Im Bann der Dämonin
Der Excop Brendon Clarkson ist ein Engel auf geheimer himmlischer Mission: Er soll die gefährliche Dämonin Luciana Rossetti gefangen nehmen, während sie beim alljährlichen Erlöserfest in Venedig auf ihr nächstes Blutopfer lauert. Getarnt als Tourist, lockt...
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Produktinformationen zu „Im Bann der Dämonin “
Klappentext zu „Im Bann der Dämonin “
Der Excop Brendon Clarkson ist ein Engel auf geheimer himmlischer Mission: Er soll die gefährliche Dämonin Luciana Rossetti gefangen nehmen, während sie beim alljährlichen Erlöserfest in Venedig auf ihr nächstes Blutopfer lauert. Getarnt als Tourist, lockt Brendon die grünäugige Femme fatale in die Falle. Doch sie entfacht ein leidenschaftliches Verlangen in ihm, dem er nicht widerstehen kann. Und er erkennt in ihren Augen, dass sie für ihn genauso empfindet. Aber den Kampf zwischen den Mächten des Lichts und der Finsternis kann nur einer von ihnen gewinnen.
Lese-Probe zu „Im Bann der Dämonin “
Im Bann der Dämonin von Stephanie Chong1. KAPITEL
Ein Tag zuvor
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„Willkommen zu Hause, baronessa."
Luciana Rossettis Privatboot wartete schon am Dock des Marco-Polo-Flughafens, und ihr Chauffeur half ihr beim Heruntersteigen vom Steg in das glänzende Mahagoni-Boot. Das Wasser glitzerte im Licht der Morgensonne, die die Lagune erstrahlen ließ. „Danke, Massimo. Es ist schön, wieder daheim zu sein."
„Kein Gepäck, signora?"
„Ich bin etwas überstürzt aus den Staaten abgereist." Luciana nahm auf einem Sessel im hinteren Teil des Bootes Platz. Sie lehnte sich in die hellbraunen Lederpolster. Endlich konnte sie sich entspannen. Sie atmete tief ein und stieß die Luft mit einem Seufzer der Erleichterung wieder aus.
Überstürzte Abreise war etwas untertrieben. Gerade noch entkommen traf es eher.
Doch im Moment fehlten ihr die richtigen Worte. Mit Worten allein ließ sich kaum ausdrücken, was ihr in den vergangenen drei Monaten widerfahren war. Und ihr fehlte einfach die Energie, Massimo davon zu berichten.
„Ist alles in Ordnung?", erkundigte er sich besorgt, während er das Boot hinaus auf die Lagune steuerte. Wenn irgendjemand spürte, ob etwas mit ihr nicht stimmte, dann war er es. Massimo war ihr maggiordomo, ihr Butler, ihre rechte Hand, und zwar schon seit zweihundert Jahren. Er warf ihr einen Blick zu und musterte sie stirnrunzelnd. „Sie sehen müde aus."
„Wie oft habe ich dich darauf hingewiesen, du sollst mir das nicht sagen, Massimo? Das will keine Frau hören, selbst wenn es wahr ist. Es geht mir gut."
Es ging ihr nicht gut.
Sie schloss die Augen und lehnte sich zurück. Vielleicht würde es ihr gleich wieder besser gehen. Doch im Moment war sie vollkommen erschöpft. Total ausgelaugt.
Aber sie lebte noch.
„Alles ist bestens, Massimo", beteuerte sie noch einmal, obwohl es gelogen war. „Ich hatte eine kurze Begegnung mit unseren Feinden, habe aber keinen dauerhaften Schaden davongetragen. Jetzt gibt es nur eins, das zählt: Ich habe es rechtzeitig nach Hause geschafft, um dem alljährlichen Erlöserfest beiwohnen zu können."
„Natürlich, baronessa." Auf Massimos schönem Gesicht zeigte sich ein Lächeln. „Sie sind eine starke Frau. Und Sie haben die Unterstützung Ihrer untergebenen Diener, von uns Türhütern. Denken Sie denn, Sie haben genug Kraft für die Jagd?", fragte er sie besorgt. „Wenn nicht, kann ich das Personal zusammentrommeln, und wir kümmern uns um die Sache, wenn Sie es wünschen."
„Nein, Massimo." Luciana rieb sich die Schläfen.
Die Türhüter, niedere Dämonen, die in ihren Diensten standen, waren zufälligerweise alle sehr jung, Italiener, männlich und außerordentlich hübsch anzusehen. Als Hauspersonal und Dienstboten machten sie ihre Sache gut. Aber wenn es darum ging, ihre eigenen Pflichten zu erledigen, konnte - und wollte - sie ihnen nicht trauen.
„Mach dir keine Gedanken. Ich muss mich nur ein paar Stunden ausruhen. Heute Abend bin ich sicher wieder völlig hergestellt. Bis dahin ist es noch eine Ewigkeit. Es besteht keine Notwendigkeit, dass das Personal mir eine Verpflichtung abnimmt, die zu erfüllen ich selbst in der Lage bin."
Massimo nickte und konzentrierte sich darauf, das Boot durch den Canal Grande zu steuern.
„Eine Aufgabe, die ich außerdem persönlich erfüllen muss", fügte sie hinzu.
Kurze Zeit später, als das Boot unter der Rialto-Brücke hindurchglitt, setzten bei ihr Kopfschmerzen ein. Die Brücke ließ die schmerzhafte Erinnerung an den Mann zurückkehren, der für ihre überstürzte Abreise aus den Vereinigten Staaten verantwortlich war. In der Nähe dieser Brücke hatte sie vor über zweihundert Jahren ihren ehemaligen Liebhaber kennengelernt. Damals war sie gerade mal siebzehn Jahre alt gewesen und immer noch unschuldig. Noch frisch und jung. Noch ein Mensch.
Und dann hatte Julian Ascher alles ruiniert.
Es war ein greller, stechender Schmerz, der in ihren Schläfen pulsierte. Mit den Fingern umklammerte sie die kleine gläserne Phiole, die sie an einer feinen Goldkette um den Hals trug. Das Einzige, das sie bei ihrer überhasteten Rückreise aus Amerika hatte mitnehmen können. Der Inhalt dieses kleinen Fläschchens würde ihr behilflich sein bei dem, was ihr größter Wunsch war.
Rache.
Sie war nach Amerika gefahren, um Rache zu üben. Und war erbärmlich gescheitert.
Ihr Plan war es gewesen, Julian Ascher für all das büßen zu lassen, was er ihr angetan hatte. Dafür, dass sie eine Dämonin geworden war - denn nur seinetwegen war es dazu gekommen. Obwohl dieser Plan gescheitert war, wäre es ihr zumindest beinahe gelungen, den frischgebackenen Engel zu töten, mit dem es Julian inzwischen trieb - ein idiotisch unschuldiges Mädchen namens Serena St. Clair. Und nachdem Luciana auch das misslungen war, hatte sie es nur mit Mühe geschafft, der Kompanie der Engel zu entwischen. Doch sie hatte es trotz aller Widrigkeiten nach Hause geschafft.
Erschöpft. Ausgelaugt. Aber immer noch am Leben.
Julian Ascher wird mir das noch büßen, dachte sie hasserfüllt. Und die Kompanie der Engel auch.
An ihnen allen würde sie sich rächen. Dieser Wunsch hielt sich eisern in ihrem Inneren. Hatte sie erst einmal ihre alljährliche Jagd beendet, konnte sie sich darauf konzentrieren, endlich ihre Rache zu Ende zu bringen.
Bei dem Gedanken musste sie lächeln.
Das Boot kam unter der Brücke hervor, war wieder in der Sonne.
Luciana hob den Kopf und betrachtete die Palazzi, die in all ihrer bröckelnden Eleganz den Kanal säumten. Der Tag war noch jung und bot endlose Möglichkeiten. In den verwinkelten Gässchen Venedigs wimmelte es von Menschen, die Vorbereitungen für die abendlichen Feierlichkeiten trafen.
„Sie sehen schon viel besser aus, baronessa", hörte sie Massimo sagen.
„Danke, Massimo. Die Stadt ist Balsam für meine Seele. Und das Erlöserfest ist mir immer eine große Freude."
Das Feuerwerk und die Ehrungen der Jungfrau Maria stellten das Highlight jeden Sommers dar. Dann drängten sich mit Girlanden geschmückte Boote auf dem Bacino di San Marco, dem Beginn des Canal Grande auf Höhe des Markusplatzes, von wo aus die Menschen das pyrotechnische Spektakel bestaunten. In den Restaurants und Bars tummelten sich betrunkene Gäste, und auf den Kanälen waren Einheimische wie Touristen in Scharen unterwegs, um gemeinsam zu schauen und zu feiern.
Die Venezianer waren Meister im Feiern. Seit Jahrhunderten hatten sie ein Faible für die Kunst der Orgie. Auf einem Boot trafen Männer mit freiem Oberkörper gerade Vorbereitungen für die Festivitäten. Sowie sie Luciana erblickten, pfiffen sie hinter ihr her.
„Che bellissima!", rief einer von ihnen. „Ciao, bella!"
Ah, sì. Das Pfeifen. Das war noch etwas, in dem die venezianischen Männer Meister waren.
Normalerweise ignorierte sie solche Typen. Schon seit ihrer Jugendzeit, als sie gerade erst zur Frau herangereift war. Doch jetzt schenkte sie den Männern ihr rätselhaftes Lächeln und rief zurück: „Te lo puoi sognare!"
In deinen Träumen ...
Über dem Meer schien ein heller Vollmond in einer Nacht, die gerade hereingebrochen war.
Brandon Clarkson war undercover unterwegs im heruntergekommensten Bezirk von Detroit. Sein Körper war schmutzig, weil Brandon seit Tagen nicht geduscht hatte, in seinen Lungen brannte die Erschöpfung. Seine zerrissenen Jeans und die Lederjacke waren schmuddelig und nur noch für den Müll geeignet.
Niemand würde ihn in diesem Zustand für den halten, der er war.
Ein Cop.
Und nicht einer von diesen Drogendealern, denen er seit Monaten auf der Spur war.
Er huschte in eine dunkle Gasse und folgte den Kriminellen, die er gleich hochgehen lassen würde. Er war nah dran, ganz nah dran. Sie waren hier, das war so sicher wie das Amen in der Kirche. Er spürte ihren Herzschlag, fühlte ihren Atem in der kühlen nächtlichen Brise. Ihr Geruch hing in der Luft, neben dem Gestank von Urin und Müll, der in der Dunkelheit verrottete. Das Geflirr von unsichtbarem Ungeziefer, tierischer wie menschlicher Art, in den Schatten verborgen, umgab ihn.
Doch sein Bauchgefühl warnte ihn. Eine kleine Stimme in seinem Inneren flüsterte ihm zu, dass hier etwas nicht stimmte.
Es roch nach Ärger.
Aber sein Verstand ignorierte die Warnung. Mit einer klaren und deutlichen Botschaft: Seit sechs Monaten jagst du diese Verbrecher. Das ist womöglich deine einzige Chance, sie zu kriegen.
Es war längst Zeit, diese Mistkerle zu schnappen. Er kannte ihre Gewohnheiten. Wusste um den immensen Umfang ihres Handels. Hatte Stoff im Wert ganzer Lagerhäuser voll mit Heroin und Kokain durch ihre Hände gehen sehen. So viel, dass man damit die ganze Stadt Detroit für eine volle Woche high machen könnte.
Er trat einen Schritt nach vorn, weiter in die Gasse hinein, und hielt dabei seine Waffe schussbreit.
Heute Nacht ist es so weit, sagte er zu sich selbst. Das Ende steht kurz bevor.
Da hörte er ein Geräusch hinter sich. Schnelle Schritte auf dem Asphalt. Und einen so lauten Knall, dass er dachte, sein Trommelfell platzte. Dann fühlte es sich an, als ob seine Wirbelsäule zerbersten würde. Da war ein sengender Schmerz, der sich wie heiße Lava in seinen Gliedmaßen ausbreitete, stärker als jeder Schmerz, den er jemals empfunden hatte. Eine Art Explosion, die nur von einer Kugel stammen konnte.
Er fiel nach vorn, zerrissen, das Gerüst aus Fleisch und Knochen plötzlich nicht mehr vorhanden.
Er hörte, wie die Schritte näher kamen.
Verharrten.
Er lag im Sterben. Das wusste er. Er lag auf der Seite und konnte spüren, wie sein Leben aus dem Loch in seinem Rücken rann. Er schob eine Hand in die Tasche. Zog eine silberne Taschenuhr heraus, die er immer bei sich trug, und fuhr mit den Fingern über den eingravierten Heiligen Michael auf der Rückseite.
Brandon flehte den Schutzpatron der Polizisten und Soldaten um Hilfe an.
„Heiliger Erzengel Michael, verteidige uns im Kampf gegen die Bosheit und die Nachstellungen des Teufels ..."
Er presste die alte Uhr auf sein Herz, spürte, wie sein Hemd feucht von Blut wurde. Verstand, dass die Kugel seinen Körper durchschlagen hatte. Er verblutete, zum Sterben zurückgelassen in dieser verdreckten Gasse.
Ganz nah neben seinem Ohr stand jemand. Er hörte das Scharren von Schuhen.
Dann ein zweiter Schuss von hinten, der ihn in den Schädel traf.
Der Tod kam sofort. Doch der letzte Moment von Brandons menschlicher Existenz, in Wirklichkeit kürzer als ein Atemhauch, erstreckte sich in seinem Empfinden über eine Ewigkeit, die sein ganzes Leben zu umfassen schien.
Das Letzte, was Brandon mit seinen menschlichen Augen wahrnahm, war seine Uhr. Ein letztes Mal sah er ihren kleinen Zeiger zucken.
Die Zeit stand still, eingefangen im Raum zwischen den zwei schwarzen Linien, die eine Sekunde von der nächsten trennt.
Und in dieser Sekunde zogen alle Erlebnisse seines menschlichen Daseins gebündelt an ihm vorüber.
Jedes Bild, das er jemals gesehen hatte, alle seine Erinnerungen strömten gleichzeitig auf ihn ein. Wie er bei seiner Geburt aus dem Körper seiner Mutter schlüpfte, in das kalte Licht eines Krankenhauszimmers. Er als Säugling und kleines Kind in einem heruntergekommenen Vorort von Detroit. Er mit seinen Brüdern raufend. Vorgärten mit rostigen Autos und hohem Unkraut. Seine Highschool-Liebe Tammy. Die Polizeiakademie. Seine Hochzeit. Ihre erste gemeinsame Wohnung. Wie sie sich am Nachmittag liebten.
All das ging ihm durch den Sinn und verließ ihn, als würde er rückwärts durch einen Tunnel gesaugt.
Und jetzt das.
Der Augenblick seines Todes war buchstäblich der schlimmste Moment seines Lebens. Er empfand Verlust, Sorge, Bedauern, Angst. Alles wirbelte durcheinander, wie bei einem dieser schwarzen Löcher im Weltall. Es war nicht in Worte zu fassen. Dieses Gefühl war so intensiv, dass er es nicht mit Sprache beschreiben konnte, die nicht einmal an der Oberfläche dieser Intensität zu kratzen vermochte.
Dieser Erfahrung von extremstem Leiden.
Genug für ein Leben, komprimiert in den letzten fliehenden Fetzen von Bewusstsein.
Was für eine beschissene Art zu sterben, dachte er.
Und das waren die letzten Gedanken, die er als Mensch hatte.
Dann zog es ihn in einer Spirale nach oben, und er trat aus seinen menschlichen Körper.
Als er nach unten schaute, erspähte er seine Überreste auf der Erde liegen, auf dem schmutzigen Asphalt in der dunklen Nacht, verblutend. Über seinem jetzt leblosen Körper kniete sein Mörder.
Brandon konnte nur den Rücken des Mannes sehen, während dieser sich über seine Leiche beugte und ihr etwas aus der Hand nahm. Der letzte Eindruck, den Brandon von seiner menschlichen Existenz bekam, war ein Akt absoluter Widerwärtigkeit. Der Killer hatte Brandon nicht nur das Leben genommen, sondern ihm auch seine verdammte Uhr gestohlen.
Glücklicherweise war das Brandon jetzt egal. Von seinem irdischen Körper losgelöst, schwebte er immer höher hinauf.
In das Licht hinein war er geboren worden. Jetzt war er tot und kehrte ins Licht zurück. Doch nicht ins Licht der Menschenwelt. Nicht in ein kaltes Licht, sondern in das wärmste und glückbringendste Licht, das er je erblickt hatte.
Er reckte sich, reckte sich nach oben, nach oben ...
Um für einen einzigen, hellen, glorreichen Augenblick im Kosmos zu verweilen. Ein Moment so lang wie eine Ewigkeit und kürzer als ein Augenblinzeln. Und trotzdem wusste er, dass er nicht für immer hierbleiben konnte.
Noch nicht. Es gab noch etwas zu erledigen.
Und dann fiel er, stürzte in schwindelerregender Geschwindigkeit wieder in die Tiefe, schneller als jede Materie.
Denn er, Brandon, bestand plötzlich aus reinem Licht.
Er landete hart, und das Licht seiner Seele krachte förmlich wieder in seinen menschlichen Körper.
Er lag im Bett. Und erhob die Stimme zur Totenklage. Er beweinte das Leben, das er verloren hatte.
So wie immer, wenn er aus diesem Albtraum erwachte.
In den vergangenen zehn Jahren war er jede verdammte Nacht zitternd vor Angst aufgewacht.
Und dankte Gott dafür, dass es nur ein Traum gewesen war.
Denn als es das erste Mal geschah, war es kein Traum.
Damals war es echt gewesen.
Drei Uhr morgens.
Das zeigte die Uhr in seinem Schlafzimmer an.
Diese Uhr existierte in Wirklichkeit. Nicht im Traum.
Er schloss die Augen, um die Erinnerung an seinen Tod auszublenden. Brachte sich selbst ins Hier und Jetzt zurück. Holte tief Luft. Noch einmal. Er spürte die feuchten Laken unter sich, nass von seinem Schweiß. Das Adrenalin rauschte noch immer durch seinen Körper.
Er lag in der Dunkelheit seines Zimmers und ging alles noch einmal durch.
Er, Brandon Clarkson, war nicht mehr länger ein Mensch.
Aber er war einmal ein Mensch gewesen.
Zehn Jahre lag sein Tod als menschliches Wesen nun zurück. Wieso er Nacht für Nacht im Traum zur Szene seines Todes zurückkehrte, wusste er nicht. Er hätte es für einen Fluch gehalten, wäre er nicht als ein anderes Wesen wiedergeboren worden.
Als Engel.
Unsterblich, aber mit einem menschlichen Körper versehen. Mit denselben Problemen, unter denen man als normaler Mensch litt. Erschöpfung. Stress.
Schlaflosigkeit.
Albträume.
Brandon knipste die Nachttischlampe an und blinzelte, weil es schlagartig hell wurde. Dann stand er auf und lief durch seine Wohnung. Das schicke, moderne Loft in einem historischen Art-Nouveau-Gebäude hatte nichts mit der schmutzigen Gasse gemein, in der er gestorben war. Er ging zum Fenster und betrachtete den Fluss dreißig Stockwerke weiter unten, der in der heißen Julinacht durch die sich spiegelnden Lichter der Stadt wie Gold glänzte.
Das war nicht der Detroit River, sondern der Chicago River.
Nicht Detroit, rief er sich in Erinnerung.
Nicht Detroit, wo er geboren worden war. Wo er gelebt hatte. Wo er gestorben war.
Ich bin in Chicago. Wo er jetzt als Schutzengel für die Kompanie der Engel arbeitete. Wo er zum Supervisor aufgestiegen war, mit einer eigenen Einheit, nachdem er seine Ausbildung in Los Angeles erfolgreich abgeschlossen hatte.
Chicago hatte nichts mit dem Leben zu tun, das er einmal als Mensch geführt hatte. Ewigkeiten trennten ihn davon.
In der Küche stellte er sich vor den Kühlschrank und las zum x-ten Mal den zehn Jahre alten Zeitungsausschnitt, den er dort hingehängt hatte. Sein menschliches Leben, heruntergekürzt auf drei Zeitungsspalten, schwarze Tinte auf verblichenem Papier.
Polizist bei Bandenschießerei getötet.
Der achtundzwanzigjährige Polizist Brandon Clarkson wurde am Samstagabend während einer Ermittlung im Bandenmilieu in der Innenstadt von Detroit erschossen. Laut Polizeiangaben erlag er noch am Tatort seinen schweren Schussverletzungen.
Im Rahmen der Gedenkfeier im Campus Martius Park wurde Clarkson posthum in den Rang eines Detective erhoben. Sein Partner, Officer Jude Everett, wurde ebenfalls wegen „außergewöhnlicher Tapferkeit" befördert, nachdem er den Mann festnehmen konnte, der Clarkson getötet hatte.
Clarkson war seit sieben Jahren bei der Polizei in Detroit. Er hinterlässt seine Eltern, drei Brüder und seine Frau Tammy.
Er las die Worte zum dreitausendsten Mal, und trotzdem stieg in ihm wieder Bitterkeit auf. Irgendwo tief in seinem Inneren brannte in ihm ein Gefühl, eine Ahnung, dass er nicht ausschließlich gut war. Nicht wie die meisten anderen Mitglieder der Kompanie, deren reinherzige Güte über jeden Zweifel erhaben war.
Sein Tod hatte in ihm eine Art von Wut ausgelöst, die er als Mensch nicht gekannt hatte.
Brandon Clarkson war mit einer beängstigend klaren Vorstellung davon, wie er leben wollte, geboren worden. Er kam auf die Welt und wusste, was er wollte.
Dienen und schützen.
Er lebte schnell und liebte intensiv. Und wenn er mit einer Mission auf die Welt gekommen war, dann hatte er die Welt im Dienste dieser Mission verlassen. Nun war er als Schutzengel zurückgeschickt worden, damit er weiter das tun konnte, was er immer getan hatte: die gefährlichsten Verbrecher jagen und die korruptesten Personen festsetzen, ob Mensch oder Dämon. Und die beschützen, die sich nicht selbst schützen konnten.
Mittlerweile war ein Jahrzehnt vergangen.
Da war nur ein kleines Problem.
Der Albtraum.
Der Albtraum von seinem immer wiederkehrenden menschlichen Tod. Brandon kam sich schon vor wie eine Gestalt aus der griechischen Mythologie. Wie Sisyphos, der einen Felsblock einen steilen Hang hinaufrollen musste, jedes Mal aufs Neue. Oder wie Prometheus, zu dem jeden Tag der Adler kam und seine Leber fraß. Dazu verdammt, dasselbe höllische Schicksal immer und immer wieder zu erleben.
„Du musst loslassen", hatten ihm seine Vorgesetzten, die Erzengel, schon etliche Male erklärt.
Allerdings konnte er das irgendwie nicht.
Nicht alle sterben jung, dachte er und wanderte ruhelos durch die Wohnung.
Er tat, was er immer tat, wenn er in Selbstmitleid zu ertrinken drohte. Er zündete mit einem Streichholz eine der Kerzen auf dem Couchtisch an. Arielle, seine ehemalige Supervisorin, hatte ihm gesagt: „Zünde eine Kerze an, wenn du deinen Ärger darüber loswerden willst, dass du dein menschliches Leben lassen musstest."
Dreitausendachthundertvierundneunzig Kerzen später wartete Brandon immer noch darauf, dass sich sein nächtlicher Schmerz und Ärger endlich in Rauch auflösten. Kleiner wurden wie die unzähligen Wachsstängel.
Da vibrierte sein Mobiltelefon, das auf dem Esstisch lag, und lenkte seine Aufmerksamkeit von der gelben Flamme ab. Es war eine Nachricht vom Schutzpatron der Polizisten und Soldaten höchstpersönlich. Von Erzengel Michael, der nun sein direkter Vorgesetzter war. Die Worte, die er auf dem Display las, ließen Brandon die Stirn runzeln.
Du hast einen neuen Auftrag. Finde dich sofort im Hauptquartier deiner Einheit ein. Stell deine Leute zusammen und nimm Kontakt mit Arielle auf.
Brandon löschte die Kerzenflamme mit den Fingern, dann verließ er die Wohnung.
Der Himmel rief.
Übersetzerin: Gisela Schmitt
Copyright © 2012 by Stephanie Chong
„Willkommen zu Hause, baronessa."
Luciana Rossettis Privatboot wartete schon am Dock des Marco-Polo-Flughafens, und ihr Chauffeur half ihr beim Heruntersteigen vom Steg in das glänzende Mahagoni-Boot. Das Wasser glitzerte im Licht der Morgensonne, die die Lagune erstrahlen ließ. „Danke, Massimo. Es ist schön, wieder daheim zu sein."
„Kein Gepäck, signora?"
„Ich bin etwas überstürzt aus den Staaten abgereist." Luciana nahm auf einem Sessel im hinteren Teil des Bootes Platz. Sie lehnte sich in die hellbraunen Lederpolster. Endlich konnte sie sich entspannen. Sie atmete tief ein und stieß die Luft mit einem Seufzer der Erleichterung wieder aus.
Überstürzte Abreise war etwas untertrieben. Gerade noch entkommen traf es eher.
Doch im Moment fehlten ihr die richtigen Worte. Mit Worten allein ließ sich kaum ausdrücken, was ihr in den vergangenen drei Monaten widerfahren war. Und ihr fehlte einfach die Energie, Massimo davon zu berichten.
„Ist alles in Ordnung?", erkundigte er sich besorgt, während er das Boot hinaus auf die Lagune steuerte. Wenn irgendjemand spürte, ob etwas mit ihr nicht stimmte, dann war er es. Massimo war ihr maggiordomo, ihr Butler, ihre rechte Hand, und zwar schon seit zweihundert Jahren. Er warf ihr einen Blick zu und musterte sie stirnrunzelnd. „Sie sehen müde aus."
„Wie oft habe ich dich darauf hingewiesen, du sollst mir das nicht sagen, Massimo? Das will keine Frau hören, selbst wenn es wahr ist. Es geht mir gut."
Es ging ihr nicht gut.
Sie schloss die Augen und lehnte sich zurück. Vielleicht würde es ihr gleich wieder besser gehen. Doch im Moment war sie vollkommen erschöpft. Total ausgelaugt.
Aber sie lebte noch.
„Alles ist bestens, Massimo", beteuerte sie noch einmal, obwohl es gelogen war. „Ich hatte eine kurze Begegnung mit unseren Feinden, habe aber keinen dauerhaften Schaden davongetragen. Jetzt gibt es nur eins, das zählt: Ich habe es rechtzeitig nach Hause geschafft, um dem alljährlichen Erlöserfest beiwohnen zu können."
„Natürlich, baronessa." Auf Massimos schönem Gesicht zeigte sich ein Lächeln. „Sie sind eine starke Frau. Und Sie haben die Unterstützung Ihrer untergebenen Diener, von uns Türhütern. Denken Sie denn, Sie haben genug Kraft für die Jagd?", fragte er sie besorgt. „Wenn nicht, kann ich das Personal zusammentrommeln, und wir kümmern uns um die Sache, wenn Sie es wünschen."
„Nein, Massimo." Luciana rieb sich die Schläfen.
Die Türhüter, niedere Dämonen, die in ihren Diensten standen, waren zufälligerweise alle sehr jung, Italiener, männlich und außerordentlich hübsch anzusehen. Als Hauspersonal und Dienstboten machten sie ihre Sache gut. Aber wenn es darum ging, ihre eigenen Pflichten zu erledigen, konnte - und wollte - sie ihnen nicht trauen.
„Mach dir keine Gedanken. Ich muss mich nur ein paar Stunden ausruhen. Heute Abend bin ich sicher wieder völlig hergestellt. Bis dahin ist es noch eine Ewigkeit. Es besteht keine Notwendigkeit, dass das Personal mir eine Verpflichtung abnimmt, die zu erfüllen ich selbst in der Lage bin."
Massimo nickte und konzentrierte sich darauf, das Boot durch den Canal Grande zu steuern.
„Eine Aufgabe, die ich außerdem persönlich erfüllen muss", fügte sie hinzu.
Kurze Zeit später, als das Boot unter der Rialto-Brücke hindurchglitt, setzten bei ihr Kopfschmerzen ein. Die Brücke ließ die schmerzhafte Erinnerung an den Mann zurückkehren, der für ihre überstürzte Abreise aus den Vereinigten Staaten verantwortlich war. In der Nähe dieser Brücke hatte sie vor über zweihundert Jahren ihren ehemaligen Liebhaber kennengelernt. Damals war sie gerade mal siebzehn Jahre alt gewesen und immer noch unschuldig. Noch frisch und jung. Noch ein Mensch.
Und dann hatte Julian Ascher alles ruiniert.
Es war ein greller, stechender Schmerz, der in ihren Schläfen pulsierte. Mit den Fingern umklammerte sie die kleine gläserne Phiole, die sie an einer feinen Goldkette um den Hals trug. Das Einzige, das sie bei ihrer überhasteten Rückreise aus Amerika hatte mitnehmen können. Der Inhalt dieses kleinen Fläschchens würde ihr behilflich sein bei dem, was ihr größter Wunsch war.
Rache.
Sie war nach Amerika gefahren, um Rache zu üben. Und war erbärmlich gescheitert.
Ihr Plan war es gewesen, Julian Ascher für all das büßen zu lassen, was er ihr angetan hatte. Dafür, dass sie eine Dämonin geworden war - denn nur seinetwegen war es dazu gekommen. Obwohl dieser Plan gescheitert war, wäre es ihr zumindest beinahe gelungen, den frischgebackenen Engel zu töten, mit dem es Julian inzwischen trieb - ein idiotisch unschuldiges Mädchen namens Serena St. Clair. Und nachdem Luciana auch das misslungen war, hatte sie es nur mit Mühe geschafft, der Kompanie der Engel zu entwischen. Doch sie hatte es trotz aller Widrigkeiten nach Hause geschafft.
Erschöpft. Ausgelaugt. Aber immer noch am Leben.
Julian Ascher wird mir das noch büßen, dachte sie hasserfüllt. Und die Kompanie der Engel auch.
An ihnen allen würde sie sich rächen. Dieser Wunsch hielt sich eisern in ihrem Inneren. Hatte sie erst einmal ihre alljährliche Jagd beendet, konnte sie sich darauf konzentrieren, endlich ihre Rache zu Ende zu bringen.
Bei dem Gedanken musste sie lächeln.
Das Boot kam unter der Brücke hervor, war wieder in der Sonne.
Luciana hob den Kopf und betrachtete die Palazzi, die in all ihrer bröckelnden Eleganz den Kanal säumten. Der Tag war noch jung und bot endlose Möglichkeiten. In den verwinkelten Gässchen Venedigs wimmelte es von Menschen, die Vorbereitungen für die abendlichen Feierlichkeiten trafen.
„Sie sehen schon viel besser aus, baronessa", hörte sie Massimo sagen.
„Danke, Massimo. Die Stadt ist Balsam für meine Seele. Und das Erlöserfest ist mir immer eine große Freude."
Das Feuerwerk und die Ehrungen der Jungfrau Maria stellten das Highlight jeden Sommers dar. Dann drängten sich mit Girlanden geschmückte Boote auf dem Bacino di San Marco, dem Beginn des Canal Grande auf Höhe des Markusplatzes, von wo aus die Menschen das pyrotechnische Spektakel bestaunten. In den Restaurants und Bars tummelten sich betrunkene Gäste, und auf den Kanälen waren Einheimische wie Touristen in Scharen unterwegs, um gemeinsam zu schauen und zu feiern.
Die Venezianer waren Meister im Feiern. Seit Jahrhunderten hatten sie ein Faible für die Kunst der Orgie. Auf einem Boot trafen Männer mit freiem Oberkörper gerade Vorbereitungen für die Festivitäten. Sowie sie Luciana erblickten, pfiffen sie hinter ihr her.
„Che bellissima!", rief einer von ihnen. „Ciao, bella!"
Ah, sì. Das Pfeifen. Das war noch etwas, in dem die venezianischen Männer Meister waren.
Normalerweise ignorierte sie solche Typen. Schon seit ihrer Jugendzeit, als sie gerade erst zur Frau herangereift war. Doch jetzt schenkte sie den Männern ihr rätselhaftes Lächeln und rief zurück: „Te lo puoi sognare!"
In deinen Träumen ...
Über dem Meer schien ein heller Vollmond in einer Nacht, die gerade hereingebrochen war.
Brandon Clarkson war undercover unterwegs im heruntergekommensten Bezirk von Detroit. Sein Körper war schmutzig, weil Brandon seit Tagen nicht geduscht hatte, in seinen Lungen brannte die Erschöpfung. Seine zerrissenen Jeans und die Lederjacke waren schmuddelig und nur noch für den Müll geeignet.
Niemand würde ihn in diesem Zustand für den halten, der er war.
Ein Cop.
Und nicht einer von diesen Drogendealern, denen er seit Monaten auf der Spur war.
Er huschte in eine dunkle Gasse und folgte den Kriminellen, die er gleich hochgehen lassen würde. Er war nah dran, ganz nah dran. Sie waren hier, das war so sicher wie das Amen in der Kirche. Er spürte ihren Herzschlag, fühlte ihren Atem in der kühlen nächtlichen Brise. Ihr Geruch hing in der Luft, neben dem Gestank von Urin und Müll, der in der Dunkelheit verrottete. Das Geflirr von unsichtbarem Ungeziefer, tierischer wie menschlicher Art, in den Schatten verborgen, umgab ihn.
Doch sein Bauchgefühl warnte ihn. Eine kleine Stimme in seinem Inneren flüsterte ihm zu, dass hier etwas nicht stimmte.
Es roch nach Ärger.
Aber sein Verstand ignorierte die Warnung. Mit einer klaren und deutlichen Botschaft: Seit sechs Monaten jagst du diese Verbrecher. Das ist womöglich deine einzige Chance, sie zu kriegen.
Es war längst Zeit, diese Mistkerle zu schnappen. Er kannte ihre Gewohnheiten. Wusste um den immensen Umfang ihres Handels. Hatte Stoff im Wert ganzer Lagerhäuser voll mit Heroin und Kokain durch ihre Hände gehen sehen. So viel, dass man damit die ganze Stadt Detroit für eine volle Woche high machen könnte.
Er trat einen Schritt nach vorn, weiter in die Gasse hinein, und hielt dabei seine Waffe schussbreit.
Heute Nacht ist es so weit, sagte er zu sich selbst. Das Ende steht kurz bevor.
Da hörte er ein Geräusch hinter sich. Schnelle Schritte auf dem Asphalt. Und einen so lauten Knall, dass er dachte, sein Trommelfell platzte. Dann fühlte es sich an, als ob seine Wirbelsäule zerbersten würde. Da war ein sengender Schmerz, der sich wie heiße Lava in seinen Gliedmaßen ausbreitete, stärker als jeder Schmerz, den er jemals empfunden hatte. Eine Art Explosion, die nur von einer Kugel stammen konnte.
Er fiel nach vorn, zerrissen, das Gerüst aus Fleisch und Knochen plötzlich nicht mehr vorhanden.
Er hörte, wie die Schritte näher kamen.
Verharrten.
Er lag im Sterben. Das wusste er. Er lag auf der Seite und konnte spüren, wie sein Leben aus dem Loch in seinem Rücken rann. Er schob eine Hand in die Tasche. Zog eine silberne Taschenuhr heraus, die er immer bei sich trug, und fuhr mit den Fingern über den eingravierten Heiligen Michael auf der Rückseite.
Brandon flehte den Schutzpatron der Polizisten und Soldaten um Hilfe an.
„Heiliger Erzengel Michael, verteidige uns im Kampf gegen die Bosheit und die Nachstellungen des Teufels ..."
Er presste die alte Uhr auf sein Herz, spürte, wie sein Hemd feucht von Blut wurde. Verstand, dass die Kugel seinen Körper durchschlagen hatte. Er verblutete, zum Sterben zurückgelassen in dieser verdreckten Gasse.
Ganz nah neben seinem Ohr stand jemand. Er hörte das Scharren von Schuhen.
Dann ein zweiter Schuss von hinten, der ihn in den Schädel traf.
Der Tod kam sofort. Doch der letzte Moment von Brandons menschlicher Existenz, in Wirklichkeit kürzer als ein Atemhauch, erstreckte sich in seinem Empfinden über eine Ewigkeit, die sein ganzes Leben zu umfassen schien.
Das Letzte, was Brandon mit seinen menschlichen Augen wahrnahm, war seine Uhr. Ein letztes Mal sah er ihren kleinen Zeiger zucken.
Die Zeit stand still, eingefangen im Raum zwischen den zwei schwarzen Linien, die eine Sekunde von der nächsten trennt.
Und in dieser Sekunde zogen alle Erlebnisse seines menschlichen Daseins gebündelt an ihm vorüber.
Jedes Bild, das er jemals gesehen hatte, alle seine Erinnerungen strömten gleichzeitig auf ihn ein. Wie er bei seiner Geburt aus dem Körper seiner Mutter schlüpfte, in das kalte Licht eines Krankenhauszimmers. Er als Säugling und kleines Kind in einem heruntergekommenen Vorort von Detroit. Er mit seinen Brüdern raufend. Vorgärten mit rostigen Autos und hohem Unkraut. Seine Highschool-Liebe Tammy. Die Polizeiakademie. Seine Hochzeit. Ihre erste gemeinsame Wohnung. Wie sie sich am Nachmittag liebten.
All das ging ihm durch den Sinn und verließ ihn, als würde er rückwärts durch einen Tunnel gesaugt.
Und jetzt das.
Der Augenblick seines Todes war buchstäblich der schlimmste Moment seines Lebens. Er empfand Verlust, Sorge, Bedauern, Angst. Alles wirbelte durcheinander, wie bei einem dieser schwarzen Löcher im Weltall. Es war nicht in Worte zu fassen. Dieses Gefühl war so intensiv, dass er es nicht mit Sprache beschreiben konnte, die nicht einmal an der Oberfläche dieser Intensität zu kratzen vermochte.
Dieser Erfahrung von extremstem Leiden.
Genug für ein Leben, komprimiert in den letzten fliehenden Fetzen von Bewusstsein.
Was für eine beschissene Art zu sterben, dachte er.
Und das waren die letzten Gedanken, die er als Mensch hatte.
Dann zog es ihn in einer Spirale nach oben, und er trat aus seinen menschlichen Körper.
Als er nach unten schaute, erspähte er seine Überreste auf der Erde liegen, auf dem schmutzigen Asphalt in der dunklen Nacht, verblutend. Über seinem jetzt leblosen Körper kniete sein Mörder.
Brandon konnte nur den Rücken des Mannes sehen, während dieser sich über seine Leiche beugte und ihr etwas aus der Hand nahm. Der letzte Eindruck, den Brandon von seiner menschlichen Existenz bekam, war ein Akt absoluter Widerwärtigkeit. Der Killer hatte Brandon nicht nur das Leben genommen, sondern ihm auch seine verdammte Uhr gestohlen.
Glücklicherweise war das Brandon jetzt egal. Von seinem irdischen Körper losgelöst, schwebte er immer höher hinauf.
In das Licht hinein war er geboren worden. Jetzt war er tot und kehrte ins Licht zurück. Doch nicht ins Licht der Menschenwelt. Nicht in ein kaltes Licht, sondern in das wärmste und glückbringendste Licht, das er je erblickt hatte.
Er reckte sich, reckte sich nach oben, nach oben ...
Um für einen einzigen, hellen, glorreichen Augenblick im Kosmos zu verweilen. Ein Moment so lang wie eine Ewigkeit und kürzer als ein Augenblinzeln. Und trotzdem wusste er, dass er nicht für immer hierbleiben konnte.
Noch nicht. Es gab noch etwas zu erledigen.
Und dann fiel er, stürzte in schwindelerregender Geschwindigkeit wieder in die Tiefe, schneller als jede Materie.
Denn er, Brandon, bestand plötzlich aus reinem Licht.
Er landete hart, und das Licht seiner Seele krachte förmlich wieder in seinen menschlichen Körper.
Er lag im Bett. Und erhob die Stimme zur Totenklage. Er beweinte das Leben, das er verloren hatte.
So wie immer, wenn er aus diesem Albtraum erwachte.
In den vergangenen zehn Jahren war er jede verdammte Nacht zitternd vor Angst aufgewacht.
Und dankte Gott dafür, dass es nur ein Traum gewesen war.
Denn als es das erste Mal geschah, war es kein Traum.
Damals war es echt gewesen.
Drei Uhr morgens.
Das zeigte die Uhr in seinem Schlafzimmer an.
Diese Uhr existierte in Wirklichkeit. Nicht im Traum.
Er schloss die Augen, um die Erinnerung an seinen Tod auszublenden. Brachte sich selbst ins Hier und Jetzt zurück. Holte tief Luft. Noch einmal. Er spürte die feuchten Laken unter sich, nass von seinem Schweiß. Das Adrenalin rauschte noch immer durch seinen Körper.
Er lag in der Dunkelheit seines Zimmers und ging alles noch einmal durch.
Er, Brandon Clarkson, war nicht mehr länger ein Mensch.
Aber er war einmal ein Mensch gewesen.
Zehn Jahre lag sein Tod als menschliches Wesen nun zurück. Wieso er Nacht für Nacht im Traum zur Szene seines Todes zurückkehrte, wusste er nicht. Er hätte es für einen Fluch gehalten, wäre er nicht als ein anderes Wesen wiedergeboren worden.
Als Engel.
Unsterblich, aber mit einem menschlichen Körper versehen. Mit denselben Problemen, unter denen man als normaler Mensch litt. Erschöpfung. Stress.
Schlaflosigkeit.
Albträume.
Brandon knipste die Nachttischlampe an und blinzelte, weil es schlagartig hell wurde. Dann stand er auf und lief durch seine Wohnung. Das schicke, moderne Loft in einem historischen Art-Nouveau-Gebäude hatte nichts mit der schmutzigen Gasse gemein, in der er gestorben war. Er ging zum Fenster und betrachtete den Fluss dreißig Stockwerke weiter unten, der in der heißen Julinacht durch die sich spiegelnden Lichter der Stadt wie Gold glänzte.
Das war nicht der Detroit River, sondern der Chicago River.
Nicht Detroit, rief er sich in Erinnerung.
Nicht Detroit, wo er geboren worden war. Wo er gelebt hatte. Wo er gestorben war.
Ich bin in Chicago. Wo er jetzt als Schutzengel für die Kompanie der Engel arbeitete. Wo er zum Supervisor aufgestiegen war, mit einer eigenen Einheit, nachdem er seine Ausbildung in Los Angeles erfolgreich abgeschlossen hatte.
Chicago hatte nichts mit dem Leben zu tun, das er einmal als Mensch geführt hatte. Ewigkeiten trennten ihn davon.
In der Küche stellte er sich vor den Kühlschrank und las zum x-ten Mal den zehn Jahre alten Zeitungsausschnitt, den er dort hingehängt hatte. Sein menschliches Leben, heruntergekürzt auf drei Zeitungsspalten, schwarze Tinte auf verblichenem Papier.
Polizist bei Bandenschießerei getötet.
Der achtundzwanzigjährige Polizist Brandon Clarkson wurde am Samstagabend während einer Ermittlung im Bandenmilieu in der Innenstadt von Detroit erschossen. Laut Polizeiangaben erlag er noch am Tatort seinen schweren Schussverletzungen.
Im Rahmen der Gedenkfeier im Campus Martius Park wurde Clarkson posthum in den Rang eines Detective erhoben. Sein Partner, Officer Jude Everett, wurde ebenfalls wegen „außergewöhnlicher Tapferkeit" befördert, nachdem er den Mann festnehmen konnte, der Clarkson getötet hatte.
Clarkson war seit sieben Jahren bei der Polizei in Detroit. Er hinterlässt seine Eltern, drei Brüder und seine Frau Tammy.
Er las die Worte zum dreitausendsten Mal, und trotzdem stieg in ihm wieder Bitterkeit auf. Irgendwo tief in seinem Inneren brannte in ihm ein Gefühl, eine Ahnung, dass er nicht ausschließlich gut war. Nicht wie die meisten anderen Mitglieder der Kompanie, deren reinherzige Güte über jeden Zweifel erhaben war.
Sein Tod hatte in ihm eine Art von Wut ausgelöst, die er als Mensch nicht gekannt hatte.
Brandon Clarkson war mit einer beängstigend klaren Vorstellung davon, wie er leben wollte, geboren worden. Er kam auf die Welt und wusste, was er wollte.
Dienen und schützen.
Er lebte schnell und liebte intensiv. Und wenn er mit einer Mission auf die Welt gekommen war, dann hatte er die Welt im Dienste dieser Mission verlassen. Nun war er als Schutzengel zurückgeschickt worden, damit er weiter das tun konnte, was er immer getan hatte: die gefährlichsten Verbrecher jagen und die korruptesten Personen festsetzen, ob Mensch oder Dämon. Und die beschützen, die sich nicht selbst schützen konnten.
Mittlerweile war ein Jahrzehnt vergangen.
Da war nur ein kleines Problem.
Der Albtraum.
Der Albtraum von seinem immer wiederkehrenden menschlichen Tod. Brandon kam sich schon vor wie eine Gestalt aus der griechischen Mythologie. Wie Sisyphos, der einen Felsblock einen steilen Hang hinaufrollen musste, jedes Mal aufs Neue. Oder wie Prometheus, zu dem jeden Tag der Adler kam und seine Leber fraß. Dazu verdammt, dasselbe höllische Schicksal immer und immer wieder zu erleben.
„Du musst loslassen", hatten ihm seine Vorgesetzten, die Erzengel, schon etliche Male erklärt.
Allerdings konnte er das irgendwie nicht.
Nicht alle sterben jung, dachte er und wanderte ruhelos durch die Wohnung.
Er tat, was er immer tat, wenn er in Selbstmitleid zu ertrinken drohte. Er zündete mit einem Streichholz eine der Kerzen auf dem Couchtisch an. Arielle, seine ehemalige Supervisorin, hatte ihm gesagt: „Zünde eine Kerze an, wenn du deinen Ärger darüber loswerden willst, dass du dein menschliches Leben lassen musstest."
Dreitausendachthundertvierundneunzig Kerzen später wartete Brandon immer noch darauf, dass sich sein nächtlicher Schmerz und Ärger endlich in Rauch auflösten. Kleiner wurden wie die unzähligen Wachsstängel.
Da vibrierte sein Mobiltelefon, das auf dem Esstisch lag, und lenkte seine Aufmerksamkeit von der gelben Flamme ab. Es war eine Nachricht vom Schutzpatron der Polizisten und Soldaten höchstpersönlich. Von Erzengel Michael, der nun sein direkter Vorgesetzter war. Die Worte, die er auf dem Display las, ließen Brandon die Stirn runzeln.
Du hast einen neuen Auftrag. Finde dich sofort im Hauptquartier deiner Einheit ein. Stell deine Leute zusammen und nimm Kontakt mit Arielle auf.
Brandon löschte die Kerzenflamme mit den Fingern, dann verließ er die Wohnung.
Der Himmel rief.
Übersetzerin: Gisela Schmitt
Copyright © 2012 by Stephanie Chong
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Autoren-Porträt von Stephanie Chong
Stephanie Chong hat als Anwältin gearbeitet, bevor sie in Oxford Kreatives Schreiben studiert und ihren Traumjob entdeckt hat: Schriftstellerin. Wenn sie nicht schreibt, macht sie Yoga, reist oder ist in der Natur unterwegs. Sie lebt in Vancouver, zusammen mit ihrem Ehemann und ihrem Mops Dexter.
Bibliographische Angaben
- Autor: Stephanie Chong
- 2013, 363 Seiten, Maße: 12,6 x 18,6 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Gisela Schmitt
- Verlag: MIRA Taschenbuch
- ISBN-10: 3862787303
- ISBN-13: 9783862787302
- Erscheinungsdatum: 14.05.2013
Rezension zu „Im Bann der Dämonin “
Eine berauschende Lektüre, die man nicht aus der Hand legen kann. Verbotene Leidenschaft brennt glühend heiß zwischen Serena und Julian. Romance Junkies über Die Sehnsucht des Dämons Eine wunderbar geschriebene Geschichte um Gut und Böse Literal Addiction über Die Sehnsucht des Dämons
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