Blind
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Blind von Joe Hill
LESEPROBE
Jude besaßeine Privatsammlung.
Er besaßgerahmte Zeichnungen der sieben Zwerge, die zwischen den Platinalben an derWand seines Studios hingen. John Wayne Gacy hatte sieim Gefängnis gezeichnet und ihm geschickt. Gacymochte die Disney- Klassiker fast so sehr, wie er es mochte, kleine Kinder zubelästigen, und fast so sehr wie Judes Alben. Judebesaß den Schädel eines Bauern, dem man im 16. Jahrhundert die Hirnschalegeöffnet hatte, um die Dämonen rauszulassen.Im Loch in der Mitte der Schädeldecke steckte seine Stiftesammlung.
Er besaßein dreihundert Jahre altes Sündenbekenntnis mit der Unterschrift einer Hexe.»Und ein schwarzer Hund gelobte, er werde Rindvieh vergiften, Gäule irre undKinder siech machen, so ich bereit sei, ihm meine Seele zu überlassen. Ichwar s zufrieden, und dann säugte ich ihn an meiner Brust.«Die Hexe endete auf dem Scheiterhaufen.
Er besaßeine steife, ausgefranste Schlinge, mit der man um die Jahrhundertwende inEngland einen Menschen gehängt hatte, das Schachbrett, auf dem Aleister Crowley als Kindgespielt hatte, und einen Snuff-Film. Von allenDingen in seiner Sammlung fühlte er sich als Eigentümer dieses Films am unwohlsten. Es war über einen Polizeibeamten, der bei einpaar seiner Konzerte in L. A. zum Security-Teamgehört hatte, in seinen Besitz gelangt. Der Polizist hatte behauptet, das Videosei krank. Er sagte das mit einer gewissen Begeisterung. Jude hatte es sichangeschaut und fand, dass er recht hatte. Es warkrank. Außerdem hatte es auf indirekte Weise das Ende von JudesEhe beschleunigt. Trotzdem behielt er es.
VieleObjekte aus seiner Privatsammlung des Grotesken und Bizarren waren Geschenkevon Fans. Nur selten kaufte er sich ein Stück selbst. Aber als ihm sein persönlicherAssistent Danny Wooten sagte, dass im Internet einGeist zu haben sei und ob er den kaufen wolle, da zögerte Jude keine Sekunde.Es war wie im Restaurant, wenn man hörte, was das Tagesgericht war, und sichauf der Stelle dafür entschied, ohne auch nur einen Blick in die Speisekarte zuwerfen. Bei manchen Eingebungen brauchte man keine Bedenkzeit.
Dannys Bürowar in einem ziemlich neuen Anbau an der Nordostseite von Judesverschachteltem hundert Jahre altem Farmhaus untergebracht. Der klimatisierte Raummit den Büromöbeln und dem milchkaffeefarbenen Teppichboden verströmte eineunpersönliche Kühle, die überhaupt nicht zum Rest des Hauses passte. Man hätteihn für das Wartezimmer einer Zahnarztpraxis halten können, wenn da nicht dieKonzertposter in den rostfreien Stahlrahmen gewesen wären. Auf einem war einGlasbehälter zu sehen, vollgestopft mit starrenden Augäpfeln,an denen hinten blutige Nervenstränge hingen. Das war das Plakat für die ALLEYES ON YOU-Tour gewesen.
Der Anbauwar kaum fertiggestellt gewesen, da hatte Jude seineEntscheidung schon wieder bereut. Wenn geschäftliche Dinge zu erledigen waren,sparte er sich jetzt zwar die Dreiviertelstunde Fahrt von Piecliffzu dem gemieteten Büro in Poughkeepsie, aber das wärewahrscheinlich immer noch angenehmer gewesen, als dauernd Danny Wooten um sich zu haben. Danny und Dannys Arbeit saßen ihmeinfach zu dicht auf der Pelle. Wenn Jude in der Küche war, konnte er dieTelefone im Büro hören. Manchmal klingelte es auf beiden Büroanschlüssengleichzeitig, und das Geräusch machte ihn wahnsinnig. Seit Jahren hatte er keinAlbum mehr aufgenommen, hatte seit Jeromes und Dizzys Tod (der auch das Endeder Band gewesen war) kaum noch gearbeitet, und doch klingelten die Telefonepausenlos. Er fühlte sich erdrückt von dem steten Strom an Bittstellern, dieihm seine Zeit stehlen wollten, von der nie endenden Anhäufung an rechtlichenund beruflichen Anforderungen, Vereinbarungen und Verträgen, von den Werbeaktivitätenund öffentlichen Auftritten, von der Arbeit der Judas Coyne Incorporated, dienie erledigt war, die immer weiterging. Wenn er zu Hause war, wollte erPrivatmann sein und nicht ein Markenprodukt.
Die meisteZeit hielt Danny sich vom Rest des Hauses fern. Was er auch sonst für Fehlerhaben mochte, er wahrte Judes Privatsphäre. Wenn Judeallerdings durchs Büro ging, was er widerwillig vier-, fünfmal am Tag tat, weildas der kürzeste Weg zu seinen Hunden in der Scheune war, betrachtete Danny ihnals willkommene Beute. Er hätte ihm aus dem Weg gehen können, indem er zurVordertür hinaus und dann um das ganze Haus herumging, aber er weigerte sich,nur um Danny Wooten nicht begegnen zu müssen,heimlich um sein eigenes Haus herumzuschleichen.
Außerdemerschien es ihm unmöglich, dass Danny jedes Mal etwas auf dem Herzen hatte,womit er ihn belästigen konnte. Aber er hatte immer etwas. Und wenn er nichtshatte, was sofortige Erledigung erforderte, dann wollte er einfach reden. Dannystammte aus Südkalifornien, und wenn er erst einmal redete, gab es kein Haltenmehr. Gegenüber vollkommen Fremden erging er sich in Lobpreisungen über dieVorteile von Weizengras, wozu unter anderem gehörte, dass es den Stuhl so wohlriechendmachte wie einen frisch gemähten Rasen. Er war dreißig Jahre alt, konnte abermit dem Jungen vom Pizzaservice über Skateboards und die neueste Playstation reden, als wäre er vierzehn. Vertrauensselig erzählteDanny den Leuten, die die Klimaanlage reparierten, wie seine Schwester alsTeenager an einer Überdosis gestorben war und wie er als junger Bursche nach demSelbstmord seiner Mutter die Leiche gefunden hatte. Nichts brachte ihn inVerlegenheit. Die Bedeutung des Begriffs Hemmungen kannte er nicht.
Jude hattegerade Angus und Bon gefüttert, hatte Dannys Schussfeld bereits halb durchquertund glaubte schon, dass er das Büro unversehrt hinter sich lassen konnte, alsDanny sagte: »He, Boss, schau dir das mal an.« WennDanny Judes Aufmerksamkeit einforderte, so fast immermit exakt diesem Satz, einem Satz, den Jude fürchten und hassen gelernt hatteund der immer eine halbe Stunde verschwendeter Zeit einläutete, in der erFormulare ausfüllen oder Faxe durchlesen musste. Doch dann sagte Danny, dassjemand einen Geist verkaufe, und sofort vergaß Jude all seinen Groll. Er gingum den Schreibtisch herum und schaute über Dannys Schulter auf den Bildschirm.
Danny hatteden Geist bei einer Online-Versteigerung entdeckt, nicht bei eBay, sondern bei einer der Nachahmer-Klitschen. Judes Blick huschte über die Beschreibung des Artikels,während Danny sie laut vorlas. Danny hätte ihm das Essen auf dem Teller kleingeschnitten, wenn Jude es ihm erlaubt hätte. Er neigte zur Unterwürfigkeit,eine Eigenschaft, die Jude bei einem Mann - offen gesagt - widerlich fand.
» Geistmeines Stiefvaters zu verkaufen «, las Danny.
» Vor sechsWochen verstarb überraschend mein betagter Stiefvater, der zu dieser Zeit inunserem Haus lebte.
Er hattekein eigenes Zuhause mehr, sondern reiste von einem Verwandten zum nächsten,blieb ein, zwei Monate und zog dann weiter. Sein Ableben hat uns alle tief getroffen,vor allem meine Tochter, die ihm sehr nahestand. Wirwaren völlig unvorbereitet. Er war bis zu- letzt sehr aktiv, hat nie vor demFernseher gesessen, hat jeden Tag ein Glas Orangensaft getrunken und hatte nochalle seine Zähne.«
»Da machtsich jemand einen Witz«, sagte Jude.
»Glaube ichnicht«, sagte Danny und las weiter. »Zwei Tage nach der Beerdigung hat meinekleine Tochter ihn im Gästezimmer gesehen, das genau gegenüber von ihrem Zimmerliegt. Danach wollte meine Tochter nicht mehr allein in ihrem Zimmer bleiben,sie wollte nicht mal mehr allein nach oben gehen. Ich habe ihr gesagt, dassGroßvater ihr nie was antun würde, aber sie hat gesagt, dass seine Augen ihr Angst machten. Die wären ganz schwarz und sähen wiebekritzelt aus, so als könnte man damit nicht mehr sehen. Seitdem schläft siebei mir im Zimmer.
Erst habeich gedacht, dass das nur eine Schauergeschichte ist, die sie sich einbildet.Aber an der Sache ist mehr dran. Im Gästezimmer ist es immer kalt. Ich habe einbisschen rumgeschnüffelt, und da ist mir aufgefallen, dass es am kältesten imWandschrank ist, wo sein Sonntagsanzug hängt. Er hat immer gewollt, dass er darinbegraben wird, aber als wir ihm den Anzug in der Leichenhalle anprobiert haben,hat er nicht richtig gepasst. Man schrumpft ja ein bisschen ein, wenn man stirbt.Der Körper trocknet aus. Sein bester Anzug war ihm also zu groß geworden, undso haben wir uns von dem Bestattungsunternehmer beschwatzen lassen, einen vonseinen zu kaufen. Ist mir ein Rätsel, warum ich mich darauf eingelassen habe.
LetzteNacht bin ich aufgewacht und habe gehört, wie über mir mein Stiefvater hin undher läuft. Das Bett im Gästezimmer ist immer ungemacht,zu jeder Tages- und Nachtzeit höre ich, wie die Tür aufgeht und wieder zuschlägt.Auch die Katze geht nicht mehr nach oben.
Manchmalsitzt sie am unteren Ende der Treppe und starrt was an, was ich nicht sehenkann. Sie schaut eine Zeit lang, dann jault sie auf, als wenn ihr jemand auf denSchwanz getreten wäre, und läuft weg.
MeinStiefvater war sein Leben lang Spiritist. Ich glaube, er ist nur deshalb nochhier, weil er meiner Tochter zeigen will, dass mit dem Tod nicht alles vorbei ist.Aber sie ist erst elf und muss ein normales Leben führen, sie sollte in ihremeigenen Zimmer schlafen und nicht in meinem. Ich kann an nichts anderes mehr denken,als dass ich für Paps ein anderes Zuhause finden muss. Es wimmelt doch nur sovon Leuten, die an ein Leben nach dem Tod glauben wollen. Tja, den Beweis dafürhabe ich hier bei mir im Haus. ( )
© HeyneVerlag
Übersetzung:Wolfgang Müller
- Autor: Joe Hill
- 2007, 429 Seiten, Maße: 14,5 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Müller, Wolfgang
- Verlag: Heyne
- ISBN-10: 3453265467
- ISBN-13: 9783453265462
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