Die Bruderschaft der Runen / Bruderschaft der Runen Bd.1
Historischer Roman
Als ein Mitarbeiter des Schriftstellers Sir Walter Scott unter mysteriösen Umständen stirbt, stellt dieser Nachforschungen an und stößt auf eine Mauer des Schweigens. Was verheimlicht der königliche Inspector, der eigens aus London geschickt wurde? Was für...
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Produktinformationen zu „Die Bruderschaft der Runen / Bruderschaft der Runen Bd.1 “
Klappentext zu „Die Bruderschaft der Runen / Bruderschaft der Runen Bd.1 “
Als ein Mitarbeiter des Schriftstellers Sir Walter Scott unter mysteriösen Umständen stirbt, stellt dieser Nachforschungen an und stößt auf eine Mauer des Schweigens. Was verheimlicht der königliche Inspector, der eigens aus London geschickt wurde? Was für ein Geheimnis hüten die Mönche von Kelso? Und was hat es mit der ominösen Schwertrune auf sich, auf die Sir Walter und sein Neffe Quentin bei ihren Ermittlungen stoßen? Ein Schicksal, dessen Ursprung Jahrhunderte zurück reicht, nimmt seinen Lauf.
Lese-Probe zu „Die Bruderschaft der Runen / Bruderschaft der Runen Bd.1 “
Die Bruderschaft der Runen von Michael PeinkoferProlog
Bannockburn Im Jahr des Herrn 1314
Die Schlacht war geschlagen.
Der Himmel war düster und matt wie stumpfes Eisen, das jeden Glanz verloren hat. Die wenigen Fetzen von Blau, die den Tag über zu sehen gewesen waren, hatten sich hinter dichten Wolkenschleiern verborgen, die nun die Senke von Bannockburn mit tristem Grau überzogen.
Die Erde schien die Düsternis des Himmels widerzuspiegeln. Schmutziges Braun und erdiges Gelb überzogen die karg bewachsenen Hügel, die das Marschland säumten. Das weite Feld ähnelte einem Acker, der vom Pflug eines Bauern aufgerissen worden war, damit er die Saat aufnähme; doch es war die Saat des Todes, die auf den Feldern von Bannockburn ausgebracht worden war.
Im Morgengrauen waren sie einander begegnet: die Heere der Engländer, die unter ihrem unnachgiebigen Herrscher Edward II. einmal mehr versucht hatten, die aufsässigen Schotten in die Knie zu zwingen, und das Heer der schottischen Clansfürsten und Adeligen, die sich unter ihrem König Robert the Bruce zusammengeschart hatten, um einen letzten, verzweifelten Kampf um die Freiheit zu führen.
Im rauen Sumpfland von Bannockburn waren sie aufeinander getroffen zu jener Schlacht, die endgültig über das Schicksal Schottlands entscheiden sollte. Am Ende hatten Roberts Mannen den Sieg davongetragen, doch er war teuer erkauft worden.
... mehr
Unmengen lebloser Leiber übersäten das weite Feld, lagen in morastigen Löchern, schauten mit blicklosen Augen und in stillem Vorwurf hinauf zum Himmel, in den sich die zerfetzten Banner der Standarten reckten. Der kalte Wind des Todes strich durch die Senke, und als hätte die Natur Mitleid mit dem Elend der Menschen, stieg sanfter Nebel auf, der sich fahl wie ein Leichentuch über die grausige Szenerie breitete.
Nur hier und dort regte sich noch etwas; Verwundete und Verstümmelte, in denen kaum noch Leben war, versuchten mit heiseren Rufen auf sich aufmerksam zu machen.
Die Räder des Ochsenkarrens, der sich durch den zähen Morast des Schlachtfelds wälzte, quietschten leise. Eine Schar von Mönchen war unterwegs, um inmitten der blutigen Körper nach Verwundeten Ausschau zu halten. Von Zeit zu Zeit hielten sie an, konnten jedoch meist nichts anderes mehr tun, als den Sterbenden mit einem Gebet den letzten Beistand zu leisten.
Die Mönche waren nicht die Einzigen, die zu jener düsteren Stunde über das Schlachtfeld von Bannockburn wanderten. Aus dem dichten Nebel, dort, wo die Dunkelheit bereits nach den Senken griff, kamen zerlumpte Gestalten aus dem Unterholz gekrochen, die keinen Respekt vor dem Tod hatten und die die Armut dazu zwang, sich zu nehmen, was die Gefallenen auf Erden zurückgelassen hatten - Leichenfledderer und Diebe, die jeder Schlacht folgten wie die Aasfresser einer Viehherde.
Lautlos huschten sie aus den kargen Büschen, bewegten sich krabbelnd wie Insekten über den Boden, um über die Toten herzufallen und sie ihrer Habe zu berauben. Hier und dort wurde gestritten, wenn es darum ging, ein gut erhaltenes Schwert oder einen Bogen in seinen Besitz zu bringen, und nicht selten wurden schartige Klingen gezückt, um eine Entscheidung herbeizuführen.
Zwei der Diebe stritten sich um den seidenen Umhang, den ein englischer Edelmann in der Schlacht getragen hatte. Der Ritter würde ihn nicht mehr brauchen, die Axt eines schottischen Clansmannes hatte ihm den Schädel gespalten. Während die Diebe sich um den wertvollen Besitz zankten, tauchte unmittelbar vor ihnen plötzlich eine dunkle Gestalt aus dem Nebel auf.
Es war eine alte Frau.
Sie war klein an Wuchs und ging noch dazu gebückt, doch mit ihrem schwarzen Mantel aus grober Wolle und dem langen, schlohweißen Haar bot sie einen Furcht einflößenden Anblick. Zusammengekniffene Augen starrten aus tief liegenden Höhlen, und eine schmale Habichtsnase schien die von Falten zerfurchten Züge der Alten in zwei Hälften zu teilen.
»Kala«, zischten die Diebe entsetzt, und im nächsten Augenblick war der Kampf um den Umhang entschieden. Treulos ließen die Fledderer das gute Stück zurück und flüchteten sich in den Nebel, der jetzt immer dichter aus der Senke stieg.
Die alte Frau blickte ihnen missbilligend hinterher. Sie empfand keine Zuneigung für jene, die die Ruhe der Toten störten, auch wenn es der Kampf ums nackte Überleben war, der die meisten dazu trieb. Mit ihren wachen, wasserblauen Augen hielt die Alte Umschau und erspähte durch den Nebelvorhang die schemenhaften Umrisse der Mönche, die sich um die Verwundeten kümmerten.
Kalas Kehle entrang sich ein mürrischer Laut.
Mönche. Die Vertreter der neuen Ordnung.
Sie wurden immer zahlreicher in diesen Tagen, überall sprossen Klöster wie Pilze aus dem Boden. Längst hatte der neue Glaube den alten abgelöst, hatte sich als stärker und mächtiger erwiesen. Manches Althergebrachte wurde von den Vertretern der neuen Ordnung fortgeführt. Anderes, was über Generationen hinweg bewahrt worden war, drohte in Vergessenheit zu geraten.
So wie an diesem Tag.
Keiner der Mönche wusste, was sich wirklich auf dem Schlachtfeld von Bannockburn zugetragen hatte. Sie sahen nur das Offensichtliche. Das, woran sich die Geschichte erinnern würde.
Langsam schritt die alte Frau über das von Leichen übersäte Feld, dessen Boden von Blut getränkt war. Verstümmelte Leiber und abgetrennte Gliedmaßen säumten ihren Weg, herrenlose Schwerter und Teile von Rüstungen, die mit Blut und Dreck besudelt waren. Krähen, die sich an den Gefallenen gütlich taten, flatterten kreischend auf, als sie sich ihnen näherte.
Kala sah es mit Gleichmut.
Sie hatte zu lange gelebt und zu viel gesehen, um noch ehrliches Entsetzen zu empfinden. Sie war Zeuge gewesen, wie ihre Heimat von den Engländern unterworfen und grausam unterjocht worden war, hatte den Untergang ihrer Welt erlebt. Blut und Krieg waren die ständigen Begleiter in ihrem Leben gewesen, und tief in ihrem Innern empfand sie einen stillen Triumph darüber, dass die Engländer so vernichtend geschlagen worden waren. Auch wenn der Preis dafür hoch gewesen war. Höher, als einer der Mönche oder irgendjemand sonst unter den Sterblichen es ahnte.
Die alte Frau erreichte das Zentrum des Schlachtfelds. Dort, wo der erbitterteste Kampf getobt und König Robert zusammen mit den Clans des Westens und ihrem Anführer Angus Og die Hauptlast des Angriffs getragen hatte, häuften sich die Körper der Erschlagenen noch dichter als anderswo. Mit Pfeilen gespickte Leichen übersäten den Boden, und hier und dort wälzten sich noch Verwundete, die das zweifelhafte Glück gehabt hatten, einem gnadenvollen Tod zu entgehen - bisher.
Die alte Kala schenkte ihnen keine Aufmerksamkeit. Sie war nur aus einem einzigen Grund gekommen: um sich mit eigenen Augen zu vergewissern, ob sich bewahrheitet hatte, was die Runen ihr erzählt hatten.
Mit einer energischen Geste strich sie das schlohweiße Haar beiseite, das der kühle Wind ihr immer wieder ins Gesicht wehte. Ihre Augen, die den Jahren zum Trotz nichts von ihrer Schärfe eingebüßt hatten, blickten dorthin, wo Robert the Bruce gestanden hatte.
Dort lagen keine Erschlagenen.
Wie das Auge eines Sturms, in dem sich kein Lufthauch regte, war jener Boden, auf dem der König selbst gefochten hatte, unberührt geblieben. Kein Leichnam lag innerhalb des Kreises, den der König verteidigt hatte, gerade so, als hätte Bruce während der Schlacht hinter einer unsichtbaren Mauer gestanden.
Die alte Kala kannte den Grund dafür. Sie wusste von dem Pakt, der geschlossen worden war, und von der Hoffnung, die sich daran knüpfte. Eine trügerische Hoffnung, die noch einmal die Geister der alten Zeit heraufbeschwor.
In der hereinbrechenden Dunkelheit erreichte die alte Frau die freie Fläche und betrat den Kreis, den keines Feindes Fuß berührt hatte. Dort sah sie es.
Die Runen hatten nicht gelogen.
Das Schwert des Bruce, jene Klinge, mit welcher der König die Schlacht gegen die Engländer gefochten und sie geschlagen hatte, war auf dem Feld zurückgeblieben.
Herrenlos steckte es in der Mitte des Kreises im weichen Morast, der sich bereits anschickte, es zu verschlingen. Matt ließ das letzte Licht des Tages das Zeichen schimmern, das in die flache Schneide des Schwertes gearbeitet war, ein Zeichen aus alter, heidnischer Zeit und von großer zerstörerischer Kraft.
»Er hat es getan«, murmelte Kala leise und empfand Erleichterung dabei. Die Last, die sie in den letzten Monaten und Jahren mit sich herumgetragen hatte, fiel von ihr ab.
Für kurze Zeit mochte es den Anhängern der alten Ordnung gelungen sein, den König auf ihre Seite zu ziehen. Sie waren es, die Robert den Sieg auf dem Schlachtfeld von Bannockburn ermöglicht hatten. Aber am Ende hatte er sich von ihnen abgewandt.
»Er hat das Schwert zurückgelassen«, sagte das Runenweib leise. »Damit ist es entschieden. Das Opfer war nicht umsonst.«
Mochten der König und die seinen am Ende dieses Tages feiern und die Früchte ihres Sieges genießen - er würde nicht von langer Dauer sein. Der Triumph auf den Feldern von Bannockburn trug den Keim der Niederlage schon in sich. Bald würde das Land erneut zerfallen und in Chaos und Krieg versinken. Dennoch war an diesem Tag ein bedeutender Sieg errungen worden.
Ehrfurchtsvoll näherte sich Kala dem Schwert. Auch jetzt, da es keinen Besitzer mehr hatte, schien noch große Kraft von ihm auszugehen. Kraft, die zum Guten wie zum Bösen genutzt werden konnte.
Lange hatte diese Klinge das Schicksal des schottischen Volkes bestimmt. Nun aber, da sie von den Mächtigen verraten worden war, hatte sie allen Glanz verloren. Es war Zeit, das Schwert dorthin zurückzubringen, von woher es stammte, und sich des Fluchs zu entledigen, den es in sich barg.
Der Kampf um das Schicksal Schottlands war entschieden, genau wie die Runen es vorausgesagt hatten. Die Geschichte würde sich nicht an das erinnern, was heute in Wahrheit geschehen war, und die wenigen, die es wussten, würden schon bald nicht mehr sein.
Doch die Runen hatten Kala nicht alles gesagt.
ERSTES BUCH
Im Zeichen der Rune
1. Archiv von Dryburgh Abbey, Kelso Mai 1822
In der alten Halle herrschte völlige Stille.
Es war die Ehrfurcht gebietende Stille überdauerter Jahrhunderte, die über der Bibliothek von Dryburgh Abbey lag und jeden gefangen nahm, der sie betrat.
Die Abtei selbst existierte nicht mehr; schon im Jahre 1544 hatten die Engländer unter Somerset das ehrwürdige Gemäuer geschleift. Dennoch war es mutigen Mönchen des Prämonstra- tenser-Ordens gelungen, den größten Teil der Klosterbibliothek zu retten und an einen unbekannten Ort zu bringen. Vor rund hundert Jahren waren die Bücher wieder entdeckt worden, und der erste Herzog von Roxburghe, der als Förderer von Kunst und Kultur bekannt gewesen war, hatte dafür gesorgt, dass die Bibliothek von Dryburgh am Ortsrand von Kelso eine neue Bleibe fand: in einem alten, aus Backsteinen errichteten Kornhaus, unter dessen hohem Dach die unzähligen Folianten, Bände und Schriftrollen seither lagerten.
Das gesammelte Wissen vergangener Jahrhunderte wurde hier aufbewahrt: Abschriften und Übersetzungen antiker Aufzeichnungen, die die dunklen Zeitalter überdauert hatten, Chroniken und Annalen des Mittelalters, in denen die Taten der Monarchen festgehalten worden waren. Auf Pergament und brüchigem Papier, an dem der Zahn der Zeit genagt hatte, war die Geschichte hier noch lebendig. Wer sich an diesem Ort in sie vertiefte, den umwehte der Odem der Vergangenheit.
Eben dies war der Grund, warum Jonathan Milton die Bibliothek so sehr mochte. Schon als Junge hatte die Vergangenheit einen eigentümlichen Reiz auf ihn ausgeübt, und er hatte sich weit mehr für die Geschichten interessiert, die ihm sein Großvater vom alten Schottland und über die Clans der Highlands erzählt hatte, als für die Kriege und Despoten seiner eigenen Tage. Jonathan war überzeugt davon, dass die Menschen aus der Geschichte lernen konnten - allerdings nur dann, wenn sie sich der Vergangenheit bewusst wurden. Und ein Ort wie die Bibliothek von Dryburgh, die davon durchdrungen war, lud wahrhaftig dazu ein.
Hier arbeiten zu dürfen war für den jungen Mann, der an der Universität von Edinburgh historische Studien betrieb, wie ein Geschenk. Sein Herz pochte, als er den großen Folianten aus dem Regal hievte. Staub wölkte auf und brachte ihn zum Husten. Dennoch presste er das Buch, das an die dreißig Pfund wiegen mochte, an sich wie einen wertvollen Besitz. Dann nahm er den Kerzenleuchter und stieg über die schmale Wendeltreppe nach unten, wo die Lesetische standen.
Vorsichtig bettete er den Folianten auf den massiven Eichenholztisch und nahm Platz, um ihn zu sichten. Jonathan war geradezu begierig zu erfahren, welchen Schatz er aus den Gründen vergangener Zeiten gehoben hatte.
Wie man hörte, waren noch längst nicht alle Schriften der Bibliothek geprüft und katalogisiert worden. Die wenigen Mönche, die vom Kloster abgestellt waren, um den Bestand der Bibliothek zu pflegen, waren mit dieser Aufgabe überlastet, sodass noch immer verborgene Perlen in den verstaubten und von dichten Spinnweben überzogenen Regalen schlummern mochten. Allein der Gedanke, eine davon zu entdecken, ließ Jonathans Herz höher schlagen.
Dabei war er eigentlich nicht hier, um die Geschichtswissenschaften um neue Erkenntnisse zu bereichern. Seine tatsächliche Aufgabe bestand darin, einfache Recherchen durchzuführen, eine ziemlich langweilige Tätigkeit, die allerdings gut bezahlt wurde. Zudem hatte Jonathan dabei die Ehre, für Sir Walter Scott zu arbeiten, jenen Mann, der für viele junge Schotten ein leuchtendes Vorbild war.
Nicht nur, dass Sir Walter, der auf dem nahen Landsitz Abbotsford residierte, ein erfolgreicher Romancier war, dessen Werke sowohl in den Stuben der Handwerker als auch in den Herrenhäusern der Adeligen gelesen wurden. Er war auch durch und durch ein Schotte. Seiner Fürsprache und seinem Einfluss bei der Britischen Krone war es zu verdanken, dass viele schottische Sitten und Gebräuche, die über die Jahrhunderte hinweg verpönt gewesen waren, allmählich wieder geduldet wurden. Mehr noch, in manchen Kreisen der britischen Gesellschaft war das Schottentum geradezu in Mode. Dort galt es neuerdings als schicklich, sich mit Kilt und Tartan zu schmücken.
Um das Verlagshaus, das Sir Walter zusammen mit seinem Freund James Ballantyne in Edinburgh gegründet hatte, mit neuem Stoff zu versorgen, arbeitete der Schriftsteller buchstäblich Tag und Nacht und meist an mehreren Romanen gleichzeitig. Zu seiner Unterstützung holte er Studenten aus Edinburgh auf seinen Landsitz, damit sie ihm halfen, geschichtliche Hintergründe zu recherchieren. Die Bibliothek von Dryburgh, die in Kelso lag und damit nur rund zwölf Meilen von Scotts Wohnsitz entfernt, bot ideale Voraussetzungen dazu.
Über einen Freund seines Vaters, mit dem Sir Walter in jungen Jahren die Universität von Edinburgh besucht hatte, war Jonathan an die Volontärsstelle gekommen. Dass seine Arbeit dabei eher stumpfsinniger Natur war und mehr aus trockener Recherche denn aus der Suche nach verschollenen Chroniken und alten Palimpsesten bestand, konnte der hagere junge Mann, dessen Haar zu einem kurzen Zopf geflochten war, recht gut verschmerzen. Immerhin hatte er dafür die Gelegenheit, seine Zeit an diesem Ort zu verbringen, wo Vergangenheit und Gegenwart sich berührten. Manchmal saß er bis spät in die Nacht hier und vergaß über alten Briefen und Urkunden völlig die Zeit.
So auch an diesem Abend.
Den ganzen Tag über hatte Jonathan recherchiert und Material zusammengetragen: Einträge aus Annalen, Herrscherbe- richten, Klosterchroniken und anderen Aufzeichnungen, die Sir Walter beim Verfassen seines neuesten Romans von Nutzen sein mochten.
Gewissenhaft hatte Jonathan alle bedeutsamen Daten und Fakten herausgeschrieben und in dem Notizbuch festgehalten, das Sir Walter ihm gegeben hatte. Nach getaner Arbeit aber hatte er sich wieder seinen eigenen Studien zugewandt und damit jenem Teil der Bibliothek, dem sein eigentliches Interesse galt: den in altes Leder geschlagenen Sammelbänden, die im oberen Stockwerk lagerten und zum guten Teil noch nicht einmal gesichtet worden waren.
Wie Jonathan festgestellt hatte, waren darunter Pergamente aus dem zwölften und dreizehnten Jahrhundert: Urkunden, Briefe und Fragmente aus einer Epoche, deren Erforschung sich bislang vor allem auf englische Quellen stützte. Wenn es ihm gelänge, eine bislang unbekannte schottische Quelle aufzuspüren, würde das einer wissenschaftlichen Sensation gleichkommen, und sein Name würde in Edinburgh in aller Munde sein ...
Der Ehrgeiz hatte den jungen Studenten gepackt, sodass er jede freie Minute nutzte, um auf eigene Faust in den Beständen der Bibliothek zu recherchieren. Er war sicher, dass weder Sir Walter noch Abt Andrew, der Verwalter des Archivs, etwas dagegen hatten, solange er seine eigentliche Aufgabe pünktlich und gewissenhaft erledigte.
Im Schein der Kerze, der den Tisch in warmes, flackerndes Licht tauchte, studierte er nun eine jahrhundertealte Fragmentsammlung - Bruchstücke von Annalen, die Mönche des Klosters Melrose verfasst hatten, aber auch Urkunden und Briefe, Steuerberichte und dergleichen mehr. Das Latein, in dem die Schriftstücke gehalten waren, war nicht mehr die Hochsprache eines Caesars oder Ciceros, die heutzutage an den Schulen unterrichtet wurde. Die meisten Verfasser hatten sich einer Sprache bedient, die nur noch ansatzweise an die der Klassiker erinnerte. Der Vorteil war, dass Jonathan keine Mühe hatte, sie zu übersetzen.
Das Pergament der Schriftstücke war hart und brüchig, die Tinte an vielen Stellen kaum mehr zu lesen. Die bewegte Vergangenheit der Bibliothek und die lange Zeit, in der die Bücher in verborgenen Höhlen und feuchten Kellern gelagert worden waren, hatten sich nicht gerade vorteilhaft auf ihren Zustand ausgewirkt. Die Folianten und Schriftrollen waren im Verfall begriffen; ihren Inhalt zu sichten und für die Nachwelt festzuhalten musste das Ziel eines jeden interessierten Geschichtskundlers sein.
Aufmerksam besah Jonathan die einzelnen Seiten. Er erfuhr von Schenkungen des Adels an seine Vasallen, von Abgaben, die von den Bauern entrichtet worden waren, und er fand eine komplette Auflistung der Äbte von Melrose. Das alles war interessant, doch keineswegs sensationell.
Plötzlich entdeckte Jonathan etwas, das seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Denn als er erneut umblätterte, änderten sich Aussehen und Form der Einträge. Was er nun vor sich hatte, war kein Brief und keine Urkunde. Tatsächlich fiel es ihm schwer, den ursprünglichen Zweck des Schriftstücks zu bestimmen, denn es erweckte den Anschein, als wäre es aus einem größeren Ganzen herausgerissen worden, möglicherweise aus einer Chronik oder aus alten Klosteraufzeichnungen.
Kalligrafie und Duktus der mit Pinsel aufgetragenen Schriftzeichen unterschieden sich grundlegend von jenen der vorangegangenen Seiten. Auch fühlte sich das Pergament grobporiger und dünner an, was nahe legte, dass es wesentlich älteren Datums war.
Woher mochte dieses Schriftstück stammen?
Und weshalb hatte man es aus seinem ursprünglichen Band herausgerissen?
Wäre einer der Mönche, die die Bibliothek verwalteten, in der Nähe gewesen, hätte Jonathan ihn danach gefragt. Zu dieser späten Stunde aber hatten sich Abt Andrew und seine Mitbrüder bereits zum Gebet und zur Klausur zurückgezogen. Die Mönche hatten sich daran gewöhnt, dass Jonathan sich tagelang in den Hinterlassenschaften der Vergangenheit vergrub. Da Sir Walter ihr volles Vertrauen genoss, hatten sie seinem Studenten einen Schlüssel überlassen, der es ihm zu jeder Zeit gestattete, die Bibliothek aufzusuchen.
Jonathan spürte, wie seine Nackenhaare sich sträubten. Es würde also an ihm liegen, das Rätsel zu lösen, das sich so unverhofft aufgetan hatte.
Im flackernden Schein der Kerze begann er zu lesen.
Es fiel ihm weitaus schwerer als bei den anderen Schriftstücken - zum einen, weil die Seite in einem viel schlechteren Zustand war, zum anderen aber, weil sich der Verfasser eines sehr seltsamen, mit fremden Begriffen durchsetzten Lateins bedient hatte.
Nach allem, was Jonathan herausfinden konnte, gehörte das Blatt nicht zu einer Chronik. Der Form nach - es war immer wieder von »hohen Herren« die Rede - mochte es sich um einen Brief handeln, aber der Sprachstil war dafür sehr ungewöhnlich.
»Vielleicht ein Bericht«, murmelte Jonathan nachdenklich vor sich hin. »Ein Bericht von einem Vasallen an einen Lord oder König ...«
Mit detektivischer Neugier las er weiter. Sein Ehrgeiz hatte ihn gepackt und drängte ihn dazu herauszufinden, an wen dieses Schriftstück einst gerichtet gewesen war und worum es im Einzelnen darin ging. Bei der Erforschung der Vergangenheit waren nicht nur solide historische Kenntnisse, sondern auch ein gutes Maß an Neugier gefragt. Jonathan besaß beides.
Die Schrift zu entziffern war ein entmutigendes Unterfangen. Obwohl er inzwischen einige Erfahrungen darin gesammelt hatte, die von Abkürzungen und Änigmen durchsetzten Aufzeichnungen zu lesen und zu deuten, kam er nur ein paar Zeilen weit. Auf den verschlungenen Pfaden, die der Verfasser dieser Schrift beschritten hatte, ließ das Schullatein Jonathan schmählich im Stich.
Immerhin tauchten einige Wörter auf, die seine Aufmerksamkeit erregten. Vom »papa sancto« war immer wieder die Rede - war der Heilige Vater in Rom damit gemeint? An mehreren Stellen tauchten die Wörter »gladius« und »rex« auf, die lateinischen Bezeichnungen für »Schwert« und »König«.
Und immer wieder stieß Jonathan auf Begriffe, die er nicht übersetzen konnte, weil sie eindeutig nicht der lateinischen Sprache entstammten, auch nicht ihrer abgewandelten Form.
Er nahm an, dass es sich dabei um Fügungen aus dem Gälischen oder Piktischen handelte, das im frühen Mittelalter noch weit verbreitet gewesen war.
Wie Sir Walter erzählt hatte, pflegten manche der alten Schotten noch immer diese archaischen, lange Zeit verbotenen Sprachen. Was, wenn er die Schriftseite abschrieb und sie einem von ihnen zeigte?
Jonathan schüttelte den Kopf.
Mit dieser einen Seite würde er nicht weit kommen. Er musste den Rest des Berichts zu finden, der irgendwo in den staubigen Eingeweiden der alten Bibliothek verborgen war.
Nachdenklich nahm er den Kerzenleuchter zur Hand. Im flackernden Lichtschein, den die Flammen in das Dunkel sengten, schaute er sich um. Dabei merkte er, wie sich sein Pulsschlag beschleunigte. Das Gefühl, einem wirklichen Geheimnis auf der Spur zu sein, erfüllte ihn mit Euphorie. Die Wörter, die er entschlüsselt hatte, gingen ihm nicht aus dem Kopf. Handelte es sich tatsächlich um einen Bericht? Möglicherweise um die Botschaft eines päpstlichen Legaten? Was mochten ein König und ein Schwert damit zu tun haben? Und von welchem König war wohl die Rede?
Sein Blick glitt hinauf zur Balustrade, hinter der sich schemenhaft die Regale des oberen Stockwerks abzeichneten. Von dort stammte der Sammelband, in dem er das Fragment entdeckt hatte. Möglicherweise würde er da auch den Rest finden.
Jonathan war sich im Klaren darüber, dass die Aussichten eher gering waren, aber er wollte es wenigstens versuchen. Die Zeit verlor er dabei völlig aus dem Blick - dass es schon weit nach Mitternacht war, hatte er nicht einmal bemerkt. Hastig stieg er die Stufen der Wendeltreppe empor - als ihn ein Geräusch zusammenfahren ließ.
Es war ein heftiges, dumpfes Pochen.
Die massive Eichentür der Bibliothek war geöffnet und wieder zugeschlagen worden.
Jonathan gab einen erschrockenen Schrei von sich. Er hielt die Kerze von sich, um den Raum unterhalb der Balustrade zu erleuchten, denn er wollte sehen, wer der nächtliche Besucher war. Doch der Schein der Kerze reichte nicht weit genug und verlor sich in der staubdurchsetzten Schwärze.
»Wer da?«, fragte Jonathan deshalb laut.
Er bekam keine Antwort.
Dafür hörte er jetzt Schritte. Leise, gemessene Schritte, die sich über das kalte Backsteinpflaster des Bodens näherten.
»Wer ist da?«, fragte der Student noch einmal. »Abt Andrew, sind Sie das?«
Wieder erhielt er keine Antwort, und Jonathan merkte, wie sich eine unbestimmte Furcht in seine angeborene Neugier mischte. Er löschte die Kerze, verengte die Augen zu Schlitzen, und in dem spärlichen Licht der Bibliothek, das nur noch vom Mondlicht herrührte, welches in dünnen Fäden durch die schmutzigen Fenster fiel, bemühte er sich etwas zu erkennen.
Die Schritte kamen unterdessen unbarmherzig näher - und tatsächlich erspähte der Student im Halbdunkel nun eine schemenhafte Gestalt.
»Wer ... wer sind Sie?«, fragte er erschrocken. Eine Antwort erhielt er jedoch nicht.
Die Gestalt, die einen weiten, wallenden Umhang mit einer Kapuze trug, blickte nicht einmal in seine Richtung. Ungerührt ging sie weiter, vorbei an den schweren Eichenholztischen und auf die Treppe zu, die auf die Balustrade führte.
Unwillkürlich wich Jonathan zurück, spürte plötzlich kalten Schweiß auf der Stirn.
Das Holz der Stufen knarrte, als die schattenhafte Gestalt ihren Fuß darauf setzte. Langsam kam sie die Treppe herauf, und mit jedem Schritt wich Jonathan noch weiter zurück.
»Bitte«, sagte er leise. »Wer sind Sie? Sagen Sie mir doch, wer Sie sind ...«
Die Gestalt erreichte das obere Ende der Treppe, und als sie einen der blassen Strahlen des Mondlichts kreuzte, konnte Jonathan ihr Gesicht sehen.
Sie hatte keines.
Entsetzt starrte Jonathan auf die unbewegten Züge einer Maske, aus deren Sehschlitzen ein kaltes Augenpaar blitzte.
Jonathan zuckte zusammen. Wer ein solch unheimliches Gewand trug und sein Gesicht dazu noch hinter einer Maske verbarg, der führte Böses im Schilde!
Hastig wandte er sich ab und begann zu laufen. Die Treppe hinunter konnte er nicht, weil die unheimliche Gestalt ihm den Weg versperrte. Also rannte er in die andere Richtung, an der Balustrade entlang und in eine der Gassen, die sich zwischen den Bücherregalen erstreckten.
Panik stieg in ihm auf. Die alten Bücher und Aufzeichnungen boten ihm plötzlich keinen Trost mehr. Alles, was er wollte, war zu fliehen - doch schon nach wenigen Schritten war seine Flucht zu Ende.
Die Gasse endete vor einer massiven Wand aus Backsteinen, und Jonathan erkannte, dass er einen schweren Fehler begangen hatte. Er fuhr herum, um ihn wieder gutzumachen - und erkannte, dass es zu spät war.
Der Vermummte stand bereits am Ende der Gasse. Gegen das spärliche Licht war nur seine Silhouette zu sehen. Finster und bedrohlich versperrte sie Jonathan den Weg.
»Was wollen Sie?«, fragte er noch einmal, ohne wirklich auf eine Antwort zu hoffen. Seine Augen rollten panisch, suchten nach einem Ausweg, den es nicht gab. Zu drei Seiten umgaben ihn hohe Wände, er war dem Phantom schutzlos ausgeliefert.
Die Gestalt kam auf ihn zu. Jonathan wich zurück, bis er gegen den kalten Backstein stieß. Zitternd vor Angst, presste er sich dagegen; seine Fingernägel verkrallten sich so sehr in den rauen Ziegelvorsprüngen, dass Blut hervortrat. Er konnte die Kälte fühlen, die von der unheimlichen Gestalt ausging. Schützend riss er die Hände vors Gesicht, sank in sich zusammen und fing leise an zu wimmern, während der Maskierte auf ihn zu trat.
Der Umhang des Vermummten bauschte sich, und Dunkelheit fiel über Jonathan Milton, schwarz und finster wie die Nacht.
2.
Es war früher Morgen, als ein Bote an die Pforte von Abbotsford klopfte.
Sir Walter Scott, der Herr dieses stolzen Anwesens, das sich am Ufer des Tweed erstreckte, nannte seinen Besitz gern eine »Romanze aus Stein und Mörtel«, eine Beschreibung, die auf Abbotsford durchaus zutraf. Denn innerhalb der Mauern aus braunem Sandstein, der Kreuzgänge und Zinnen, die an den Ecken und über den Portalen des Anwesens aufragten, schien es, als wäre die Zeit stehen geblieben ... als wäre die Vergangenheit, von der Sir Walter in seinen Romanen schrieb, noch lebendig.
Am frühen Morgen, wenn die Sonne noch nicht aufgegangen war und der Nebel vom Fluss aufstieg, bot Abbotsford eher ein unheimliches als ein anheimelndes Bild. Doch der Bote, der von seinem Rappen gestiegen war und energisch mit der Faust gegen das schwere Holztor hämmerte, hatte dafür keine Augen. Zu dringend war die Nachricht, die er dem Herrn von Abbotsford zu überbringen hatte.
Dumpf dröhnte das Holz unter den Schlägen wider, und es dauerte nicht lange, bis von der anderen Seite knirschende Schritte im Kies zu hören waren.
Der Riegel des Gucklochs wurde beiseite gezogen, und ein griesgrämiges Gesicht erschien, das dem Hausverwalter gehören mochte. Grau gewelltes Haar umrahmte ein wettergegerbtes Gesicht, aus dem eine gerötete Adlernase ragte.
»Wer bist du, und was willst du zu dieser unchristlichen Stunde? «, verlangte der Verwalter barsch zu wissen.
»Ich komme im Auftrag des Sheriffs von Kelso«, erwiderte der Bote und zeigte das Siegel, das er mit sich führte. »Ich habe eine dringende Nachricht für den Herrn des Hauses.«
»Eine Nachricht für Sir Scott? Um diese Zeit? Kann es nicht warten, bis wenigstens die Sonne aufgegangen ist? Seine Herrschaft schläft noch, und ich möchte ihn ungern wecken. Er bekommt ohnehin wenig Schlaf in diesen Tagen.«
»Bitte«, erwiderte der Bote, »es ist dringend. Es ist etwas geschehen. Ein Unfall.«
Der Hausverwalter musterte den Boten mit prüfendem Blick. Der drängende Tonfall schien ihn zu überzeugen, dass die Angelegenheit keinen Aufschub duldete, denn schließlich zog er doch den Riegel beiseite und öffnete das Tor.
»Nun gut, komm herein. Aber ich warne dich, junger Freund. Wenn du Sir Walter einer Nichtigkeit wegen den Schlaf raubst, wirst du das bereuen.«
© 2005 by Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, Bergisch Gladbach
Unmengen lebloser Leiber übersäten das weite Feld, lagen in morastigen Löchern, schauten mit blicklosen Augen und in stillem Vorwurf hinauf zum Himmel, in den sich die zerfetzten Banner der Standarten reckten. Der kalte Wind des Todes strich durch die Senke, und als hätte die Natur Mitleid mit dem Elend der Menschen, stieg sanfter Nebel auf, der sich fahl wie ein Leichentuch über die grausige Szenerie breitete.
Nur hier und dort regte sich noch etwas; Verwundete und Verstümmelte, in denen kaum noch Leben war, versuchten mit heiseren Rufen auf sich aufmerksam zu machen.
Die Räder des Ochsenkarrens, der sich durch den zähen Morast des Schlachtfelds wälzte, quietschten leise. Eine Schar von Mönchen war unterwegs, um inmitten der blutigen Körper nach Verwundeten Ausschau zu halten. Von Zeit zu Zeit hielten sie an, konnten jedoch meist nichts anderes mehr tun, als den Sterbenden mit einem Gebet den letzten Beistand zu leisten.
Die Mönche waren nicht die Einzigen, die zu jener düsteren Stunde über das Schlachtfeld von Bannockburn wanderten. Aus dem dichten Nebel, dort, wo die Dunkelheit bereits nach den Senken griff, kamen zerlumpte Gestalten aus dem Unterholz gekrochen, die keinen Respekt vor dem Tod hatten und die die Armut dazu zwang, sich zu nehmen, was die Gefallenen auf Erden zurückgelassen hatten - Leichenfledderer und Diebe, die jeder Schlacht folgten wie die Aasfresser einer Viehherde.
Lautlos huschten sie aus den kargen Büschen, bewegten sich krabbelnd wie Insekten über den Boden, um über die Toten herzufallen und sie ihrer Habe zu berauben. Hier und dort wurde gestritten, wenn es darum ging, ein gut erhaltenes Schwert oder einen Bogen in seinen Besitz zu bringen, und nicht selten wurden schartige Klingen gezückt, um eine Entscheidung herbeizuführen.
Zwei der Diebe stritten sich um den seidenen Umhang, den ein englischer Edelmann in der Schlacht getragen hatte. Der Ritter würde ihn nicht mehr brauchen, die Axt eines schottischen Clansmannes hatte ihm den Schädel gespalten. Während die Diebe sich um den wertvollen Besitz zankten, tauchte unmittelbar vor ihnen plötzlich eine dunkle Gestalt aus dem Nebel auf.
Es war eine alte Frau.
Sie war klein an Wuchs und ging noch dazu gebückt, doch mit ihrem schwarzen Mantel aus grober Wolle und dem langen, schlohweißen Haar bot sie einen Furcht einflößenden Anblick. Zusammengekniffene Augen starrten aus tief liegenden Höhlen, und eine schmale Habichtsnase schien die von Falten zerfurchten Züge der Alten in zwei Hälften zu teilen.
»Kala«, zischten die Diebe entsetzt, und im nächsten Augenblick war der Kampf um den Umhang entschieden. Treulos ließen die Fledderer das gute Stück zurück und flüchteten sich in den Nebel, der jetzt immer dichter aus der Senke stieg.
Die alte Frau blickte ihnen missbilligend hinterher. Sie empfand keine Zuneigung für jene, die die Ruhe der Toten störten, auch wenn es der Kampf ums nackte Überleben war, der die meisten dazu trieb. Mit ihren wachen, wasserblauen Augen hielt die Alte Umschau und erspähte durch den Nebelvorhang die schemenhaften Umrisse der Mönche, die sich um die Verwundeten kümmerten.
Kalas Kehle entrang sich ein mürrischer Laut.
Mönche. Die Vertreter der neuen Ordnung.
Sie wurden immer zahlreicher in diesen Tagen, überall sprossen Klöster wie Pilze aus dem Boden. Längst hatte der neue Glaube den alten abgelöst, hatte sich als stärker und mächtiger erwiesen. Manches Althergebrachte wurde von den Vertretern der neuen Ordnung fortgeführt. Anderes, was über Generationen hinweg bewahrt worden war, drohte in Vergessenheit zu geraten.
So wie an diesem Tag.
Keiner der Mönche wusste, was sich wirklich auf dem Schlachtfeld von Bannockburn zugetragen hatte. Sie sahen nur das Offensichtliche. Das, woran sich die Geschichte erinnern würde.
Langsam schritt die alte Frau über das von Leichen übersäte Feld, dessen Boden von Blut getränkt war. Verstümmelte Leiber und abgetrennte Gliedmaßen säumten ihren Weg, herrenlose Schwerter und Teile von Rüstungen, die mit Blut und Dreck besudelt waren. Krähen, die sich an den Gefallenen gütlich taten, flatterten kreischend auf, als sie sich ihnen näherte.
Kala sah es mit Gleichmut.
Sie hatte zu lange gelebt und zu viel gesehen, um noch ehrliches Entsetzen zu empfinden. Sie war Zeuge gewesen, wie ihre Heimat von den Engländern unterworfen und grausam unterjocht worden war, hatte den Untergang ihrer Welt erlebt. Blut und Krieg waren die ständigen Begleiter in ihrem Leben gewesen, und tief in ihrem Innern empfand sie einen stillen Triumph darüber, dass die Engländer so vernichtend geschlagen worden waren. Auch wenn der Preis dafür hoch gewesen war. Höher, als einer der Mönche oder irgendjemand sonst unter den Sterblichen es ahnte.
Die alte Frau erreichte das Zentrum des Schlachtfelds. Dort, wo der erbitterteste Kampf getobt und König Robert zusammen mit den Clans des Westens und ihrem Anführer Angus Og die Hauptlast des Angriffs getragen hatte, häuften sich die Körper der Erschlagenen noch dichter als anderswo. Mit Pfeilen gespickte Leichen übersäten den Boden, und hier und dort wälzten sich noch Verwundete, die das zweifelhafte Glück gehabt hatten, einem gnadenvollen Tod zu entgehen - bisher.
Die alte Kala schenkte ihnen keine Aufmerksamkeit. Sie war nur aus einem einzigen Grund gekommen: um sich mit eigenen Augen zu vergewissern, ob sich bewahrheitet hatte, was die Runen ihr erzählt hatten.
Mit einer energischen Geste strich sie das schlohweiße Haar beiseite, das der kühle Wind ihr immer wieder ins Gesicht wehte. Ihre Augen, die den Jahren zum Trotz nichts von ihrer Schärfe eingebüßt hatten, blickten dorthin, wo Robert the Bruce gestanden hatte.
Dort lagen keine Erschlagenen.
Wie das Auge eines Sturms, in dem sich kein Lufthauch regte, war jener Boden, auf dem der König selbst gefochten hatte, unberührt geblieben. Kein Leichnam lag innerhalb des Kreises, den der König verteidigt hatte, gerade so, als hätte Bruce während der Schlacht hinter einer unsichtbaren Mauer gestanden.
Die alte Kala kannte den Grund dafür. Sie wusste von dem Pakt, der geschlossen worden war, und von der Hoffnung, die sich daran knüpfte. Eine trügerische Hoffnung, die noch einmal die Geister der alten Zeit heraufbeschwor.
In der hereinbrechenden Dunkelheit erreichte die alte Frau die freie Fläche und betrat den Kreis, den keines Feindes Fuß berührt hatte. Dort sah sie es.
Die Runen hatten nicht gelogen.
Das Schwert des Bruce, jene Klinge, mit welcher der König die Schlacht gegen die Engländer gefochten und sie geschlagen hatte, war auf dem Feld zurückgeblieben.
Herrenlos steckte es in der Mitte des Kreises im weichen Morast, der sich bereits anschickte, es zu verschlingen. Matt ließ das letzte Licht des Tages das Zeichen schimmern, das in die flache Schneide des Schwertes gearbeitet war, ein Zeichen aus alter, heidnischer Zeit und von großer zerstörerischer Kraft.
»Er hat es getan«, murmelte Kala leise und empfand Erleichterung dabei. Die Last, die sie in den letzten Monaten und Jahren mit sich herumgetragen hatte, fiel von ihr ab.
Für kurze Zeit mochte es den Anhängern der alten Ordnung gelungen sein, den König auf ihre Seite zu ziehen. Sie waren es, die Robert den Sieg auf dem Schlachtfeld von Bannockburn ermöglicht hatten. Aber am Ende hatte er sich von ihnen abgewandt.
»Er hat das Schwert zurückgelassen«, sagte das Runenweib leise. »Damit ist es entschieden. Das Opfer war nicht umsonst.«
Mochten der König und die seinen am Ende dieses Tages feiern und die Früchte ihres Sieges genießen - er würde nicht von langer Dauer sein. Der Triumph auf den Feldern von Bannockburn trug den Keim der Niederlage schon in sich. Bald würde das Land erneut zerfallen und in Chaos und Krieg versinken. Dennoch war an diesem Tag ein bedeutender Sieg errungen worden.
Ehrfurchtsvoll näherte sich Kala dem Schwert. Auch jetzt, da es keinen Besitzer mehr hatte, schien noch große Kraft von ihm auszugehen. Kraft, die zum Guten wie zum Bösen genutzt werden konnte.
Lange hatte diese Klinge das Schicksal des schottischen Volkes bestimmt. Nun aber, da sie von den Mächtigen verraten worden war, hatte sie allen Glanz verloren. Es war Zeit, das Schwert dorthin zurückzubringen, von woher es stammte, und sich des Fluchs zu entledigen, den es in sich barg.
Der Kampf um das Schicksal Schottlands war entschieden, genau wie die Runen es vorausgesagt hatten. Die Geschichte würde sich nicht an das erinnern, was heute in Wahrheit geschehen war, und die wenigen, die es wussten, würden schon bald nicht mehr sein.
Doch die Runen hatten Kala nicht alles gesagt.
ERSTES BUCH
Im Zeichen der Rune
1. Archiv von Dryburgh Abbey, Kelso Mai 1822
In der alten Halle herrschte völlige Stille.
Es war die Ehrfurcht gebietende Stille überdauerter Jahrhunderte, die über der Bibliothek von Dryburgh Abbey lag und jeden gefangen nahm, der sie betrat.
Die Abtei selbst existierte nicht mehr; schon im Jahre 1544 hatten die Engländer unter Somerset das ehrwürdige Gemäuer geschleift. Dennoch war es mutigen Mönchen des Prämonstra- tenser-Ordens gelungen, den größten Teil der Klosterbibliothek zu retten und an einen unbekannten Ort zu bringen. Vor rund hundert Jahren waren die Bücher wieder entdeckt worden, und der erste Herzog von Roxburghe, der als Förderer von Kunst und Kultur bekannt gewesen war, hatte dafür gesorgt, dass die Bibliothek von Dryburgh am Ortsrand von Kelso eine neue Bleibe fand: in einem alten, aus Backsteinen errichteten Kornhaus, unter dessen hohem Dach die unzähligen Folianten, Bände und Schriftrollen seither lagerten.
Das gesammelte Wissen vergangener Jahrhunderte wurde hier aufbewahrt: Abschriften und Übersetzungen antiker Aufzeichnungen, die die dunklen Zeitalter überdauert hatten, Chroniken und Annalen des Mittelalters, in denen die Taten der Monarchen festgehalten worden waren. Auf Pergament und brüchigem Papier, an dem der Zahn der Zeit genagt hatte, war die Geschichte hier noch lebendig. Wer sich an diesem Ort in sie vertiefte, den umwehte der Odem der Vergangenheit.
Eben dies war der Grund, warum Jonathan Milton die Bibliothek so sehr mochte. Schon als Junge hatte die Vergangenheit einen eigentümlichen Reiz auf ihn ausgeübt, und er hatte sich weit mehr für die Geschichten interessiert, die ihm sein Großvater vom alten Schottland und über die Clans der Highlands erzählt hatte, als für die Kriege und Despoten seiner eigenen Tage. Jonathan war überzeugt davon, dass die Menschen aus der Geschichte lernen konnten - allerdings nur dann, wenn sie sich der Vergangenheit bewusst wurden. Und ein Ort wie die Bibliothek von Dryburgh, die davon durchdrungen war, lud wahrhaftig dazu ein.
Hier arbeiten zu dürfen war für den jungen Mann, der an der Universität von Edinburgh historische Studien betrieb, wie ein Geschenk. Sein Herz pochte, als er den großen Folianten aus dem Regal hievte. Staub wölkte auf und brachte ihn zum Husten. Dennoch presste er das Buch, das an die dreißig Pfund wiegen mochte, an sich wie einen wertvollen Besitz. Dann nahm er den Kerzenleuchter und stieg über die schmale Wendeltreppe nach unten, wo die Lesetische standen.
Vorsichtig bettete er den Folianten auf den massiven Eichenholztisch und nahm Platz, um ihn zu sichten. Jonathan war geradezu begierig zu erfahren, welchen Schatz er aus den Gründen vergangener Zeiten gehoben hatte.
Wie man hörte, waren noch längst nicht alle Schriften der Bibliothek geprüft und katalogisiert worden. Die wenigen Mönche, die vom Kloster abgestellt waren, um den Bestand der Bibliothek zu pflegen, waren mit dieser Aufgabe überlastet, sodass noch immer verborgene Perlen in den verstaubten und von dichten Spinnweben überzogenen Regalen schlummern mochten. Allein der Gedanke, eine davon zu entdecken, ließ Jonathans Herz höher schlagen.
Dabei war er eigentlich nicht hier, um die Geschichtswissenschaften um neue Erkenntnisse zu bereichern. Seine tatsächliche Aufgabe bestand darin, einfache Recherchen durchzuführen, eine ziemlich langweilige Tätigkeit, die allerdings gut bezahlt wurde. Zudem hatte Jonathan dabei die Ehre, für Sir Walter Scott zu arbeiten, jenen Mann, der für viele junge Schotten ein leuchtendes Vorbild war.
Nicht nur, dass Sir Walter, der auf dem nahen Landsitz Abbotsford residierte, ein erfolgreicher Romancier war, dessen Werke sowohl in den Stuben der Handwerker als auch in den Herrenhäusern der Adeligen gelesen wurden. Er war auch durch und durch ein Schotte. Seiner Fürsprache und seinem Einfluss bei der Britischen Krone war es zu verdanken, dass viele schottische Sitten und Gebräuche, die über die Jahrhunderte hinweg verpönt gewesen waren, allmählich wieder geduldet wurden. Mehr noch, in manchen Kreisen der britischen Gesellschaft war das Schottentum geradezu in Mode. Dort galt es neuerdings als schicklich, sich mit Kilt und Tartan zu schmücken.
Um das Verlagshaus, das Sir Walter zusammen mit seinem Freund James Ballantyne in Edinburgh gegründet hatte, mit neuem Stoff zu versorgen, arbeitete der Schriftsteller buchstäblich Tag und Nacht und meist an mehreren Romanen gleichzeitig. Zu seiner Unterstützung holte er Studenten aus Edinburgh auf seinen Landsitz, damit sie ihm halfen, geschichtliche Hintergründe zu recherchieren. Die Bibliothek von Dryburgh, die in Kelso lag und damit nur rund zwölf Meilen von Scotts Wohnsitz entfernt, bot ideale Voraussetzungen dazu.
Über einen Freund seines Vaters, mit dem Sir Walter in jungen Jahren die Universität von Edinburgh besucht hatte, war Jonathan an die Volontärsstelle gekommen. Dass seine Arbeit dabei eher stumpfsinniger Natur war und mehr aus trockener Recherche denn aus der Suche nach verschollenen Chroniken und alten Palimpsesten bestand, konnte der hagere junge Mann, dessen Haar zu einem kurzen Zopf geflochten war, recht gut verschmerzen. Immerhin hatte er dafür die Gelegenheit, seine Zeit an diesem Ort zu verbringen, wo Vergangenheit und Gegenwart sich berührten. Manchmal saß er bis spät in die Nacht hier und vergaß über alten Briefen und Urkunden völlig die Zeit.
So auch an diesem Abend.
Den ganzen Tag über hatte Jonathan recherchiert und Material zusammengetragen: Einträge aus Annalen, Herrscherbe- richten, Klosterchroniken und anderen Aufzeichnungen, die Sir Walter beim Verfassen seines neuesten Romans von Nutzen sein mochten.
Gewissenhaft hatte Jonathan alle bedeutsamen Daten und Fakten herausgeschrieben und in dem Notizbuch festgehalten, das Sir Walter ihm gegeben hatte. Nach getaner Arbeit aber hatte er sich wieder seinen eigenen Studien zugewandt und damit jenem Teil der Bibliothek, dem sein eigentliches Interesse galt: den in altes Leder geschlagenen Sammelbänden, die im oberen Stockwerk lagerten und zum guten Teil noch nicht einmal gesichtet worden waren.
Wie Jonathan festgestellt hatte, waren darunter Pergamente aus dem zwölften und dreizehnten Jahrhundert: Urkunden, Briefe und Fragmente aus einer Epoche, deren Erforschung sich bislang vor allem auf englische Quellen stützte. Wenn es ihm gelänge, eine bislang unbekannte schottische Quelle aufzuspüren, würde das einer wissenschaftlichen Sensation gleichkommen, und sein Name würde in Edinburgh in aller Munde sein ...
Der Ehrgeiz hatte den jungen Studenten gepackt, sodass er jede freie Minute nutzte, um auf eigene Faust in den Beständen der Bibliothek zu recherchieren. Er war sicher, dass weder Sir Walter noch Abt Andrew, der Verwalter des Archivs, etwas dagegen hatten, solange er seine eigentliche Aufgabe pünktlich und gewissenhaft erledigte.
Im Schein der Kerze, der den Tisch in warmes, flackerndes Licht tauchte, studierte er nun eine jahrhundertealte Fragmentsammlung - Bruchstücke von Annalen, die Mönche des Klosters Melrose verfasst hatten, aber auch Urkunden und Briefe, Steuerberichte und dergleichen mehr. Das Latein, in dem die Schriftstücke gehalten waren, war nicht mehr die Hochsprache eines Caesars oder Ciceros, die heutzutage an den Schulen unterrichtet wurde. Die meisten Verfasser hatten sich einer Sprache bedient, die nur noch ansatzweise an die der Klassiker erinnerte. Der Vorteil war, dass Jonathan keine Mühe hatte, sie zu übersetzen.
Das Pergament der Schriftstücke war hart und brüchig, die Tinte an vielen Stellen kaum mehr zu lesen. Die bewegte Vergangenheit der Bibliothek und die lange Zeit, in der die Bücher in verborgenen Höhlen und feuchten Kellern gelagert worden waren, hatten sich nicht gerade vorteilhaft auf ihren Zustand ausgewirkt. Die Folianten und Schriftrollen waren im Verfall begriffen; ihren Inhalt zu sichten und für die Nachwelt festzuhalten musste das Ziel eines jeden interessierten Geschichtskundlers sein.
Aufmerksam besah Jonathan die einzelnen Seiten. Er erfuhr von Schenkungen des Adels an seine Vasallen, von Abgaben, die von den Bauern entrichtet worden waren, und er fand eine komplette Auflistung der Äbte von Melrose. Das alles war interessant, doch keineswegs sensationell.
Plötzlich entdeckte Jonathan etwas, das seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Denn als er erneut umblätterte, änderten sich Aussehen und Form der Einträge. Was er nun vor sich hatte, war kein Brief und keine Urkunde. Tatsächlich fiel es ihm schwer, den ursprünglichen Zweck des Schriftstücks zu bestimmen, denn es erweckte den Anschein, als wäre es aus einem größeren Ganzen herausgerissen worden, möglicherweise aus einer Chronik oder aus alten Klosteraufzeichnungen.
Kalligrafie und Duktus der mit Pinsel aufgetragenen Schriftzeichen unterschieden sich grundlegend von jenen der vorangegangenen Seiten. Auch fühlte sich das Pergament grobporiger und dünner an, was nahe legte, dass es wesentlich älteren Datums war.
Woher mochte dieses Schriftstück stammen?
Und weshalb hatte man es aus seinem ursprünglichen Band herausgerissen?
Wäre einer der Mönche, die die Bibliothek verwalteten, in der Nähe gewesen, hätte Jonathan ihn danach gefragt. Zu dieser späten Stunde aber hatten sich Abt Andrew und seine Mitbrüder bereits zum Gebet und zur Klausur zurückgezogen. Die Mönche hatten sich daran gewöhnt, dass Jonathan sich tagelang in den Hinterlassenschaften der Vergangenheit vergrub. Da Sir Walter ihr volles Vertrauen genoss, hatten sie seinem Studenten einen Schlüssel überlassen, der es ihm zu jeder Zeit gestattete, die Bibliothek aufzusuchen.
Jonathan spürte, wie seine Nackenhaare sich sträubten. Es würde also an ihm liegen, das Rätsel zu lösen, das sich so unverhofft aufgetan hatte.
Im flackernden Schein der Kerze begann er zu lesen.
Es fiel ihm weitaus schwerer als bei den anderen Schriftstücken - zum einen, weil die Seite in einem viel schlechteren Zustand war, zum anderen aber, weil sich der Verfasser eines sehr seltsamen, mit fremden Begriffen durchsetzten Lateins bedient hatte.
Nach allem, was Jonathan herausfinden konnte, gehörte das Blatt nicht zu einer Chronik. Der Form nach - es war immer wieder von »hohen Herren« die Rede - mochte es sich um einen Brief handeln, aber der Sprachstil war dafür sehr ungewöhnlich.
»Vielleicht ein Bericht«, murmelte Jonathan nachdenklich vor sich hin. »Ein Bericht von einem Vasallen an einen Lord oder König ...«
Mit detektivischer Neugier las er weiter. Sein Ehrgeiz hatte ihn gepackt und drängte ihn dazu herauszufinden, an wen dieses Schriftstück einst gerichtet gewesen war und worum es im Einzelnen darin ging. Bei der Erforschung der Vergangenheit waren nicht nur solide historische Kenntnisse, sondern auch ein gutes Maß an Neugier gefragt. Jonathan besaß beides.
Die Schrift zu entziffern war ein entmutigendes Unterfangen. Obwohl er inzwischen einige Erfahrungen darin gesammelt hatte, die von Abkürzungen und Änigmen durchsetzten Aufzeichnungen zu lesen und zu deuten, kam er nur ein paar Zeilen weit. Auf den verschlungenen Pfaden, die der Verfasser dieser Schrift beschritten hatte, ließ das Schullatein Jonathan schmählich im Stich.
Immerhin tauchten einige Wörter auf, die seine Aufmerksamkeit erregten. Vom »papa sancto« war immer wieder die Rede - war der Heilige Vater in Rom damit gemeint? An mehreren Stellen tauchten die Wörter »gladius« und »rex« auf, die lateinischen Bezeichnungen für »Schwert« und »König«.
Und immer wieder stieß Jonathan auf Begriffe, die er nicht übersetzen konnte, weil sie eindeutig nicht der lateinischen Sprache entstammten, auch nicht ihrer abgewandelten Form.
Er nahm an, dass es sich dabei um Fügungen aus dem Gälischen oder Piktischen handelte, das im frühen Mittelalter noch weit verbreitet gewesen war.
Wie Sir Walter erzählt hatte, pflegten manche der alten Schotten noch immer diese archaischen, lange Zeit verbotenen Sprachen. Was, wenn er die Schriftseite abschrieb und sie einem von ihnen zeigte?
Jonathan schüttelte den Kopf.
Mit dieser einen Seite würde er nicht weit kommen. Er musste den Rest des Berichts zu finden, der irgendwo in den staubigen Eingeweiden der alten Bibliothek verborgen war.
Nachdenklich nahm er den Kerzenleuchter zur Hand. Im flackernden Lichtschein, den die Flammen in das Dunkel sengten, schaute er sich um. Dabei merkte er, wie sich sein Pulsschlag beschleunigte. Das Gefühl, einem wirklichen Geheimnis auf der Spur zu sein, erfüllte ihn mit Euphorie. Die Wörter, die er entschlüsselt hatte, gingen ihm nicht aus dem Kopf. Handelte es sich tatsächlich um einen Bericht? Möglicherweise um die Botschaft eines päpstlichen Legaten? Was mochten ein König und ein Schwert damit zu tun haben? Und von welchem König war wohl die Rede?
Sein Blick glitt hinauf zur Balustrade, hinter der sich schemenhaft die Regale des oberen Stockwerks abzeichneten. Von dort stammte der Sammelband, in dem er das Fragment entdeckt hatte. Möglicherweise würde er da auch den Rest finden.
Jonathan war sich im Klaren darüber, dass die Aussichten eher gering waren, aber er wollte es wenigstens versuchen. Die Zeit verlor er dabei völlig aus dem Blick - dass es schon weit nach Mitternacht war, hatte er nicht einmal bemerkt. Hastig stieg er die Stufen der Wendeltreppe empor - als ihn ein Geräusch zusammenfahren ließ.
Es war ein heftiges, dumpfes Pochen.
Die massive Eichentür der Bibliothek war geöffnet und wieder zugeschlagen worden.
Jonathan gab einen erschrockenen Schrei von sich. Er hielt die Kerze von sich, um den Raum unterhalb der Balustrade zu erleuchten, denn er wollte sehen, wer der nächtliche Besucher war. Doch der Schein der Kerze reichte nicht weit genug und verlor sich in der staubdurchsetzten Schwärze.
»Wer da?«, fragte Jonathan deshalb laut.
Er bekam keine Antwort.
Dafür hörte er jetzt Schritte. Leise, gemessene Schritte, die sich über das kalte Backsteinpflaster des Bodens näherten.
»Wer ist da?«, fragte der Student noch einmal. »Abt Andrew, sind Sie das?«
Wieder erhielt er keine Antwort, und Jonathan merkte, wie sich eine unbestimmte Furcht in seine angeborene Neugier mischte. Er löschte die Kerze, verengte die Augen zu Schlitzen, und in dem spärlichen Licht der Bibliothek, das nur noch vom Mondlicht herrührte, welches in dünnen Fäden durch die schmutzigen Fenster fiel, bemühte er sich etwas zu erkennen.
Die Schritte kamen unterdessen unbarmherzig näher - und tatsächlich erspähte der Student im Halbdunkel nun eine schemenhafte Gestalt.
»Wer ... wer sind Sie?«, fragte er erschrocken. Eine Antwort erhielt er jedoch nicht.
Die Gestalt, die einen weiten, wallenden Umhang mit einer Kapuze trug, blickte nicht einmal in seine Richtung. Ungerührt ging sie weiter, vorbei an den schweren Eichenholztischen und auf die Treppe zu, die auf die Balustrade führte.
Unwillkürlich wich Jonathan zurück, spürte plötzlich kalten Schweiß auf der Stirn.
Das Holz der Stufen knarrte, als die schattenhafte Gestalt ihren Fuß darauf setzte. Langsam kam sie die Treppe herauf, und mit jedem Schritt wich Jonathan noch weiter zurück.
»Bitte«, sagte er leise. »Wer sind Sie? Sagen Sie mir doch, wer Sie sind ...«
Die Gestalt erreichte das obere Ende der Treppe, und als sie einen der blassen Strahlen des Mondlichts kreuzte, konnte Jonathan ihr Gesicht sehen.
Sie hatte keines.
Entsetzt starrte Jonathan auf die unbewegten Züge einer Maske, aus deren Sehschlitzen ein kaltes Augenpaar blitzte.
Jonathan zuckte zusammen. Wer ein solch unheimliches Gewand trug und sein Gesicht dazu noch hinter einer Maske verbarg, der führte Böses im Schilde!
Hastig wandte er sich ab und begann zu laufen. Die Treppe hinunter konnte er nicht, weil die unheimliche Gestalt ihm den Weg versperrte. Also rannte er in die andere Richtung, an der Balustrade entlang und in eine der Gassen, die sich zwischen den Bücherregalen erstreckten.
Panik stieg in ihm auf. Die alten Bücher und Aufzeichnungen boten ihm plötzlich keinen Trost mehr. Alles, was er wollte, war zu fliehen - doch schon nach wenigen Schritten war seine Flucht zu Ende.
Die Gasse endete vor einer massiven Wand aus Backsteinen, und Jonathan erkannte, dass er einen schweren Fehler begangen hatte. Er fuhr herum, um ihn wieder gutzumachen - und erkannte, dass es zu spät war.
Der Vermummte stand bereits am Ende der Gasse. Gegen das spärliche Licht war nur seine Silhouette zu sehen. Finster und bedrohlich versperrte sie Jonathan den Weg.
»Was wollen Sie?«, fragte er noch einmal, ohne wirklich auf eine Antwort zu hoffen. Seine Augen rollten panisch, suchten nach einem Ausweg, den es nicht gab. Zu drei Seiten umgaben ihn hohe Wände, er war dem Phantom schutzlos ausgeliefert.
Die Gestalt kam auf ihn zu. Jonathan wich zurück, bis er gegen den kalten Backstein stieß. Zitternd vor Angst, presste er sich dagegen; seine Fingernägel verkrallten sich so sehr in den rauen Ziegelvorsprüngen, dass Blut hervortrat. Er konnte die Kälte fühlen, die von der unheimlichen Gestalt ausging. Schützend riss er die Hände vors Gesicht, sank in sich zusammen und fing leise an zu wimmern, während der Maskierte auf ihn zu trat.
Der Umhang des Vermummten bauschte sich, und Dunkelheit fiel über Jonathan Milton, schwarz und finster wie die Nacht.
2.
Es war früher Morgen, als ein Bote an die Pforte von Abbotsford klopfte.
Sir Walter Scott, der Herr dieses stolzen Anwesens, das sich am Ufer des Tweed erstreckte, nannte seinen Besitz gern eine »Romanze aus Stein und Mörtel«, eine Beschreibung, die auf Abbotsford durchaus zutraf. Denn innerhalb der Mauern aus braunem Sandstein, der Kreuzgänge und Zinnen, die an den Ecken und über den Portalen des Anwesens aufragten, schien es, als wäre die Zeit stehen geblieben ... als wäre die Vergangenheit, von der Sir Walter in seinen Romanen schrieb, noch lebendig.
Am frühen Morgen, wenn die Sonne noch nicht aufgegangen war und der Nebel vom Fluss aufstieg, bot Abbotsford eher ein unheimliches als ein anheimelndes Bild. Doch der Bote, der von seinem Rappen gestiegen war und energisch mit der Faust gegen das schwere Holztor hämmerte, hatte dafür keine Augen. Zu dringend war die Nachricht, die er dem Herrn von Abbotsford zu überbringen hatte.
Dumpf dröhnte das Holz unter den Schlägen wider, und es dauerte nicht lange, bis von der anderen Seite knirschende Schritte im Kies zu hören waren.
Der Riegel des Gucklochs wurde beiseite gezogen, und ein griesgrämiges Gesicht erschien, das dem Hausverwalter gehören mochte. Grau gewelltes Haar umrahmte ein wettergegerbtes Gesicht, aus dem eine gerötete Adlernase ragte.
»Wer bist du, und was willst du zu dieser unchristlichen Stunde? «, verlangte der Verwalter barsch zu wissen.
»Ich komme im Auftrag des Sheriffs von Kelso«, erwiderte der Bote und zeigte das Siegel, das er mit sich führte. »Ich habe eine dringende Nachricht für den Herrn des Hauses.«
»Eine Nachricht für Sir Scott? Um diese Zeit? Kann es nicht warten, bis wenigstens die Sonne aufgegangen ist? Seine Herrschaft schläft noch, und ich möchte ihn ungern wecken. Er bekommt ohnehin wenig Schlaf in diesen Tagen.«
»Bitte«, erwiderte der Bote, »es ist dringend. Es ist etwas geschehen. Ein Unfall.«
Der Hausverwalter musterte den Boten mit prüfendem Blick. Der drängende Tonfall schien ihn zu überzeugen, dass die Angelegenheit keinen Aufschub duldete, denn schließlich zog er doch den Riegel beiseite und öffnete das Tor.
»Nun gut, komm herein. Aber ich warne dich, junger Freund. Wenn du Sir Walter einer Nichtigkeit wegen den Schlaf raubst, wirst du das bereuen.«
© 2005 by Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, Bergisch Gladbach
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Autoren-Porträt von Michael Peinkofer
Michael Peinkofer, 1969 geboren, studierte Germanistik, Geschichte und Kommunikationswissenschaften und arbeitete als Redakteur bei der Filmzeitschrift "Moviestar".
Bibliographische Angaben
- Autor: Michael Peinkofer
- 2014, 1. Aufl., 672 Seiten, Maße: 12,5 x 18,6 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Bastei Lübbe
- ISBN-10: 3404169654
- ISBN-13: 9783404169658
- Erscheinungsdatum: 15.04.2014
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