Das düstere Dorf
"So schön der Film von Brad Silberling ist - die Bücher bleiben eine Klasse für sich." Neue Presse
"Die Snicket-Romane sind spannende Krimis. Vor allem aber sind sie eine anspruchsvolle Lektüre, verfasst von einem Autor, der Ironie und tiefere Bedeutung liebt. Obacht, alle Erziehungsberechtigten: Diese Bücher werden den Sprachwitz aller Kinder dramatisch erweitern, allerdings auch das Repertoire an raffinierten Spitzfindigkeiten und altklugen Bonmots!" Stuttgarter Zeitung
"Drei Kinder kämpfen in herrlich verrückten Geschichten gegen böses Zeugs. Lesen und Freude haben!" Bild am Sonntag
Das düstere Dorf von Lemony Snicket
LESEPROBE
Egal, wer du bist, egal, wo du dich aufhältst, egal, wie vieleLeute hinter dir her sind - was du nicht liest, ist oft genauso wichtig wiedas, was du liest. Wenn du zum Beispiel eine Bergwanderung machst und dasSchild »Vorsicht Abgrund« nicht liest, weil du gerade in ein Buch mit Witzenvertieft bist, dann kann es passieren, dass du plötzlich über Luft läufst stattüber einen soliden Felsengrund. Oder wenn du einen Kuchen für deine Freundebäckst und dabei einen Artikel mit der Überschrift »Wie ich einen Stuhl baue«liest, dann wird dein Kuchen am Ende wahrscheinlich nach Holz und Nägelnschmecken und nicht nach Kuchenboden und Obstfüllung. Und wenn du daraufbestehst, dieses Buch zu lesen und nicht etwas Heitereres, dann wirst du ganzsicher vor Verzweiflung jammern statt vor Entzücken strahlen. Wenn dir alsonoch ein Restchen Vernunft geblieben ist, dann wirst du dieses Buch jetzt ausder Hand legen und dir stattdessen ein anderes vornehmen.
Ich kenne beispielsweise ein Buch, das hat den Titel Das winzigsteElflein". Darin wird die Geschichte von einem klitzekleinen Männchen erzählt,das im Märchenland herumläuft und allerlei entzückende Abenteuer erlebt. Und duwirst sofort einsehen, dass du lieber Das winzigste Elflein lesen und wegen derherrlichen Abenteuer dieses Phantasiegeschöpfes an einem erfundenen Ortstrahlen solltest, statt dieses Buch hier zu lesen und über die fürchterlichenDinge zu jammern, die den Baudelaire-Waisen in dem Dorf zugestoßen sind, in demich gerade diese Worte tippe. Das Elend, der Kummer und die Gemeinheit, die dieSeiten dieses Buches enthalten, sind so schrecklich, dass es ganz wichtig ist,dass du nicht noch mehr darüber liest, als du jetzt schon gelesen hast.
Mit Sicherheit wünschten die Baudelaire-Waisen zu dem Zeitpunkt,an dem diese Geschichte einsetzt, sie würden nicht die Zeitung lesen, die sievor Augen hielten. Wie du bestimmt weißt, ist eine Zeitung eineZusammenstellung angeblich wahrer Geschichten, niedergeschrieben von Autoren,die entweder selbst erlebt haben, wie sie passiert sind, oder mit Leutengesprochen haben, die das erlebt haben. Diese Autoren nennt man Journalisten,und wie Telefonisten, Metzger, Ballerinas und Leute, die Pferdeäpfel wegräumen,können auch Journalisten manchmal Fehler machen. Das war mit Sicherheit derFall bei der Titelseite der Frühausgabe des Tagespedanten, die dieBaudelaire-Kinder im Büro von Mr. Poe lasen. ZWILLINGE VON GRAF OMAR ENTFÜHRTlautete die Überschrift, und die drei Geschwister blickten sich erstaunt anwegen der Fehler, die die Journalisten des Tagespedanten da gemacht hatten.
»Duncan und Isidora Quagmeir«, las Violet laut vor, »Zwillinge unddie einzigen bekannten Überlebenden der Quagmeir-Familie, sind von demberüchtigten Graf Omar entfuhrt worden. Omar wird von der Polizei für eineVielzahl schrecklicher Verbrechen gesucht und ist leicht zu erkennen an seinereinzigen langen Augenbraue und der Tätowierung eines Auges auf dem linkenKnöchel. Omar hat aus unbekannten Gründen auch Esmé Elend entfuhrt,sechstwichtigste Finanzberaterin der Stadt. Uch!«
Das Wort »Uch!« stand natürlich nicht in der Zeitung, sondern wareine eigene Äußerung von Violet, die damit ausdrücken wollte, dass sie zuangewidert war, um weiterzulesen. »Wenn ich bei einer Erfindung so schlampigwäre wie diese Zeitung in ihrer Geschichte«, sagte sie, »würde sie sofortauseinander fallen.« Violet war mit vierzehn das älteste Baudelaire-Kind undeine hervorragende Erfinderin. Sie verbrachte einen großen Teil ihrer Zeitdamit, über mechanische Apparaturen nachzudenken. Dafür band sie ihr Haar hoch,so dass es ihr nicht in die Augen fiel.
»Und wenn ich so schlampig meine Bücher lesen würde«, sagte Klaus,»würde ich nicht eine einzige Seite im Kopf behalten.« Klaus war der mittlereBaudelaire und hatte mehr Bücher gelesen als sonst irgendjemand in seinemAlter, das fast dreizehn Jahre betrug. In manchen entscheidenden Augenblickenhatten sich seine Schwestern darauf verlassen können, dass er sich an einehilfreiche Seite aus einem Buch erinnerte, das er Jahre zuvor gelesen hatte.
»Kretschin!«, sagte Sunny. Sie war die jüngste Baudelaire, einKleinkind und kaum größer als eine Wassermelone. So wie viele Kleinkinder sagteauch Sunny oft Wörter, die schwer zu verstehen waren, wie zum Beispiel»Kretschin!«, was ungefähr bedeutete: »Und wenn ich meine vier großen Zähnebeim Zubeißen so schlampig benutzen würde, bliebe nicht einmal ein Zahnabdruckzurück!«
Violet hielt die Zeitung dichter an eine der Leselampen, die Mr.Poe in seinem Büro hatte, und machte sich daran, die Fehler zu zählen, die inden wenigen Sätzen vorkamen, die sie gelesen hatte. »Erstens«, sagte sie, »sinddie Quagmeirs keine Zwillinge. Sie sind Drillinge. Dass ihr Bruder in dem Feuerumgekommen ist, das auch ihre Eltern getötet hat, ändert nichts an ihrem Statusbei der Geburt.«
»Natürlich nicht«, stimmte Klaus zu. »Und sie sind von Graf Olaf,nicht Omar entfuhrt worden. Es ist schon schwierig genug, dass Olaf immer inVerkleidung erscheint, aber jetzt hat die Zeitung auch noch seinen Namen verkleidet.«
»Esmé!«, fügte Sunny hinzu und ihre Geschwister nicktenzustimmend. Die jüngste Baudelaire meinte den Teil des Artikels, der Esmé Elenderwähnte. Esmé und ihr Mann Jerome waren kürzlich die Vormünder der Baudelairesgewesen, und die Kinder hatten mit eigenen Augen gesehen, dass Esmé nicht vonOlaf entführt worden war. Vielmehr hatte Esmé heimlich Graf Olaf bei seinenhinterhältigen Plänen unterstützt und war mit ihm in letzter Minute entkommen.(...)
© Manhattan Verlag
Übersetzung: Klaus Weimann
- Autor: Lemony Snicket
- Altersempfehlung: 10 - 12 Jahre
- 2005, 1, 231 Seiten, mit Abbildungen, Maße: 13 x 19 cm, Deutsch
- Übersetzung: Weimann, Klaus
- Übersetzer: Klaus Weimann
- Verlag: MANHATTAN
- ISBN-10: 3442545900
- ISBN-13: 9783442545902
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