Burrows, P: Fluch der Halblinge
Roman. Deutsche Erstausgabe
Die Halblinge leben als Sklaven von Menschen und Elfen. Fionn Hellhaar ist einer von ihnen. Als
eines Tages ein Halbling des Mordes an einem Menschen verdächtigt wird und alle Halblinge eingekerkert werden, schmiedet Fionn einen Plan: Er...
eines Tages ein Halbling des Mordes an einem Menschen verdächtigt wird und alle Halblinge eingekerkert werden, schmiedet Fionn einen Plan: Er...
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Produktinformationen zu „Burrows, P: Fluch der Halblinge “
Die Halblinge leben als Sklaven von Menschen und Elfen. Fionn Hellhaar ist einer von ihnen. Als
eines Tages ein Halbling des Mordes an einem Menschen verdächtigt wird und alle Halblinge eingekerkert werden, schmiedet Fionn einen Plan: Er will sein Volk aus der Sklaverei befreien.
eines Tages ein Halbling des Mordes an einem Menschen verdächtigt wird und alle Halblinge eingekerkert werden, schmiedet Fionn einen Plan: Er will sein Volk aus der Sklaverei befreien.
Klappentext zu „Burrows, P: Fluch der Halblinge “
Seit langer Zeit leben die Halblinge als Sklaven von Menschen und Elfen. Sie kennen kein anderes Schicksal. Fionn Hellhaar ist so ein Halbling. Er hat Geburtstag, und sein Herr hat ihm gestattet, mit den anderen Sklaven zu feiern. Doch in der Nacht wird ein Mensch im Haus ermordet. Es soll ein Halbling gewesen sein. Die Folgen sind verheerend: Alle Halblinge werden eingekerkert - bis auf Fionn, der in letzter Sekunde fliehen kann. Inmitten einer feindlichen Umgebung schmiedet er einen Plan. Er will sein Volk befreien. Nicht nur aus den Kerkern, sondern auch aus der Sklaverei -
Lese-Probe zu „Burrows, P: Fluch der Halblinge “
Der Fluch der Halblinge von Prisca BurrowsKAPITEL 1
DER TAG DANACH
Der Plan ist reif, das Ziel ist nahe.
Wohlan denn! Zeit zu handeln.
Ich bin Dubh Süil, ich bin Schwarzauge,
und ich sehe alles.
... mehr
»Da sind sie! Wir haben sie!«
Er hörte das Jammern und Klagen, er sah, wie sie lachend die Netze über die Fliehenden warfen, und rannte weiter.
Fionns Herz pochte so laut, dass er Angst hatte, es würde den Hufschlag übertönen. Es war sein Glück, dass es nicht gelang.
Ja, ein Glückskind bin ich, dachte er freudlos, während er barfuß um die Ecke flitzte, ein echter Pfundskerlfürwahr.
Ein beliebtes Bogin-Sprichwort, wenngleich zu diesem Zeitpunkt reichlich schief. Die bewunderten Pfundskerle landeten nämlich in der Pfanne und wurden mit zerlassener Butter und gerösteten Mandelblättchen serviert, mit gebotenem Ernst und unter Ehrungen verzehrt und anschließend die Gräten den unter dem Tisch herumstaksenden Hühnern zugeworfen.
Fionn drohte ein weitaus schlimmeres Schicksal, wenn es ihm nicht gelang, zu entkommen. Und das stand noch lange nicht fest. Bis jetzt war er jedes Mal gerade so um Haaresbreite entwischt, doch das Ende der Jagd war keineswegs in Sicht. Nicht einmal die in wenigen Stunden nahende Dunkelheit würde die Häscher aufhalten. Sie würden nicht rasten und ruhen, bis sie alle Bogins gefangen hatten. So lautete der Befehl.
Nun war Fionn am Ende der Gasse angekommen und wollte die größere Straße überqueren, da hörte er sie rufen und von der anderen Seite im Galopp heransprengen. Hastig bremste er, warf sich herum und schlüpfte in eine schmale Häuserverbindung, die mehr Abfallrinne denn Weg war. Fionn hielt sich die Nase zu und unterdrückte den Ekel vor dem glitschigen Schlamm, durch den seine bloßen Füße schlitterten. Nicht hinfallen, aufrecht bleiben, und hindurch! Wenn er schneller rannte, konnte er vielleicht darüber hinweglaufen, wie es die ätherischen Elben vermochten, die kaum einen Fußabdruck im Staub hinterließen.
Beißender Gestank reizte ihn, und er musste husten, aber er brachte es nicht über sich, durch die Nase zu atmen. Mit brennenden Augen hastete er voran, passierte den nächsten Häuserdurchgang und stand plötzlich vor einer Mauer. Links ging es weiter, und er folgte der Rinne in der Hoffnung, nicht im Kreis zu laufen. Beobachteten ihn die Leute? Wer mochten die Bewohner dieser heruntergekommenen, ungepflegten Behausungen sein? Fionn sah und hörte sie nicht, und niemand verstellte ihm den Weg. Vielleicht lebte hier gar niemand mehr, oder diese Wesen waren Nachtgeschöpfe. Das würde den Dreck erklären; denn wer aus dem Fenster kletterte oder flog, um das Haus zu verlassen, den brauchte die Pflege der Straße nicht zu kümmern.
Die Stimmen klangen auf einmal viel näher, und Fionn konnte einzelne Wortfetzen auffangen, die zwischen den Häuserschluchten hindurchschallten. Hierhin! Da rüber! Sucht dort drüben! Hast du einen Bogin gesehen? Geht aus dem Weg, ihr Idioten! Im Namen des Palastes, macht Platz! Gebt Auskunft und verbergt nichts! Wagt es nicht, uns zu belügen, oder ihr erleidet dasselbe Schicksal!
Schluchzend vor Angst bog Fionn erneut ab, verharrte kurz, um sich zu orientieren. Ein kleiner Platz, wie er seit Stunden mittlerweile ein Dutzend überquert haben mochte, vielleicht sogar auch genau diesen hier. Kleine, nicht mehr als zwei Stockwerke hohe schmale Häuser schmiegten sich aneinander, manche schon so krumm, dass sie die Stütze der anderen brauchten. Bei den meisten blätterte die Farbe ab, sie waren beherrschtvon dahinbleichendem Grün, und Gelb und Rosa, Violett und Blau. Und ein bisschen Weiß dazwischen sowie schwarze Fachwerkbalken mit tief hängenden roten Dächern.
Wenn er sich nur erinnern könnte, inwelchem Sektor derunüberschaubar großen Reichshauptstadt es diese Häuser gab! Wie weit war er von zu Hause entfernt? Eine Wegstunde, oder nur ein paar hundert Fuß? Wohin konnte er sich noch wenden?
»Durchkämmt jede einzelne Gasse, jedes Haus!«, erklang es hinter ihm im Befehlston. Dieser Befehl galt sicherlich für die ganze Stadt, doch es würde noch Stunden dauern, bis die Häscher tatsächlich alle Viertel erreicht hatten. Um es schneller zu schaffen, würden mindestens eintausend Mann gebraucht. Und damit stand die Richtung fest: Er musste vorwärts. Fionn war sich darüber im Klaren, dass sich das Netz immer enger um ihn zog. Wahrscheinlich trieben sie ihn längst systematisch vor sich her, und er konnte dem nicht entgegenwirken, weil er hier noch nie gewesen war.
Fionn wischte sich über die nassen Wangen und schämte sich. Er entschied sich für eine Gasse, in der zwischen den Häusern Wäsche gespannt war, und lief dort entlang weiter.
Noch verfügte er über genug Atem, noch stampften seine Füße kräftig dahin. Fionn wunderte sich selbst über seine Ausdauer, da er bisher nie so einen Gewaltlauf unternommen hatte, aber anscheinend lag es seinem Volk im Blut. Noch etwas, das er bisher nicht gewusst hatte.
Habe ich denn überhauptjemals etwas gewusst, außer den Benimmregeln von Onkelchen Fasin?
Er sah Tiw geradezu vor sich, wie er jetzt den Kopf wiegen und boshaft grinsen würde, und dann würde er mit seinem Pfeifenstiel auf ihn deuten: Fionn, der Narr, der Zwanzigzweier, die ahnungslose Unschuld.
Gerade noch im letzten Moment stoppte Fionn, zog sich hastig hinter die Mauer zurück und verharrte unterdrückt keuchend. Schweiß bedeckte seine Stirn, und er mühte sich ab, den rasenden Herzschlag zu beruhigen. Vorsichtig spähte er um die Ecke.
Hier ging es nicht weiter. Das Gassengewirr, durch das er gerade gestürmtwar, endete an dieser Stelle und mündete in eine der breiten Hauptstraßen, die sternförmig zum Zentrum führten, wo sich auf dem Hügel über allen Dächern der prächtige Palast erhob.
Rechts das Schloss, links ein weiteres Viertel; den Gerüchen und dem Lärm nach zu urteilen voller Gasthäuser, Schänken undvor allem Märkte. Der pulsierende Herzschlag jeder Stadt.
Das war es! Wenn er überhaupt irgendwo ein Versteck finden konnte, dann in dieser Richtung!
Fionn sicherte nach allen Seiten, lauschte auf das Stimmengewirr und wagte es dann, sich an den Hausmauern entlang nach links zu bewegen. Jeden Moment erwartete er, aufgegriffen zu werden, denn die Straße belebte sich zusehends. Aber er hatte Glück - bis hierher schienen sie noch nicht vorgedrungen zu sein. Alles war wie an einem normalen Tag. Maultierkarren, Pferdefuhrwerke, Reiter und Fußgänger; die meisten waren Menschen und Elben, aber auch ein paar Zwerge befanden sich darunter und einige wenige Mitglieder der anderen Kleinen Völker, zumeist in Kapuzenmäntel gehüllt, die sich in Gruppen bewegten.
So viele verschiedene Völker gab es nur auf den Märkten, und Fionn hätte beruhigt sein müssen. Aber ein Bogin, noch dazu ohne Mantel und barfüßig, musste trotzdem unweigerlich auffallen.
Doch niemand sah zu ihm herüber, alle waren mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt oder in Verhandlungen mit den Handwerkern und Geschäftsleuten auf der gegenüberliegenden Straßenseite verstrickt.
Anscheinend wussten sie noch nichts von dem Haftbefehl, nahmen vielleicht an, er wäre auf Besorgung für seinen Herrn unterwegs.
Fionn wagte allerdings nicht aufzuatmen. Es bestand keine Hoffnung, dass es dabei bleiben würde. Bald würden seine Verfolger auch hier durchkommen und alle befragen.
Nach zwanzig Schritten stellte sich die Erschöpfung ein, die Grenze war erreicht. Seit seiner Flucht hatte er kein einziges Mal durchgeatmet, geschweige denn überlegen können, wie er entkommen könnte. Er brauchte eine Ruhepause und musste nachdenken.
Die Hauptstraße führte auf einen großen Marktplatz, von dem eine Menge Gassen abzweigten. Fionn entdeckte ein an der Mündung einer solchen Gasse abgestelltes, leeres Fuhrwerk mit herabhängenden Planen, das aussah, als würde es nicht so schnell benötigt. Aber wie dorthin gelangen?
Mach dich unsichtbar.
Ja, natürlich! Das war es! Eine besondere Eigenschaft der Bogins war es, unauffällig zu sein. Das war vermutlich auch der Grund, weshalb bisher niemand auf Fionn geachtet hatte. Und das war etwas, woran er gleich hätte denken müssen, war es doch das erste, was ein Boginkind lernte.
Man übersah ihn und seinesgleichen.
Weil die Bogins allgegenwärtig, unentbehrlich und zugleich völlig unbedeutend waren.
So wie Hühner.
Hühner liefen überall herum, pickten hier und da, beäugten ihre gefangenen Artgenossen, die hoch über ihnen an den Füßen aufgehängt hingen, und staksten weiter.
Fionn schüttelte den Kopf über sich selbst, weil er das in seiner Panik verdrängt hatte. Dennoch durfte er nicht leichtsinnig werden. Noch war er nicht bei dem Fuhrwerk angekommen, und die Situation hatte sich geändert: Heute wurden die Bogins gejagt, man achtete also auf sie.
Der junge Mann senkte Kopf und Blick, zog die Schultern hoch und überquerte den Platz mit gleichmäßigen Schritten, ohne besondere Eile, aber auch nicht zu langsam. Er sah nicht links oder rechts, schlängelte sich zwischen einigen Ständen hindurch, und tatsächlich, es achtete niemand auf ihn. Alle waren beschäftigt mit dem Begutachten der Ware und den Verhandlungen, mit einem Schwätzchen oder einer Auseinandersetzung. Für die Jagd auf die Halblinge interessierten sie sich offenbar nicht.
Fionn verhielt sich in seinen Bewegungen ganz ähnlich wie ein Huhn, nicht zielstrebig und geradeaus, sondern wechselnd, als hätte er nichts weiter sonst zu tun. Beinahe zumindest. Immerhin! Ein Huhn ist doch noch weniger als ein Bogin, denn wir werden wenigstens nichtgegessen.
Dann hatte er das Fuhrwerk erreicht und rutschte, ohne sich umzusehen, mit einer fließenden Bewegung darunter, wobei er die Plane kaum berührte. In solchen Dingen war er in seiner Kinderzeit immer gut gewesen: Sich schnell zu verstecken, ohne dass es auffiel. Weil man nur so an die für die Herrschaft gedachten Kekse herankam.
Atemlos kauerte er sich zusammen und musste zulassen, dass sein Körper kurz darauf von einem unkontrollierten Schlottern befallen wurde. Nun, da alles zum Stillstand gekommen war, da er sich verborgen vor der Welt dort draußen fühlte, überfielen ihn Überanstrengung und Angst wie ein Herbststurm nach einem besonders klaren Tag. Er konnte kaum noch atmen.
Das kann alles nicht wahr sein, dachte er.
Irgendwann, als das Zittern nachließ, schob er die Plane ein Stück beiseite und beobachtete das Treiben dort draußen, aus weiter, sehr weiter Entfernung.
Dies also waren die Gassen von Sithbaile, der großen Emperata, der berühmtesten Stadt der Welt (zumindest sagte man das so), und Fionn, hier geboren, hatte sie nie verlassen. Und doch kannte er die Stadt nicht, nicht einmal aus Erzählungen.
Wie sollte er sich jemals zurechtfinden und seinen Verfolgern entkommen? Ohne Hut und Mantel, ohne Socken und Schuhe war er losgerannt, das Hemd hing ihm halb aus der Hose, ein Hosenträger war verrutscht. Eine Schande, eine Schande, würde Onkelchen Fasin sagen, wenn er hier wäre, der zu jeder Zeit und an jedem Ort äußersten Wert auf Tradition legte und vor allem darauf, dass ein Bogin, der etwas auf sich hielt, stets adrett und ordentlich gekleidet zu sein hatte. Was somit auf alle Bogins zutraf.
Aber welche Wahl hatte Fionn denn gehabt? Wie konnte man im Angesicht der Katastrophe noch auf Äußerlichkeiten achten oder sich die Zeit nehmen, einen Reisebeutel zu packen? Gewiss, Onkelchen Fasin war unerbittlich geblieben, doch wohin hatte es ihn gebracht?
Dorthin, wo sie jetzt alle waren. Die meisten waren bestimmt gut und standesgemäß gekleidet ins Verlies geworfen worden. Doch was half ihnen das?
Inzwischen mussten die Wachen nahezu alle gefangen haben, und Fionn waren sie weiterhin auf den Fersen, und nicht etwa, um ihm die Hand zu schütteln und ihm recht freundlich zum Volljahr zu gratulieren, zur Doppelzwei, die man nur einmal im Leben dargeboten bekommt. Denn an diesem Tag öffnete sich die Große Arca mit allen zweiundzwanzig Geheimnissen, die einen den Rest des Lebens begleiteten, bis der Kreis sich dereinst wieder schloss und übrig blieb, was begann: der Narr ...
Der bin ich und werde ich bleiben, dachte Fionn bitter, für den kümmerlichen Rest meiner Zwanzigzwei, die ich gestern so euphorisch gefeiert habe. In törichter Unwissenheit! Seht her - hier stirbt der Narr! Warum nur habe ich die Große Arca geöffnet? Oh, warum habe ich Tiw zugehört...
Während er sich selbst derart bemitleidete, ging das Leben jenseits der herabhängenden Plane munter weiter. Die Leute dort draußen schienen keine Sorgen und Nöte zu haben, und Fionn beneidete sie darum. Vor zwei Tagen noch war er wie sie gewesen, unbedarft und unschuldig, ohne Verantwortung und Last. Nun war er volljährig und gleichzeitig aus der friedvollen Beschaulichkeit gerissen. Er wusste nicht wohin, begriff nicht, wie das alles geschehen konnte.
Aber er wusste, wer die Schuld daran trug: Tiw!
Es war ratsam, einen Plan zu fassen, um Ordnung in das Chaos zu bringen, und das Ziel dabei war eindeutig Tiw. Wenigstens ein Anhaltspunkt ... doch bevor der junge Mann weitergrübeln konnte, riss ihn ein unmissverständliches Knurren aus der Versunkenheit. Sein Magen machte ihm deutlich, dass er seit gestern Abend nichts mehr zu sich genommen hatte und nach all der Aufregung und den Anstrengungen Nahrung benötigte, sonst würde der junge Mann sich nicht mehr lange aufrecht halten können.
Aber wo sollte er etwas zu essen bekommen? Er hatte keine Münze bei sich, und er war auf der Flucht. Zu stehlen wie ein Dieb kam nicht in Frage, ganz abgesehen davon, dass Fionn gar nicht gewusst hätte, wie er das anstellen sollte.
Er hatte sich noch nie ums Essen kümmern müssen, es hatte immer pünktlich auf dem Tisch gestanden. Woher all die Zutaten kamen und wie sie zubereitet wurden, hatte ihn nie interessiert. Nur der Genuss, der am Ende dabei herauskam und wohlig satt machte.
Fionns Nase zuckte, konzentrierte sich auf die verschiedenen Gerüche, die in Wellen vorbeischwangen, und wies ihm schließlich den Weg: Er musste zu einem Gasthaus gehen und dort versuchen, an Essbares heranzukommen.
Nach allen Seiten sichernd kroch Fionn aus der schützenden Deckung und ging, stets im Häuserschatten, eine Gasse entlang, die die meisten Düfte verströmte. Es war schon bedeutend ruhiger geworden, da der Nachmittag voranschritt und die meisten sich auf den Weg nach Hause machten. Auch einige Händler bauten ihre Stände ab, weil sie eine weite Heimreise hatten. Ridirean hatte deutlich hörbar Fünf posaunt, der Abend war nicht mehr fern.
An einer Kreuzung entdeckte er ein Gasthaus, die Quelle aller Gerüche, und sah sich zugleich Hoffnung und Verzweiflung gegenüber. Hier gab es Essen zuhauf, und sicher wäre es wohlschmeckend. Eine Menge Pferde waren an der Nordseite angebunden, und einige Kutschen drängten sich in dem angrenzenden Hof. Auf dem Zunftschild waren ein saftiger Braten, ein schäumender Bierkrug und eine lachende Maid abgebildet, und der Name lautete »Zum Schlemmer«.
Fionn lief das Wasser im Mund zusammen, und sein Magen knurrte nur noch lauter. Gab es vielleicht eine Möglichkeit, um ein wenig Essen zu betteln? Sollte er sich eine Geschichte über seinen kranken Herrn ausdenken, für den er etwas holen musste?
Lügen ist auch nicht viel besser als stehlen. Und vor allem kannst du genauso wenig lügen wie stehlen.
Aber er musste etwas essen, das stand fest, lange konnte er nicht mehr durchhalten. Erst recht, da nun die Genüsse schon beinahe greifbar vor ihm ausgebreitet waren. Fionn wäre schon um einen bescheidenen Ranken Brot dankbar gewesen.
Vorsichtig schlich er sich näher heran, drückte sich im Hof herum, stets darauf bedacht, keinem Knecht zu begegnen. Ab und zu verließ jemand das Gasthaus, neue Gäste gingen hinein. Vielleicht konnte Fionn seine Dienste einem Knecht anbieten und dadurch etwas zu essen bekommen. Das erschien ihm noch der beste Plan zu sein, den er auch nicht zu lange aufschieben sollte. Die Sonne ging gnadenlos unter, bald würde das wärmende Licht der Kühle der Nacht weichen.
Da hörte er ein Geräusch aus der Gasse nebenan, das seine Aufmerksamkeit erweckte. Es klang wie ein Zischen und Schnarren und schien näherzukommen. Etwa ein Verfolger? Vorsichtig zog er sich an den Rand zurück und lugte um die Ecke.
Es war kein Verfolger. Zwei Menschen, einer ziemlich groß, eingehüllt in einen Kapuzenmantel, der andere eher gedrungen und in abgerissener Kleidung, hatten offenbar Streit.
Das ging Fionn nichts an, und er wollte sich gerade wieder zurückziehen, da sah er einen Schatten, der sich dem großen Mann von hinten näherte, und verharrte misstrauisch.
»Gib mir, was ich will, und wir scheiden als Freunde«, zischte der Gedrungene.
»Geh mir aus dem Weg, und du scheidest nicht aus dem Leben«, antwortete der größere Mann mit dunkler, leicht rauer Stimme.
Fionns Augen weiteten sich, als er sah, dass der Schatten ein weiterer Mensch war, der ein Messer in der Hand hielt. Er hatte sich fast bis auf Armlänge in den Rücken des größeren Mannes geschlichen.
Ohne nachzudenken, bückte Fionn sich und hob einen Stein auf, dann rannte er los. »Achtung, Herr, hinter dir!«, rief er und warf den Stein.
Er hatte nicht zielen können, doch er traf immerhin den Arm des Angreifers, der mit einem überraschten Schmerzlaut zurückwich.
Der Mann, der ausgeraubt werden sollte, fuhr herum, und bevor der Heimtückische reagieren konnte, hatte er ihn mit einem Fausthieb niedergeschlagen.
Der Kumpan stieß einen Wutschrei aus. »Was mischst du dich da ein, Bucca!«
Bevor Fionn ausweichen konnte, bekam er einen heftigen Schlag auf den Kopf. Zuerst glaubte er, dass ihm das gar nichts ausmachte, aber dann zog es ihm plötzlich den Boden unter den Füßen weg, und er sackte zusammen. Vor seinen Augen tanzten Sterne, und er erkannte verschwommen, dass nun auch sein Angreifer zu Boden ging. Der große Mann riss zuerst den einen, dann den anderen glücklosen Räuber hoch und herrschte beide an: »Packt euch, bevor ich mich vergesse!«, woraufhin sie wie geprügelte Hunde davonliefen.
Fionn versuchte benommen, sich aufzurichten, als ein Schatten über ihn fiel. Erschrocken verharrte er, als er den Mann erkannte, der sich über ihn beugte.
Eine Strähne grauen Haars fiel unter der Kapuze hervor, und eine von einem dunklen Bart umrahmte Kinnpartie wurde sichtbar, die von einem starken Willen zeugte. In der Dunkelheit darüber glitzerten klare, bernsteinfarbene Augen, die ihn kühl musterten.
»B-bitte tu mir nichts!«, stieß er hervor.
Die Lippen des Mannes zogen sich leicht in die Breite. »Eine erstaunliche Sorge dafür, dass du mich verteidigt hast«, erwiderte er mit ironischem Klang. »Weshalb sollte ich dir wohl etwas antun?«
»Ich-ich weiß nicht«, stammelte Fionn. »Offen gestanden, weiß ich überhaupt nicht viel, und es wird mit jeder Stunde weniger.«
»Du scheinst keine hohe Meinung von Menschen zu haben, wenn du mir zutraust, dass ich deine Hilfe mit Hieben vergelte.«
»Ich hab gar keine Meinung, bitte um Verzeihung, aber ich bin um mindestens einen Kopf kleiner als du und wiege wahrscheinlich nur halb so viel, und ich habe keine Waffe ...«
»... aber enorm viel Mut, einem Fremden zu helfen und dabei das eigene Leben zu riskieren.«
»Darüber habe ich überhaupt nicht nachgedacht.« Fionn zitterte jetzt noch mehr, als ihm bewusst wurde, wie sehr der Fremde recht hatte. »Ich konnte es einfach nicht mit ansehen ... «
Der Mann schüttelte leicht den Kopf. Er griff plötzlich nach Fionns Hand, der vor lauter Schreckensstarre nicht in der Lage war, sie wegzuziehen, und zog ihn kurzerhand auf die Beine, stellte ihn gerade hin und klopfte ihn behutsam ab.
»Ich danke dir, kleiner Halbling«, sagte er freundlich. »Du solltest jetzt zusehen, nach Hause zu kommen, denn bald wird es dunkel, und du bist für die Nacht nicht ausreichend gekleidet.«
Fionn brachte kein Wort hervor, weil sich sonst seine ganze Trostlosigkeit in Tränen aufgelöst hätte.
»Und außerdem«, fuhr der Mann fort, »ist es zu gefährlich.« Er nickte dem jungen Bogin zu und verschwand um die Hausecke nebenan, ohne sich noch einmal umzusehen.
...
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»Da sind sie! Wir haben sie!«
Er hörte das Jammern und Klagen, er sah, wie sie lachend die Netze über die Fliehenden warfen, und rannte weiter.
Fionns Herz pochte so laut, dass er Angst hatte, es würde den Hufschlag übertönen. Es war sein Glück, dass es nicht gelang.
Ja, ein Glückskind bin ich, dachte er freudlos, während er barfuß um die Ecke flitzte, ein echter Pfundskerlfürwahr.
Ein beliebtes Bogin-Sprichwort, wenngleich zu diesem Zeitpunkt reichlich schief. Die bewunderten Pfundskerle landeten nämlich in der Pfanne und wurden mit zerlassener Butter und gerösteten Mandelblättchen serviert, mit gebotenem Ernst und unter Ehrungen verzehrt und anschließend die Gräten den unter dem Tisch herumstaksenden Hühnern zugeworfen.
Fionn drohte ein weitaus schlimmeres Schicksal, wenn es ihm nicht gelang, zu entkommen. Und das stand noch lange nicht fest. Bis jetzt war er jedes Mal gerade so um Haaresbreite entwischt, doch das Ende der Jagd war keineswegs in Sicht. Nicht einmal die in wenigen Stunden nahende Dunkelheit würde die Häscher aufhalten. Sie würden nicht rasten und ruhen, bis sie alle Bogins gefangen hatten. So lautete der Befehl.
Nun war Fionn am Ende der Gasse angekommen und wollte die größere Straße überqueren, da hörte er sie rufen und von der anderen Seite im Galopp heransprengen. Hastig bremste er, warf sich herum und schlüpfte in eine schmale Häuserverbindung, die mehr Abfallrinne denn Weg war. Fionn hielt sich die Nase zu und unterdrückte den Ekel vor dem glitschigen Schlamm, durch den seine bloßen Füße schlitterten. Nicht hinfallen, aufrecht bleiben, und hindurch! Wenn er schneller rannte, konnte er vielleicht darüber hinweglaufen, wie es die ätherischen Elben vermochten, die kaum einen Fußabdruck im Staub hinterließen.
Beißender Gestank reizte ihn, und er musste husten, aber er brachte es nicht über sich, durch die Nase zu atmen. Mit brennenden Augen hastete er voran, passierte den nächsten Häuserdurchgang und stand plötzlich vor einer Mauer. Links ging es weiter, und er folgte der Rinne in der Hoffnung, nicht im Kreis zu laufen. Beobachteten ihn die Leute? Wer mochten die Bewohner dieser heruntergekommenen, ungepflegten Behausungen sein? Fionn sah und hörte sie nicht, und niemand verstellte ihm den Weg. Vielleicht lebte hier gar niemand mehr, oder diese Wesen waren Nachtgeschöpfe. Das würde den Dreck erklären; denn wer aus dem Fenster kletterte oder flog, um das Haus zu verlassen, den brauchte die Pflege der Straße nicht zu kümmern.
Die Stimmen klangen auf einmal viel näher, und Fionn konnte einzelne Wortfetzen auffangen, die zwischen den Häuserschluchten hindurchschallten. Hierhin! Da rüber! Sucht dort drüben! Hast du einen Bogin gesehen? Geht aus dem Weg, ihr Idioten! Im Namen des Palastes, macht Platz! Gebt Auskunft und verbergt nichts! Wagt es nicht, uns zu belügen, oder ihr erleidet dasselbe Schicksal!
Schluchzend vor Angst bog Fionn erneut ab, verharrte kurz, um sich zu orientieren. Ein kleiner Platz, wie er seit Stunden mittlerweile ein Dutzend überquert haben mochte, vielleicht sogar auch genau diesen hier. Kleine, nicht mehr als zwei Stockwerke hohe schmale Häuser schmiegten sich aneinander, manche schon so krumm, dass sie die Stütze der anderen brauchten. Bei den meisten blätterte die Farbe ab, sie waren beherrschtvon dahinbleichendem Grün, und Gelb und Rosa, Violett und Blau. Und ein bisschen Weiß dazwischen sowie schwarze Fachwerkbalken mit tief hängenden roten Dächern.
Wenn er sich nur erinnern könnte, inwelchem Sektor derunüberschaubar großen Reichshauptstadt es diese Häuser gab! Wie weit war er von zu Hause entfernt? Eine Wegstunde, oder nur ein paar hundert Fuß? Wohin konnte er sich noch wenden?
»Durchkämmt jede einzelne Gasse, jedes Haus!«, erklang es hinter ihm im Befehlston. Dieser Befehl galt sicherlich für die ganze Stadt, doch es würde noch Stunden dauern, bis die Häscher tatsächlich alle Viertel erreicht hatten. Um es schneller zu schaffen, würden mindestens eintausend Mann gebraucht. Und damit stand die Richtung fest: Er musste vorwärts. Fionn war sich darüber im Klaren, dass sich das Netz immer enger um ihn zog. Wahrscheinlich trieben sie ihn längst systematisch vor sich her, und er konnte dem nicht entgegenwirken, weil er hier noch nie gewesen war.
Fionn wischte sich über die nassen Wangen und schämte sich. Er entschied sich für eine Gasse, in der zwischen den Häusern Wäsche gespannt war, und lief dort entlang weiter.
Noch verfügte er über genug Atem, noch stampften seine Füße kräftig dahin. Fionn wunderte sich selbst über seine Ausdauer, da er bisher nie so einen Gewaltlauf unternommen hatte, aber anscheinend lag es seinem Volk im Blut. Noch etwas, das er bisher nicht gewusst hatte.
Habe ich denn überhauptjemals etwas gewusst, außer den Benimmregeln von Onkelchen Fasin?
Er sah Tiw geradezu vor sich, wie er jetzt den Kopf wiegen und boshaft grinsen würde, und dann würde er mit seinem Pfeifenstiel auf ihn deuten: Fionn, der Narr, der Zwanzigzweier, die ahnungslose Unschuld.
Gerade noch im letzten Moment stoppte Fionn, zog sich hastig hinter die Mauer zurück und verharrte unterdrückt keuchend. Schweiß bedeckte seine Stirn, und er mühte sich ab, den rasenden Herzschlag zu beruhigen. Vorsichtig spähte er um die Ecke.
Hier ging es nicht weiter. Das Gassengewirr, durch das er gerade gestürmtwar, endete an dieser Stelle und mündete in eine der breiten Hauptstraßen, die sternförmig zum Zentrum führten, wo sich auf dem Hügel über allen Dächern der prächtige Palast erhob.
Rechts das Schloss, links ein weiteres Viertel; den Gerüchen und dem Lärm nach zu urteilen voller Gasthäuser, Schänken undvor allem Märkte. Der pulsierende Herzschlag jeder Stadt.
Das war es! Wenn er überhaupt irgendwo ein Versteck finden konnte, dann in dieser Richtung!
Fionn sicherte nach allen Seiten, lauschte auf das Stimmengewirr und wagte es dann, sich an den Hausmauern entlang nach links zu bewegen. Jeden Moment erwartete er, aufgegriffen zu werden, denn die Straße belebte sich zusehends. Aber er hatte Glück - bis hierher schienen sie noch nicht vorgedrungen zu sein. Alles war wie an einem normalen Tag. Maultierkarren, Pferdefuhrwerke, Reiter und Fußgänger; die meisten waren Menschen und Elben, aber auch ein paar Zwerge befanden sich darunter und einige wenige Mitglieder der anderen Kleinen Völker, zumeist in Kapuzenmäntel gehüllt, die sich in Gruppen bewegten.
So viele verschiedene Völker gab es nur auf den Märkten, und Fionn hätte beruhigt sein müssen. Aber ein Bogin, noch dazu ohne Mantel und barfüßig, musste trotzdem unweigerlich auffallen.
Doch niemand sah zu ihm herüber, alle waren mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt oder in Verhandlungen mit den Handwerkern und Geschäftsleuten auf der gegenüberliegenden Straßenseite verstrickt.
Anscheinend wussten sie noch nichts von dem Haftbefehl, nahmen vielleicht an, er wäre auf Besorgung für seinen Herrn unterwegs.
Fionn wagte allerdings nicht aufzuatmen. Es bestand keine Hoffnung, dass es dabei bleiben würde. Bald würden seine Verfolger auch hier durchkommen und alle befragen.
Nach zwanzig Schritten stellte sich die Erschöpfung ein, die Grenze war erreicht. Seit seiner Flucht hatte er kein einziges Mal durchgeatmet, geschweige denn überlegen können, wie er entkommen könnte. Er brauchte eine Ruhepause und musste nachdenken.
Die Hauptstraße führte auf einen großen Marktplatz, von dem eine Menge Gassen abzweigten. Fionn entdeckte ein an der Mündung einer solchen Gasse abgestelltes, leeres Fuhrwerk mit herabhängenden Planen, das aussah, als würde es nicht so schnell benötigt. Aber wie dorthin gelangen?
Mach dich unsichtbar.
Ja, natürlich! Das war es! Eine besondere Eigenschaft der Bogins war es, unauffällig zu sein. Das war vermutlich auch der Grund, weshalb bisher niemand auf Fionn geachtet hatte. Und das war etwas, woran er gleich hätte denken müssen, war es doch das erste, was ein Boginkind lernte.
Man übersah ihn und seinesgleichen.
Weil die Bogins allgegenwärtig, unentbehrlich und zugleich völlig unbedeutend waren.
So wie Hühner.
Hühner liefen überall herum, pickten hier und da, beäugten ihre gefangenen Artgenossen, die hoch über ihnen an den Füßen aufgehängt hingen, und staksten weiter.
Fionn schüttelte den Kopf über sich selbst, weil er das in seiner Panik verdrängt hatte. Dennoch durfte er nicht leichtsinnig werden. Noch war er nicht bei dem Fuhrwerk angekommen, und die Situation hatte sich geändert: Heute wurden die Bogins gejagt, man achtete also auf sie.
Der junge Mann senkte Kopf und Blick, zog die Schultern hoch und überquerte den Platz mit gleichmäßigen Schritten, ohne besondere Eile, aber auch nicht zu langsam. Er sah nicht links oder rechts, schlängelte sich zwischen einigen Ständen hindurch, und tatsächlich, es achtete niemand auf ihn. Alle waren beschäftigt mit dem Begutachten der Ware und den Verhandlungen, mit einem Schwätzchen oder einer Auseinandersetzung. Für die Jagd auf die Halblinge interessierten sie sich offenbar nicht.
Fionn verhielt sich in seinen Bewegungen ganz ähnlich wie ein Huhn, nicht zielstrebig und geradeaus, sondern wechselnd, als hätte er nichts weiter sonst zu tun. Beinahe zumindest. Immerhin! Ein Huhn ist doch noch weniger als ein Bogin, denn wir werden wenigstens nichtgegessen.
Dann hatte er das Fuhrwerk erreicht und rutschte, ohne sich umzusehen, mit einer fließenden Bewegung darunter, wobei er die Plane kaum berührte. In solchen Dingen war er in seiner Kinderzeit immer gut gewesen: Sich schnell zu verstecken, ohne dass es auffiel. Weil man nur so an die für die Herrschaft gedachten Kekse herankam.
Atemlos kauerte er sich zusammen und musste zulassen, dass sein Körper kurz darauf von einem unkontrollierten Schlottern befallen wurde. Nun, da alles zum Stillstand gekommen war, da er sich verborgen vor der Welt dort draußen fühlte, überfielen ihn Überanstrengung und Angst wie ein Herbststurm nach einem besonders klaren Tag. Er konnte kaum noch atmen.
Das kann alles nicht wahr sein, dachte er.
Irgendwann, als das Zittern nachließ, schob er die Plane ein Stück beiseite und beobachtete das Treiben dort draußen, aus weiter, sehr weiter Entfernung.
Dies also waren die Gassen von Sithbaile, der großen Emperata, der berühmtesten Stadt der Welt (zumindest sagte man das so), und Fionn, hier geboren, hatte sie nie verlassen. Und doch kannte er die Stadt nicht, nicht einmal aus Erzählungen.
Wie sollte er sich jemals zurechtfinden und seinen Verfolgern entkommen? Ohne Hut und Mantel, ohne Socken und Schuhe war er losgerannt, das Hemd hing ihm halb aus der Hose, ein Hosenträger war verrutscht. Eine Schande, eine Schande, würde Onkelchen Fasin sagen, wenn er hier wäre, der zu jeder Zeit und an jedem Ort äußersten Wert auf Tradition legte und vor allem darauf, dass ein Bogin, der etwas auf sich hielt, stets adrett und ordentlich gekleidet zu sein hatte. Was somit auf alle Bogins zutraf.
Aber welche Wahl hatte Fionn denn gehabt? Wie konnte man im Angesicht der Katastrophe noch auf Äußerlichkeiten achten oder sich die Zeit nehmen, einen Reisebeutel zu packen? Gewiss, Onkelchen Fasin war unerbittlich geblieben, doch wohin hatte es ihn gebracht?
Dorthin, wo sie jetzt alle waren. Die meisten waren bestimmt gut und standesgemäß gekleidet ins Verlies geworfen worden. Doch was half ihnen das?
Inzwischen mussten die Wachen nahezu alle gefangen haben, und Fionn waren sie weiterhin auf den Fersen, und nicht etwa, um ihm die Hand zu schütteln und ihm recht freundlich zum Volljahr zu gratulieren, zur Doppelzwei, die man nur einmal im Leben dargeboten bekommt. Denn an diesem Tag öffnete sich die Große Arca mit allen zweiundzwanzig Geheimnissen, die einen den Rest des Lebens begleiteten, bis der Kreis sich dereinst wieder schloss und übrig blieb, was begann: der Narr ...
Der bin ich und werde ich bleiben, dachte Fionn bitter, für den kümmerlichen Rest meiner Zwanzigzwei, die ich gestern so euphorisch gefeiert habe. In törichter Unwissenheit! Seht her - hier stirbt der Narr! Warum nur habe ich die Große Arca geöffnet? Oh, warum habe ich Tiw zugehört...
Während er sich selbst derart bemitleidete, ging das Leben jenseits der herabhängenden Plane munter weiter. Die Leute dort draußen schienen keine Sorgen und Nöte zu haben, und Fionn beneidete sie darum. Vor zwei Tagen noch war er wie sie gewesen, unbedarft und unschuldig, ohne Verantwortung und Last. Nun war er volljährig und gleichzeitig aus der friedvollen Beschaulichkeit gerissen. Er wusste nicht wohin, begriff nicht, wie das alles geschehen konnte.
Aber er wusste, wer die Schuld daran trug: Tiw!
Es war ratsam, einen Plan zu fassen, um Ordnung in das Chaos zu bringen, und das Ziel dabei war eindeutig Tiw. Wenigstens ein Anhaltspunkt ... doch bevor der junge Mann weitergrübeln konnte, riss ihn ein unmissverständliches Knurren aus der Versunkenheit. Sein Magen machte ihm deutlich, dass er seit gestern Abend nichts mehr zu sich genommen hatte und nach all der Aufregung und den Anstrengungen Nahrung benötigte, sonst würde der junge Mann sich nicht mehr lange aufrecht halten können.
Aber wo sollte er etwas zu essen bekommen? Er hatte keine Münze bei sich, und er war auf der Flucht. Zu stehlen wie ein Dieb kam nicht in Frage, ganz abgesehen davon, dass Fionn gar nicht gewusst hätte, wie er das anstellen sollte.
Er hatte sich noch nie ums Essen kümmern müssen, es hatte immer pünktlich auf dem Tisch gestanden. Woher all die Zutaten kamen und wie sie zubereitet wurden, hatte ihn nie interessiert. Nur der Genuss, der am Ende dabei herauskam und wohlig satt machte.
Fionns Nase zuckte, konzentrierte sich auf die verschiedenen Gerüche, die in Wellen vorbeischwangen, und wies ihm schließlich den Weg: Er musste zu einem Gasthaus gehen und dort versuchen, an Essbares heranzukommen.
Nach allen Seiten sichernd kroch Fionn aus der schützenden Deckung und ging, stets im Häuserschatten, eine Gasse entlang, die die meisten Düfte verströmte. Es war schon bedeutend ruhiger geworden, da der Nachmittag voranschritt und die meisten sich auf den Weg nach Hause machten. Auch einige Händler bauten ihre Stände ab, weil sie eine weite Heimreise hatten. Ridirean hatte deutlich hörbar Fünf posaunt, der Abend war nicht mehr fern.
An einer Kreuzung entdeckte er ein Gasthaus, die Quelle aller Gerüche, und sah sich zugleich Hoffnung und Verzweiflung gegenüber. Hier gab es Essen zuhauf, und sicher wäre es wohlschmeckend. Eine Menge Pferde waren an der Nordseite angebunden, und einige Kutschen drängten sich in dem angrenzenden Hof. Auf dem Zunftschild waren ein saftiger Braten, ein schäumender Bierkrug und eine lachende Maid abgebildet, und der Name lautete »Zum Schlemmer«.
Fionn lief das Wasser im Mund zusammen, und sein Magen knurrte nur noch lauter. Gab es vielleicht eine Möglichkeit, um ein wenig Essen zu betteln? Sollte er sich eine Geschichte über seinen kranken Herrn ausdenken, für den er etwas holen musste?
Lügen ist auch nicht viel besser als stehlen. Und vor allem kannst du genauso wenig lügen wie stehlen.
Aber er musste etwas essen, das stand fest, lange konnte er nicht mehr durchhalten. Erst recht, da nun die Genüsse schon beinahe greifbar vor ihm ausgebreitet waren. Fionn wäre schon um einen bescheidenen Ranken Brot dankbar gewesen.
Vorsichtig schlich er sich näher heran, drückte sich im Hof herum, stets darauf bedacht, keinem Knecht zu begegnen. Ab und zu verließ jemand das Gasthaus, neue Gäste gingen hinein. Vielleicht konnte Fionn seine Dienste einem Knecht anbieten und dadurch etwas zu essen bekommen. Das erschien ihm noch der beste Plan zu sein, den er auch nicht zu lange aufschieben sollte. Die Sonne ging gnadenlos unter, bald würde das wärmende Licht der Kühle der Nacht weichen.
Da hörte er ein Geräusch aus der Gasse nebenan, das seine Aufmerksamkeit erweckte. Es klang wie ein Zischen und Schnarren und schien näherzukommen. Etwa ein Verfolger? Vorsichtig zog er sich an den Rand zurück und lugte um die Ecke.
Es war kein Verfolger. Zwei Menschen, einer ziemlich groß, eingehüllt in einen Kapuzenmantel, der andere eher gedrungen und in abgerissener Kleidung, hatten offenbar Streit.
Das ging Fionn nichts an, und er wollte sich gerade wieder zurückziehen, da sah er einen Schatten, der sich dem großen Mann von hinten näherte, und verharrte misstrauisch.
»Gib mir, was ich will, und wir scheiden als Freunde«, zischte der Gedrungene.
»Geh mir aus dem Weg, und du scheidest nicht aus dem Leben«, antwortete der größere Mann mit dunkler, leicht rauer Stimme.
Fionns Augen weiteten sich, als er sah, dass der Schatten ein weiterer Mensch war, der ein Messer in der Hand hielt. Er hatte sich fast bis auf Armlänge in den Rücken des größeren Mannes geschlichen.
Ohne nachzudenken, bückte Fionn sich und hob einen Stein auf, dann rannte er los. »Achtung, Herr, hinter dir!«, rief er und warf den Stein.
Er hatte nicht zielen können, doch er traf immerhin den Arm des Angreifers, der mit einem überraschten Schmerzlaut zurückwich.
Der Mann, der ausgeraubt werden sollte, fuhr herum, und bevor der Heimtückische reagieren konnte, hatte er ihn mit einem Fausthieb niedergeschlagen.
Der Kumpan stieß einen Wutschrei aus. »Was mischst du dich da ein, Bucca!«
Bevor Fionn ausweichen konnte, bekam er einen heftigen Schlag auf den Kopf. Zuerst glaubte er, dass ihm das gar nichts ausmachte, aber dann zog es ihm plötzlich den Boden unter den Füßen weg, und er sackte zusammen. Vor seinen Augen tanzten Sterne, und er erkannte verschwommen, dass nun auch sein Angreifer zu Boden ging. Der große Mann riss zuerst den einen, dann den anderen glücklosen Räuber hoch und herrschte beide an: »Packt euch, bevor ich mich vergesse!«, woraufhin sie wie geprügelte Hunde davonliefen.
Fionn versuchte benommen, sich aufzurichten, als ein Schatten über ihn fiel. Erschrocken verharrte er, als er den Mann erkannte, der sich über ihn beugte.
Eine Strähne grauen Haars fiel unter der Kapuze hervor, und eine von einem dunklen Bart umrahmte Kinnpartie wurde sichtbar, die von einem starken Willen zeugte. In der Dunkelheit darüber glitzerten klare, bernsteinfarbene Augen, die ihn kühl musterten.
»B-bitte tu mir nichts!«, stieß er hervor.
Die Lippen des Mannes zogen sich leicht in die Breite. »Eine erstaunliche Sorge dafür, dass du mich verteidigt hast«, erwiderte er mit ironischem Klang. »Weshalb sollte ich dir wohl etwas antun?«
»Ich-ich weiß nicht«, stammelte Fionn. »Offen gestanden, weiß ich überhaupt nicht viel, und es wird mit jeder Stunde weniger.«
»Du scheinst keine hohe Meinung von Menschen zu haben, wenn du mir zutraust, dass ich deine Hilfe mit Hieben vergelte.«
»Ich hab gar keine Meinung, bitte um Verzeihung, aber ich bin um mindestens einen Kopf kleiner als du und wiege wahrscheinlich nur halb so viel, und ich habe keine Waffe ...«
»... aber enorm viel Mut, einem Fremden zu helfen und dabei das eigene Leben zu riskieren.«
»Darüber habe ich überhaupt nicht nachgedacht.« Fionn zitterte jetzt noch mehr, als ihm bewusst wurde, wie sehr der Fremde recht hatte. »Ich konnte es einfach nicht mit ansehen ... «
Der Mann schüttelte leicht den Kopf. Er griff plötzlich nach Fionns Hand, der vor lauter Schreckensstarre nicht in der Lage war, sie wegzuziehen, und zog ihn kurzerhand auf die Beine, stellte ihn gerade hin und klopfte ihn behutsam ab.
»Ich danke dir, kleiner Halbling«, sagte er freundlich. »Du solltest jetzt zusehen, nach Hause zu kommen, denn bald wird es dunkel, und du bist für die Nacht nicht ausreichend gekleidet.«
Fionn brachte kein Wort hervor, weil sich sonst seine ganze Trostlosigkeit in Tränen aufgelöst hätte.
»Und außerdem«, fuhr der Mann fort, »ist es zu gefährlich.« Er nickte dem jungen Bogin zu und verschwand um die Hausecke nebenan, ohne sich noch einmal umzusehen.
...
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Autoren-Porträt von Prisca Burrows
Prisca Burrows Frumble hat ihr Leben der historischen Forschung verschrieben. Sie gilt als die Koryphäe auf dem Gebiet der Bogins, deren Leben eng verflochten ist mit der Geschichte Albalons. »Der Fluch der Halblinge« ist eine teils authentische, epische historische Erzählung, die den Beginn der großen Veränderung beschreibt.
Bibliographische Angaben
- Autor: Prisca Burrows
- 2012, 1. Aufl., 414 Seiten, Maße: 13,5 x 21,5 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Bastei Lübbe
- ISBN-10: 3404206886
- ISBN-13: 9783404206889
- Erscheinungsdatum: 12.10.2012
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