Das alles und noch viel mehr
Rio Reiser - Die inoffizielle Biografie des Königs von Deutschland
Die große Biografie der deutschen Rocklegende
Er war der "König von Deutschland", sang als Frontmann der Anarcho-Rockband "Ton Steine Scherben" mit Inbrunst gegen die bestehenden Verhältnisse an und zog die Fans durch...
Er war der "König von Deutschland", sang als Frontmann der Anarcho-Rockband "Ton Steine Scherben" mit Inbrunst gegen die bestehenden Verhältnisse an und zog die Fans durch...
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Produktinformationen zu „Das alles und noch viel mehr “
Die große Biografie der deutschen Rocklegende
Er war der "König von Deutschland", sang als Frontmann der Anarcho-Rockband "Ton Steine Scherben" mit Inbrunst gegen die bestehenden Verhältnisse an und zog die Fans durch Kunst und Charisma in seinen Bann. Rio Reiser war schon zu Lebzeiten eine Legende. Zehn Jahre nach Rios Tod schildert der Journalist und Insider Hollow Skai das aufregende Leben des Revoluzzers, Rockers und Romantikers, der die deutsche Musikszene von den 70er- bis zu den 90er-Jahren maßgeblich prägte und beeinflusste.
Eine kritische Würdigung, die Rio erstmals nicht auf seine Scherben-Zeit reduziert.
Er war der "König von Deutschland", sang als Frontmann der Anarcho-Rockband "Ton Steine Scherben" mit Inbrunst gegen die bestehenden Verhältnisse an und zog die Fans durch Kunst und Charisma in seinen Bann. Rio Reiser war schon zu Lebzeiten eine Legende. Zehn Jahre nach Rios Tod schildert der Journalist und Insider Hollow Skai das aufregende Leben des Revoluzzers, Rockers und Romantikers, der die deutsche Musikszene von den 70er- bis zu den 90er-Jahren maßgeblich prägte und beeinflusste.
Eine kritische Würdigung, die Rio erstmals nicht auf seine Scherben-Zeit reduziert.
Klappentext zu „Das alles und noch viel mehr “
Er war der "König von Deutschland", skandierte "Macht kaputt, was euch kaputt macht" und rührte unzählige Fans mit lyrischen Songs wie "Übers Meer": Rio Reiser, der einstige Sänger der 70er-Jahre-Anarcho-Rockband "Ton Steine Scherben", war schon zu Lebzeiten eine Legende. Zehn Jahre nach Rios frühem Tod schildert Hollow Skai zum ersten Mal umfassend das atemlose Leben des besten deutschen Rocksängers. Als Rio Reiser am 20. August 1996 starb, verstummte eine Legende. Keiner sang mit so viel Überzeugung und Inbrunst gegen die herrschenden Verhältnisse an wie der Sänger der Band Ton Steine Scherben, deren Songs ein Vierteljahrhundert lang als Soundtrack bei Hausbesetzungen dienten. Keiner erzählte in seinen Songs so eindringlich von Sehnsüchten und unglücklicher Liebe. Hollow Skai, der als intimer Kenner Rio Reiser 25 Jahre lang immer wieder interviewt, porträtiert und live erlebt hat, sprach mit Rios Brüdern, Liebhabern und Freunden, Musikern und Managern und schildert anlässlich des 10. Todestages das ganze Leben des Polit-Rockers: Rios Wirken in der Band "Ton Steine Scherben", seine Solo-Karriere nach der Auflösung der Band 1985, seine Arbeit als Theatermusiker und nicht zuletzt seine schwule Identität, seine umstrittene PDS-Mitgliedschaft nach der Wende und seine Alkohol- und Drogensucht. Herausgekommen ist dabei eine kritische Biografie, die Rio Reiser nicht auf seine Scherben-Zeit reduziert, sondern auch aufzeigt, wie groß sein Einfluss auf Gruppen wie "Söhne Mannheims" oder "Wir sind Helden" bis heute ist. Das eindringliche Porträt eines Künstlers, der die Musikszene von den 70er- bis zu den 90er-Jahren maßgeblich prägte und ein Stück deutsch-deutsche Geschichte schrieb.
Die große Biografie der deutschen Rocklegende
Er war der 'König von Deutschland', sang als Frontmann der Anarcho-Rockband 'Ton Steine Scherben' mit Inbrunst gegen die bestehenden Verhältnisse an und zog die Fans durch Kunst und Charisma in seinen Bann. Rio Reiser war schon zu Lebzeiten eine Legende. Zehn Jahre nach Rios Tod schildert der Journalist und Insider Hollow Skai das aufregende Leben des Revoluzzers, Rockers und Romantikers, der die deutsche Musikszene von den 70er- bis zu den 90er-Jahren maßgeblich prägte und beeinflusste.
Eine kritische Würdigung, die Rio erstmals nicht auf seine Scherben-Zeit reduziert.
"Macht Lust auf Rios Musik." TV Spielfilm
Er war der 'König von Deutschland', sang als Frontmann der Anarcho-Rockband 'Ton Steine Scherben' mit Inbrunst gegen die bestehenden Verhältnisse an und zog die Fans durch Kunst und Charisma in seinen Bann. Rio Reiser war schon zu Lebzeiten eine Legende. Zehn Jahre nach Rios Tod schildert der Journalist und Insider Hollow Skai das aufregende Leben des Revoluzzers, Rockers und Romantikers, der die deutsche Musikszene von den 70er- bis zu den 90er-Jahren maßgeblich prägte und beeinflusste.
Eine kritische Würdigung, die Rio erstmals nicht auf seine Scherben-Zeit reduziert.
"Macht Lust auf Rios Musik." TV Spielfilm
Lese-Probe zu „Das alles und noch viel mehr “
An Rio Reisers Tod kann ich mich noch ganz genau erinnern. Ich hörte davon im Autoradio, und als ich zu Hause angekommen war, legte ich sein Album Himmel & Hölle auf, das das letzte sein sollte, das er für CBS/Sony produziert hatte, und das nun sein letztes überhaupt war: "Träume verwehn ..."Ein paar Tage später fuhr ich mit der Komikerin Marlene Jaschke und Corny Littmann vom Hamburger Schmidt-Theater zur Trauerfeier in der Sankt-Willehad-Kirche von Leck. Die Predigt ging an mir ziemlich vorüber, weil ich an all die Konzerte denken musste, die ich in den vergangenen 25 Jahren besucht hatte, um ihn auf der Bühne sterben und wieder auferstehen zu sehen. Und als ich hinterher, nachdem das Lied Sternchen von seinem roten Album verklungen war und der Sarg hinausgetragen wurde, dem einen oder anderen Freund und Bekannten auf dem Parkplatz gegenüberstand, umarmten wir uns tränenreich, unfähig miteinander zu reden, weil allen die Stimme versagte.
Im Konvoi ging es zur Beerdigung nach Fresenhagen, zu jenem Bauernhof, auf den Ton Steine Scherben 1975 aus Berlin geflüchtet waren und der Rio stets ein Fluchtpunkt geblieben war, auf den er sich zurückziehen konnte, wenn er mal wieder mit der Welt und dem verdammten Business haderte oder sich von einer unglücklichen Liebe erholen musste. Wo er aber auch Songs schrieb, die einem zu Herzen gingen, egal, wie traurig oder beschwingt sie auch waren. Und was kann man schon Besseres über einen sagen, als dass er einen be- oder gerührt hat?
Als sein Sarg in die hinter dem Haus ausgehobene Grube gesenkt wurde, blickte ich in die Runde und sah nur Gesichter, deren Augen ebenso gerötet waren wie meine. Lutz Kerschowski, sein letzter Gitarrist, hatte sich extra für diesen Anlass ein T-Shirt mit der Aufschrift "Rio Grande" angezogen. Ich sah Lanrue, der nicht in der Kirche gewesen war und völlig abwesend zu sein schien angesichts des Todes seines Freundes, mit dem er dreißig Jahre lang zusammengelebt hatte. Und ich beobachtete, wie
... mehr
einer nach dem anderen vortrat und eine Hand voll Erde in die Grube warf. Der Traum war aus, aber Rio hatte alles gegeben, dass er Wirklichkeit wird. Denn sein Name war Mensch.
Martin Paul war da, der liebenswerte und sympathische Keyboarder der Scherben, Kai Sichtermann, ihr stets etwas wortkarger und schüchterner Bassist, Funky K. Götzner, der Drummer mit dem großen Herzen, Nikel Pallat, das alte Schlitzohr, und der Gitarrist Dirk Schlömer, den ich erst viel später näher kennen lernen sollte. Die Frauen von Carambolage natürlich, Angie Olbrich, Elfie Steitz und die wunderbare Britta Neander, die Rio im Jahr 2004 nachfolgte. Ich traf George Glueck wieder, Rios Manager, seine Produzentin Annette Humpe und nicht zuletzt Claudia Roth, mit der ich eng zusammengearbeitet hatte, als sie noch Managerin der Scherben war und ich ein kleines Punk-Label in Hannover betrieb - No Fun.
Ich dachte an meinen Freund Mathe, der mir 1970 das erste Scherben-Album Warum geht es mir so dreckig? vorgespielt hatte, an all die Stunden, in denen ich meinen Liebeskummer mit Songs wie Schritt für Schritt ins Paradies oder Komm schlaf bei mir bekämpft hatte, und an das von dem Kabarettisten Dietrich Kittner organisierte Arbeiter-Song-Festival im September 1971, auf dem ich die Scherben zum ersten Mal live gesehen habe. An ihr Konzert vom 8. Januar 1973 im völlig überfüllten UJZ Kornstraße in Hannover, bei dem das Schwitzwasser von den Wänden lief, und an Rios Auftritt nach der Wende in einem Löwenkäfig in Berlin-Hellersdorf. Mir fiel wieder ein, dass wir ihn, als er zum König von Deutschland gekürt wurde, für das hannoversche Stadtmagazin Schädelspalter in den Herrenhäuser Barockgärten zusammen mit der Kurfürstin Sophie fotografieren ließen, wie ich ihn in seiner Fresenhagener Küche für den stern und im Hamburger Sony-Büro für den Rolling Stone interviewt hatte, wie ich von ihm im Ottenser Boogie-Park-Studio bekocht wurde und wie er mir bei einem Schmidt-Geburtstag in trunkenem Zustand an die Kehle gegangen war - warum, habe ich nie erfahren.
Drei Monate vor seinem Tod hatte ich ihn noch einmal live erlebt, auf der Bühne des Hamburger Tivoli - und jetzt war er tot. Und doch noch immer lebendig. Denn seine Lieder lebten weiter und sollten mich auch in den folgenden zehn Jahren bis zum Erscheinen dieses Buches begleiten. Songs wie Gefahr, Straße oder Streik von seinem letzten Solo-Album Himmel & Hölle, das bereits nach einem Jahr von seiner Plattenfirma aus dem Katalog gestrichen wurde, weil es sich nicht oft genug verkaufte, oder sein vielleicht bewegendstes Lied - Übers Meer. Zusammen mit meiner Tochter entdeckte ich die Kinderplatten der Scherben neu, die es nun auf CD gab, so dass ich endlich auch verstand, wovon Rio und seine Freunde darauf sangen. Und wenn ich heute die alten Scherben-Songs oder die zu Unrecht weitaus weniger beachteten Lieder seiner sechs Solo-Alben höre, fühle ich mich noch immer, wie es Rios Bruder Peter einmal ausdrückte: "zuhause".
Natürlich trat ich dem Verein Rio Reiser Haus bei - und verließ ihn wenig später wieder, weil ich der Querelen um sein Erbe überdrüssig war. Und doch war ich erleichtert, als mir Elser Maxwell auf einem Sommerfest im nordfriesischen Humptrup 2004 erzählte, dass beide Familien, Rios leibhaftige und die Scherben-Family, einander akzeptiert und Frieden geschlossen hätten. Da spürte ich, dass es an der Zeit war, dieses Buch zu schreiben. Nicht um "eine Kollektivleistung zu einem dubiosen Geniekult" zurechtzubiegen und sich ordentlich selber zu beweihräuchern, was z. B. der erste Scherben-Drummer Wolfgang Seidel der Familie Möbius vorwirft. Und auch nicht, um Rios Leiche zu fleddern, was seinen alten Mitstreitern mitunter vorgeworfen wird. Sondern um seiner zu gedenken, damit seine Lieder auch künftig noch gespielt werden, die bis heute nichts von ihrer Kraft verloren haben und so schön und gut und wahrhaftig sind, dass sie auch heute noch dazu ermutigen, den Kampf nicht aufzugeben. Die noch immer den "längst verloren Geglaubten" Hoffnung spenden und voller Liebe sind wie zu den Zeiten, als Rio noch unter uns weilte und nicht von seiner Wolke aus dem Treiben auf diesem dem Untergang geweihten Planeten zusah.
Nein, es geht nicht darum, Recht zu haben, Rio Reiser nachträglich übern grünen Klee zu loben oder in Frage zu stellen. All die Widersprüche in Rios Leben und Werk sollen nicht übertüncht, sondern als solche wahrgenommen werden. Denn das Leben ist nicht so schwarzweiß, wie es manch einer gerne malt, und für bloße Heldenverehrung taugt Rio ebenso wenig wie sein Leben was für die Klatschspalten hergab. Es geht vielmehr darum, ein Stück Zeitgeschichte aufleben zu lassen - und um die Frage, die Rios Freund Lanrue einst gestellt hat: Wie beerdigt man ein Lebensgefühl?
Er habe sich damit abgefunden, dass er den Tag der Weltrevolution nicht mehr erlebe, hatte Rio Reiser im Jahr vor seinem Tod gesagt, er hoffe aber noch immer, "dass er kommt". Auch habe er nie aufgehört zu kämpfen, obwohl jede neue Generation ihn als Verräter brandmarke, weil sie "irre viel" in ihn reinprojiziere und so zwangsläufig enttäuscht werde. Denn diese ganzen Erwartungen könne er ja gar nicht erfüllen. Er war es leid, sich ständig rechtfertigen zu müssen, weil er nicht dem Bild entsprach, das manch einer sich von ihm gemacht hatte, und er hatte sich, ähnlich wie einst Bob Dylan, zuletzt immer mehr dem Zugriff der Öffentlichkeit entzogen.
"Ich habe gar keine so großen Lebensansprüche und muss nicht unbedingt 'ne Million auf dem Konto haben", hatte er einst im nordfriesischen Alternativblatt Bowle Abstrakt zu Protokoll gegeben, und 1995 auf n-tv noch einmal klargestellt: "Ich bin nicht Jesus, aber auch kein Yuppie." Ihm ging es nicht allein darum, "die Mark zu treffen", wie er es immer nannte, er war aber auch kein Prophet des Mangels, sondern gab das Geld gerne mit vollen Händen aus - am liebsten in Gesellschaft von Freunden und für sie.
Dass die, die ihn liebten und ihm nahe standen, mit seiner Hinterlassenschaft ähnlich uneigennützig verfahren würden, wie er mit seinem Eigentum zu Lebzeiten umgegangen war, mag ein frommer Wunsch gewesen sein. Und vielleicht haben sich ja wirklich alle von den Verheißungen blenden lassen, die Rio Reiser so unnachahmlich in Verse schmiedete, vielleicht war die viel beschworene Einheit von Musik und Leben, auf der ihre Glaubwürdigkeit, ihre street credibility, basierte, doch nur eine Schimäre. Ich habe allerdings meine berechtigten Zweifel, dass das ganze Scherben-Kollektiv nur aus Mitläufern und Duckmäusern, Parasiten und Angsthasen bestand.
In einem der vielen Gespräche zu diesem Buch verglich Lutz Kerschowski Rio Reiser mit John Lennon. Die beiden hätten nicht nur einen ähnlichen Humor gehabt, auch ihre Solo-Karrieren seien ähnlich verlaufen - und ignoriert worden. "Nenn mir fünf Songs, die er nach der Auflösung der Beatles geschrieben hat", forderte er mich auf. Im Fall von Rio hätte ich die Antwort gewusst.
"Träume verwehn, wenn niemand da ist, der sie träumen will", sang Rio Reiser auf seinem letzten Album. Die Resonanz, die ihm nach seinem Tod zuteil wurde, vor allem von jüngeren Fans, die ihn nicht als Sänger von Ton Steine Scherben, sondern als König von Deutschland kennen gelernt haben, lässt einen jedoch berechtigterweise hoffen, dass der Kampf für ein besseres Leben nicht ganz umsonst war und der Traum von einer gerechteren Gesellschaft vielleicht doch noch nicht aus ist.
In diesem Sinne: Lasst uns ein Wunder sein!
Hollow Skai 1 Der Traum ist aus Die Villa in der Karlsbader Straße im Berliner Stadtteil Schmargendorf, in der Rio Reiser im Mai 1985 ein Solo-Album seines Freundes Misha Schöneberg produzierte, war ein Fünfziger-Jahre-Traum mit südländischem Touch. Den Dachboden hatte sich der Spliff-Bassist und Nena-Produzent Manne Praeker, der hier eigentlich mit Elfie Steitz lebte, der Schwester des Scherben-Gitarristen R.P.S. Lanrue, zum Studio ausgebaut.
Vom Wohnzimmer aus gelangte man in einen großen Garten, in dem man vor den Blicken neugieriger Nachbarn geschützt war. Der knallrote Teppichboden wies bereits ein paar Rotwein- und Brandflecken auf, und wer genau hinguckte, konnte ein paar Löcher in der Auslegeware entdecken, wie sie oft dort entstehen, wo Joints gedreht werden. Das rosafarbene, größtenteils verspiegelte Bad war mit einem Whirlpool ausgestattet, und im ganzen Haus hing ein seltsamer süßsaurer Geruch.
Die Mitglieder von Ton Steine Scherben wohnten zu der Zeit schon länger nicht mehr alle und nicht ständig auf jenem Bauernhof in Fresenhagen, der zehn Jahre lang ihr Domizil, ihre Produktionsstätte und ihr Fluchtpunkt gewesen war. Die "Familie" war in alle Winde zerstreut, und Rio erinnerte sich später im hannoverschen Stadtmagazin Schädelspalter: "Wir hatten zwar noch Kontakt, aber es gab nicht mehr diesen Druck, zusammen leben, zusammen lieben, zusammen arbeiten zu müssen."
Seine von Annette Humpe (Ideal) und Gareth Jones (Depeche Mode) produzierte Solo-Single Dr. Sommer war im Jahr zuvor veröffentlicht worden und hatte bei dem Musikexpress-Rezensenten Rainer B. Jogschies schon nach zweifachem Hören "akuten Sonnenbrand" ausgelöst, doch irgendwie war alles "nur noch so, wie es ist". Der ersehnte kommerzielle Erfolg war ausgeblieben, die Single auf dem Weg in die Charts verhungert, und durch den Niedergang der Neuen Deutschen Welle war auch die Situation unabhängiger Labels wie der Scherben-eigenen David Volksmund Produktion immer prekärer geworden. Von einem Wechsel zur Industrie erhoffte man sich die Lösung der finanziellen Probleme, die ein Weiterarbeiten schier unmöglich machten. Die Plattenfirmen CBS, WEA und das EMI-Label Musikant hatten jedoch nicht gerade mit dicken Schecks gewedelt, als die Scherben-Managerin Claudia Roth ihnen Demos von Alles Lüge, Junimond, Lass mich los und Runter zum Hafen anbot. Die einzig interessante Offerte hatte die Teldec gemacht, sie dann aber überraschend wieder zurückgezogen - angeblich aus politischen Gründen (was sich jedoch als Stuss herausstellte).
Kein Wunder also, dass Rio Reiser eines Abends kurz vor dem Einschlafen der Gedanke befiel, solo weiterzumachen und "auf den Strich zu gehen", wie er in seiner Autobiografie König von Deutschland schrieb: "Ich war bereit, mich einer Plattenfirma hinzugeben." Mit Haut und Haaren diesmal und nicht mehr so halbherzig wie im Fall von Dr. Sommer.
Auch für seinen Freund und Gitarristen Lanrue war es vorbei. Auch er hatte das Gefühl, dass die Band, die der Bewegung 2. Juni nahe gestanden, zahlreiche Hausbesetzungen initiiert, die Emanzipation der Schwulen und Frauen auf ihre Fahnen geschrieben und die Friedensbewegung ebenso unterstützt hatte wie die Grünen, dass diese schon damals legendäre Band also am Ende angelangt war und nichts mehr zu sagen hatte. Die Scherben waren seiner Meinung nach nur noch geschäftlich miteinander verbunden, und darauf hatte er "überhaupt keinen Bock". Vor allem war ihm aber auch der Name Ton Steine Scherben, der seit 15 Jahren eng mit der unabhängigen Produktion von Musik verbunden war, heilig, und er wollte ihn nicht durch das Überwechseln ins gegnerische Lager besudeln. Einen alten Baum verpflanzt man schließlich nicht.
Nicht alle waren zur letzten Gruppenbesprechung erschienen. Der Gitarrist Dirk Schlömer, der Marius del Mestre 1983 ersetzt hatte, war kurz zuvor ausgestiegen. Und der Keyboarder Martin Paul Hartmann, die Managerin Claudia Roth und ihr Freund, der Perkussionist Richard Herten, den man nicht zuletzt ihr zuliebe in die Band integriert hatte, waren nicht eingeladen worden, vermutlich weil man sich eine längere Diskussion ersparen wollte. Nur der harte Kern, die "Ur-Scherben" Lanrue, Kai Sichtermann (Bass) und Funky K. Götzner (Schlagzeug), nahm an dem Treffen in Manne Praekers Villa teil, das von Rio einberufen worden war.
Was später als "mystische Stunde" bezeichnet wurde, war in Wirklichkeit ein ziemlich gewöhnlicher, unspektakulärer Nachmittag. Die Würfel waren schon vorher gefallen. Man kann nicht duschen, ohne nass zu werden, hatte Lanrue seinen Unwillen, einen Pakt mit der Plattenindustrie zu schließen, begründet. Ein zur Unterzeichnung bereitliegender Plattenvertrag wanderte folgerichtig ohne große Diskussion in den Papierkorb, schon allein deswegen, weil er nicht hoch genug dotiert war. Wenn man sich schon verkaufte, sollte wenigstens etwas dabei herausspringen.
Die Schulden, die sich nach der so genannten Elser-Tour 1982 angehäuft hatten, wurden laut Lanrue "sehr demokratisch und sehr klar auseinander dividiert" und "proportional verteilt", so dass jeder ein paar Rechnungen erhielt, die er zu begleichen hatte. Kai Sichtermann holte aus einer nahe gelegenen Kneipe noch drei Flaschen Sekt - für mehr reichte das Geld nicht -, dann umarmte und herzte man sich noch einmal liebevoll und ging auseinander. Die legendäre Deutsch-Rock-Band Ton Steine Scherben hatte sich sang und klanglos aufgelöst, nicht mit einem Knall, sondern mit einem Küsschen.
Fünfzehn Jahre lang hatten sie es geschafft, unabhängig zu sein und zu bleiben und sich von niemandem etwas diktieren zu lassen. Fünfzehn Jahre lang waren sie nicht nur für Ted Gaier "das Modell eines Lebens" gewesen, "das die Widersprüche und Zwänge des Systems scheinbar ausgehebelt hatte", verbandelt "mit mehr oder weniger allen linken Bewegungen der siebziger und frühen achtziger Jahre - vom Klassenkampf mit Proletariat als gedachtem revolutionären Subjekt, über die Radikalisierung des Privaten und dem Aufbau einer Kommune, bis zum Umzug aufs Land". 15 Jahre lang hatten sie sich von niemandem zähmen lassen und, wie Caroline Fetscher 1983 in der Zeitschrift konkret schrieb, "keiner Mode gehorcht, sich nicht funktionalisieren lassen, den Deckel jeder Kiste gesprengt, in die man sie gesteckt hat, keinen Promoter den Rahm ihres Erfolges abschöpfen lassen, nicht zugelassen, dass die Schrumpfkopfjäger der Medien sie abhäuten". Jetzt aber zogen Rio und Funky wieder nach Kreuzberg, in die Waldemarstraße 66, gegenüber vom Georg-von-Rauch-Haus. Funky wohnte im Hinter-, Rio im Vorderhaus. "Er ging zu Sony, ich ging zum Sozi."
Kai Sichtermann hoffte, dass Rio künftig "die Widersprüche zwischen Bühne und Wirklichkeit, zwischen seinen Texten und seiner Person" auflösen könnte oder wenigstens in den Griff bekäme. Dass er Erfolg haben und der Erfolg ihm "Bestätigung und ein wenig innere Ruhe" bringen, kurz: dass die "Diskrepanz zwischen dem Bühnen-Heiligen und dem privaten Dämon" nicht noch größer würde. Doch der Traum von der Freien Republik Fresenhagen, einem anderen Leben im falschen, er war nun aus. Und wer sich erkundigte, was die einzelnen Musiker jetzt machen wollten, dem erklärte Lanrue lakonisch: "Wir werden uns auch in Zukunft nicht langweilen."
Die Trauer darüber, dass sich die Scherben aufgelöst hatten, "kam schrittweise". Funky war sich schon seit längerem wie jemand vorgekommen, der es bis zur Tür geschafft hatte, dem man dann aber bedeutete, doch bitte draußen zu bleiben. Während Manne Praeker und Lokomotive Kreuzberg gerade noch die Kurve gekratzt und auch mal an sich gedacht hatten, indem sie als Spliff leicht verdauliche Chartkost wie Carbonara anrichteten, hatten die Scherben Schiss gehabt, von einer Tour wieder nach Hause zu kommen, weil dort die Banken selbst sonntags anriefen, um Außenstände einzufordern. So manches Mal wäre er gerne sein eigener Roadie gewesen, weil er dann wenigstens mehr als den selbst verordneten Tagessatz von 50 Mark verdient und nicht vom Catering hätte leben müssen, um auch nach der Tour noch was in der Tasche zu haben. Und er ist noch immer ein bisschen sauer auf die "moralische Grundeinstellung" des Scherben-Publikums, das bei Bap oder Bowie ohne mit der Wimper zu zucken den verlangten Eintrittspreis berappte, bei den Scherben aber jedes Mal ein Mordstheater machte, egal, wie hoch oder wie niedrig er war.
Als sich Ton Steine Scherben auflösten, habe Rio sich jedenfalls schon mit Annette Humpe "in der Testphase" befunden - was hätte er denn da noch "rumbetteln" sollen? Und als Rio dann auch noch solo den Erfolg hatte, nach dem sich die Scherben so gesehnt hatten, kam ihm das vor, als habe er seine Geliebte verloren. Sein Konzert mochte er sich deshalb auch nicht antun - er wollte nicht auch noch zugucken, wenn die mit einem anderen schlief.
In einem Video-Clip zu König von Deutschland durfte er noch einmal dabei sein - als Hofnarr. Und als er mit einer HipHop-Band in Emmelsbüll eine Platte aufnahm, lud Rio sie alle ein und kochte für sie.
Martin Paul war da, der liebenswerte und sympathische Keyboarder der Scherben, Kai Sichtermann, ihr stets etwas wortkarger und schüchterner Bassist, Funky K. Götzner, der Drummer mit dem großen Herzen, Nikel Pallat, das alte Schlitzohr, und der Gitarrist Dirk Schlömer, den ich erst viel später näher kennen lernen sollte. Die Frauen von Carambolage natürlich, Angie Olbrich, Elfie Steitz und die wunderbare Britta Neander, die Rio im Jahr 2004 nachfolgte. Ich traf George Glueck wieder, Rios Manager, seine Produzentin Annette Humpe und nicht zuletzt Claudia Roth, mit der ich eng zusammengearbeitet hatte, als sie noch Managerin der Scherben war und ich ein kleines Punk-Label in Hannover betrieb - No Fun.
Ich dachte an meinen Freund Mathe, der mir 1970 das erste Scherben-Album Warum geht es mir so dreckig? vorgespielt hatte, an all die Stunden, in denen ich meinen Liebeskummer mit Songs wie Schritt für Schritt ins Paradies oder Komm schlaf bei mir bekämpft hatte, und an das von dem Kabarettisten Dietrich Kittner organisierte Arbeiter-Song-Festival im September 1971, auf dem ich die Scherben zum ersten Mal live gesehen habe. An ihr Konzert vom 8. Januar 1973 im völlig überfüllten UJZ Kornstraße in Hannover, bei dem das Schwitzwasser von den Wänden lief, und an Rios Auftritt nach der Wende in einem Löwenkäfig in Berlin-Hellersdorf. Mir fiel wieder ein, dass wir ihn, als er zum König von Deutschland gekürt wurde, für das hannoversche Stadtmagazin Schädelspalter in den Herrenhäuser Barockgärten zusammen mit der Kurfürstin Sophie fotografieren ließen, wie ich ihn in seiner Fresenhagener Küche für den stern und im Hamburger Sony-Büro für den Rolling Stone interviewt hatte, wie ich von ihm im Ottenser Boogie-Park-Studio bekocht wurde und wie er mir bei einem Schmidt-Geburtstag in trunkenem Zustand an die Kehle gegangen war - warum, habe ich nie erfahren.
Drei Monate vor seinem Tod hatte ich ihn noch einmal live erlebt, auf der Bühne des Hamburger Tivoli - und jetzt war er tot. Und doch noch immer lebendig. Denn seine Lieder lebten weiter und sollten mich auch in den folgenden zehn Jahren bis zum Erscheinen dieses Buches begleiten. Songs wie Gefahr, Straße oder Streik von seinem letzten Solo-Album Himmel & Hölle, das bereits nach einem Jahr von seiner Plattenfirma aus dem Katalog gestrichen wurde, weil es sich nicht oft genug verkaufte, oder sein vielleicht bewegendstes Lied - Übers Meer. Zusammen mit meiner Tochter entdeckte ich die Kinderplatten der Scherben neu, die es nun auf CD gab, so dass ich endlich auch verstand, wovon Rio und seine Freunde darauf sangen. Und wenn ich heute die alten Scherben-Songs oder die zu Unrecht weitaus weniger beachteten Lieder seiner sechs Solo-Alben höre, fühle ich mich noch immer, wie es Rios Bruder Peter einmal ausdrückte: "zuhause".
Natürlich trat ich dem Verein Rio Reiser Haus bei - und verließ ihn wenig später wieder, weil ich der Querelen um sein Erbe überdrüssig war. Und doch war ich erleichtert, als mir Elser Maxwell auf einem Sommerfest im nordfriesischen Humptrup 2004 erzählte, dass beide Familien, Rios leibhaftige und die Scherben-Family, einander akzeptiert und Frieden geschlossen hätten. Da spürte ich, dass es an der Zeit war, dieses Buch zu schreiben. Nicht um "eine Kollektivleistung zu einem dubiosen Geniekult" zurechtzubiegen und sich ordentlich selber zu beweihräuchern, was z. B. der erste Scherben-Drummer Wolfgang Seidel der Familie Möbius vorwirft. Und auch nicht, um Rios Leiche zu fleddern, was seinen alten Mitstreitern mitunter vorgeworfen wird. Sondern um seiner zu gedenken, damit seine Lieder auch künftig noch gespielt werden, die bis heute nichts von ihrer Kraft verloren haben und so schön und gut und wahrhaftig sind, dass sie auch heute noch dazu ermutigen, den Kampf nicht aufzugeben. Die noch immer den "längst verloren Geglaubten" Hoffnung spenden und voller Liebe sind wie zu den Zeiten, als Rio noch unter uns weilte und nicht von seiner Wolke aus dem Treiben auf diesem dem Untergang geweihten Planeten zusah.
Nein, es geht nicht darum, Recht zu haben, Rio Reiser nachträglich übern grünen Klee zu loben oder in Frage zu stellen. All die Widersprüche in Rios Leben und Werk sollen nicht übertüncht, sondern als solche wahrgenommen werden. Denn das Leben ist nicht so schwarzweiß, wie es manch einer gerne malt, und für bloße Heldenverehrung taugt Rio ebenso wenig wie sein Leben was für die Klatschspalten hergab. Es geht vielmehr darum, ein Stück Zeitgeschichte aufleben zu lassen - und um die Frage, die Rios Freund Lanrue einst gestellt hat: Wie beerdigt man ein Lebensgefühl?
Er habe sich damit abgefunden, dass er den Tag der Weltrevolution nicht mehr erlebe, hatte Rio Reiser im Jahr vor seinem Tod gesagt, er hoffe aber noch immer, "dass er kommt". Auch habe er nie aufgehört zu kämpfen, obwohl jede neue Generation ihn als Verräter brandmarke, weil sie "irre viel" in ihn reinprojiziere und so zwangsläufig enttäuscht werde. Denn diese ganzen Erwartungen könne er ja gar nicht erfüllen. Er war es leid, sich ständig rechtfertigen zu müssen, weil er nicht dem Bild entsprach, das manch einer sich von ihm gemacht hatte, und er hatte sich, ähnlich wie einst Bob Dylan, zuletzt immer mehr dem Zugriff der Öffentlichkeit entzogen.
"Ich habe gar keine so großen Lebensansprüche und muss nicht unbedingt 'ne Million auf dem Konto haben", hatte er einst im nordfriesischen Alternativblatt Bowle Abstrakt zu Protokoll gegeben, und 1995 auf n-tv noch einmal klargestellt: "Ich bin nicht Jesus, aber auch kein Yuppie." Ihm ging es nicht allein darum, "die Mark zu treffen", wie er es immer nannte, er war aber auch kein Prophet des Mangels, sondern gab das Geld gerne mit vollen Händen aus - am liebsten in Gesellschaft von Freunden und für sie.
Dass die, die ihn liebten und ihm nahe standen, mit seiner Hinterlassenschaft ähnlich uneigennützig verfahren würden, wie er mit seinem Eigentum zu Lebzeiten umgegangen war, mag ein frommer Wunsch gewesen sein. Und vielleicht haben sich ja wirklich alle von den Verheißungen blenden lassen, die Rio Reiser so unnachahmlich in Verse schmiedete, vielleicht war die viel beschworene Einheit von Musik und Leben, auf der ihre Glaubwürdigkeit, ihre street credibility, basierte, doch nur eine Schimäre. Ich habe allerdings meine berechtigten Zweifel, dass das ganze Scherben-Kollektiv nur aus Mitläufern und Duckmäusern, Parasiten und Angsthasen bestand.
In einem der vielen Gespräche zu diesem Buch verglich Lutz Kerschowski Rio Reiser mit John Lennon. Die beiden hätten nicht nur einen ähnlichen Humor gehabt, auch ihre Solo-Karrieren seien ähnlich verlaufen - und ignoriert worden. "Nenn mir fünf Songs, die er nach der Auflösung der Beatles geschrieben hat", forderte er mich auf. Im Fall von Rio hätte ich die Antwort gewusst.
"Träume verwehn, wenn niemand da ist, der sie träumen will", sang Rio Reiser auf seinem letzten Album. Die Resonanz, die ihm nach seinem Tod zuteil wurde, vor allem von jüngeren Fans, die ihn nicht als Sänger von Ton Steine Scherben, sondern als König von Deutschland kennen gelernt haben, lässt einen jedoch berechtigterweise hoffen, dass der Kampf für ein besseres Leben nicht ganz umsonst war und der Traum von einer gerechteren Gesellschaft vielleicht doch noch nicht aus ist.
In diesem Sinne: Lasst uns ein Wunder sein!
Hollow Skai 1 Der Traum ist aus Die Villa in der Karlsbader Straße im Berliner Stadtteil Schmargendorf, in der Rio Reiser im Mai 1985 ein Solo-Album seines Freundes Misha Schöneberg produzierte, war ein Fünfziger-Jahre-Traum mit südländischem Touch. Den Dachboden hatte sich der Spliff-Bassist und Nena-Produzent Manne Praeker, der hier eigentlich mit Elfie Steitz lebte, der Schwester des Scherben-Gitarristen R.P.S. Lanrue, zum Studio ausgebaut.
Vom Wohnzimmer aus gelangte man in einen großen Garten, in dem man vor den Blicken neugieriger Nachbarn geschützt war. Der knallrote Teppichboden wies bereits ein paar Rotwein- und Brandflecken auf, und wer genau hinguckte, konnte ein paar Löcher in der Auslegeware entdecken, wie sie oft dort entstehen, wo Joints gedreht werden. Das rosafarbene, größtenteils verspiegelte Bad war mit einem Whirlpool ausgestattet, und im ganzen Haus hing ein seltsamer süßsaurer Geruch.
Die Mitglieder von Ton Steine Scherben wohnten zu der Zeit schon länger nicht mehr alle und nicht ständig auf jenem Bauernhof in Fresenhagen, der zehn Jahre lang ihr Domizil, ihre Produktionsstätte und ihr Fluchtpunkt gewesen war. Die "Familie" war in alle Winde zerstreut, und Rio erinnerte sich später im hannoverschen Stadtmagazin Schädelspalter: "Wir hatten zwar noch Kontakt, aber es gab nicht mehr diesen Druck, zusammen leben, zusammen lieben, zusammen arbeiten zu müssen."
Seine von Annette Humpe (Ideal) und Gareth Jones (Depeche Mode) produzierte Solo-Single Dr. Sommer war im Jahr zuvor veröffentlicht worden und hatte bei dem Musikexpress-Rezensenten Rainer B. Jogschies schon nach zweifachem Hören "akuten Sonnenbrand" ausgelöst, doch irgendwie war alles "nur noch so, wie es ist". Der ersehnte kommerzielle Erfolg war ausgeblieben, die Single auf dem Weg in die Charts verhungert, und durch den Niedergang der Neuen Deutschen Welle war auch die Situation unabhängiger Labels wie der Scherben-eigenen David Volksmund Produktion immer prekärer geworden. Von einem Wechsel zur Industrie erhoffte man sich die Lösung der finanziellen Probleme, die ein Weiterarbeiten schier unmöglich machten. Die Plattenfirmen CBS, WEA und das EMI-Label Musikant hatten jedoch nicht gerade mit dicken Schecks gewedelt, als die Scherben-Managerin Claudia Roth ihnen Demos von Alles Lüge, Junimond, Lass mich los und Runter zum Hafen anbot. Die einzig interessante Offerte hatte die Teldec gemacht, sie dann aber überraschend wieder zurückgezogen - angeblich aus politischen Gründen (was sich jedoch als Stuss herausstellte).
Kein Wunder also, dass Rio Reiser eines Abends kurz vor dem Einschlafen der Gedanke befiel, solo weiterzumachen und "auf den Strich zu gehen", wie er in seiner Autobiografie König von Deutschland schrieb: "Ich war bereit, mich einer Plattenfirma hinzugeben." Mit Haut und Haaren diesmal und nicht mehr so halbherzig wie im Fall von Dr. Sommer.
Auch für seinen Freund und Gitarristen Lanrue war es vorbei. Auch er hatte das Gefühl, dass die Band, die der Bewegung 2. Juni nahe gestanden, zahlreiche Hausbesetzungen initiiert, die Emanzipation der Schwulen und Frauen auf ihre Fahnen geschrieben und die Friedensbewegung ebenso unterstützt hatte wie die Grünen, dass diese schon damals legendäre Band also am Ende angelangt war und nichts mehr zu sagen hatte. Die Scherben waren seiner Meinung nach nur noch geschäftlich miteinander verbunden, und darauf hatte er "überhaupt keinen Bock". Vor allem war ihm aber auch der Name Ton Steine Scherben, der seit 15 Jahren eng mit der unabhängigen Produktion von Musik verbunden war, heilig, und er wollte ihn nicht durch das Überwechseln ins gegnerische Lager besudeln. Einen alten Baum verpflanzt man schließlich nicht.
Nicht alle waren zur letzten Gruppenbesprechung erschienen. Der Gitarrist Dirk Schlömer, der Marius del Mestre 1983 ersetzt hatte, war kurz zuvor ausgestiegen. Und der Keyboarder Martin Paul Hartmann, die Managerin Claudia Roth und ihr Freund, der Perkussionist Richard Herten, den man nicht zuletzt ihr zuliebe in die Band integriert hatte, waren nicht eingeladen worden, vermutlich weil man sich eine längere Diskussion ersparen wollte. Nur der harte Kern, die "Ur-Scherben" Lanrue, Kai Sichtermann (Bass) und Funky K. Götzner (Schlagzeug), nahm an dem Treffen in Manne Praekers Villa teil, das von Rio einberufen worden war.
Was später als "mystische Stunde" bezeichnet wurde, war in Wirklichkeit ein ziemlich gewöhnlicher, unspektakulärer Nachmittag. Die Würfel waren schon vorher gefallen. Man kann nicht duschen, ohne nass zu werden, hatte Lanrue seinen Unwillen, einen Pakt mit der Plattenindustrie zu schließen, begründet. Ein zur Unterzeichnung bereitliegender Plattenvertrag wanderte folgerichtig ohne große Diskussion in den Papierkorb, schon allein deswegen, weil er nicht hoch genug dotiert war. Wenn man sich schon verkaufte, sollte wenigstens etwas dabei herausspringen.
Die Schulden, die sich nach der so genannten Elser-Tour 1982 angehäuft hatten, wurden laut Lanrue "sehr demokratisch und sehr klar auseinander dividiert" und "proportional verteilt", so dass jeder ein paar Rechnungen erhielt, die er zu begleichen hatte. Kai Sichtermann holte aus einer nahe gelegenen Kneipe noch drei Flaschen Sekt - für mehr reichte das Geld nicht -, dann umarmte und herzte man sich noch einmal liebevoll und ging auseinander. Die legendäre Deutsch-Rock-Band Ton Steine Scherben hatte sich sang und klanglos aufgelöst, nicht mit einem Knall, sondern mit einem Küsschen.
Fünfzehn Jahre lang hatten sie es geschafft, unabhängig zu sein und zu bleiben und sich von niemandem etwas diktieren zu lassen. Fünfzehn Jahre lang waren sie nicht nur für Ted Gaier "das Modell eines Lebens" gewesen, "das die Widersprüche und Zwänge des Systems scheinbar ausgehebelt hatte", verbandelt "mit mehr oder weniger allen linken Bewegungen der siebziger und frühen achtziger Jahre - vom Klassenkampf mit Proletariat als gedachtem revolutionären Subjekt, über die Radikalisierung des Privaten und dem Aufbau einer Kommune, bis zum Umzug aufs Land". 15 Jahre lang hatten sie sich von niemandem zähmen lassen und, wie Caroline Fetscher 1983 in der Zeitschrift konkret schrieb, "keiner Mode gehorcht, sich nicht funktionalisieren lassen, den Deckel jeder Kiste gesprengt, in die man sie gesteckt hat, keinen Promoter den Rahm ihres Erfolges abschöpfen lassen, nicht zugelassen, dass die Schrumpfkopfjäger der Medien sie abhäuten". Jetzt aber zogen Rio und Funky wieder nach Kreuzberg, in die Waldemarstraße 66, gegenüber vom Georg-von-Rauch-Haus. Funky wohnte im Hinter-, Rio im Vorderhaus. "Er ging zu Sony, ich ging zum Sozi."
Kai Sichtermann hoffte, dass Rio künftig "die Widersprüche zwischen Bühne und Wirklichkeit, zwischen seinen Texten und seiner Person" auflösen könnte oder wenigstens in den Griff bekäme. Dass er Erfolg haben und der Erfolg ihm "Bestätigung und ein wenig innere Ruhe" bringen, kurz: dass die "Diskrepanz zwischen dem Bühnen-Heiligen und dem privaten Dämon" nicht noch größer würde. Doch der Traum von der Freien Republik Fresenhagen, einem anderen Leben im falschen, er war nun aus. Und wer sich erkundigte, was die einzelnen Musiker jetzt machen wollten, dem erklärte Lanrue lakonisch: "Wir werden uns auch in Zukunft nicht langweilen."
Die Trauer darüber, dass sich die Scherben aufgelöst hatten, "kam schrittweise". Funky war sich schon seit längerem wie jemand vorgekommen, der es bis zur Tür geschafft hatte, dem man dann aber bedeutete, doch bitte draußen zu bleiben. Während Manne Praeker und Lokomotive Kreuzberg gerade noch die Kurve gekratzt und auch mal an sich gedacht hatten, indem sie als Spliff leicht verdauliche Chartkost wie Carbonara anrichteten, hatten die Scherben Schiss gehabt, von einer Tour wieder nach Hause zu kommen, weil dort die Banken selbst sonntags anriefen, um Außenstände einzufordern. So manches Mal wäre er gerne sein eigener Roadie gewesen, weil er dann wenigstens mehr als den selbst verordneten Tagessatz von 50 Mark verdient und nicht vom Catering hätte leben müssen, um auch nach der Tour noch was in der Tasche zu haben. Und er ist noch immer ein bisschen sauer auf die "moralische Grundeinstellung" des Scherben-Publikums, das bei Bap oder Bowie ohne mit der Wimper zu zucken den verlangten Eintrittspreis berappte, bei den Scherben aber jedes Mal ein Mordstheater machte, egal, wie hoch oder wie niedrig er war.
Als sich Ton Steine Scherben auflösten, habe Rio sich jedenfalls schon mit Annette Humpe "in der Testphase" befunden - was hätte er denn da noch "rumbetteln" sollen? Und als Rio dann auch noch solo den Erfolg hatte, nach dem sich die Scherben so gesehnt hatten, kam ihm das vor, als habe er seine Geliebte verloren. Sein Konzert mochte er sich deshalb auch nicht antun - er wollte nicht auch noch zugucken, wenn die mit einem anderen schlief.
In einem Video-Clip zu König von Deutschland durfte er noch einmal dabei sein - als Hofnarr. Und als er mit einer HipHop-Band in Emmelsbüll eine Platte aufnahm, lud Rio sie alle ein und kochte für sie.
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Autoren-Porträt von Hollow Skai
Hollow Skai ist so alt wie der Rock n Roll. Er studierte Germanistik und Politik, gründete 1980 das Punk-Label No Fun Records, war von 1986 bis 1994 Kulturredakteur beim Stern, bevor er unter dem Titel "In A Da Da Da Vida" zwei Bände mit magischen, mythischen & mysteriösen Geschichten zu Pop-Songs veröffentlichte. Für Sony Music stellte er das Best-of-Rio-Reiser-Doppelalbum "Unter Geiern. The Columbia Years" zusammen. Hollow Skai arbeitet als freier Journalist und Lektor und lebt in Hamburg.
Bibliographische Angaben
- Autor: Hollow Skai
- 2007, 287 Seiten, mit zahlreichen Abbildungen, Maße: 11,9 x 18,9 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Heyne
- ISBN-10: 3453640314
- ISBN-13: 9783453640313
Rezension zu „Das alles und noch viel mehr “
"Macht Lust auf Rios Musik."
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