945 - 1989".Andreas Petersen ist Autor, promovierter Historiker und Dozent an der Fachhochschule Nordwestschweiz. Er studierte allgemeine und osteuropäische Geschichte an der Universität Zürich. Er ist Gründungspräsident des "Forums für Zeitzeugen" in Aarau, publiziert u. a. in der NZZ und NZZ und ist Mitarbeiter beim SED-Forschungsverbund an der Freien Universität Berlin.
Bibliographische Angaben
- Autoren: Ines Geipel , Andreas Petersen
- 2010, 2. Aufl., 320 Seiten, mit zahlreichen Abbildungen, Maße: 13,6 x 20,9 cm, Gebunden, Deutsch
- Mitarbeit: Bohley, Heidi; Fischer-Solms, Herbert; Föller, Hans-Joachim
- Verlag: marixverlag
- ISBN-10: 3865392113
- ISBN-13: 9783865392114
- Erscheinungsdatum: 17.06.2010
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