Damals, das Meer
Ausgezeichnet mit dem Luchs des Jahres 2009
Ein fesselnder Roman über eine außergewöhnliche erste Liebe
"Nach all den Jahren kann ich an diese Nacht kaum zurückdenken, ohne in wunderbaren und schrecklichen Emotionen gleichzeitig zu versinken, in einem Gefühl so tief wie das Meer und so weit wie...
"Nach all den Jahren kann ich an diese Nacht kaum zurückdenken, ohne in wunderbaren und schrecklichen Emotionen gleichzeitig zu versinken, in einem Gefühl so tief wie das Meer und so weit wie...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Damals, das Meer “
Klappentext zu „Damals, das Meer “
Ein fesselnder Roman über eine außergewöhnliche erste Liebe"Nach all den Jahren kann ich an diese Nacht kaum zurückdenken, ohne in wunderbaren und schrecklichen Emotionen gleichzeitig zu versinken, in einem Gefühl so tief wie das Meer und so weit wie der nächtliche Himmel. Natürlich war es Liebe, aber das wusste ich damals nicht."
Hilary ist sechzehn, schon von zwei Schulen geflogen und unglücklicher Schüler eines kalten, trostlosen Internats. Sein einziger Lichtblick: Die heimlichen Ausflüge zu Finn in die kleine, windschiefe Hütte direkt am Meer ...
Lese-Probe zu „Damals, das Meer “
Damals, das Meer von Meg Rosoff2
Regel Nummer zwei: Halte dich bedeckt.
Ich gebe zu, dass ich nicht zu den Helden gehöre, die aufgrund ihrer äußeren Erscheinung bewundert werden. Man stelle sich einen Jungen vor, klein für sein Alter, die Ohren im richtigen Winkel am Kopf, Haare wie Stroh und mausbraun. Mund: schmal. Augen: skeptisch, wachsam.
Man könnte einwenden, dass oberflächliche Makel bei Jungen in meinem Alter keine Seltenheit sind, aber in meinem Fall traf das nicht zu. Ob links, rechts, oben, unten oder diagonal - auf allen Klassenfotos von St Oswald waren gängigere Typen vertreten: Jungen mit kräftigen Kiefern, geraden Nasen und dickem Haar von eindeutiger Farbe; Jungen mit langen, geraden Gliedmaßen und kühnen, selbstbewussten Gesichtern; Jungen mit Fertigkeiten, angeborenen Talenten, einem genetisch bedingten Sinn für Politik oder Latein oder die Juristerei.
Mein Gesicht (verschwommen und formlos) sah auf diesen Bildern immer verschlagen und ziemlich idiotisch aus, als wüsste sogar mein Körper, dass ich einen schlechten Eindruck machte, noch während der Blendenverschluss klickte.
... mehr
Sagte ich schon, dass St Oswald meine dritte Schule war? In den ersten beiden wurde ich aufgefordert (und zwar nicht gerade freundlich), aufgrund meines beklagenswerten Verhaltens und meiner erbärmlichen Noten zu gehen. Zu meiner Verteidigung möchte ich betonen, dass mein Verhalten gar nicht beklagenswert war, wenn man darunter grob, streitsüchtig, gewalttätig und asozial versteht - also die Bibliothek anzuzünden, einen Lehrer niederzustechen oder zu vergewaltigen. Mit beklagenswert meinten sie »ziemlich unmotiviert beim Lernen«, »ziemlich unfähig im Aufsatzschreiben«, »ziemlich uninteressant für den Schulleiter und das Direktorium«. Angesichts meiner harmlosen Schwächen empfinde ich diese Beurteilung heute als unnötig hart, und ich frage mich, wie sie wohl den Schüler bezeichneten, der mit einer AK-47 mitten in der Kapelle das Feuer eröffnete.
In Wirklichkeit war meine Mittelmäßigkeit vorwiegend auf Fotos und Schularbeiten beschränkt. Wenn es um Meinungen ging, war ich (und bin es noch) wie das Schwert von Zorro: schnell, schneidend, tödlich. Meine Meinung über die Bedeutung der höheren Schulbildung beispielsweise ist absolut. Meiner Meinung nach waren diese Schule und ihre Zeitgenossen nichts als billige Händler für gesellschaftlichen Status, die an gutbürgerliche Jungen ohne besondere Verdienste ein aufgeblasenes Selbstwertgefühl verkauften.
Eins allerdings muss ich ihnen zugutehalten. Ohne die erste Schule wäre ich nicht in der zweiten gelandet. Ohne die zweite hätte es mich nicht nach St Oswald verschlagen. Ohne St Oswald wäre ich Finn nie begegnet.
Und ohne Finn gäbe es keine Geschichte.
3
Alles begann an der Küste von East Anglia, gleich hinter dem Einschnitt, wo der Fluss Ore Salz führt und sich ins Meer ergießt. Dort ragte vom Festland eine kleine Halbinsel vor, grob geformt wie eine Rattennase. Auf Landkarten (alten Landkarten) wurde diese Halbinsel als die Stele bezeichnet, nach einem Gedenkstein oder einer Stele aus dem siebten Jahrhundert, gefunden 1825 ganz in der Nähe des Schulgeländes.
Der Brief, den meine Schule an künftige Eltern verschickte, enthielt eine Umgebungsbeschreibung von einer drei viertel Seite. Die Lage war ein Verkaufsargument (Salzluft kräftigt die Lungen und fördert einen klaren Verstand), und in eleganter Kursivschrift wurde erklärt, wie man die halb in der Erde vergrabene Stele gefunden hatte und dass der große, schwere Stein wahrscheinlich von der Insel Lindisfarne an die Küste Northumbrias transportiert worden war. Solche Gedenksteine waren in diesem Landesteil nicht ungewöhnlich, aber dieser zeigte ein schönes gemeißeltes Porträt des heiligen Oswald, ein König Britanniens im siebten Jahrhundert, auf dem die angelsächsische Entsprechung von »Oswald war hier« eingraviert war. Der Stein selbst ist lange schon fort und steht im British Museum.
Die Jungenschule St Oswald, die vermutlich keinem ein Begriff ist, lag gute drei Kilometer landeinwärts. Die Schulstraße verlief in einer halbwegs geraden Linie zwischen der Bundesstraße und der Küste, und parallel dazu erstreckte sich fast über die gesamte Länge ein Fußweg. Am Meer bog die Straße nach links ab (Richtung Norden), während der Fußweg nach rechts abzweigte (Richtung Süden). Folgte man dem Fußpfad, dann erreichte man die Stele nach ungefähr zwanzig Minuten - oder zumindest den Kanal mit tiefem Wasser, der sie vom Festland trennte. Die kleine Halbinsel konnte nur bei Ebbe ein paar Stunden am Tag erreicht werden, über einen feuchten Sanddamm. Um sie herum erstreckten sich Salzwiesen und Schilfbetten, die nistenden Sumpf-und Wasservögeln ein Zuhause boten - Austernfängern, kleinen Seeschwalben, Kormoranen, Möwen - und die früher römischen, sächsischen und wikingischen Siedlern als Domizil gedient hatten.
Ein paar Kilometer und eine Million Lichtjahre entfernt lag mein zweites Zuhause, Mogg House, ein vierstöckiges Gebäude mit Studierzimmern (klein wie Gräber) im Erdgeschoss, Gemeinschaftsschlafräumen in der Mitte, und auf den Stockwerken darüber Schlafzimmer mit Wohnbereich. Jungen in meinem Alter wohnten im obersten Stockwerk in Zimmern, die eigentlich für zwei gedacht waren, jetzt aber, dank dem Wunsch unseres Schatzmeisters, die Einnahmen zu maximieren, vier beherbergen mussten. Die Toiletten waren im Erdgeschoss, und ich bin bis heute überzeugt, dass ich dank der ungünstigen Lage des stillen Örtchens über eine hervorragende Blasenkontrolle verfüge.
Wir entwickelten sie im Lauf der Zeit und durch Übung, ähnlich wie unsere Fähigkeiten in Mathe oder die Arpeggio- Technik.
Trotz der brutalen Küstenwinter hatten wir keine Heizung. Wärme, so die gängige Auffassung, lief der Entwicklung des Immunsystems zuwider und man erwartete von uns eine fast übermenschliche Toleranz für Kälte. Das Erfreuliche daran war, dass die Bedingungen an meiner vorherigen Schule - sie lag dreihundertzwanzig Kilometer weiter im Norden - noch schlimmer gewesen waren. Dort hielten wir uns im Winter warm, indem wir in unseren Kleidern schliefen, in Wollpullis, Socken und Hosen, über die wir Schlafanzüge anzogen, und wenn wir am Morgen aufwachten, lagen meistens Schneehaufen unter den offenen Fenstern und die Toiletten waren vereist.
In St Oswald fielen wir beim Läuten einer Glocke aus dem Bett, knöpften uns einen sauberen Kragen ans Hemd (wenn wir einen besaßen), zogen die Unterwäsche, Flanellhose, Socken und schweren schwarzen Schuhe vom Vortag an und flitzten nach unten zum Frühstück, das aus grauem Haferbrei und Toast bestand. Die Nachkriegsrationierung hatte vor acht Jahren aufgehört, aber in den Schulküchen des Landes tischte man immer noch gern fieses, deprimierendes Essen auf. Nach dem Frühstück kam der Gottesdienst in der Kapelle, dann fünf Unterrichtsstunden am Stück ohne eine Pause, gefolgt vom Mittagessen (rosa Würste, grüne Leber, brauner Eintopf oder stinkender, transparent gekochter Kohl), gefolgt von einem Nachmittag, der dem Sport oder langweiligen Kadettenparaden gewidmet war, gefolgt vom Abendessen, gefolgt von Schularbeiten, gefolgt vom Schlafengehen.
Unter diesem relativ überschaubaren Zeitplan lauerten die zwielichtigen Regionen des Schullebens, in denen sich die wirklichen Dramen abspielten, in denen ausgefeilte Hierarchien die Gewinner und Verlierer bestimmten und jedem seinen Rang innerhalb des unklaren Kastensystems der Schule zuwiesen. Wie in der Außenwelt gab es kaum soziale Mobilität zwischen den Schichten. Die Stellung, die man am Anfang hatte, legte fest, ob man ein elendes oder triumphales Leben führte. Ich kann mich an keinen Jungen erinnern, der sein Schicksal im Lauf der Schuljahre entscheidend verbessert hätte, obwohl mich meine Erinnerung vielleicht täuscht.
»Ey, du!«
Nach drei Tagen schreckte ich aus meinen Gedanken auf und begegnete dem Blick eines herrischen Schülers der Abschlussklasse.
»Du!«
Ja, seufzte ich innerlich. Ich.
»Was ist das?« Er zeigte auf den unteren Knopf meines Schulblazers.
Ein Specht, du kriechende Made.
Ruhig und entschlossen hob er die Hand und riss den Knopf ab. Es lohnt sich zu betonen, dass dies eine beträchtliche Kraft erforderte. Und ein großes Loch hinterließ.
»Aufgeknöpft«, blaffte er. »Verstanden?«
Ich starrte ihn an.
»Die richtige Antwort, Abschaum, lautet Ja, Sir.«
»Ja, Sir.« Ich hatte gelernt, unendlich viel Feingefühl in einen kaum spürbaren Sarkasmus zu legen.
Er machte auf dem Absatz kehrt und stolzierte davon, während ich im Gras nach meinem Knopf suchte. Das Ganze machte mir nicht viel aus, denn mir waren in meinem Leben schon etliche missmutige kleine Faschisten begegnet, auch wenn mich ihre Wahnvorstellungen immer wieder verwunderten.
Unsere Welt drehte sich um Schulregeln, Regeln, die so rätselhaft und undurchsichtig waren wie die finstersten Winkel einer päpstlichen Intrige. Unterer Blazerknopf auf oder zu, linke Hand in der Tasche oder nicht, den Hof schräg oder gerade überqueren, auf dem Rasen laufen oder gehen, Bücher in der rechten oder linken Hand, blaue Tinte oder schwarze, Kappe nach vorn oder hinten gezogen - es gab keinen Spickzettel, keine Liste zum Nachlesen, kein Hausbuch, auf dem das Wort Regeln eingeprägt war. Die Regeln existierten einfach und drängten an die Oberfläche des Schullebens wie Scheißhaufen. Wir nahmen ihre Willkür, die Härte, die schiere Anzahl hin und gehorchten, weil es sie gab, weil wir neuer oder jünger oder schwächer waren als diejenigen, die sie uns aufzwangen, und weil wir unsere kritischen Fähigkeiten hätten einsetzen müssen, wenn wir unsere Köpfe mit sinnvollerer Information hätten füllen wollen. Was zu Zweifeln am gesamten System geführt hätte. Was zum sozialen und wirtschaftlichen Zusammenbruch und zum Ende des Lebens geführt hätte, das wir kannten.
Es war leichter, einfach wie immer weiterzumachen.
Eins will ich klarstellen: Viele Jungen (beliebte, kluge, sportliche) verlebten eine absolut glückliche Zeit in St Oswald; ich gehörte schlicht nicht dazu. Und trotzdem hatte ich gewisse Eigenschaften - ein Gesicht, das keine Gefühlsregung zeigte, eine gesunde Missachtung für Fair Play -, die mir zugutekamen. Mir waren keine glänzenden Preise bestimmt, aber ich hatte meine Eigenarten.
Unser Unterricht fand unter den zugigen hohen Decken im Hauptgebäude statt, immer begleitet vom willkürlichen Klappern und Knallen der Rohrleitungen aus dem neunzehnten Jahrhundert. Tag für Tag saß ich mit ernster und verständnisloser Miene da und wusste, dass es genau dieser Gesichtsausdruck war, weswegen die Lehrer den Jungen zu meiner Linken aufriefen. Sie hassten es, Dinge immer wieder aufs Neue zu erklären - es langweilte sie und ließ sie ihr Leben verabscheuen.
Trotz (oder vielleicht wegen) der deprimierenden Vertrautheit all dieser Umstände gewöhnte ich mich sofort in St Oswald ein.
Copyright © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main.
Sagte ich schon, dass St Oswald meine dritte Schule war? In den ersten beiden wurde ich aufgefordert (und zwar nicht gerade freundlich), aufgrund meines beklagenswerten Verhaltens und meiner erbärmlichen Noten zu gehen. Zu meiner Verteidigung möchte ich betonen, dass mein Verhalten gar nicht beklagenswert war, wenn man darunter grob, streitsüchtig, gewalttätig und asozial versteht - also die Bibliothek anzuzünden, einen Lehrer niederzustechen oder zu vergewaltigen. Mit beklagenswert meinten sie »ziemlich unmotiviert beim Lernen«, »ziemlich unfähig im Aufsatzschreiben«, »ziemlich uninteressant für den Schulleiter und das Direktorium«. Angesichts meiner harmlosen Schwächen empfinde ich diese Beurteilung heute als unnötig hart, und ich frage mich, wie sie wohl den Schüler bezeichneten, der mit einer AK-47 mitten in der Kapelle das Feuer eröffnete.
In Wirklichkeit war meine Mittelmäßigkeit vorwiegend auf Fotos und Schularbeiten beschränkt. Wenn es um Meinungen ging, war ich (und bin es noch) wie das Schwert von Zorro: schnell, schneidend, tödlich. Meine Meinung über die Bedeutung der höheren Schulbildung beispielsweise ist absolut. Meiner Meinung nach waren diese Schule und ihre Zeitgenossen nichts als billige Händler für gesellschaftlichen Status, die an gutbürgerliche Jungen ohne besondere Verdienste ein aufgeblasenes Selbstwertgefühl verkauften.
Eins allerdings muss ich ihnen zugutehalten. Ohne die erste Schule wäre ich nicht in der zweiten gelandet. Ohne die zweite hätte es mich nicht nach St Oswald verschlagen. Ohne St Oswald wäre ich Finn nie begegnet.
Und ohne Finn gäbe es keine Geschichte.
3
Alles begann an der Küste von East Anglia, gleich hinter dem Einschnitt, wo der Fluss Ore Salz führt und sich ins Meer ergießt. Dort ragte vom Festland eine kleine Halbinsel vor, grob geformt wie eine Rattennase. Auf Landkarten (alten Landkarten) wurde diese Halbinsel als die Stele bezeichnet, nach einem Gedenkstein oder einer Stele aus dem siebten Jahrhundert, gefunden 1825 ganz in der Nähe des Schulgeländes.
Der Brief, den meine Schule an künftige Eltern verschickte, enthielt eine Umgebungsbeschreibung von einer drei viertel Seite. Die Lage war ein Verkaufsargument (Salzluft kräftigt die Lungen und fördert einen klaren Verstand), und in eleganter Kursivschrift wurde erklärt, wie man die halb in der Erde vergrabene Stele gefunden hatte und dass der große, schwere Stein wahrscheinlich von der Insel Lindisfarne an die Küste Northumbrias transportiert worden war. Solche Gedenksteine waren in diesem Landesteil nicht ungewöhnlich, aber dieser zeigte ein schönes gemeißeltes Porträt des heiligen Oswald, ein König Britanniens im siebten Jahrhundert, auf dem die angelsächsische Entsprechung von »Oswald war hier« eingraviert war. Der Stein selbst ist lange schon fort und steht im British Museum.
Die Jungenschule St Oswald, die vermutlich keinem ein Begriff ist, lag gute drei Kilometer landeinwärts. Die Schulstraße verlief in einer halbwegs geraden Linie zwischen der Bundesstraße und der Küste, und parallel dazu erstreckte sich fast über die gesamte Länge ein Fußweg. Am Meer bog die Straße nach links ab (Richtung Norden), während der Fußweg nach rechts abzweigte (Richtung Süden). Folgte man dem Fußpfad, dann erreichte man die Stele nach ungefähr zwanzig Minuten - oder zumindest den Kanal mit tiefem Wasser, der sie vom Festland trennte. Die kleine Halbinsel konnte nur bei Ebbe ein paar Stunden am Tag erreicht werden, über einen feuchten Sanddamm. Um sie herum erstreckten sich Salzwiesen und Schilfbetten, die nistenden Sumpf-und Wasservögeln ein Zuhause boten - Austernfängern, kleinen Seeschwalben, Kormoranen, Möwen - und die früher römischen, sächsischen und wikingischen Siedlern als Domizil gedient hatten.
Ein paar Kilometer und eine Million Lichtjahre entfernt lag mein zweites Zuhause, Mogg House, ein vierstöckiges Gebäude mit Studierzimmern (klein wie Gräber) im Erdgeschoss, Gemeinschaftsschlafräumen in der Mitte, und auf den Stockwerken darüber Schlafzimmer mit Wohnbereich. Jungen in meinem Alter wohnten im obersten Stockwerk in Zimmern, die eigentlich für zwei gedacht waren, jetzt aber, dank dem Wunsch unseres Schatzmeisters, die Einnahmen zu maximieren, vier beherbergen mussten. Die Toiletten waren im Erdgeschoss, und ich bin bis heute überzeugt, dass ich dank der ungünstigen Lage des stillen Örtchens über eine hervorragende Blasenkontrolle verfüge.
Wir entwickelten sie im Lauf der Zeit und durch Übung, ähnlich wie unsere Fähigkeiten in Mathe oder die Arpeggio- Technik.
Trotz der brutalen Küstenwinter hatten wir keine Heizung. Wärme, so die gängige Auffassung, lief der Entwicklung des Immunsystems zuwider und man erwartete von uns eine fast übermenschliche Toleranz für Kälte. Das Erfreuliche daran war, dass die Bedingungen an meiner vorherigen Schule - sie lag dreihundertzwanzig Kilometer weiter im Norden - noch schlimmer gewesen waren. Dort hielten wir uns im Winter warm, indem wir in unseren Kleidern schliefen, in Wollpullis, Socken und Hosen, über die wir Schlafanzüge anzogen, und wenn wir am Morgen aufwachten, lagen meistens Schneehaufen unter den offenen Fenstern und die Toiletten waren vereist.
In St Oswald fielen wir beim Läuten einer Glocke aus dem Bett, knöpften uns einen sauberen Kragen ans Hemd (wenn wir einen besaßen), zogen die Unterwäsche, Flanellhose, Socken und schweren schwarzen Schuhe vom Vortag an und flitzten nach unten zum Frühstück, das aus grauem Haferbrei und Toast bestand. Die Nachkriegsrationierung hatte vor acht Jahren aufgehört, aber in den Schulküchen des Landes tischte man immer noch gern fieses, deprimierendes Essen auf. Nach dem Frühstück kam der Gottesdienst in der Kapelle, dann fünf Unterrichtsstunden am Stück ohne eine Pause, gefolgt vom Mittagessen (rosa Würste, grüne Leber, brauner Eintopf oder stinkender, transparent gekochter Kohl), gefolgt von einem Nachmittag, der dem Sport oder langweiligen Kadettenparaden gewidmet war, gefolgt vom Abendessen, gefolgt von Schularbeiten, gefolgt vom Schlafengehen.
Unter diesem relativ überschaubaren Zeitplan lauerten die zwielichtigen Regionen des Schullebens, in denen sich die wirklichen Dramen abspielten, in denen ausgefeilte Hierarchien die Gewinner und Verlierer bestimmten und jedem seinen Rang innerhalb des unklaren Kastensystems der Schule zuwiesen. Wie in der Außenwelt gab es kaum soziale Mobilität zwischen den Schichten. Die Stellung, die man am Anfang hatte, legte fest, ob man ein elendes oder triumphales Leben führte. Ich kann mich an keinen Jungen erinnern, der sein Schicksal im Lauf der Schuljahre entscheidend verbessert hätte, obwohl mich meine Erinnerung vielleicht täuscht.
»Ey, du!«
Nach drei Tagen schreckte ich aus meinen Gedanken auf und begegnete dem Blick eines herrischen Schülers der Abschlussklasse.
»Du!«
Ja, seufzte ich innerlich. Ich.
»Was ist das?« Er zeigte auf den unteren Knopf meines Schulblazers.
Ein Specht, du kriechende Made.
Ruhig und entschlossen hob er die Hand und riss den Knopf ab. Es lohnt sich zu betonen, dass dies eine beträchtliche Kraft erforderte. Und ein großes Loch hinterließ.
»Aufgeknöpft«, blaffte er. »Verstanden?«
Ich starrte ihn an.
»Die richtige Antwort, Abschaum, lautet Ja, Sir.«
»Ja, Sir.« Ich hatte gelernt, unendlich viel Feingefühl in einen kaum spürbaren Sarkasmus zu legen.
Er machte auf dem Absatz kehrt und stolzierte davon, während ich im Gras nach meinem Knopf suchte. Das Ganze machte mir nicht viel aus, denn mir waren in meinem Leben schon etliche missmutige kleine Faschisten begegnet, auch wenn mich ihre Wahnvorstellungen immer wieder verwunderten.
Unsere Welt drehte sich um Schulregeln, Regeln, die so rätselhaft und undurchsichtig waren wie die finstersten Winkel einer päpstlichen Intrige. Unterer Blazerknopf auf oder zu, linke Hand in der Tasche oder nicht, den Hof schräg oder gerade überqueren, auf dem Rasen laufen oder gehen, Bücher in der rechten oder linken Hand, blaue Tinte oder schwarze, Kappe nach vorn oder hinten gezogen - es gab keinen Spickzettel, keine Liste zum Nachlesen, kein Hausbuch, auf dem das Wort Regeln eingeprägt war. Die Regeln existierten einfach und drängten an die Oberfläche des Schullebens wie Scheißhaufen. Wir nahmen ihre Willkür, die Härte, die schiere Anzahl hin und gehorchten, weil es sie gab, weil wir neuer oder jünger oder schwächer waren als diejenigen, die sie uns aufzwangen, und weil wir unsere kritischen Fähigkeiten hätten einsetzen müssen, wenn wir unsere Köpfe mit sinnvollerer Information hätten füllen wollen. Was zu Zweifeln am gesamten System geführt hätte. Was zum sozialen und wirtschaftlichen Zusammenbruch und zum Ende des Lebens geführt hätte, das wir kannten.
Es war leichter, einfach wie immer weiterzumachen.
Eins will ich klarstellen: Viele Jungen (beliebte, kluge, sportliche) verlebten eine absolut glückliche Zeit in St Oswald; ich gehörte schlicht nicht dazu. Und trotzdem hatte ich gewisse Eigenschaften - ein Gesicht, das keine Gefühlsregung zeigte, eine gesunde Missachtung für Fair Play -, die mir zugutekamen. Mir waren keine glänzenden Preise bestimmt, aber ich hatte meine Eigenarten.
Unser Unterricht fand unter den zugigen hohen Decken im Hauptgebäude statt, immer begleitet vom willkürlichen Klappern und Knallen der Rohrleitungen aus dem neunzehnten Jahrhundert. Tag für Tag saß ich mit ernster und verständnisloser Miene da und wusste, dass es genau dieser Gesichtsausdruck war, weswegen die Lehrer den Jungen zu meiner Linken aufriefen. Sie hassten es, Dinge immer wieder aufs Neue zu erklären - es langweilte sie und ließ sie ihr Leben verabscheuen.
Trotz (oder vielleicht wegen) der deprimierenden Vertrautheit all dieser Umstände gewöhnte ich mich sofort in St Oswald ein.
Copyright © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main.
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Autoren-Porträt von Meg Rosoff
Rosoff, MegMeg Rosoff wuchs in Boston, USA, auf und zog 1989 nach London, England. Ihr erster Roman »So lebe ich jetzt« verkaufte sich über eine Million Mal in sechsunddreißig Ländern und wurde erfolgreich verfilmt. Sie hat sieben weitere Romane geschrieben, die mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurden oder dafür nominiert waren. 2016 gewann Meg Rosoff den Astrid Lindgren Gedrächtnispreis - die weltweit höchste Auszeichnung für Kinder- und Jugendliteratur. Meg Rosoff lebt mit ihrer Familie und ihren Hunden in London.Literaturpreise:- Astrid-Lindgren-Gedächtnispreis 2016 (ALMA)'Was ich weiß von dir'- Nominiert für den Independent Booksellers Award 2014- Shortlisted für den National Book Award 2013- Die Besten 7 (März 2015)
Bibliographische Angaben
- Autor: Meg Rosoff
- Altersempfehlung: 12 - 15 Jahre
- 2014, 240 Seiten, mit Abbildungen, Maße: 12,3 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Jakobeit, Brigitte
- Übersetzer: Brigitte Jakobeit
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596812429
- ISBN-13: 9783596812424
- Erscheinungsdatum: 27.03.2014
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