Das Aschenkreuz / Begine Serafina Bd.1
Historischer Kriminalroman
Freiburg, 1415: Die kluge Serafina tritt in das Schwesternhaus Sankt Christoffel ein und widmet sich fortan den Armen und Kranken. Aber der tote junge Mann: War das wirklich Selbstmord? Und dann ist da noch der neue Stadtarzt: Er weiß um Serafinas düsteres Geheimnis.
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Produktinformationen zu „Das Aschenkreuz / Begine Serafina Bd.1 “
Freiburg, 1415: Die kluge Serafina tritt in das Schwesternhaus Sankt Christoffel ein und widmet sich fortan den Armen und Kranken. Aber der tote junge Mann: War das wirklich Selbstmord? Und dann ist da noch der neue Stadtarzt: Er weiß um Serafinas düsteres Geheimnis.
Klappentext zu „Das Aschenkreuz / Begine Serafina Bd.1 “
Blutmysterium und Aschenkreuz: Viel Wunderbares und viel Böses gibt es unter Gottes Himmel.Im Frühjahr 1415 tritt die kluge, vorwitzige und nicht mehr ganz junge Serafina in das Schwesternhaus Sankt Christoffel zu Freiburg ein, dessen fromme Bewohnerinnen sich den Armen, Kranken und Sterbenden unter den Bürgern widmen. Schnell lebt sich Serafina ein in der Stadt am Rande des Schwarzwalds. Wäre da nur nicht die Geschichte mit dem Sohn des Kaufherrn Pfefferkorn, an dessen Selbstmord sie zweifelt. Und wäre da erst recht nicht der neue Stadtarzt. Adalbert Achaz kennt Serafina. Und er weiß um ihr dunkles Geheimnis. Ein zweiter Toter findet sich. Auch er trägt ein Aschenkreuz auf der Stirn. Und Serafina fängt an nachzudenken
Glossar
Serafina Stadlerin: Serafina lebt nun im Schwesternhaus Sankt Christoffel in Freiburg - einem sogenannten Regelhaus oder „Beginen". Die Gemeinschaft christlicher Frauen führt ein frommes und eheloses Leben in dem ordensähnlichen Haus. Die Schwestern pflegen Kranke und begleiten Sterbende. Auch wenn Serafina nun ein gottgefälliges Leben führt - früher bot sie im Konstanzer Hurenhaus Liebesdienste gegen Geld an ... Als eine Schönheit mit blauen Augen und dunklen Haaren konnte sie sich ihre Kunden aussuchen - doch alle Privilegien halfen ihr nicht, als sie schwanger wurde. So wuchs ihr Sohn nicht bei ihr auf - und ist nun schon halb erwachsen.
Den Schwestern hat Serafina nichts von ihrer Vergangenheit erzählt - sie fürchtete, sonst nicht aufgenommen zu werden. Ihre „Ersatzbiografie": Sie war Hausmädchen in verschiedenen Schweizer Herrenhäusern und alle Papiere und Zeugnisse sind ihr gestohlen worden. Sie ist für den Gemüsegarten der Gemeinschaft verantwortlich und kräuterkundig. Und sie ist ein Freigeist, der sich von Obrigkeiten nicht einschüchtern lässt. So
... mehr
zweifelt sie am angeblichen Selbstmord des jungen Messdieners Hannes und kämpft wie eine Löwin, als der Bettelzwerg Barnabas unschuldig in den Kerker geworfen wird.
Adalbert Achaz: Er ist der neue Stadtarzt in Freiburg und kennt Serafina aus Konstanz. Ja, er weiß um ihre Vergangenheit. Der große stattliche Mann hatte Serafina damals im Konstanzer Hurenhaus vor dem Kerker bewahrt, als sie den Leibwächter des Bischofs niederstreckte. Der grobe Kerl hatte ihre Kollegin, das scheue Nesthäkchen Resi, geschlagen. Das Letzte, was Adalbert Achaz von Serafina mitbekam in Konstanz, war eine saftige Ohrfeige - aber zuvor hatte er sie geküsst ...
Mitschwester Grethe: Frohnatur und gut genährte Küchenmeisterin im Regelorden. Sie liebt Essen, kocht hervorragend und hat immer einen Kanten Brot, ein Stückchen Käse und etwas Hartwurst bei sich ... Grethe ist die Jüngste bei den Beginen
Barnabas: Kleinwüchsiger Bettelzwerg, „Unsinniger" - die „Unsinnigen" standen damals unter dem Schutz der Stadt Freiburg. Als Barnabas als Junge von Betrunkenen übel gequält wurde und beinahe starb - sie hatten ihn auf eine Handkarre gebunden, bäuchlings, und durch den Fluss Dreisam geschleift, wobei er fast ertrunken wäre -, hatten die Stadtoberen die Täter gefasst, eingesperrt, ebenfalls getaucht und dann der Stadt verwiesen. Für immer.
Der krummbeinige Barnabas ist in ein buntscheckiges Meer aus Flicken gekleidet und wohnt vor den Mauern der Stadt in einer einfachen Hütte am Waldrand. Er liebt Pflanzen und Tiere, kann sanft wie ein Kind sein, aber auch unbändig wie eine Wildkatze. Die Beginen-Schwestern haben ein Herz für Barnabas, der zwar als Freiburger Hausarmer einen offiziellen Bettelbrief besitzt, aber nicht gerne bettelt. Er verrichtet lieber kleine Dienste und bekommt dafür ein Salär.
Sigmund Nidank: Büttel (Hilfskraft bei Gericht), verheirateter Ratsherr, Vater von vier Kindern, fördert die Wilhelmiten und ist ein harter und eigennütziger Mann. Es heißt, er soll eine Vorliebe für hübsche Jungen haben ...
Meisterin Mutter Catharina: Herzensgut, aber streng, wenn nötig. Ihr ist nichts Menschliches fremd. Sanfter, offener Blick, der einem sofort Vertrauen einflößt. Lächelt viel, Grübchen in den Wangen, wenn sie lacht.
Mitschwester Heiltrud: Missgünstige Schwester, die Serafina nachspioniert und sie bei der Meisterin anschwärzt. Sie verlor bei einem Feuer ihre Familie, wurde mit einem verwachsenen Fuß geboren und fand keinen Mann.
Pater Blasius: Begnadeter Redner mit angenehmer Stimme - singt, spricht und betet mit solch einer Leidenschaft, dass er Eis zum Schmelzen gebracht hätte. Kaplan zu Sankt Peter und Paul.
Adalbert Achaz: Er ist der neue Stadtarzt in Freiburg und kennt Serafina aus Konstanz. Ja, er weiß um ihre Vergangenheit. Der große stattliche Mann hatte Serafina damals im Konstanzer Hurenhaus vor dem Kerker bewahrt, als sie den Leibwächter des Bischofs niederstreckte. Der grobe Kerl hatte ihre Kollegin, das scheue Nesthäkchen Resi, geschlagen. Das Letzte, was Adalbert Achaz von Serafina mitbekam in Konstanz, war eine saftige Ohrfeige - aber zuvor hatte er sie geküsst ...
Mitschwester Grethe: Frohnatur und gut genährte Küchenmeisterin im Regelorden. Sie liebt Essen, kocht hervorragend und hat immer einen Kanten Brot, ein Stückchen Käse und etwas Hartwurst bei sich ... Grethe ist die Jüngste bei den Beginen
Barnabas: Kleinwüchsiger Bettelzwerg, „Unsinniger" - die „Unsinnigen" standen damals unter dem Schutz der Stadt Freiburg. Als Barnabas als Junge von Betrunkenen übel gequält wurde und beinahe starb - sie hatten ihn auf eine Handkarre gebunden, bäuchlings, und durch den Fluss Dreisam geschleift, wobei er fast ertrunken wäre -, hatten die Stadtoberen die Täter gefasst, eingesperrt, ebenfalls getaucht und dann der Stadt verwiesen. Für immer.
Der krummbeinige Barnabas ist in ein buntscheckiges Meer aus Flicken gekleidet und wohnt vor den Mauern der Stadt in einer einfachen Hütte am Waldrand. Er liebt Pflanzen und Tiere, kann sanft wie ein Kind sein, aber auch unbändig wie eine Wildkatze. Die Beginen-Schwestern haben ein Herz für Barnabas, der zwar als Freiburger Hausarmer einen offiziellen Bettelbrief besitzt, aber nicht gerne bettelt. Er verrichtet lieber kleine Dienste und bekommt dafür ein Salär.
Sigmund Nidank: Büttel (Hilfskraft bei Gericht), verheirateter Ratsherr, Vater von vier Kindern, fördert die Wilhelmiten und ist ein harter und eigennütziger Mann. Es heißt, er soll eine Vorliebe für hübsche Jungen haben ...
Meisterin Mutter Catharina: Herzensgut, aber streng, wenn nötig. Ihr ist nichts Menschliches fremd. Sanfter, offener Blick, der einem sofort Vertrauen einflößt. Lächelt viel, Grübchen in den Wangen, wenn sie lacht.
Mitschwester Heiltrud: Missgünstige Schwester, die Serafina nachspioniert und sie bei der Meisterin anschwärzt. Sie verlor bei einem Feuer ihre Familie, wurde mit einem verwachsenen Fuß geboren und fand keinen Mann.
Pater Blasius: Begnadeter Redner mit angenehmer Stimme - singt, spricht und betet mit solch einer Leidenschaft, dass er Eis zum Schmelzen gebracht hätte. Kaplan zu Sankt Peter und Paul.
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Blutmysterium und Aschenkreuz: Viel Wunderbares und viel Böses gibt es unter Gottes Himmel.
Im Frühjahr 1415 tritt die kluge, vorwitzige und nicht mehr ganz junge Serafina in das Schwesternhaus Sankt Christoffel zu Freiburg ein, dessen fromme Bewohnerinnen sich den Armen, Kranken und Sterbenden unter den Bürgern widmen. Schnell lebt sich Serafina ein in der Stadt am Rande des Schwarzwalds. Wäre da nur nicht die Geschichte mit dem Sohn des Kaufherrn Pfefferkorn, an dessen Selbstmord sie zweifelt. Und wäre da erst recht nicht der neue Stadtarzt. Adalbert Achaz kennt Serafina. Und er weiß um ihr dunkles Geheimnis. Ein zweiter Toter findet sich. Auch er trägt ein Aschenkreuz auf der Stirn. Und Serafina fängt an nachzudenken ...
Begine Serafina und das Verbrechen:
Eine neue Serie von Astrid Fritz
Im Frühjahr 1415 tritt die kluge, vorwitzige und nicht mehr ganz junge Serafina in das Schwesternhaus Sankt Christoffel zu Freiburg ein, dessen fromme Bewohnerinnen sich den Armen, Kranken und Sterbenden unter den Bürgern widmen. Schnell lebt sich Serafina ein in der Stadt am Rande des Schwarzwalds. Wäre da nur nicht die Geschichte mit dem Sohn des Kaufherrn Pfefferkorn, an dessen Selbstmord sie zweifelt. Und wäre da erst recht nicht der neue Stadtarzt. Adalbert Achaz kennt Serafina. Und er weiß um ihr dunkles Geheimnis. Ein zweiter Toter findet sich. Auch er trägt ein Aschenkreuz auf der Stirn. Und Serafina fängt an nachzudenken ...
Begine Serafina und das Verbrechen:
Eine neue Serie von Astrid Fritz
Lese-Probe zu „Das Aschenkreuz / Begine Serafina Bd.1 “
Das Aschenkreuz von Astrid Fritz Prolog
Ein tiefgrauer Himmel hatte den frühen Abend zur Nacht gemacht. Der Mann im dunklen Umhang verbarg sich in einer Toreinfahrt. Eine kräftige Windböe fuhr ihm ins Gesicht, als das Unwetter auch schon losbrach. Wie aus Kübeln ergoss sich das Wasser aus dem schweren Gewölk, und die Menschen auf den Gassen flüchteten sich im Laufschritt in den Schutz ihrer Häuser und Werkstätten. Nur die schmächtige Gestalt vor ihm hatte offenbar keine Eile. Jetzt blieb der Bursche sogar stehen und hielt das Gesicht in den strömenden Regen.
Die Gelegenheit war gekommen. In völliger Einsamkeit erstreckte sich vor ihm die Abtsgasse bis zu den Augustinern, und nur wenige Schritte entfernt befand sich, wie seit der Großen Pest vielerorts in der Stadt, ein mit wilden Bäumen und Buschwerk überwucherter, brachliegender Grund. Fast tat ihm der Kerl leid. So jung noch, dabei so angenehm anzusehen. Er fuhr sich mit dem Ärmel über die nasse Stirn, als wolle er diesen Gedanken wegwischen. Doch es gab kein Zurück, jetzt nicht mehr.
Er zog sich die Kapuze tief ins Gesicht. Warum nur musste dieser Tölpel seine hübsche Nase in Dinge stecken, die ihn nichts angingen? Hatte er zunächst daran gedacht, ihm eine Abreibung zu verpassen, die er sein Lebtag nicht vergessen würde, so war er jetzt entschlossen, Ernst zu machen.
... mehr
Kein Vaterunser später hatte er ihm von hinten den Arm auf den Rücken gedreht und ihm gleichzeitig die Hand auf den Mund gepresst. Es war ein Leichtes, ihn ins Dunkel der Brache zu der halb verfallenen Scheune zu zerren. Dort aber begann der Junge sich mit der Kraft eines Löwen zu wehren. Er schaffte es, sich halbwegs freizukämpfen, da erhellte ein greller Blitz die Dunkelheit. Weit offen stand der Mund des Knaben vor Entsetzen, als er sein Gegenüber erkannte.
Dann ging alles sehr schnell. Er bückte sich wieselflink nach einem scharfkantigen Stein und schmetterte ihn gegen den Schädel des Jungen. Dessen Schrei ging unter in dem mächtigen Donnerhall, der die Häuser der Stadt erschütterte. Noch einmal schlug er zu, vermeinte das Knacken der Schädeldecke zu spüren, dann sackte der knabenhafte Körper in seinem Arm leblos in sich zusammen.
Kapitel 1
Es wurde eine unruhige Nacht. Bei jedem Donnerschlag ruckte die bettlägerige Alte vor Schreck mit dem Kopf hin und her.
«Keine Sorge, Kandlerin.» Serafina Stadlerin streichelte der Siechen die altersfleckige Hand. «Hier kann uns nichts geschehen. Schlaft nur ruhig weiter.»
Dabei war es Serafina selbst nicht ganz wohl in ihrer Haut. Seit dem frühen Abend tobte das erste Gewitter dieses Frühsommers nun schon über der Stadt. Die Sturmböen rüttelten an den verschlossenen Fensterläden, Blitz und Donner wollten kein Ende nehmen. Sie sagte sich, dass sie hier in der Stadt ungleich geschützter waren als in dem kleinen Dorf, in dem sie einst aufgewachsen war und so manches schlimme Unwetter erlebt hatte. Doch leider wirkte das schäbige, schmale Holzhäuschen der beiden hochbetagten Schwestern nicht gerade vertrauenerweckend. Es schien nur noch von seinen beiden Nachbarhäusern, deren Erdgeschoss aus solidem Stein gebaut war, am Umfallen gehindert. Wieder und wieder musste sie sich die Worte ihres Vaters, der ein kluger Mann gewesen war, in den Sinn rufen. Ein Blitz schlage sein Feuer, wenn er die Wahl hatte, stets in den höchsten Punkt. Und das war, wenn nicht das Dach der benachbarten adligen Trinkstube Zum Ritter, zweifellos der Münsterturm, der nur wenige Schritte vor der Haustür in den Himmel ragte.
Die alte Frau spitzte die Lippen, zum Zeichen, dass sie Durst hatte. Seit ihrem bösen Sturz vor einem Vierteljahr konnte sie sich nicht mehr rühren und war dem Tod näher als dem Leben. Aber der Herrgott wollte sie noch nicht haben. So siechte sie in ihrer ärmlichen kleinen Kammer reglos vor sich hin, vor einiger Zeit hatte sie sogar das Sprechen aufgegeben. Tag und Nacht brauchte sie Hilfe, die in aller Regel ihre Schwester leistete, ebenfalls verwitwet, doch für ihr Alter noch erstaunlich rüstig. Jetzt aber war die gute Frau zur Niederkunft ihrer jüngsten Tochter für einige Tage ins nahe Kirchzarten gereist, und die Kandlerin war auf die Barmherzigkeit Fremder angewiesen.
Serafina goss im schwachen Schein der Tranlampe ein wenig Wasser in den Becher und gab der Kranken in kleinen Schlucken zu trinken. Ganz allmählich legte sich das Gewitter. Zwischen den Ritzen der Fensterläden waren keine Lichtblitze mehr zu erkennen, und die krachenden Donnerschläge hatten sich in ein mehr oder weniger fernes Grollen verwandelt. Vielleicht würde sie ja doch noch eine Handvoll Schlaf bekommen.
Müde lehnte sie sich in ihrem zerschlissenen Polsterlehnstuhl zurück und stieß dabei ein verärgertes Schnaufen aus. Das alles hatte sie nur ihrer Mitschwester Adelheid zu verdanken. Eigentlich wäre die Nachtwache bei der alten Witwe deren Aufgabe gewesen, doch wieder einmal hatte Adelheid Unpässlichkeit vorgeschoben, um einer mühevollen Aufgabe zu entgehen.
Ohnehin verstand Serafina nicht, warum Mutter Catharina, als Meisterin ihrer kleinen Schwesternsammlung zu Sankt Christoffel, ausgerechnet diese Frau so häufig zur nächtlichen Krankenpflege bestimmte. Adelheid Ederlin entstammte einem der vornehmsten Freiburger Geschlechter, das einst im Silberbergbau ein Vermögen gemacht hatte, und niemand in ihrem bescheidenen kleinen Konvent konnte nachvollziehen, warum sie nicht in das erlauchte Kloster Adelhausen eingetreten war, das vor den Toren der Stadt lag. Dort hätte sie ausreichend Muße zur Lektüre ihrer mystischen Bücher gehabt oder zu ihren Stickereien und Andachtsbildchen, die indessen, wie Serafina eingestehen musste, von höchster Kunstfertigkeit waren. Ansonsten aber hielt sie Adelheid für schlichtweg faul, kein bisschen geschaffen für den Alltag in freiwilliger Armut und im Dienst am Nächsten.
Serafina hingegen gefiel ihr neues Leben hier in Freiburg, das sie erfüllte und ihr ungeahnte Freiheiten eröffnete. Als Laienschwestern ohne Klausur konnten sie sich frei in der Stadt bewegen, was auch notwendig war für ihre wichtigsten Aufgaben: So nahmen sie an Bestattungen teil, um mit ihren Gebeten und Fürbitten zum Seelenheil der Verstorbenen beizutragen, oder gingen in die Häuser zur Krankenpflege und Sterbebegleitung. Wobei Serafina der Umgang mit dem Leichnam anfangs einige Überwindung gekostet hatte.
Da mussten dem Verstorbenen zunächst die Augenlider und der Mund geschlossen werden, Ersteres aus Furcht vor dem bösen Blick, Letzteres, um die Rückkehr der Seele in den Körper zu verhindern, konnte der Tote doch sonst zu einem dämonischen Wiedergänger werden. Anschließend wurde der Leichnam sorgfältig gewaschen, mit Wasser oder in vornehmen Häusern auch mit Wein, hernach mit Spezereien eingerieben, in ein Büßerhemd oder weißes Laken eingeschlagen, aufgebahrt und zum Abschluss besprengt und beräuchert.
Für diese Dienste an ihren Mitmenschen durften sie, wenn es nicht anders ging, sogar die tägliche Morgenmesse bei den Barfüßern versäumen. Auch waren sie nicht, wie die Klosterfrauen, an feste Stundengebete gebunden - ihre zwanzig Paternoster und Ave-Maria morgens und abends konnten sie auch im Stillen, für sich, verrichten. Dies kam Serafina sehr entgegen. Obwohl sie eine gottesfürchtige Frau war, hielt sie unablässiges Beten für eine Zeitverschwendung, die der Herrgott gewiss nicht wollte. Zumal sie sich als freie Schwesterngemeinschaft selbst versorgen mussten, ganz wie in ihrem Regelbuch geschrieben stand: «Wir sind geneigt, Gott zu dienen, unser Handbrot zu leben und niemanden mit Almosen zu beschweren.» So trugen sie also mit ihrer eigenen Hände Arbeit allesamt mehr oder weniger - die gute Adelheid eher weniger - zum Unterhalt der Gemeinschaft bei.
«Ich bin überrascht, wie schnell du dich bei uns eingelebt hast», hatte ihr die Meisterin vor wenigen Tagen gesagt. Serafina musste unwillkürlich lächeln, als sie jetzt an diesen Satz dachte. Hätte sie Mutter Catharina sagen sollen, dass ihr das enge Zusammenleben mit Frauen durchaus vertraut war? So viel anders als in Konstanz war es hier nicht. Auch im Haus Zum Christoffel trafen die unterschiedlichsten Wesensarten auf kleinstem Raum zusammen. Da waren, neben der schönen, etwas dünkelhaften Adelheid, noch die frömmlerische, ewig mürrische Heiltrud, die Serafina mit ihrer langen spitzen Nase und ihren eckigen Bewegungen an einen alten grauen Storch erinnerte, die furchtsame, kränkliche Mette, die ein hartes Leben als Magd hinter sich hatte, ihre Meisterin Catharina, die in mütterlich-liebevoller Strenge das Haus zusammenhielt, und nicht zuletzt, als Jüngste im Bunde, die fröhliche, unbedarfte und ewig hungrige Grethe. Sie war ihr in diesen wenigen Wochen trotz des Altersunterschieds zu einer echten Freundin geworden.
Ja, Serafina fühlte sich wohl unter diesen Frauen, und sie genoss den überschaubaren, schlichten Alltag mit ihnen. Langweilig wurde es dabei nie, zumal sie und ihre Gefährtinnen bei ihren Diensten viel in der Stadt herumkamen. Und des Sonntags lud ihre Meisterin nicht selten Gäste zum Mittagessen ein: mal die Ärmsten der Armen, mal vornehme Bürgerinnen und Bürger, die ihre Sammlung unterstützten. Wobei es mit Ersteren meist weitaus fröhlicher zuging.
Das Einzige, was Serafina ein ganz klein wenig vermisste, war der Bodensee, dieses endlose Wasser, das in der Morgensonne gleich Edelsteinen glitzerte, an schönen Sommertagen tiefblau schimmerte oder sich an Wintertagen in einem Meer von Nebel verlieren konnte. Und natürlich ihr kräftiges, dunkles Haar, auf das sie immer so stolz gewesen war. Gleich nach ihrer Ankunft vor sechs Wochen hatte Grethe es ihr fast stoppelkurz geschnitten und ihr dabei mit einem mitfühlenden Lächeln eröffnet, dass dies nun viermal im Jahr geschehe. Doch waren das letztlich Kleinigkeiten. Nicht einen Tag hatte sie bislang ihren Entschluss bereut, hier in Freiburg ganz von vorne zu beginnen. Und dass niemand in dieser Stadt sie kannte, war umso besser.
Mitunter plagte sie allerdings das schlechte Gewissen gegenüber der Meisterin. Zwar hatte sie nicht ausdrücklich gelogen bei ihrer Aufnahme in die Schwesternschaft, mehr als geflunkert indessen zweifellos. So hatte sie zu ihrer Vergangenheit nur angegeben, dass sie aus einem Dorf im Radolfzeller Hinterland stamme, wo ihr Vater Schultes war - was beides stimmte - , dass sie nie verheiratet gewesen sei und ihr Brot als Hausmädchen in feinen Herrenhäusern in der Schweiz verdient habe. Zeugnisse und Papiere besitze sie leider keine, da man sie auf dem Weg nach Freiburg ausgeraubt habe. Auch das entsprach halbwegs der Wahrheit. Wohl war sie so vernünftig gewesen, sich gleich ab Konstanz einer Reisegruppe anzuschließen, doch schon in der ersten Herberge hatte man nachts ihr Bündel geklaut. Zum Glück hatte sie ihre Wertsachen in einem Täschchen um den Leib gebunden. Am Schluss hatte Mutter Catharina jene Frage nach der Ehrbarkeit gestellt, die sie eigentlich als Erstes erwartet und umso mehr gefürchtet hatte. Die Aufnahmeregel eines Schwestern- oder Beginenhauses verlangte normalerweise, dass man ein keusches und ehrsames Leben führte - wobei Ersteres naturgemäß nur einer Jungfrau oder Witwe gelang - , dazu einen guten Leumund, eine kleine Mitgift oder, falls das nicht vorhanden war, die Kenntnisse eines Handwerks aufweisen konnte. Bis auf die Mitgift hatte sie nichts davon zu bieten, und so redete sie sich in einem wahren Wortschwall heraus, während sie ihr kleines Vermögen, das sie angespart hatte, aus dem Gürtel zog. Sprach umständlich davon, wie entschlossen sie sei, ein gottgefälliges Leben zu führen, im Sinne der Nächstenliebe und Caritas, und kam schließlich auf den Grund zu sprechen, warum sie gerade die Sammlung zu Sankt Christoffel aufgesucht habe: Weil sie nämlich hoffe, auf ihre Kindheitsfreundin Ursula zu treffen, die hier, nachdem sie kinderlos zur Witwe geworden war, Aufnahme gefunden habe.
An jener Stelle hatte die Meisterin sie unterbrochen. Leider habe sich Ursula ein Jahr zuvor die Rote Ruhr geholt und sei daran gestorben. Hierüber war Serafina in ehrlicher Erschütterung in Tränen ausgebrochen, sodass Catharina sie tröstend in die Arme gezogen und das Gespräch seinen Abschluss gefunden hatte. Auf diese Weise hatte die traurige Wendung ihrer Unterredung Serafina eine Enthüllung erspart, die ihr mit Sicherheit die Aufnahme bei den Schwestern verwehrt hätte: Dass sie nämlich Mutter eines unehelichen, halberwachsenen Sohnes war.
Kapitel 2
Das laute Klopfen unten an der Haustür ließ Serafina aus dem Schlaf auffahren, den sie am Ende trotz ihrer Grübeleien doch noch gefunden hatte. Sogar einen wunderschönen Traum hatte sie gehabt, von einer sommerlichen Kahnfahrt an den Ufern des Bodensees.
Sie streckte ihre steifen Glieder. Das musste Grethe sein, die sie ablösen kommen sollte. Bestimmt hatte sie wieder einen riesigen Korb mit Verpflegung dabei, um nicht zu verhungern bis zum Abend.
Prüfend betrachtete sie die Kandlerin. Sie atmete mit geschlossenen Augen und entspanntem Gesicht ruhig vor sich hin. Als es erneut gegen die Tür schlug, war Serafina schon auf dem Weg nach unten.
«Immer langsam mit den jungen Pferden», rief sie, während sie den Riegel zurückschob.
Vor ihr stand Grethe, wie erwartet mit einem vollbepackten Henkelkorb neben sich. Ihr rundes Gesicht mit dem Herzchenmund war rosig von der kühlen Morgenluft.
«Was schleifst du da wieder alles mit?»
Das Mädchen strahlte sie an.
«Mein Andachts- und Gebetbuch. Schließlich muss ich der guten Kandlerin ja auch geistige Labung bieten.»
«Ach ja?» Serafina zog das Tuch vom Korb. Zum Vorschein kamen zwei große Kanten Käse, ein halber Laib Brot, ein viertel Ring Hartwurst und ein verschlossenes Krüglein mit Wein. Augenblicklich begann ihr Magen zu knurren.
«Dass mich die Raben fressen! Das reicht ja für eine Großfamilie. Du weißt aber schon, dass die alte Kandlerin vom Niklasbeck versorgt wird?»
«Nun ja, kannst dir gern was nehmen.»
Serafina winkte ab.
«Lass nur, du sollst ja nicht vom Fleisch fallen.» Sie kniff der Freundin in die rundliche Hüfte. «Wer kocht eigentlich für uns, wenn du nicht da bist?»
«Unsere liebe Heiltrud.»
«Ach herrje - das wird eine karge Kost.» Nun klaubte sie sich doch ein Stück Krume aus dem Brotlaib. «Bist du eigentlich allein gekommen?»
Die Regel besagte nämlich, dass die freundlichen Armen Schwestern, wie sie von den Leuten auch genannt wurden, nicht allein durch die Gassen ziehen durften. Wobei dies in ihrem Hause nur für die Jüngeren galt.
«Die Meisterin höchstpersönlich hat mich gebracht.»
«So ist's recht. Auf euch junges Gemüse muss man aufpassen. »
«Du redst ja daher wie meine Mutter.»
«Um Himmels willen - seh ich mit meinen dreißig Jahren etwa schon so alt aus?»
«Unsinn! Du weißt genau, dass du die schönste von uns allen bist.» Grethe grinste breit. «Auch wenn du in dem Alter bist, wo eine Frau die ersten Kinder großziehen sollte. Aber sei froh, dass du keine hast - meine Schwester hat nur Scherereien mit ihren Blagen.»
Bei diesen Worten war Serafina innerlich zusammengezuckt. Doch sie ließ sich nichts anmerken.
«Danke für die Schmeichelei! Aber ein Beginenweib kann gar nicht schön sein.»
«Du schon!»
Ein lautes Stöhnen von oben unterbrach ihre Plauderei.
Grethe zog ihren Korb weg. «Die Nächstenliebe ruft.»
Damit verschwand sie auch schon auf der engen Stiege nach oben.
«Sag noch, Grethe», rief Serafina ihr hinterher, «muss heut Nacht wieder jemand bei der Kandlerin wachen?»
«Nein, ihre Schwester kommt gegen Abend zurück.»
Wenigstens das. Serafina trat hinaus in die Kühle des angebrochenen Tages. Der Himmel war noch rosenrot gefärbt und ohne eine einzige Wolke. Was für ein wunderbarer Morgen! Ihr war, als hätte das Gewitter der letzten Nacht alles reingewaschen.
Begierig sog sie die frische Luft ein, bevor es in den Gassen wieder nach Schweinekot und den Inhalten der ausgeleerten Nachttöpfe stinken würde. Von den Abortgruben der Häuser ganz zu schweigen.
So hundemüde und hungrig sie war, wollte sie doch noch einen Abstecher zu Gisla machen, um sie nach einigen Heilkräutern zu fragen, die nicht im Garten von Sankt Christoffel wuchsen. Die Kräuterfrau gehörte zu jenen Menschen, die schon mit dem ersten Hahnenschrei auf den Beinen und gleich darauf bei der Arbeit waren. Im Falle von Gisla hieß das, auf Kräutersuche an den Uferwiesen der Dreisam oder am Waldrand. Daher erwischte man sie nur zur frühen Morgenstunde. Falls Serafina sich von ihr nicht wieder in ein Fachgespräch über Gartenkunde verwickeln lassen würde, konnte sie es hinterher noch rechtzeitig zur Morgenmesse bei den Barfüßern schaffen.
Sie überquerte den menschenleeren Platz vor dem Kirchhof des Münsters, auf dem tiefe Pfützen standen. Die Lauben der Kleinkrämer an der Friedhofsmauer waren zu dieser Stunde noch mit Brettern verschlossen, und es herrschte eine fast unheimliche Stille. Linkerhand bog sie in ein enges, düsteres Gässchen ein, nicht ohne sich noch einmal umzudrehen und einen Blick hinauf zum Münsterturm zu werfen, der, ein Wunder an Baumeisterkunst, kraftvoll und feingliedrig zugleich in schwindelerregende Höhe ragte. Das prächtige Gotteshaus war zu Recht der ganze Stolz der Freiburger, diente Unser Lieben Frauen Münster ihnen doch ganz bescheiden als Pfarrkirche. Gewiss wäre es noch um einiges herrlicher zu nennen, erhabener noch als die Konstanzer Bischofskirche, wäre da nicht die hässliche Bauruine auf der anderen Seite gewesen. Der Chor nämlich war umgeben von halbfertigen, hohen Mauern mit Säulen, die sich im Halbrund wie ein lückenhaftes Riesengebiss um die Ostseite der Kirche zogen. Halbwilde Hunde und Katzen trieben sich da herum, nährten sich von dem stinkenden Unrat, den die Leute immer wieder heimlich hier abluden. Eigentlich hätte hier ein neuer Hochchor, mit Chorumgang und Kapellenkranz, entstehen sollen, vor etlichen Jahrzehnten schon. Doch die Große Pest und der Freikauf von den ungeliebten Grafen von Freiburg hatten die Stadt und ihre Bürger einst wirtschaftlich an den Rand des Abgrunds getrieben und belasteten sie bis heute.
Serafina beschleunigte ihren Schritt, sodass der Schlamm unter ihren Schuhen nur so spritzte. Die Kräuterfrau Gisla wohnte in der Schneckenvorstadt, gleich hinter dem Spitalbad. Inzwischen vermochte Serafina in dieser Stadt an ihr Ziel zu gelangen, ohne stundenlang in die Irre zu gehen. Führten doch längst nicht alle Gassen gradlinig auf die beiden Hauptstraßen zu, die Freiburg wie ein Kreuz durchschnitten.
Allmählich erwachte die Stadt. Die Handwerker öffneten ihre Läden, Taglöhner und Knechte machten sich auf den Weg zur Arbeit, die ersten Ziegen und Rinder wurden zwischen kläffenden Kötern hindurch auf die Viehweide vor der Stadt getrieben. Kurz vor dem Untertor ließ ein schriller Pfiff Serafina zusammenfahren. Es war Barnabas, der Bettelzwerg, der sich auf diese Weise bemerkbar zu machen pflegte.
«Du meine Güte - hast du mich verschreckt.»
Der kleine Kerl mit den stämmigen krummen Beinchen und dem riesigen Kopf, wie immer in ein buntscheckiges Meer von Flicken gekleidet und mit einer viel zu kleinen Filzkappe auf dem struppigen Haar, zupfte heftig an ihrer aschgrauen Tracht. Für gewöhnlich begrüßte er sie mit einer tiefen Verbeugung und sprach sie mit «schöne Frau Serafina» an, was sie innerlich jedes Mal zum Schmunzeln brachte. Heute jedoch zitterte er am ganzen Leib.
«Was hast du denn? Du bist ja völlig außer dir!»
Ohne ein Wort herauszubringen, wies Barnabas in Richtung Abtsgasse. Sie schüttelte den Kopf.
«Nein, Barnabas, ich hab es eilig. Zeig mir, was du mir zeigen willst, ein andermal.»
«Ddder To-Tod! - Im Holz! - So grrroße Au-augen!»
Wie immer, wenn Barnabas aufgeregt war, brachte er entweder gar nichts heraus oder stotterte zusammenhangloses Zeugs. Jetzt erst fiel Serafina auf, dass alles, was so früh schon unterwegs war, in Richtung dieser Gasse strömte.
Unwillig ließ sie sich von ihm mitziehen. Sie mochte Barnabas, der ihr in der kurzen Zeit hier in Freiburg ans Herz gewachsen war, und sein absonderliches Wesen machte ihr auch keine Angst, erinnerte er sie doch an den Dorfnarren aus ihrer Kinderzeit. Doch manchmal konnte er einem schon gehörig zur Last fallen.
Die Menschen vor ihnen bogen allesamt hinter dem Haus Zum Grünen Wald in das brachliegende Grundstück ein, von dem es hieß, dass es dort des Nachts spuke. Jetzt allerdings drangen von dem mit Bäumen und Sträuchern überwucherten Ort keine Geisterrufe herüber, sondern gedämpftes Schreckensgemurmel. Als die Menge ihrer Schwesterntracht gewahr wurde, gab man ihr den Weg frei bis vor das Tor einer schmalen Scheune, die verlassen und verfallen an der Stadtmauer lehnte.
Serafina hatte schon so einiges gesehen in ihrem Leben, doch der Anblick, der sich ihr dort bot, fuhr ihr tief ins Herz. Am Querbalken des offenen Tores war ein grober Strick befestigt, und daran baumelte, nur einen Schuh hoch über der Erde, der Leichnam eines sehr gut gekleideten jungen Burschen von höchstens fünfzehn Jahren. Die Zunge hing ihm blaurot geschwollen aus dem Mund, die Augen hatte er weit aufgerissen, die Finger zu Fäusten gekrampft. Das Merkwürdigste aber: Auf seine hohe, helle Stirn war ein Aschenkreuz geschrieben, als Zeichen der Schuld. Ganz offensichtlich hatte sich der Junge selbst aufgeknüpft.
Keiner der umstehenden Gaffer wagte es, sich auf mehr als Armeslänge dem Toten zu nähern. Serafina schlug das Kreuzzeichen und sprach ein stilles Gebet, während sie voller Mitgefühl die sterbliche Hülle des Jungen betrachtete. Zu Lebzeiten musste er ausnehmend hübsch gewesen sein, mit seinen feinen, fast mädchenhaften Gesichtszügen. Sie wandte sich um.
«Warum holt ihn keiner dort runter?»
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Kein Vaterunser später hatte er ihm von hinten den Arm auf den Rücken gedreht und ihm gleichzeitig die Hand auf den Mund gepresst. Es war ein Leichtes, ihn ins Dunkel der Brache zu der halb verfallenen Scheune zu zerren. Dort aber begann der Junge sich mit der Kraft eines Löwen zu wehren. Er schaffte es, sich halbwegs freizukämpfen, da erhellte ein greller Blitz die Dunkelheit. Weit offen stand der Mund des Knaben vor Entsetzen, als er sein Gegenüber erkannte.
Dann ging alles sehr schnell. Er bückte sich wieselflink nach einem scharfkantigen Stein und schmetterte ihn gegen den Schädel des Jungen. Dessen Schrei ging unter in dem mächtigen Donnerhall, der die Häuser der Stadt erschütterte. Noch einmal schlug er zu, vermeinte das Knacken der Schädeldecke zu spüren, dann sackte der knabenhafte Körper in seinem Arm leblos in sich zusammen.
Kapitel 1
Es wurde eine unruhige Nacht. Bei jedem Donnerschlag ruckte die bettlägerige Alte vor Schreck mit dem Kopf hin und her.
«Keine Sorge, Kandlerin.» Serafina Stadlerin streichelte der Siechen die altersfleckige Hand. «Hier kann uns nichts geschehen. Schlaft nur ruhig weiter.»
Dabei war es Serafina selbst nicht ganz wohl in ihrer Haut. Seit dem frühen Abend tobte das erste Gewitter dieses Frühsommers nun schon über der Stadt. Die Sturmböen rüttelten an den verschlossenen Fensterläden, Blitz und Donner wollten kein Ende nehmen. Sie sagte sich, dass sie hier in der Stadt ungleich geschützter waren als in dem kleinen Dorf, in dem sie einst aufgewachsen war und so manches schlimme Unwetter erlebt hatte. Doch leider wirkte das schäbige, schmale Holzhäuschen der beiden hochbetagten Schwestern nicht gerade vertrauenerweckend. Es schien nur noch von seinen beiden Nachbarhäusern, deren Erdgeschoss aus solidem Stein gebaut war, am Umfallen gehindert. Wieder und wieder musste sie sich die Worte ihres Vaters, der ein kluger Mann gewesen war, in den Sinn rufen. Ein Blitz schlage sein Feuer, wenn er die Wahl hatte, stets in den höchsten Punkt. Und das war, wenn nicht das Dach der benachbarten adligen Trinkstube Zum Ritter, zweifellos der Münsterturm, der nur wenige Schritte vor der Haustür in den Himmel ragte.
Die alte Frau spitzte die Lippen, zum Zeichen, dass sie Durst hatte. Seit ihrem bösen Sturz vor einem Vierteljahr konnte sie sich nicht mehr rühren und war dem Tod näher als dem Leben. Aber der Herrgott wollte sie noch nicht haben. So siechte sie in ihrer ärmlichen kleinen Kammer reglos vor sich hin, vor einiger Zeit hatte sie sogar das Sprechen aufgegeben. Tag und Nacht brauchte sie Hilfe, die in aller Regel ihre Schwester leistete, ebenfalls verwitwet, doch für ihr Alter noch erstaunlich rüstig. Jetzt aber war die gute Frau zur Niederkunft ihrer jüngsten Tochter für einige Tage ins nahe Kirchzarten gereist, und die Kandlerin war auf die Barmherzigkeit Fremder angewiesen.
Serafina goss im schwachen Schein der Tranlampe ein wenig Wasser in den Becher und gab der Kranken in kleinen Schlucken zu trinken. Ganz allmählich legte sich das Gewitter. Zwischen den Ritzen der Fensterläden waren keine Lichtblitze mehr zu erkennen, und die krachenden Donnerschläge hatten sich in ein mehr oder weniger fernes Grollen verwandelt. Vielleicht würde sie ja doch noch eine Handvoll Schlaf bekommen.
Müde lehnte sie sich in ihrem zerschlissenen Polsterlehnstuhl zurück und stieß dabei ein verärgertes Schnaufen aus. Das alles hatte sie nur ihrer Mitschwester Adelheid zu verdanken. Eigentlich wäre die Nachtwache bei der alten Witwe deren Aufgabe gewesen, doch wieder einmal hatte Adelheid Unpässlichkeit vorgeschoben, um einer mühevollen Aufgabe zu entgehen.
Ohnehin verstand Serafina nicht, warum Mutter Catharina, als Meisterin ihrer kleinen Schwesternsammlung zu Sankt Christoffel, ausgerechnet diese Frau so häufig zur nächtlichen Krankenpflege bestimmte. Adelheid Ederlin entstammte einem der vornehmsten Freiburger Geschlechter, das einst im Silberbergbau ein Vermögen gemacht hatte, und niemand in ihrem bescheidenen kleinen Konvent konnte nachvollziehen, warum sie nicht in das erlauchte Kloster Adelhausen eingetreten war, das vor den Toren der Stadt lag. Dort hätte sie ausreichend Muße zur Lektüre ihrer mystischen Bücher gehabt oder zu ihren Stickereien und Andachtsbildchen, die indessen, wie Serafina eingestehen musste, von höchster Kunstfertigkeit waren. Ansonsten aber hielt sie Adelheid für schlichtweg faul, kein bisschen geschaffen für den Alltag in freiwilliger Armut und im Dienst am Nächsten.
Serafina hingegen gefiel ihr neues Leben hier in Freiburg, das sie erfüllte und ihr ungeahnte Freiheiten eröffnete. Als Laienschwestern ohne Klausur konnten sie sich frei in der Stadt bewegen, was auch notwendig war für ihre wichtigsten Aufgaben: So nahmen sie an Bestattungen teil, um mit ihren Gebeten und Fürbitten zum Seelenheil der Verstorbenen beizutragen, oder gingen in die Häuser zur Krankenpflege und Sterbebegleitung. Wobei Serafina der Umgang mit dem Leichnam anfangs einige Überwindung gekostet hatte.
Da mussten dem Verstorbenen zunächst die Augenlider und der Mund geschlossen werden, Ersteres aus Furcht vor dem bösen Blick, Letzteres, um die Rückkehr der Seele in den Körper zu verhindern, konnte der Tote doch sonst zu einem dämonischen Wiedergänger werden. Anschließend wurde der Leichnam sorgfältig gewaschen, mit Wasser oder in vornehmen Häusern auch mit Wein, hernach mit Spezereien eingerieben, in ein Büßerhemd oder weißes Laken eingeschlagen, aufgebahrt und zum Abschluss besprengt und beräuchert.
Für diese Dienste an ihren Mitmenschen durften sie, wenn es nicht anders ging, sogar die tägliche Morgenmesse bei den Barfüßern versäumen. Auch waren sie nicht, wie die Klosterfrauen, an feste Stundengebete gebunden - ihre zwanzig Paternoster und Ave-Maria morgens und abends konnten sie auch im Stillen, für sich, verrichten. Dies kam Serafina sehr entgegen. Obwohl sie eine gottesfürchtige Frau war, hielt sie unablässiges Beten für eine Zeitverschwendung, die der Herrgott gewiss nicht wollte. Zumal sie sich als freie Schwesterngemeinschaft selbst versorgen mussten, ganz wie in ihrem Regelbuch geschrieben stand: «Wir sind geneigt, Gott zu dienen, unser Handbrot zu leben und niemanden mit Almosen zu beschweren.» So trugen sie also mit ihrer eigenen Hände Arbeit allesamt mehr oder weniger - die gute Adelheid eher weniger - zum Unterhalt der Gemeinschaft bei.
«Ich bin überrascht, wie schnell du dich bei uns eingelebt hast», hatte ihr die Meisterin vor wenigen Tagen gesagt. Serafina musste unwillkürlich lächeln, als sie jetzt an diesen Satz dachte. Hätte sie Mutter Catharina sagen sollen, dass ihr das enge Zusammenleben mit Frauen durchaus vertraut war? So viel anders als in Konstanz war es hier nicht. Auch im Haus Zum Christoffel trafen die unterschiedlichsten Wesensarten auf kleinstem Raum zusammen. Da waren, neben der schönen, etwas dünkelhaften Adelheid, noch die frömmlerische, ewig mürrische Heiltrud, die Serafina mit ihrer langen spitzen Nase und ihren eckigen Bewegungen an einen alten grauen Storch erinnerte, die furchtsame, kränkliche Mette, die ein hartes Leben als Magd hinter sich hatte, ihre Meisterin Catharina, die in mütterlich-liebevoller Strenge das Haus zusammenhielt, und nicht zuletzt, als Jüngste im Bunde, die fröhliche, unbedarfte und ewig hungrige Grethe. Sie war ihr in diesen wenigen Wochen trotz des Altersunterschieds zu einer echten Freundin geworden.
Ja, Serafina fühlte sich wohl unter diesen Frauen, und sie genoss den überschaubaren, schlichten Alltag mit ihnen. Langweilig wurde es dabei nie, zumal sie und ihre Gefährtinnen bei ihren Diensten viel in der Stadt herumkamen. Und des Sonntags lud ihre Meisterin nicht selten Gäste zum Mittagessen ein: mal die Ärmsten der Armen, mal vornehme Bürgerinnen und Bürger, die ihre Sammlung unterstützten. Wobei es mit Ersteren meist weitaus fröhlicher zuging.
Das Einzige, was Serafina ein ganz klein wenig vermisste, war der Bodensee, dieses endlose Wasser, das in der Morgensonne gleich Edelsteinen glitzerte, an schönen Sommertagen tiefblau schimmerte oder sich an Wintertagen in einem Meer von Nebel verlieren konnte. Und natürlich ihr kräftiges, dunkles Haar, auf das sie immer so stolz gewesen war. Gleich nach ihrer Ankunft vor sechs Wochen hatte Grethe es ihr fast stoppelkurz geschnitten und ihr dabei mit einem mitfühlenden Lächeln eröffnet, dass dies nun viermal im Jahr geschehe. Doch waren das letztlich Kleinigkeiten. Nicht einen Tag hatte sie bislang ihren Entschluss bereut, hier in Freiburg ganz von vorne zu beginnen. Und dass niemand in dieser Stadt sie kannte, war umso besser.
Mitunter plagte sie allerdings das schlechte Gewissen gegenüber der Meisterin. Zwar hatte sie nicht ausdrücklich gelogen bei ihrer Aufnahme in die Schwesternschaft, mehr als geflunkert indessen zweifellos. So hatte sie zu ihrer Vergangenheit nur angegeben, dass sie aus einem Dorf im Radolfzeller Hinterland stamme, wo ihr Vater Schultes war - was beides stimmte - , dass sie nie verheiratet gewesen sei und ihr Brot als Hausmädchen in feinen Herrenhäusern in der Schweiz verdient habe. Zeugnisse und Papiere besitze sie leider keine, da man sie auf dem Weg nach Freiburg ausgeraubt habe. Auch das entsprach halbwegs der Wahrheit. Wohl war sie so vernünftig gewesen, sich gleich ab Konstanz einer Reisegruppe anzuschließen, doch schon in der ersten Herberge hatte man nachts ihr Bündel geklaut. Zum Glück hatte sie ihre Wertsachen in einem Täschchen um den Leib gebunden. Am Schluss hatte Mutter Catharina jene Frage nach der Ehrbarkeit gestellt, die sie eigentlich als Erstes erwartet und umso mehr gefürchtet hatte. Die Aufnahmeregel eines Schwestern- oder Beginenhauses verlangte normalerweise, dass man ein keusches und ehrsames Leben führte - wobei Ersteres naturgemäß nur einer Jungfrau oder Witwe gelang - , dazu einen guten Leumund, eine kleine Mitgift oder, falls das nicht vorhanden war, die Kenntnisse eines Handwerks aufweisen konnte. Bis auf die Mitgift hatte sie nichts davon zu bieten, und so redete sie sich in einem wahren Wortschwall heraus, während sie ihr kleines Vermögen, das sie angespart hatte, aus dem Gürtel zog. Sprach umständlich davon, wie entschlossen sie sei, ein gottgefälliges Leben zu führen, im Sinne der Nächstenliebe und Caritas, und kam schließlich auf den Grund zu sprechen, warum sie gerade die Sammlung zu Sankt Christoffel aufgesucht habe: Weil sie nämlich hoffe, auf ihre Kindheitsfreundin Ursula zu treffen, die hier, nachdem sie kinderlos zur Witwe geworden war, Aufnahme gefunden habe.
An jener Stelle hatte die Meisterin sie unterbrochen. Leider habe sich Ursula ein Jahr zuvor die Rote Ruhr geholt und sei daran gestorben. Hierüber war Serafina in ehrlicher Erschütterung in Tränen ausgebrochen, sodass Catharina sie tröstend in die Arme gezogen und das Gespräch seinen Abschluss gefunden hatte. Auf diese Weise hatte die traurige Wendung ihrer Unterredung Serafina eine Enthüllung erspart, die ihr mit Sicherheit die Aufnahme bei den Schwestern verwehrt hätte: Dass sie nämlich Mutter eines unehelichen, halberwachsenen Sohnes war.
Kapitel 2
Das laute Klopfen unten an der Haustür ließ Serafina aus dem Schlaf auffahren, den sie am Ende trotz ihrer Grübeleien doch noch gefunden hatte. Sogar einen wunderschönen Traum hatte sie gehabt, von einer sommerlichen Kahnfahrt an den Ufern des Bodensees.
Sie streckte ihre steifen Glieder. Das musste Grethe sein, die sie ablösen kommen sollte. Bestimmt hatte sie wieder einen riesigen Korb mit Verpflegung dabei, um nicht zu verhungern bis zum Abend.
Prüfend betrachtete sie die Kandlerin. Sie atmete mit geschlossenen Augen und entspanntem Gesicht ruhig vor sich hin. Als es erneut gegen die Tür schlug, war Serafina schon auf dem Weg nach unten.
«Immer langsam mit den jungen Pferden», rief sie, während sie den Riegel zurückschob.
Vor ihr stand Grethe, wie erwartet mit einem vollbepackten Henkelkorb neben sich. Ihr rundes Gesicht mit dem Herzchenmund war rosig von der kühlen Morgenluft.
«Was schleifst du da wieder alles mit?»
Das Mädchen strahlte sie an.
«Mein Andachts- und Gebetbuch. Schließlich muss ich der guten Kandlerin ja auch geistige Labung bieten.»
«Ach ja?» Serafina zog das Tuch vom Korb. Zum Vorschein kamen zwei große Kanten Käse, ein halber Laib Brot, ein viertel Ring Hartwurst und ein verschlossenes Krüglein mit Wein. Augenblicklich begann ihr Magen zu knurren.
«Dass mich die Raben fressen! Das reicht ja für eine Großfamilie. Du weißt aber schon, dass die alte Kandlerin vom Niklasbeck versorgt wird?»
«Nun ja, kannst dir gern was nehmen.»
Serafina winkte ab.
«Lass nur, du sollst ja nicht vom Fleisch fallen.» Sie kniff der Freundin in die rundliche Hüfte. «Wer kocht eigentlich für uns, wenn du nicht da bist?»
«Unsere liebe Heiltrud.»
«Ach herrje - das wird eine karge Kost.» Nun klaubte sie sich doch ein Stück Krume aus dem Brotlaib. «Bist du eigentlich allein gekommen?»
Die Regel besagte nämlich, dass die freundlichen Armen Schwestern, wie sie von den Leuten auch genannt wurden, nicht allein durch die Gassen ziehen durften. Wobei dies in ihrem Hause nur für die Jüngeren galt.
«Die Meisterin höchstpersönlich hat mich gebracht.»
«So ist's recht. Auf euch junges Gemüse muss man aufpassen. »
«Du redst ja daher wie meine Mutter.»
«Um Himmels willen - seh ich mit meinen dreißig Jahren etwa schon so alt aus?»
«Unsinn! Du weißt genau, dass du die schönste von uns allen bist.» Grethe grinste breit. «Auch wenn du in dem Alter bist, wo eine Frau die ersten Kinder großziehen sollte. Aber sei froh, dass du keine hast - meine Schwester hat nur Scherereien mit ihren Blagen.»
Bei diesen Worten war Serafina innerlich zusammengezuckt. Doch sie ließ sich nichts anmerken.
«Danke für die Schmeichelei! Aber ein Beginenweib kann gar nicht schön sein.»
«Du schon!»
Ein lautes Stöhnen von oben unterbrach ihre Plauderei.
Grethe zog ihren Korb weg. «Die Nächstenliebe ruft.»
Damit verschwand sie auch schon auf der engen Stiege nach oben.
«Sag noch, Grethe», rief Serafina ihr hinterher, «muss heut Nacht wieder jemand bei der Kandlerin wachen?»
«Nein, ihre Schwester kommt gegen Abend zurück.»
Wenigstens das. Serafina trat hinaus in die Kühle des angebrochenen Tages. Der Himmel war noch rosenrot gefärbt und ohne eine einzige Wolke. Was für ein wunderbarer Morgen! Ihr war, als hätte das Gewitter der letzten Nacht alles reingewaschen.
Begierig sog sie die frische Luft ein, bevor es in den Gassen wieder nach Schweinekot und den Inhalten der ausgeleerten Nachttöpfe stinken würde. Von den Abortgruben der Häuser ganz zu schweigen.
So hundemüde und hungrig sie war, wollte sie doch noch einen Abstecher zu Gisla machen, um sie nach einigen Heilkräutern zu fragen, die nicht im Garten von Sankt Christoffel wuchsen. Die Kräuterfrau gehörte zu jenen Menschen, die schon mit dem ersten Hahnenschrei auf den Beinen und gleich darauf bei der Arbeit waren. Im Falle von Gisla hieß das, auf Kräutersuche an den Uferwiesen der Dreisam oder am Waldrand. Daher erwischte man sie nur zur frühen Morgenstunde. Falls Serafina sich von ihr nicht wieder in ein Fachgespräch über Gartenkunde verwickeln lassen würde, konnte sie es hinterher noch rechtzeitig zur Morgenmesse bei den Barfüßern schaffen.
Sie überquerte den menschenleeren Platz vor dem Kirchhof des Münsters, auf dem tiefe Pfützen standen. Die Lauben der Kleinkrämer an der Friedhofsmauer waren zu dieser Stunde noch mit Brettern verschlossen, und es herrschte eine fast unheimliche Stille. Linkerhand bog sie in ein enges, düsteres Gässchen ein, nicht ohne sich noch einmal umzudrehen und einen Blick hinauf zum Münsterturm zu werfen, der, ein Wunder an Baumeisterkunst, kraftvoll und feingliedrig zugleich in schwindelerregende Höhe ragte. Das prächtige Gotteshaus war zu Recht der ganze Stolz der Freiburger, diente Unser Lieben Frauen Münster ihnen doch ganz bescheiden als Pfarrkirche. Gewiss wäre es noch um einiges herrlicher zu nennen, erhabener noch als die Konstanzer Bischofskirche, wäre da nicht die hässliche Bauruine auf der anderen Seite gewesen. Der Chor nämlich war umgeben von halbfertigen, hohen Mauern mit Säulen, die sich im Halbrund wie ein lückenhaftes Riesengebiss um die Ostseite der Kirche zogen. Halbwilde Hunde und Katzen trieben sich da herum, nährten sich von dem stinkenden Unrat, den die Leute immer wieder heimlich hier abluden. Eigentlich hätte hier ein neuer Hochchor, mit Chorumgang und Kapellenkranz, entstehen sollen, vor etlichen Jahrzehnten schon. Doch die Große Pest und der Freikauf von den ungeliebten Grafen von Freiburg hatten die Stadt und ihre Bürger einst wirtschaftlich an den Rand des Abgrunds getrieben und belasteten sie bis heute.
Serafina beschleunigte ihren Schritt, sodass der Schlamm unter ihren Schuhen nur so spritzte. Die Kräuterfrau Gisla wohnte in der Schneckenvorstadt, gleich hinter dem Spitalbad. Inzwischen vermochte Serafina in dieser Stadt an ihr Ziel zu gelangen, ohne stundenlang in die Irre zu gehen. Führten doch längst nicht alle Gassen gradlinig auf die beiden Hauptstraßen zu, die Freiburg wie ein Kreuz durchschnitten.
Allmählich erwachte die Stadt. Die Handwerker öffneten ihre Läden, Taglöhner und Knechte machten sich auf den Weg zur Arbeit, die ersten Ziegen und Rinder wurden zwischen kläffenden Kötern hindurch auf die Viehweide vor der Stadt getrieben. Kurz vor dem Untertor ließ ein schriller Pfiff Serafina zusammenfahren. Es war Barnabas, der Bettelzwerg, der sich auf diese Weise bemerkbar zu machen pflegte.
«Du meine Güte - hast du mich verschreckt.»
Der kleine Kerl mit den stämmigen krummen Beinchen und dem riesigen Kopf, wie immer in ein buntscheckiges Meer von Flicken gekleidet und mit einer viel zu kleinen Filzkappe auf dem struppigen Haar, zupfte heftig an ihrer aschgrauen Tracht. Für gewöhnlich begrüßte er sie mit einer tiefen Verbeugung und sprach sie mit «schöne Frau Serafina» an, was sie innerlich jedes Mal zum Schmunzeln brachte. Heute jedoch zitterte er am ganzen Leib.
«Was hast du denn? Du bist ja völlig außer dir!»
Ohne ein Wort herauszubringen, wies Barnabas in Richtung Abtsgasse. Sie schüttelte den Kopf.
«Nein, Barnabas, ich hab es eilig. Zeig mir, was du mir zeigen willst, ein andermal.»
«Ddder To-Tod! - Im Holz! - So grrroße Au-augen!»
Wie immer, wenn Barnabas aufgeregt war, brachte er entweder gar nichts heraus oder stotterte zusammenhangloses Zeugs. Jetzt erst fiel Serafina auf, dass alles, was so früh schon unterwegs war, in Richtung dieser Gasse strömte.
Unwillig ließ sie sich von ihm mitziehen. Sie mochte Barnabas, der ihr in der kurzen Zeit hier in Freiburg ans Herz gewachsen war, und sein absonderliches Wesen machte ihr auch keine Angst, erinnerte er sie doch an den Dorfnarren aus ihrer Kinderzeit. Doch manchmal konnte er einem schon gehörig zur Last fallen.
Die Menschen vor ihnen bogen allesamt hinter dem Haus Zum Grünen Wald in das brachliegende Grundstück ein, von dem es hieß, dass es dort des Nachts spuke. Jetzt allerdings drangen von dem mit Bäumen und Sträuchern überwucherten Ort keine Geisterrufe herüber, sondern gedämpftes Schreckensgemurmel. Als die Menge ihrer Schwesterntracht gewahr wurde, gab man ihr den Weg frei bis vor das Tor einer schmalen Scheune, die verlassen und verfallen an der Stadtmauer lehnte.
Serafina hatte schon so einiges gesehen in ihrem Leben, doch der Anblick, der sich ihr dort bot, fuhr ihr tief ins Herz. Am Querbalken des offenen Tores war ein grober Strick befestigt, und daran baumelte, nur einen Schuh hoch über der Erde, der Leichnam eines sehr gut gekleideten jungen Burschen von höchstens fünfzehn Jahren. Die Zunge hing ihm blaurot geschwollen aus dem Mund, die Augen hatte er weit aufgerissen, die Finger zu Fäusten gekrampft. Das Merkwürdigste aber: Auf seine hohe, helle Stirn war ein Aschenkreuz geschrieben, als Zeichen der Schuld. Ganz offensichtlich hatte sich der Junge selbst aufgeknüpft.
Keiner der umstehenden Gaffer wagte es, sich auf mehr als Armeslänge dem Toten zu nähern. Serafina schlug das Kreuzzeichen und sprach ein stilles Gebet, während sie voller Mitgefühl die sterbliche Hülle des Jungen betrachtete. Zu Lebzeiten musste er ausnehmend hübsch gewesen sein, mit seinen feinen, fast mädchenhaften Gesichtszügen. Sie wandte sich um.
«Warum holt ihn keiner dort runter?»
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Autoren-Porträt von Astrid Fritz
Astrid Fritz studierte Germanistik und Romanistik in München, Avignon und Freiburg. Als Fachredakteurin arbeitete sie anschließend in Darmstadt und Freiburg und verbrachte mit ihrer Familie drei Jahre in Santiago de Chile. Zu ihren großen Erfolgen zählen «Die Hexe von Freiburg», «Die Tochter der Hexe» und «Turm aus Licht». Astrid Fritz lebt in der Nähe von Stuttgart.
Bibliographische Angaben
- Autor: Astrid Fritz
- 2013, 7. Auflage, 288 Seiten, Maße: 12,4 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Rowohlt TB.
- ISBN-10: 3499266490
- ISBN-13: 9783499266492
- Erscheinungsdatum: 18.06.2013
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