Buzz Aldrin, wo warst du in all dem Durcheinander
Buzz Aldrin wo warst du in all dem Durcheinander von Johan Harstad
LESEPROBE
Der Mensch,den du liebst, besteht zu 72,8 Prozent aus Wasser, und es hat seit Wochennicht geregnet. Hier stehe ich, mitten im Garten, die Füße fest auf dem Boden.Ich habe mich über die Tulpen gebeugt, Handschuhe an den Händen, Arbeitsschuhean den Füßen, eine kleine Heckenschere zwischen den Fingern, es ist früh amMorgen, April 1999, und es wird langsam wärmer, irgendwas tut sich, ich habe esgemerkt, als ich heute in der Dämmerung aus dem Auto gestiegen bin und das Torzur Gärtnerei aufgemacht habe, die Luft war milder, hatte rundere Eckenbekommen, ich konnte endlich die Winterstiefel wegstellen und gegen die blauenJoggingschuhe eintauschen. Ich stehe im hinteren Garten bei den Blumen, mühsamgepflanzt, dicht an dicht in ihren Beeten und Kästen herangewachsen, der Bodenhebt sich, wölbt sich grün, und ich lehne mich zurück, in den letzten Tagenhatten wir Sonne, eine hochstehende Sonne, aber jetztsind Wolken von der Nordsee herangezogen, Kumuluswolken, und die Sonneverschwindet in kurzen Abständen, zuerst nur sekundenlang, dann vergeht jedesmal mehr Zeit, bis sie wieder durchkommt, ich lehnemich zurück, halte das Gesicht nach oben, kneife die Augen zusammen. Ichstehe da und warte. Und dann sehe ich ihn, irgendwo dort oben, dreihundert,vielleicht tausend Meter über mir, den ersten Tropfen, der sich löst, zu mirherunterschießt, es wird gleich regnen, in wenigen Sekunden wird es in Strömengießen, und es wird nie mehr aufhören, so wird es sich zumindest anfühlen, alswäre der Ballon endlich geplatzt, und ich sehe nach oben, ein einziger Tropfenauf dem Weg zu mir, auf direktem Kurs, die Geschwindigkeit nimmt zu, und dasWasser muß bei diesem Tempo seine Form verändern, dererste Tropfen fällt, und ich rühre mich nicht, bis ich spüre, daß er mich mitten auf der Stirn trifft, zur Seitewegexplodiert und sich in winzige Fragmente teilt, die auf meiner Jacke landen,auf den Blumen unter mir, den Schuhen, den Gartenhandschuhen. Ich senke denKopf. Und es beginnt zu regnen.
Heute istDienstag. Ich sehe es am Licht, der Verkehr vor dem Fenster wird den ganzen Tagüber langsam fließen, lustlos. Dienstag. Der überflüssigste Tag der Woche. EinTag, der zwischen den anderen Tagen fast niemandem auffällt. Das habe ichirgendwo gelesen, ich weiß nicht mehr, wo, aber man hat jetzt herausgefunden, daß an einem durchschnittlichen Dienstag statistischgesehen 34Prozent weniger Verabredungen getroffen werden als an den übrigenTagen. Weltweit. Es ist einfach so. Andererseits finden dienstags deutlich mehrBegräbnisse statt als an anderen Wochentagen. Sie häufen sich, man kommt nichtmehr nach.
Ich hatteeinen Freund.
Und hätteich ihn nicht gehabt, hätte ich nie mit einer größeren Geldsumme in derInnentasche dagestanden, wäre nicht beinahe überfahren worden, hätte nichteinen Menschen aus dem Meer gerettet und wäre nicht aus verschiedenen Barsgeflogen. Ich wäre nicht um ein Haar elfhundert Meter von einem Berg in dieTiefe gesprungen, hätte nicht versucht, ein Boot zu bauen, und vermutlich wäreich niemals verschwunden.
Aber ichhatte einen Freund.
Jørn.
Jørnspielte in einer Band.
Und ichhatte ja gesagt. Vor ein paar Wochen. Er hatte mich eines Abends gefragt, als wir bei ihm zu Hause in Storhaug saßen. Jørn und Roar wollten mit ihrer Band, Perkleiva,hinfahren, Ende Juli, zusammen mit einer anderen norwegischen Band, The Kulta Beats aus Trondheim,sie sollten dort auf irgendeinem Festival spielen, auf den Färöern, ein Auftragvon der Gemeinde Stavanger, soweit ich verstanden habe, Stavanger und Tórshavn waren Partnerstädte, und deshalb wollte Stavangerseinen Teil zur Feier des färöischen Nationalfeiertags Olsokbeitragen. Auch eine dänische Band, deren Namen ich mir nicht merken kann, wareingeladen, zusätzlich zu all den färöischen Künstlern. Ich sollte unter demVorwand mitkommen, der Tontechniker zu sein. Eigentlich war es wohl Jørns Versuch, mich mitzuziehen, mich rauszulocken, mir dieguten Seiten von Konzertauftritten zu zeigen, vom Spielen in der Band. Er hattedie Idee, daß wir beide zusammen auftreten könnten,ich als Sänger, nie ganz aufgegeben. Aber ich sagte nichts. Offiziell, denOrganisatoren gegenüber, lautete die Erklärung Claus. Claus war Perkleivas Produzent, aber er und seine Freundin erwartetenein Kind, es konnte jederzeit soweit sein, deshalb hatte er abgesagt,verständlicherweise, interessierte sich mehr für Ultraschall als für Gitarrentöne, und ich, ja, ich sollte in der Zeit sowiesoUrlaub haben, und ja, ich bin schon immer gern gereist, und nein, ich hattekeine anderen Pläne.
Und ichhatte ein wenig Ahnung von Tönen.
Nicht daß ich irgendeine Ausbildung als Tontechniker hatte odervorher schon in einer Band gearbeitet hatte. Aber ich verstand mich schon immergut auf Töne. Konnte sie isolieren. Ich kann mich aufs Sofa setzen, eine CDauflegen und jedes Instrument für sich hören. Ich weiß nicht, wie ich es mache,aber es klappt nun mal. Die Gitarre, das Schlagzeug, der Baß,der Sänger, sie werden in meinem Kopf zu Farben, ich höre, daßdas Ganze etwas blauer sein müßte, etwas wenigerbraun, ein schwacher Rosaschimmer irgendwo ganz hinten könnte stärkeraufgedreht werden, das wäre besser. Ich höre, wenn jemand auch nur ein bißchen falsch singt. Ich habe alle Folgen von Kontrapunkt gesehen,der Quizsendung zur klassischen Musik. Mir macht so schnell keiner was vor.
Sobald esanfing zu regnen, hörte ich mit der Gartenarbeit auf, aber ich hatte den Eimermit den Abfällen und die ziemlich überflüssige Gießkanne noch nicht hochgenommen,da war ich von dem vielen Wasser, das die Wolken über mir ausschütteten, schonvöllig durchnäßt und hinterließ eine Tropfenspur aufden Steinplatten im Ladenraum der Gärtnerei, stellte die Tulpen in eine Vaseauf einen der beiden großen alten Holztische und ging zur Garderobe, um dienasse Jacke aufzuhängen. Ich zog die Hosen aus und schlüpfte in einenArbeitsanzug der Gärtnerei, einen dunkelblauen Overall mit aufgedruckterglänzender Magnolienblüte auf dem Rücken, die Dinger stammten aus der Zeit, alssich der Besitzer in den Kopf gesetzt hatte, alle Angestellten müßten sich gleich kleiden, damit wir eine Serviceeinheitbildeten, wie er es nannte. Außerdem sollte es den Zusammenhalt stärken. Unsdas Gefühl vermitteln, Kollegen zu sein. Eine Clique, die die Dinge gemeinsamanpackte. Aber es wurde nichts daraus, niemand wollte die Uniform anziehen, eswirkte ziemlich überzogen, wir waren schließlich ein kleiner Betrieb mit nurwenigen Angestellten. Die Overalls hingen also in der Umkleide nebeneinander ander Wand, vier Stück, fast unbenutzt, seit vier Jahren, die Bügelfalten in denÄrmeln und Hosenbeinen waren noch deutlich zu erkennen. Wir trugen unsereeigenen Klamotten. Auch der Chef. Immer geblümte Hemden. Hawaii. Und er war einanständiger Kerl, auch wenn er meistens erst am späten Vormittag kam, gernausschlief.
Ich hatteden Magnolienoverall angezogen, er spannte im Schritt und roch neu, bevor ichwieder in den Laden ging, mich hinter die Theke setzte, das Radio einschaltete,den Terminkalender hervorholte und nachsah, was ich an einem Dienstag im Aprilzu tun hatte.
Radio.
Nachrichten.
Bombenfielen im Kosovo und in der Wojwodina, und die NATOtraf nicht, was sie treffen wollte, während ich den ersten Auftrag abhakte, derdarin bestand, einer Krankenhauspatientin Blumen zu bringen. Ich sah auf dieUhr. Ich hatte noch eine halbe Stunde, bis die anderen kamen, eineDreiviertelstunde, bis wir aufmachten. Aber die Blumen sollten so schnell wiemöglich geliefert werden, und ich hatte sonst nichts zu tun, also band ich ausden gewünschten Blumen ein paar Sträuße und legte sie in eine Obstkiste, imRadio lief Cardigans, ich kannte den Song nicht,versuchte aber, die Melodie mitzusummen, während ich die Bürotür schloß, fand den Ton, verlor aber die Melodie, dann gingich zum Radio, schaltete es aus, sah mich noch einmal um, doch, hier sah esokay aus, schöne Pflanzen, angenehmer Geruch, es war gut, hierzusein,ich machte die Ladentür auf, trat ins Freie, machte die Tür zu, schloß ab, öffnete die Wagentür, stieg ein, machte dieWagentür zu, ließ den Motor an, fuhr die vier Kurven bis zum Krankenhaus.
So war esfast jeden Tag, jemand von dort wollte Blumen haben, Sträuße. Und es war immerein schlechtes Zeichen. Ich war oft hier, etwa einmal pro Woche, hier hatteauch Großvater die letzten Wochen gelegen, und man bekam normalerweise nichtoft Blumen, außer man lag im Sterben. Dann hatte man eine Entschuldigung. Dannkamen die Schwestern schnuppernd ins Zimmer, spürten den Verfall, der in denTapeten hing, schlugen vor, das Zimmer ein wenig zu schmücken, vielleichtsollten wir ein paar Blumen besorgen, Frau Soundso, wäre das nicht was, undaußerdem ist es so dunkel hier drinnen, soll ich die Vorhänge aufziehen? Undwenn dann das Licht ins Zimmer drang, dauerte es nicht mehr lange, bis dieBlumen kamen, dann war es schon entschieden, bald, in Stunden oder Tagen würdensich jüngere Menschen im Halbkreis um das Bett versammeln, mit Engeln undDämonen, mit milden oder verärgerten Blicken, würden die Hände falten, daraufwarten, daß der Kranke für immer verschwinden und niemehr zurückkommen würde.
Ich hattezwei Sträuße, Tulpen und weiße Osterglocken, die mochten viele, sie löstenErinnerungen aus, das sagten sie oft, wenn ich mit den Blumen ins Zimmer kam, wennich sie in eine Vase stellte, das sind ja schöne Blumen, und dann dieErinnerungen, all die Erinnerungen, heimliche Fotoalben, die durchzusehen Jahredauern würde. Frau Helgesen sollte für ihre letztenTage Blumen bekommen.
Frau Helgesens Tage waren gezählt.
Jemandhatte Buch geführt und war zu dem Schluß gekommen,genug sei genug.
Aberniemand hatte es ihr gesagt. Sie lag im Bett und starrte die weiße Decke an.
»Sind dieBlumen für mich?« fragte sie, als ich angeklopft unddie Tür aufgemacht hatte, nachdem eine Piepsstimme von der anderen Seite ein Hereinüber die Lippen gebracht hatte.
»Klar, dieBlumen sind für Sie«, antwortete ich.
»Werde ichjetzt sterben?« Sie sah nicht verzweifelt aus, nurleicht überrascht.
»Aber nichtdoch«, sagte ich. »Sie sollen es hier nur ein wenig frühlingshaft haben.«
Ich spieltemit allen im Team, zog mich mitten im Spiel um und stand für alle Mannschaftenim Tor. Bekam alle roten Karten und setzte mich auf die Bank. Holte eine Vaseunter dem Waschbecken hervor, stellte die Blumen ins Wasser.
»Kommen Sieher«, sagte sie.
Ich ging zuihr.
Sie winktemich dichter heran. »Es gibt nur Blumen, wenn man bald stirbt«, sagte sie.
»Das glaubeich nicht«, antwortete ich. »Viele Leute bekommen Blumen.«
»Aberkeiner überlebt sie.«
»DieBlumen?«
»Ja, undsie erinnern mich an was, ich weiß nicht so recht, ich glaube, wir hattensolche im Garten. Nein, ich weiß nicht. Aber schön sind sie. Wirklich schön.«
»Tulpen undOsterglocken«, sagte ich. »So heißen sie.«
»Sehrschön. Und so weiß. Sind Sie etwa Gärtner?«
»Ja, binich. Ich arbeite dort drüben.«
Ich zeigtein Richtung Gärtnerei. Als könnte sie durch Wände sehen, der Röntgenblick alterMenschen.
Siebetrachtete die Blumen auf ihrem Tisch, sie würden sich nicht lange halten,würden in wenigen Tagen verblühen.
»Halten diesich noch lange?« Sie zeigte auf die Blumen, wolltedie Blätter berühren, kam aber nicht ganz heran, daher hob ich die Vase hoch,hielt sie ihr hin, sie sog den Duft ein, ein Schnuppern an allem, was einmalwar.
»Ja«, sagteich. »Die halten sich.«
»Gut.« Siewinkte der Vase zu, als ich sie wieder abstellte und mich aufrichtete, um zugehen, und als ich die Tür hinter mir schloß, wußte ich, daß ihr Arm noch immer
zum Tisch zeigte. »Gut.«
© PiperVerlag
Übersetzung:Ina Kronenberger
- Autor: Johan Harstad
- 2006, 604 Seiten, Maße: 14,1 x 21,4 cm, Gebunden, Deutsch
- Aus d. Norweg. v. Ina Kronenberger
- Übersetzer: Ina Kronenberger
- Verlag: Piper Taschenbuch
- ISBN-10: 3492048773
- ISBN-13: 9783492048774
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