Das Efeuhaus
Ein verwunschenes Jagdschloss. Ein unerfüllter Lebenstraum. Ein dunkles Familiengeheimnis. Fans von Kate Morton werden diesen Roman lieben!
Die junge Schauspielerin Helena gerät auf dem Weg in die Berge in...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Das Efeuhaus “
Ein verwunschenes Jagdschloss. Ein unerfüllter Lebenstraum. Ein dunkles Familiengeheimnis. Fans von Kate Morton werden diesen Roman lieben!
Die junge Schauspielerin Helena gerät auf dem Weg in die Berge in einen Schneesturm und kommt von der Straße ab. In einem seit Jahren leerstehenden Jagdschloss - einem verwunschenen Gebäude, das von einstiger Pracht kündet - findet sie Unterschlupf, doch wird sie nachts von seltsamen Träumen heimgesucht. Als sie das Tagebuch der Baronin Marietta von Ahrensberg findet, die 1922 unter mysteriösen Umständen ums Leben kam, versucht sie, mehr über das Schicksal der jungen Frau herauszufinden. Und kommt einem schrecklichen Geheimnis auf die Spur.
Klappentext zu „Das Efeuhaus “
Nachdem sie von ihrem Verlobten kurz vor der Hochzeit betrogen wurde und sie auch beruflich jede Menge Niederlagen einstecken musste, sucht die junge Schauspielerin Helena Ablenkung bei einem gemeinsamen Skiwochenende mit Freunden. Doch auf dem Weg in die Berge gerät sie in einen Schneesturm und kommt von der Straße ab. Unterschlupf findet sie in einem nahen Jagdschloss, Besitz der einst einflussreichen österreichischen Adelsfamilie von Schwarzenstein, das seit Jahren leer steht – ein verwunschen anmutendes Gebäude, das von einstiger Pracht ebenso kündet wie von jahrzehntelanger Vernachlässigung. Schon in der ersten Nacht, die sie dort verbringt, wird Helena von seltsamen Träumen heimgesucht, in denen immer wieder Marietta von Schwarzenstein auftaucht – die 1922 in jungen Jahren und unter mysteriösen Umständen verstorbene Baronin. Als Helena Mariettas altes Tagebuch findet, versucht sie, mehr über das Schicksal der jungen Frau herauszufinden. Gemeinsam mit Melchior Schwarzenberg, einem Nachfahren der berühmten Familie, begibt sie sich auf Spurensuche und enthüllt das bewegende Schicksal zweier Schwestern zwischen Pflicht und Selbstverwirklichung, eine unvollendete Liebesgeschichte und ein dunkles Familiengeheimnis.
Lese-Probe zu „Das Efeuhaus “
Das Efeuhaus von Sophia CronbergProlog
1922
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Das Laub raschelte unter ihren Füßen. Dort, wo sich die Strahlen der Oktobersonne durchs dichte Blätterdach zwängten, glich der Waldboden einem bronzenen Meer. Doch seine Schönheit war trügerisch, denn im Schatten der Eichen und Buchen war das Laub bleich, das Moos schwarz und die Sträucher kahl.
Die Blätter zerfielen, wenn sie darauf trat, die Fichtennadeln bohrten sich in die dünnen Sohlen ihrer Lederschuhe. Sie achtete nicht darauf, sondern lief weiter, lief so schnell, wie sie noch nie gelaufen war. Mit jedem Schritt wuchs die Erschöpfung - und die Verzweiflung. Sie ahnte, dass sie nicht rechtzeitig würde fliehen können, und fühlte sich ohnmächtig wie in einem jener Träume, die sie manchmal heimsuchten. Träume, in denen sie hilflos im dunklen Meer versank, obwohl sie doch schwimmen konnte, von einem Berggipfel in die Tiefe stürzte, obwohl eine rettende Hand sich nach ihr ausstreckte, oder sie einem fahrenden Zug nachlief und ihn verpasste, obwohl er nicht an Tempo zulegte.
Sie rannte, bis ihre Brust schmerzte und ein Steinchen im Schuh die Ferse wundgescheuert hatte, aber sie entkam dem Grauen nicht. Vögel stoben aus dem Buschwerk, als jäh ein Schuss ertönte und die Stille des Waldes zerriss.
Sie erstarrte, blieb keuchend stehen, sank schließlich kraftlos auf ihre Knie. Der Laut hallte wieder und wieder in ihr nach; sie konnte ihn mit jeder Faser ihres Körpers spüren, gleich so, als wäre sie selbst getroffen worden.
Doch zu ihrem Erstaunen blutete sie nicht. Nur Schweiß perlte von der Stirn und lief ihr in die Augen, heiß und salzig - ein Beweis, dass sie noch lebte, obwohl sie den Schuss gehört hatte und obwohl sie wusste, auf wen die Pistole gerichtet gewesen war. Ja, ihr Herz schlug noch und ihr Atem ging keuchend - nur ihre Seele war tot wie das Herbstlaub, das der scharfe Wind der letzten Tage von den Bäumen gerissen hatte. Irgendwann nach dem langen, schweigsamen Winter würde der Frühling den Wald wieder zum Leben erwecken und frische Triebe sprießen lassen, aber die Blätter, die nun den Boden bedeckten, würden niemals wieder grün werden. Die Spinnweben, die morgens unter einer Schicht Raureif funkelten - letztes Zeugnis vom Altweibersommer -, würden für immer zerrissen sein. Die saftigen roten und schwarzen Beeren, die an den Sträuchern hingen, würden verfaulen und niemals einen Gaumen erfreuen. Und sie - sie würde niemals wieder lachen, unbeschwert, frei und von Herzen.
Sie stand auf und lief weiter, langsamer nun, gebeugter und nur eine kurze Strecke. Dann erreichte sie einen kleinen Bach, dessen Plätschern in ihren Ohren wie Hohn klang. Im heißen Sommer hatte sie manchmal das klare Wasser getrunken und war mit den Füßen hineingestiegen, um sich abzukühlen. Das tat sie auch jetzt, nachdem sie ihre dünnen Lederschuhe abgestreift hatte, doch das Wasser erfrischte sie nicht, sondern schnitt eiskalt in ihre Glieder.
Sie störte sich nicht daran. Die tobenden Schmerzen waren ein willkommenes Zeichen, dass sie die Kälte noch fühlen konnte. Anstatt sich ans andere Ufer zu retten, trat sie von einem Fuß auf den anderen im Bach herum und wühlte den Schlamm auf. Aus dem strahlenden Türkis, das an Sonnentagen silbrige Wellen krönten, wurde eine schmutzige Brühe.
»Was machst du denn hier?«
Sie zuckte zusammen, als die Stimme sie traf, und wagte kaum, den Blick zu heben. Sie sah nur die Spitze eines Wanderstocks, die sich in die feuchte Erde gegraben hatte, und klobige Stiefel, die von Morast und einigen Blutspritzern befleckt waren. Offenbar kam er von der Jagd.
»Dir muss doch schrecklich kalt sein ...«
Sie wühlte weiter im Schlamm. Das Wasser war mittlerweile so trüb, dass sie ihre krebsroten Füße nicht mehr sehen konnte. Die Schmerzen wichen einem Gefühl von Taubheit. Oh, wenn diese nicht nur ihren Körper, sondern auch den Geist erfassen würde! Wenn sie sämtliche Gedanken lähmen könnte, auf dass in ihrem Kopf nur eine große, gnädige Leere klaffte!
Als sie nicht reagierte, rief er sie beim Namen. Er klang fremd in ihren Ohren.
»Ich brauchte ein wenig frische Luft«, stammelte sie hilflos.
Wie anders sollte sie ihm erklären, was sie hier machte? Wie ihm ins Gesicht schauen, nach allem, was geschehen war? Wie sein Urteil ertragen, wenn er erfuhr, was sie getan hatte?
»Hast du auch diesen Schuss gehört?«, fragte er. »Er schien vom Haus zu kommen.«
Nun konnte sie nicht anders, als ihren Blick zu heben und seinem standzuhalten.
Seine Miene war verwirrt, aber noch nicht erschüttert, besorgt, aber noch arglos. Sie hingegen hatte ihre Unschuld unwiederbringlich verloren. Und wann immer sie künftig Laub rascheln und Bäche plätschern hören, Waldgeruch einatmen und von der Herbstsonne gestreichelt werden würde, müsste sie daran denken.
1
Als sie mit den Schneeketten kämpfte, musste Helena unwillkürlich an Martin denken. Seit Wochen hatte sie seinen Namen nicht mehr ausgesprochen und jedem in ihrer Umgebung verboten, es zu tun. Aber nun stellte sie sich vor, wie er sich in dieser Lage verhalten hätte.
Wahrscheinlich wäre er im Auto sitzen geblieben und hätte sich eine gefühlte halbe Stunde lang in die Bedienungsanleitung vertieft, bis ihr der Geduldsfaden gerissen und sie zur Tat geschritten wäre. Nachdem er eine Weile zugesehen hätte, wie sie sich vergebens abrackerte, wäre er mit jenem gönnerhaften Lächeln, mit dem er unverschämt gut aussah, das sie aber damals immer zur Weißglut brachte, endlich aus dem Auto gestiegen und hätte ganz lässig das Problem behoben.
»Wozu, glaubst du, gibt es Bedienungsanleitungen?«, hätte er gefragt.
»Die versteht doch kein Mensch!«
»Na, wie gut, dass du mich hast, Schatz«, hätte er gemurmelt, sie an sich gezogen und über ihren Kopf gestreichelt. Ehe sie schnippisch antworten und seine Hand hätte wegstoßen können, hätte er versöhnlicher hinzugefügt: »Aber macht doch nichts! Du bist nunmal die Künstlerin - für die praktischen Dinge hast du ja mich. Wo hättest du Stadtpflanze auch lernen sollen, wie man Schneeketten anlegt?«
Das hatte sie in der Tat noch nie gemacht, und während Helena diese Dinger in Händen hielt - auf einer einsamen Forststraße irgendwo in den tiefverschneiten Bergen -, packte sie wieder eine unglaubliche Wut auf Martin, obwohl er zumindest dafür nun wirklich nichts konnte. Der Schnee schmolz auf ihrem Kopf und sickerte durch alle Öffnungen ihres zwar schicken, aber viel zu dünnen Wintermantels.
»Verdammt! Verdammt! Verdammt!«
Sie fluchte erst auf Martin, dann auf Luisa, schließlich auf sich selbst, weil sie sich keine Landkarte gekauft, sondern sich auf die Straßenschilder und Luisas Wegbeschreibung verlassen hatte. Luisa war ihre beste Freundin, die sie zum Skiwochenende in den österreichischen Bergen eingeladen hatte.
»Du musst unbedingt mal rauskommen«, hatte sie erklärt, »und von München aus sind es nur zwei Stunden.«
Helena war mittlerweile vier unterwegs und steckte irgendwo in der Einöde fest. Ein Schild hatte sie auf die Forststraße gelockt, die mitten durch einen dichten Wald führte. Eine halbe Stunde lang war sie an keinem Haus mehr vorbeigekommen -- und schließlich war die Straße immer schmaler und steiler geworden. Die erste Wegstrecke hatte man heute Morgen noch geräumt, aber mittlerweile stand der Schnee so hoch, dass ihre Reifen mehrmals quietschend durchgedreht hatten, und die Angst, im Straßengraben zu landen, hatte ihre Bedenken besiegt, die neu gekauften Schneeketten anzulegen.
Helena las die Bedienungsanleitung nun schon zum x-ten Mal und hatte immer noch keine Ahnung, wie sie am besten vorgehen sollte. Die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen, das Licht wurde immer diffuser. Zuerst hatten die grauen Wolken nur schmale Schneisen am mattblauen Himmel gezogen, nun verschmolz der farblose Himmel mit den schmutzig anmutenden Schneemassen. Sie warf die Bedienungsanleitung genervt auf den Rücksitz und entschied, sich auf ihren gesunden Menschenverstand zu verlassen. So schwer konnte das alles nicht sein - Schritt eins: Ketten
entwirren, Schritt zwei: Sie vor die Reifen legen, Schritt drei: darauf fahren, Schritt vier: Ketten schließen. Davon, dass sie sich den Finger einklemmte, sobald sie die Ketten hochhob, wollte sie sich nicht entmutigen lassen. Sie unterdrückte einen weiteren Fluch und dachte wieder an Martin. Die Erinnerung daran, wie er stets spöttisch die Augenbrauen hochzog, sobald sie wieder einmal den Kampf gegen die Technik verlor, gab ihr Kraft.
Nein, sie würde ihm nicht den Gefallen tun zu scheitern. Sie würde die Schneeketten anlegen und den Weg zur Hütte zurücklegen, wo sie jenes kuschelige Kaminfeuer erwartete, von dem Luisa so geschwärmt hatte. Sie würde die Bekanntschaft neuer, interessanter Leute machen, die nichts von ihren Rückschlägen an allen Fronten wussten, würde lachen, »Die Siedler von Catan« spielen, Glühwein trinken und gestärkt und voller Pläne wieder nach Hause zurückkehren.
Soweit der Plan.
Sie hoffte so lange, ihn doch noch umsetzen zu können, bis sie die Ketten vor die Reifen gelegt hatte und wieder ins Auto gestiegen war. Sobald sie Gas gab, drehten die Reifen erneut durch. Sie stieg erst aufstöhnend auf die Bremse, dann wieder auf das Gaspedal. Prompt machte das Auto einen Ruck, und sie spürte, wie es über einen Widerstand rollte -- wahrscheinlich die Schneeketten. Zu weit, sie war viel zu weit gefahren!
Hektisch stieg sie auf die Bremse, doch anstatt stehenzubleiben, rollte das Auto noch ein Stückchen weiter nach hinten. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass die Straße unter der Schneedecke völlig vereist war. Schweiß brach ihr aus, ein lauter Schrei entfuhr ihren Lippen. Sie klammerte sich ans Lenkrad, kurbelte heftig nach links, um zu verhindern, dass das Auto von der Straße abkam, aber sie hatte keine Chance. Schon geriet es in eine gefährliche Schieflage, und voller Entsetzen stellte Helena fest, dass sie vergessen hatte, den Gurt anzulegen. Sie umklammerte das Lenkrad noch fester, schloss die Augen und spürte, wie das Auto mit einem lauten Quietschen langsam zur Seite kippte. Dann senkte sich eine schreckliche Stille über sie.
Jeder weitere Fluch blieb Helena in der Kehle stecken. Ihr Ärger war längst der nackten Angst gewichen. Eine Weile wagte sie nicht, das Lenkrad loszulassen und auszusteigen - womöglich würde das Auto zu schwanken beginnen, wenn sie ihr Gewicht verlagerte. Doch schließlich blieb ihr gar nichts anderes übrig, als aus dem Fahrzeug zu klettern und das ganze Ausmaß ihres Unglücks in Augenschein zu nehmen.
»Na großartig!«
Sie war mit dem rechten Vorder- und Hinterreifen von der Forststraße abgekommen, und ohne fremde Hilfe würde es ihr nie gelingen, das Auto wieder auf die Fahrbahn zu befördern. Das Licht schien noch fahler durch die Baumkronen, Schneefall setzte ein. Helenas Hände waren steif gefroren, und als sie nach ihrem Handy kramte, wäre es ihr fast entglitten. Wie befürchtet hatte sie keinen Empfang.
»Der Teilnehmer ist zur Zeit nicht erreichbar«, erklärte eine fremde Frauenstimme, nachdem sie Luisas Nummer gewählt hatte.
Helena hätte am liebsten geheult.
Ihre Füße wurden nass, als sie verzweifelt ums Auto stapfte. Sie trug nur ihre dünnen Raulederstiefel, die bestenfalls für den Besuch des Münchner Weihnachtsmarktes taugten, aber für einen Spaziergang im Tiefschnee völlig ungeeignet waren.
Das hatte sie Luisa vor der Abfahrt auch entgegengehalten: »Ich habe überhaupt keine vernünftige Ausrüstung für die Berge!«
»Ach was«, hatte Luisa den Einwand entkräftet. »Du kannst dir alles von mir borgen -- inklusive Snowboard.«
Wenigstens einen Schal hatte sie dabei. Helena holte ihn aus dem Kofferraum und wickelte sich in ihn ein, fror aber immer noch erbärmlich. Suchend blickte sie sich um. Rechts bildeten Tannenbäume ein undurchdringliches Dickicht, links säumten hohe Laubbäume, von deren kahlen Ästen Schnee rieselte, den Weg. Weit und breit waren keine menschlichen Spuren zu sehen - nur winzige, runde Abdrücke von Rehen. Nicht einmal ein Futterstand für die Tiere, der vom hiesigen Förster immer mal wieder nachgefüllt werden musste, ließ sich in der Ferne erahnen. Wurzeln ragten dunkel aus dem Schnee, ansonsten lag der Boden unter der dicken, weißen Decke begraben.
Die Wahrscheinlichkeit, dass heute noch jemand auf dieser Straße vorbeikommen würde, war denkbar gering. Was wiederum bedeutete, dass sie entweder im Auto übernachten oder dieses hier zurücklassen und die nächstgelegene Siedlung suchen musste. Sie sollte sich besser bald entscheiden, denn sie hatte keine Taschenlampe dabei und konnte bereits jetzt kaum noch etwas sehen. Ratlos rieb sich Helena ihre eiskalten Hände. Wenn sie wenigstens eine warme Decke eingepackt hätte! Doch Luisa hatte ihr versichert, dass es davon genügend auf der Hütte gäbe - ebenso wie Handtücher und Bettwäsche. Deswegen hatte sie nur ihre Toilettensachen, frische Unterwäsche, einen Pulli, Socken und ein zweites Paar Jeans in ihren kleinen Koffer gepackt. Sie kramte den Pulli hervor, zog ihn über ihre Bluse, dann schlüpfte sie wieder in ihren Mantel. Sie verzichtete aber auf das zusätzliche Paar Socken -- die Stiefel würden sonst zu eng werden. Mit einem lauten Knall schloss sie den Kofferraum, blickte sich ein letztes Mal zweifelnd um und ging dann los. Wenn sie die Anhöhe erreicht hatte, die die Forststraße hochführte, hatte sie von dort aus vielleicht freien Blick ins Umland.
Die Strecke war nicht weit, höchstens einen halben Kilometer, aber der Schnee lag so hoch, dass sie immer wieder darin versank. Früher war sie auf ihren durchtrainierten Körper stolz gewesen, aber in den letzten Monaten hatte sie sich am Abend lieber auf dem Sofa verkrochen und ihre Wunden geleckt, anstatt sich im Fitnessstudio oder beim Joggen abzurackern. Jetzt büßte sie dafür: Bald spürte sie ein schmerzhaftes Ziehen in Oberschenkeln und Waden, und ihre Stirn wurde feucht - von geschmolzenen Schneeflocken, aber auch von Schweiß. Nicht nur ihre Erschöpfung wuchs, auch ihr Überdruss.
Klar, dachte sie, dass ausgerechnet mir das passieren muss.
Wie konnte sie nur erwarten, dass dieses mehr als bescheidene Jahr einen glücklichen Ausklang finden würde? Am besten, sie hätte sich bis Silvester in ihrem Zimmer vergraben.
Letztes Jahr vor Weihnachten war ihre Welt noch in Ordnung gewesen. Sie war mit Martin glücklich, die Ausbildung an der Abraxas Musical Akademie näherte sich dem Ende. Gleich nach der Abschlussprüfung im Frühling war die Hochzeit geplant, und nach einer traumhaften Hochzeitsreise würden unzählige interessante Engagements folgen.
An das Fiasko mit Martin, das sämtliche Ehepläne zunichte gemacht hatte, wollte sie jetzt gar nicht erst denken, und anstelle toller Engagements hatte sie sich von Casting zu Casting gequält, immer ernüchterter und gedemütigter. Schließlich hatte sie doch eine Rolle ergattert -- nicht etwa für ein Musical, ja, nicht einmal für die Bühne. Einen knappen Monat lang stand sie stattdessen für eine Nachmittags-Telenovela vor der Kamera -- in einer blassen Nebenrolle, deren Text sich darauf beschränkte, den Bösewicht der Serie bewundernd anzuschmachten. Der hielt wenig davon, was jeder Zuschauer mit Verstand schon bei der ersten Begegnung durchschaute, ihr doofes Rollen-Ich aber leider so gar nicht. Am Ende wurde sie von dessen Ex vergiftet, so dass sich Helenas letzter Auftritt in Folge 185 darauf beschränkte, als Leiche geschminkt auf dem Seziertisch zu liegen.
Auch wenn dieser Abgang den Vorteil bot, dass sie keinen schwachsinnigen Text mehr hatte lernen müssen - in dem Augenblick, als sie sich auf dem kalten Stahl ausschließlich darauf konzentrierte, den Atem möglichst flach zu halten, hatte sie gedacht, dass es nicht noch weiter bergab gehen konnte. Erst jetzt, da sie die einsame Forststraße entlangstapfte, wusste sie, dass der absolute Tiefpunkt damals noch nicht erreicht gewesen war. Dort war sie erst jetzt angelangt - diesmal in der Rolle »Stadtpflanze verirrt sich in den Bergen«.
Inmitten der Stille erschienen ihr die wenigen Geräusche um sie herum noch unheimlicher. Das Knacken der Äste, die unter der frostigen Last nachgaben, klang wie ein Seufzen, der kalte Wind, der den Schnee verwehte, wie ein Stöhnen. Ihre Schritte knarzten, ihr keuchender Atem und ihr laut pochendes Herz verstärkten das Gefühl vollkommener Verlassenheit.
Endlich hatte sie den höchsten Punkt der Straße erreicht. Zumindest ihre größte Angst, dass sich dahinter nur weiterer Wald erstrecken würde, erfüllte sich nicht. Der Blick auf den Himmel wurde nicht länger von Baumkronen verstellt, und sein Grau schien trotz anhaltenden Schneefalls etwas heller. Deutlich sichtbar schlängelte sich die Forststraße ins Tal und führte von dort wieder einen Berg hinauf. An ihrer breitesten Stelle zweigte eine Nebenstraße ab, die vor einem Gebäude endete.
Inmitten der Berge wirkte es wie ein Trugbild. Mit den zwei Erkern rechts und links - von grünlich schimmernden Holzschindeln bedeckt und spitz zulaufend wie ein Kirchturm -- glich es mehr einem Miniaturschloss als einem normalen Wohnhaus. Nichts deutete darauf hin, dass Menschen dort lebten: Das große, wuchtige Tor war geschlossen, hinter den vielen Fenstern brannte kein Licht, und aus dem Kamin stieg kein Rauch. Doch wenn sie für die Nacht inmitten dieser Einöde ein Dach über den Kopf finden wollte, dann bot sich dort ihre einzige Chance.
Der Weg zum Schlösschen hatte vom Hügel aus nicht weit gewirkt, doch bis Helena endlich das Gebäude erreichte, war eine halbe Stunde vergangen. Der Schneefall hatte etwas nachgelassen, und zwischen der Wolkendecke ließen sich die letzten Strahlen der Abendsonne erahnen, eher von einem dunklen Violett als einem warmen Rostrot. Der Schweiß auf ihrer Stirn erkaltete, und Helenas Magen begann zu knurren. Im Handschuhfach ihres Autos hatte sie noch einen angebrochenen Riegel Snickers und - wenn sie sich recht erinnerte - eine Dose Cola aufbewahrt, und sie ärgerte sich, nichts davon mitgenommen zu haben. Doch sie bezähmte ihren Hunger - dank der vielen Diäten, die sie in ihrem Leben schon gemacht hatte, war sie immerhin an das flaue Gefühl im Magen gewohnt. Auch als sie während der Musicalausbildung mit ihren Kolleginnen stets heimlich um die Wette fastete, hatte sie dies nicht von körperlichen Höchstleistungen abgebracht.
Aus der Nähe betrachtet wirkte das Gebäude noch viel erhabener, und der Weg, der darauf zuführte, war stärker verschneit als die Forststraße. Nichts deutete darauf hin, dass hier kürzlich jemand entlanggegangen oder gefahren war.
»Hallo?«, rief Helena mehrmals in die Stille hinein.
Keine Antwort.
Langsam ging sie auf das Haus zu. Zugleich vermeinte sie eine unsichtbare Grenze, die in eine andere Welt führte, zu überschreiten. Die Zeit schien hier stehengeblieben zu sein, die Stille, die sich ebenso erstickend über alles legte wie der Schnee, war fast körperlich zu spüren. Kein Rascheln von Tieren war mehr zu hören, kein Ächzen von Wind und Bäumen. Erst auf den zweiten Blick erkannte Helena, dass hier niemand den Lauf der Welt angehalten und der Zahn der Zeit durchaus an diesem Gebäude genagt hatte. Selbst der viele Schnee konnte nicht verbergen, dass es nicht nur wunderschön war, sondern schrecklich verwahrlost: Tiefe Risse zogen sich durch die Wände, der Putz war an manchen Stellen abgebröckelt und wurde an anderen von einer modrig-grünen Schicht bedeckt - Efeu, der sich einst zaghaft hier hochgerankt und mittlerweile von einem Großteil des Hauses Besitz ergriffen hatte. An einer kaputten Dachrinne hingen schwere Eiszapfen und zogen sie noch weiter in die Tiefe. Die Mauer um die Fenster herum war seinerzeit grün gestrichen worden, doch die Farbe war verblichen, die Holzverkleidung des oberen Stockwerkes mit kunstvollen Schnitzereien versehen, die jedoch ebenso morsch geworden waren wie das Dach. Einige Schindeln, die es einst bedeckten, hatten sich gelöst und waren auf den Boden gefallen. An einer Stelle hatte der Dachstuhl gar unter dem Gewicht der Schneemassen nachgegeben. Abgebrochene Balken ragten in die Luft und wirkten trostlos.
Es gab nicht den geringsten Hinweis darauf, dass dieses einsame Gebäude bewohnt war. Wenn sie hier wirklich Unterschlupf finden wollte, musste sie einbrechen - was leichter gesagt war, als getan. Sämtliche Fenster hatten Gitter - schmiedeeiserne Kunstwerke in Form von kleinen Blättern, Ästen und Weinreben. Helena rüttelte an einem, doch wie erwartet gab es nicht nach. Verzagt blieb sie stehen. Die Kälte setzte ihr zu, die Schneeflocken fielen immer dichter und dicker, das Grau des Himmels ging langsam ins Schwarze über. Wenn sie doch zum Auto zurückkehren wollte, würde sie es - wenn überhaupt - in völliger Dunkelheit erreichen.
Bis jetzt hatte sie das ungewollte Abenteuer lediglich als weitere Zumutung empfunden, die ihr das Leben auftischte - nun ergriff sie die nackte Angst. Sie konnte doch unmöglich die Nacht im Freien verbringen!
Sie stapfte um das Haus herum, stieß auf ein Stück flaches Land, das von ein paar wenigen dürren Obstbäumen eingegrenzt war, und erblickte ein weiteres Gebäude, das viel winziger war als das erste. Mit seinem spitzen Dach, einem kleinen Turm und einem Kreuz darauf war es als Kapelle auszumachen. Die Holztür war mit einem schweren Schloss verriegelt. Mutlos betrachtete Helena die Rückfront des Hauses, die ebenso verwahrlost und doch viel größer war, als die Vorderansicht es hätte vermuten lassen. Alles in allem handelte es sich um einen riesigen Besitz - wohl einst von einer reichen Familie in dieser Einöde errichtet, um hier möglichst abgeschottet zu leben oder zumindest den Sommer zu verbringen und der Jagd zu frönen.
Sie wollte schon wieder unverrichteter Dinge zurück, als ihr ein erleichterter Ausruf entfuhr. Eines der Fenster an der Rückseite des Hauses hatte kein Gitter, sondern war nur mit einem Holzbalken verschlossen worden - und der war ähnlich verwittert wie der Dachstuhl.
Es war ein Leichtes, an dem morschen Holz zu ziehen und es vom Fenster zu entfernen. Als ihr ein Splitter in den Daumen drang, achtete sie gar nicht auf den Schmerz. Nun galt es nur noch, die Glasscheibe aufzubrechen. Helena sah sich eine Weile um, formte dann einen kleinen, festen Schneeball und zielte aus einigen Schritten Entfernung auf das Fenster. Glas klirrte. Nachdem sie weitere Schneebälle geworfen hatte, war das Loch groß genug, um vorsichtig durchzugreifen und das Fenster von innen zu öffnen.
»Na also!«, rief sie triumphierend.
Durch das Fenster zu klettern war allerdings eine echte Herausforderung. Nachdem sie ihren Oberkörper hineingewuchtet hatte, hatte sie kurz Angst steckenzubleiben, zog sich jedoch, ans Fensterbrett geklammert, weiter und landete schließlich - mit einer Rolle nach vorwärts -- in der Küche.
Beim Anblick der vielen Spinnweben, die in sämtlichen Ecken hingen, legte sich eine erstickende Schicht über ihre Lungen. Noch nie hatte sie eine derart alte, verwahrloste Küche gesehen. Der Herd war so niedrig, dass jeder halbwegs großgewachsene Mensch beim Kochen schlimme Rückenschmerzen riskiert hätte, und schwarz von Ruß. Unter einer großen, runden Platte ließ sich nicht etwa ein Backrohr öffnen, sondern nur ein mit Holz beheizbarer Ofen. Helena brauchte eine Weile, um zu begreifen, dass die Platte auf diese Weise und nicht etwa mit Strom erhitzt wurde. Ein weiterer Ofen war unter einem kreisrunden, steinernen Gebilde angebracht, das offenbar zum Brotbacken diente und ebenfalls vor Ruß und Dreck starrte. Das Waschbecken, das fast so groß wie eine halbe Badewanne war, sah aus wie eine Altwiener Bassena. Der völlig verrostete Wasserhahn wurde von einem ebenfalls völlig verrosteten Miniaturhündchen gekrönt. Der Boden war mit einem Flickenteppich bedeckt, dessen Fransen von Mäusen abgenagt worden waren und durch dessen rissig gewordenen Stoff an manchen Stellen Eichendielen hindurchschienen.
»Hallo!«, rief sie laut.
Sie rechnete nicht mit einer Antwort und zuckte zusammen, als das Echo ihrer eigenen Stimme von den Wänden widerhallte. Hier war wohl schon seit Ewigkeiten nicht mehr gekocht worden und auch nicht mehr gesprochen oder gelacht. Dieses Haus schien nicht einfach nur heruntergekommen zu sein, es war wie ... tot.
Mit einem mulmigen Gefühl verließ Helena die Küche und kam an einem Bad vorbei. Die Toilette sah mit dem Spülkasten aus ockerfarbenem Plastik halbwegs neu aus, doch die schwarze Klobrille strotzte vor Urin- und Kalkflecken. Die Badewanne war rund, stand auf Löwenbeinen und hatte keine Brause, sondern nur einen Hahn, der an einen weiteren Ofen angeschlossen war. Um warmes Wasser zu bekommen, musste man offenbar mit Holz heizen. Eine riesige Spinne hockte neben dem verrosteten Ausfluss -- Helena hatte keine Ahnung, ob sie längst vertrocknet, im Winterschlaf versunken oder lebendig war, und wollte es auch gar nicht herausfinden. Ansonsten war das einst weiße Email zu einem stumpfen Grau voller schwarzer Löcher verkommen. Sie spürte einen Druck auf der Blase, konnte sich aber nicht überwinden, ihren Wintermantel zu öffnen und sich auf die verdreckte Klobrille zu setzen.
...
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Das Laub raschelte unter ihren Füßen. Dort, wo sich die Strahlen der Oktobersonne durchs dichte Blätterdach zwängten, glich der Waldboden einem bronzenen Meer. Doch seine Schönheit war trügerisch, denn im Schatten der Eichen und Buchen war das Laub bleich, das Moos schwarz und die Sträucher kahl.
Die Blätter zerfielen, wenn sie darauf trat, die Fichtennadeln bohrten sich in die dünnen Sohlen ihrer Lederschuhe. Sie achtete nicht darauf, sondern lief weiter, lief so schnell, wie sie noch nie gelaufen war. Mit jedem Schritt wuchs die Erschöpfung - und die Verzweiflung. Sie ahnte, dass sie nicht rechtzeitig würde fliehen können, und fühlte sich ohnmächtig wie in einem jener Träume, die sie manchmal heimsuchten. Träume, in denen sie hilflos im dunklen Meer versank, obwohl sie doch schwimmen konnte, von einem Berggipfel in die Tiefe stürzte, obwohl eine rettende Hand sich nach ihr ausstreckte, oder sie einem fahrenden Zug nachlief und ihn verpasste, obwohl er nicht an Tempo zulegte.
Sie rannte, bis ihre Brust schmerzte und ein Steinchen im Schuh die Ferse wundgescheuert hatte, aber sie entkam dem Grauen nicht. Vögel stoben aus dem Buschwerk, als jäh ein Schuss ertönte und die Stille des Waldes zerriss.
Sie erstarrte, blieb keuchend stehen, sank schließlich kraftlos auf ihre Knie. Der Laut hallte wieder und wieder in ihr nach; sie konnte ihn mit jeder Faser ihres Körpers spüren, gleich so, als wäre sie selbst getroffen worden.
Doch zu ihrem Erstaunen blutete sie nicht. Nur Schweiß perlte von der Stirn und lief ihr in die Augen, heiß und salzig - ein Beweis, dass sie noch lebte, obwohl sie den Schuss gehört hatte und obwohl sie wusste, auf wen die Pistole gerichtet gewesen war. Ja, ihr Herz schlug noch und ihr Atem ging keuchend - nur ihre Seele war tot wie das Herbstlaub, das der scharfe Wind der letzten Tage von den Bäumen gerissen hatte. Irgendwann nach dem langen, schweigsamen Winter würde der Frühling den Wald wieder zum Leben erwecken und frische Triebe sprießen lassen, aber die Blätter, die nun den Boden bedeckten, würden niemals wieder grün werden. Die Spinnweben, die morgens unter einer Schicht Raureif funkelten - letztes Zeugnis vom Altweibersommer -, würden für immer zerrissen sein. Die saftigen roten und schwarzen Beeren, die an den Sträuchern hingen, würden verfaulen und niemals einen Gaumen erfreuen. Und sie - sie würde niemals wieder lachen, unbeschwert, frei und von Herzen.
Sie stand auf und lief weiter, langsamer nun, gebeugter und nur eine kurze Strecke. Dann erreichte sie einen kleinen Bach, dessen Plätschern in ihren Ohren wie Hohn klang. Im heißen Sommer hatte sie manchmal das klare Wasser getrunken und war mit den Füßen hineingestiegen, um sich abzukühlen. Das tat sie auch jetzt, nachdem sie ihre dünnen Lederschuhe abgestreift hatte, doch das Wasser erfrischte sie nicht, sondern schnitt eiskalt in ihre Glieder.
Sie störte sich nicht daran. Die tobenden Schmerzen waren ein willkommenes Zeichen, dass sie die Kälte noch fühlen konnte. Anstatt sich ans andere Ufer zu retten, trat sie von einem Fuß auf den anderen im Bach herum und wühlte den Schlamm auf. Aus dem strahlenden Türkis, das an Sonnentagen silbrige Wellen krönten, wurde eine schmutzige Brühe.
»Was machst du denn hier?«
Sie zuckte zusammen, als die Stimme sie traf, und wagte kaum, den Blick zu heben. Sie sah nur die Spitze eines Wanderstocks, die sich in die feuchte Erde gegraben hatte, und klobige Stiefel, die von Morast und einigen Blutspritzern befleckt waren. Offenbar kam er von der Jagd.
»Dir muss doch schrecklich kalt sein ...«
Sie wühlte weiter im Schlamm. Das Wasser war mittlerweile so trüb, dass sie ihre krebsroten Füße nicht mehr sehen konnte. Die Schmerzen wichen einem Gefühl von Taubheit. Oh, wenn diese nicht nur ihren Körper, sondern auch den Geist erfassen würde! Wenn sie sämtliche Gedanken lähmen könnte, auf dass in ihrem Kopf nur eine große, gnädige Leere klaffte!
Als sie nicht reagierte, rief er sie beim Namen. Er klang fremd in ihren Ohren.
»Ich brauchte ein wenig frische Luft«, stammelte sie hilflos.
Wie anders sollte sie ihm erklären, was sie hier machte? Wie ihm ins Gesicht schauen, nach allem, was geschehen war? Wie sein Urteil ertragen, wenn er erfuhr, was sie getan hatte?
»Hast du auch diesen Schuss gehört?«, fragte er. »Er schien vom Haus zu kommen.«
Nun konnte sie nicht anders, als ihren Blick zu heben und seinem standzuhalten.
Seine Miene war verwirrt, aber noch nicht erschüttert, besorgt, aber noch arglos. Sie hingegen hatte ihre Unschuld unwiederbringlich verloren. Und wann immer sie künftig Laub rascheln und Bäche plätschern hören, Waldgeruch einatmen und von der Herbstsonne gestreichelt werden würde, müsste sie daran denken.
1
Als sie mit den Schneeketten kämpfte, musste Helena unwillkürlich an Martin denken. Seit Wochen hatte sie seinen Namen nicht mehr ausgesprochen und jedem in ihrer Umgebung verboten, es zu tun. Aber nun stellte sie sich vor, wie er sich in dieser Lage verhalten hätte.
Wahrscheinlich wäre er im Auto sitzen geblieben und hätte sich eine gefühlte halbe Stunde lang in die Bedienungsanleitung vertieft, bis ihr der Geduldsfaden gerissen und sie zur Tat geschritten wäre. Nachdem er eine Weile zugesehen hätte, wie sie sich vergebens abrackerte, wäre er mit jenem gönnerhaften Lächeln, mit dem er unverschämt gut aussah, das sie aber damals immer zur Weißglut brachte, endlich aus dem Auto gestiegen und hätte ganz lässig das Problem behoben.
»Wozu, glaubst du, gibt es Bedienungsanleitungen?«, hätte er gefragt.
»Die versteht doch kein Mensch!«
»Na, wie gut, dass du mich hast, Schatz«, hätte er gemurmelt, sie an sich gezogen und über ihren Kopf gestreichelt. Ehe sie schnippisch antworten und seine Hand hätte wegstoßen können, hätte er versöhnlicher hinzugefügt: »Aber macht doch nichts! Du bist nunmal die Künstlerin - für die praktischen Dinge hast du ja mich. Wo hättest du Stadtpflanze auch lernen sollen, wie man Schneeketten anlegt?«
Das hatte sie in der Tat noch nie gemacht, und während Helena diese Dinger in Händen hielt - auf einer einsamen Forststraße irgendwo in den tiefverschneiten Bergen -, packte sie wieder eine unglaubliche Wut auf Martin, obwohl er zumindest dafür nun wirklich nichts konnte. Der Schnee schmolz auf ihrem Kopf und sickerte durch alle Öffnungen ihres zwar schicken, aber viel zu dünnen Wintermantels.
»Verdammt! Verdammt! Verdammt!«
Sie fluchte erst auf Martin, dann auf Luisa, schließlich auf sich selbst, weil sie sich keine Landkarte gekauft, sondern sich auf die Straßenschilder und Luisas Wegbeschreibung verlassen hatte. Luisa war ihre beste Freundin, die sie zum Skiwochenende in den österreichischen Bergen eingeladen hatte.
»Du musst unbedingt mal rauskommen«, hatte sie erklärt, »und von München aus sind es nur zwei Stunden.«
Helena war mittlerweile vier unterwegs und steckte irgendwo in der Einöde fest. Ein Schild hatte sie auf die Forststraße gelockt, die mitten durch einen dichten Wald führte. Eine halbe Stunde lang war sie an keinem Haus mehr vorbeigekommen -- und schließlich war die Straße immer schmaler und steiler geworden. Die erste Wegstrecke hatte man heute Morgen noch geräumt, aber mittlerweile stand der Schnee so hoch, dass ihre Reifen mehrmals quietschend durchgedreht hatten, und die Angst, im Straßengraben zu landen, hatte ihre Bedenken besiegt, die neu gekauften Schneeketten anzulegen.
Helena las die Bedienungsanleitung nun schon zum x-ten Mal und hatte immer noch keine Ahnung, wie sie am besten vorgehen sollte. Die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen, das Licht wurde immer diffuser. Zuerst hatten die grauen Wolken nur schmale Schneisen am mattblauen Himmel gezogen, nun verschmolz der farblose Himmel mit den schmutzig anmutenden Schneemassen. Sie warf die Bedienungsanleitung genervt auf den Rücksitz und entschied, sich auf ihren gesunden Menschenverstand zu verlassen. So schwer konnte das alles nicht sein - Schritt eins: Ketten
entwirren, Schritt zwei: Sie vor die Reifen legen, Schritt drei: darauf fahren, Schritt vier: Ketten schließen. Davon, dass sie sich den Finger einklemmte, sobald sie die Ketten hochhob, wollte sie sich nicht entmutigen lassen. Sie unterdrückte einen weiteren Fluch und dachte wieder an Martin. Die Erinnerung daran, wie er stets spöttisch die Augenbrauen hochzog, sobald sie wieder einmal den Kampf gegen die Technik verlor, gab ihr Kraft.
Nein, sie würde ihm nicht den Gefallen tun zu scheitern. Sie würde die Schneeketten anlegen und den Weg zur Hütte zurücklegen, wo sie jenes kuschelige Kaminfeuer erwartete, von dem Luisa so geschwärmt hatte. Sie würde die Bekanntschaft neuer, interessanter Leute machen, die nichts von ihren Rückschlägen an allen Fronten wussten, würde lachen, »Die Siedler von Catan« spielen, Glühwein trinken und gestärkt und voller Pläne wieder nach Hause zurückkehren.
Soweit der Plan.
Sie hoffte so lange, ihn doch noch umsetzen zu können, bis sie die Ketten vor die Reifen gelegt hatte und wieder ins Auto gestiegen war. Sobald sie Gas gab, drehten die Reifen erneut durch. Sie stieg erst aufstöhnend auf die Bremse, dann wieder auf das Gaspedal. Prompt machte das Auto einen Ruck, und sie spürte, wie es über einen Widerstand rollte -- wahrscheinlich die Schneeketten. Zu weit, sie war viel zu weit gefahren!
Hektisch stieg sie auf die Bremse, doch anstatt stehenzubleiben, rollte das Auto noch ein Stückchen weiter nach hinten. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass die Straße unter der Schneedecke völlig vereist war. Schweiß brach ihr aus, ein lauter Schrei entfuhr ihren Lippen. Sie klammerte sich ans Lenkrad, kurbelte heftig nach links, um zu verhindern, dass das Auto von der Straße abkam, aber sie hatte keine Chance. Schon geriet es in eine gefährliche Schieflage, und voller Entsetzen stellte Helena fest, dass sie vergessen hatte, den Gurt anzulegen. Sie umklammerte das Lenkrad noch fester, schloss die Augen und spürte, wie das Auto mit einem lauten Quietschen langsam zur Seite kippte. Dann senkte sich eine schreckliche Stille über sie.
Jeder weitere Fluch blieb Helena in der Kehle stecken. Ihr Ärger war längst der nackten Angst gewichen. Eine Weile wagte sie nicht, das Lenkrad loszulassen und auszusteigen - womöglich würde das Auto zu schwanken beginnen, wenn sie ihr Gewicht verlagerte. Doch schließlich blieb ihr gar nichts anderes übrig, als aus dem Fahrzeug zu klettern und das ganze Ausmaß ihres Unglücks in Augenschein zu nehmen.
»Na großartig!«
Sie war mit dem rechten Vorder- und Hinterreifen von der Forststraße abgekommen, und ohne fremde Hilfe würde es ihr nie gelingen, das Auto wieder auf die Fahrbahn zu befördern. Das Licht schien noch fahler durch die Baumkronen, Schneefall setzte ein. Helenas Hände waren steif gefroren, und als sie nach ihrem Handy kramte, wäre es ihr fast entglitten. Wie befürchtet hatte sie keinen Empfang.
»Der Teilnehmer ist zur Zeit nicht erreichbar«, erklärte eine fremde Frauenstimme, nachdem sie Luisas Nummer gewählt hatte.
Helena hätte am liebsten geheult.
Ihre Füße wurden nass, als sie verzweifelt ums Auto stapfte. Sie trug nur ihre dünnen Raulederstiefel, die bestenfalls für den Besuch des Münchner Weihnachtsmarktes taugten, aber für einen Spaziergang im Tiefschnee völlig ungeeignet waren.
Das hatte sie Luisa vor der Abfahrt auch entgegengehalten: »Ich habe überhaupt keine vernünftige Ausrüstung für die Berge!«
»Ach was«, hatte Luisa den Einwand entkräftet. »Du kannst dir alles von mir borgen -- inklusive Snowboard.«
Wenigstens einen Schal hatte sie dabei. Helena holte ihn aus dem Kofferraum und wickelte sich in ihn ein, fror aber immer noch erbärmlich. Suchend blickte sie sich um. Rechts bildeten Tannenbäume ein undurchdringliches Dickicht, links säumten hohe Laubbäume, von deren kahlen Ästen Schnee rieselte, den Weg. Weit und breit waren keine menschlichen Spuren zu sehen - nur winzige, runde Abdrücke von Rehen. Nicht einmal ein Futterstand für die Tiere, der vom hiesigen Förster immer mal wieder nachgefüllt werden musste, ließ sich in der Ferne erahnen. Wurzeln ragten dunkel aus dem Schnee, ansonsten lag der Boden unter der dicken, weißen Decke begraben.
Die Wahrscheinlichkeit, dass heute noch jemand auf dieser Straße vorbeikommen würde, war denkbar gering. Was wiederum bedeutete, dass sie entweder im Auto übernachten oder dieses hier zurücklassen und die nächstgelegene Siedlung suchen musste. Sie sollte sich besser bald entscheiden, denn sie hatte keine Taschenlampe dabei und konnte bereits jetzt kaum noch etwas sehen. Ratlos rieb sich Helena ihre eiskalten Hände. Wenn sie wenigstens eine warme Decke eingepackt hätte! Doch Luisa hatte ihr versichert, dass es davon genügend auf der Hütte gäbe - ebenso wie Handtücher und Bettwäsche. Deswegen hatte sie nur ihre Toilettensachen, frische Unterwäsche, einen Pulli, Socken und ein zweites Paar Jeans in ihren kleinen Koffer gepackt. Sie kramte den Pulli hervor, zog ihn über ihre Bluse, dann schlüpfte sie wieder in ihren Mantel. Sie verzichtete aber auf das zusätzliche Paar Socken -- die Stiefel würden sonst zu eng werden. Mit einem lauten Knall schloss sie den Kofferraum, blickte sich ein letztes Mal zweifelnd um und ging dann los. Wenn sie die Anhöhe erreicht hatte, die die Forststraße hochführte, hatte sie von dort aus vielleicht freien Blick ins Umland.
Die Strecke war nicht weit, höchstens einen halben Kilometer, aber der Schnee lag so hoch, dass sie immer wieder darin versank. Früher war sie auf ihren durchtrainierten Körper stolz gewesen, aber in den letzten Monaten hatte sie sich am Abend lieber auf dem Sofa verkrochen und ihre Wunden geleckt, anstatt sich im Fitnessstudio oder beim Joggen abzurackern. Jetzt büßte sie dafür: Bald spürte sie ein schmerzhaftes Ziehen in Oberschenkeln und Waden, und ihre Stirn wurde feucht - von geschmolzenen Schneeflocken, aber auch von Schweiß. Nicht nur ihre Erschöpfung wuchs, auch ihr Überdruss.
Klar, dachte sie, dass ausgerechnet mir das passieren muss.
Wie konnte sie nur erwarten, dass dieses mehr als bescheidene Jahr einen glücklichen Ausklang finden würde? Am besten, sie hätte sich bis Silvester in ihrem Zimmer vergraben.
Letztes Jahr vor Weihnachten war ihre Welt noch in Ordnung gewesen. Sie war mit Martin glücklich, die Ausbildung an der Abraxas Musical Akademie näherte sich dem Ende. Gleich nach der Abschlussprüfung im Frühling war die Hochzeit geplant, und nach einer traumhaften Hochzeitsreise würden unzählige interessante Engagements folgen.
An das Fiasko mit Martin, das sämtliche Ehepläne zunichte gemacht hatte, wollte sie jetzt gar nicht erst denken, und anstelle toller Engagements hatte sie sich von Casting zu Casting gequält, immer ernüchterter und gedemütigter. Schließlich hatte sie doch eine Rolle ergattert -- nicht etwa für ein Musical, ja, nicht einmal für die Bühne. Einen knappen Monat lang stand sie stattdessen für eine Nachmittags-Telenovela vor der Kamera -- in einer blassen Nebenrolle, deren Text sich darauf beschränkte, den Bösewicht der Serie bewundernd anzuschmachten. Der hielt wenig davon, was jeder Zuschauer mit Verstand schon bei der ersten Begegnung durchschaute, ihr doofes Rollen-Ich aber leider so gar nicht. Am Ende wurde sie von dessen Ex vergiftet, so dass sich Helenas letzter Auftritt in Folge 185 darauf beschränkte, als Leiche geschminkt auf dem Seziertisch zu liegen.
Auch wenn dieser Abgang den Vorteil bot, dass sie keinen schwachsinnigen Text mehr hatte lernen müssen - in dem Augenblick, als sie sich auf dem kalten Stahl ausschließlich darauf konzentrierte, den Atem möglichst flach zu halten, hatte sie gedacht, dass es nicht noch weiter bergab gehen konnte. Erst jetzt, da sie die einsame Forststraße entlangstapfte, wusste sie, dass der absolute Tiefpunkt damals noch nicht erreicht gewesen war. Dort war sie erst jetzt angelangt - diesmal in der Rolle »Stadtpflanze verirrt sich in den Bergen«.
Inmitten der Stille erschienen ihr die wenigen Geräusche um sie herum noch unheimlicher. Das Knacken der Äste, die unter der frostigen Last nachgaben, klang wie ein Seufzen, der kalte Wind, der den Schnee verwehte, wie ein Stöhnen. Ihre Schritte knarzten, ihr keuchender Atem und ihr laut pochendes Herz verstärkten das Gefühl vollkommener Verlassenheit.
Endlich hatte sie den höchsten Punkt der Straße erreicht. Zumindest ihre größte Angst, dass sich dahinter nur weiterer Wald erstrecken würde, erfüllte sich nicht. Der Blick auf den Himmel wurde nicht länger von Baumkronen verstellt, und sein Grau schien trotz anhaltenden Schneefalls etwas heller. Deutlich sichtbar schlängelte sich die Forststraße ins Tal und führte von dort wieder einen Berg hinauf. An ihrer breitesten Stelle zweigte eine Nebenstraße ab, die vor einem Gebäude endete.
Inmitten der Berge wirkte es wie ein Trugbild. Mit den zwei Erkern rechts und links - von grünlich schimmernden Holzschindeln bedeckt und spitz zulaufend wie ein Kirchturm -- glich es mehr einem Miniaturschloss als einem normalen Wohnhaus. Nichts deutete darauf hin, dass Menschen dort lebten: Das große, wuchtige Tor war geschlossen, hinter den vielen Fenstern brannte kein Licht, und aus dem Kamin stieg kein Rauch. Doch wenn sie für die Nacht inmitten dieser Einöde ein Dach über den Kopf finden wollte, dann bot sich dort ihre einzige Chance.
Der Weg zum Schlösschen hatte vom Hügel aus nicht weit gewirkt, doch bis Helena endlich das Gebäude erreichte, war eine halbe Stunde vergangen. Der Schneefall hatte etwas nachgelassen, und zwischen der Wolkendecke ließen sich die letzten Strahlen der Abendsonne erahnen, eher von einem dunklen Violett als einem warmen Rostrot. Der Schweiß auf ihrer Stirn erkaltete, und Helenas Magen begann zu knurren. Im Handschuhfach ihres Autos hatte sie noch einen angebrochenen Riegel Snickers und - wenn sie sich recht erinnerte - eine Dose Cola aufbewahrt, und sie ärgerte sich, nichts davon mitgenommen zu haben. Doch sie bezähmte ihren Hunger - dank der vielen Diäten, die sie in ihrem Leben schon gemacht hatte, war sie immerhin an das flaue Gefühl im Magen gewohnt. Auch als sie während der Musicalausbildung mit ihren Kolleginnen stets heimlich um die Wette fastete, hatte sie dies nicht von körperlichen Höchstleistungen abgebracht.
Aus der Nähe betrachtet wirkte das Gebäude noch viel erhabener, und der Weg, der darauf zuführte, war stärker verschneit als die Forststraße. Nichts deutete darauf hin, dass hier kürzlich jemand entlanggegangen oder gefahren war.
»Hallo?«, rief Helena mehrmals in die Stille hinein.
Keine Antwort.
Langsam ging sie auf das Haus zu. Zugleich vermeinte sie eine unsichtbare Grenze, die in eine andere Welt führte, zu überschreiten. Die Zeit schien hier stehengeblieben zu sein, die Stille, die sich ebenso erstickend über alles legte wie der Schnee, war fast körperlich zu spüren. Kein Rascheln von Tieren war mehr zu hören, kein Ächzen von Wind und Bäumen. Erst auf den zweiten Blick erkannte Helena, dass hier niemand den Lauf der Welt angehalten und der Zahn der Zeit durchaus an diesem Gebäude genagt hatte. Selbst der viele Schnee konnte nicht verbergen, dass es nicht nur wunderschön war, sondern schrecklich verwahrlost: Tiefe Risse zogen sich durch die Wände, der Putz war an manchen Stellen abgebröckelt und wurde an anderen von einer modrig-grünen Schicht bedeckt - Efeu, der sich einst zaghaft hier hochgerankt und mittlerweile von einem Großteil des Hauses Besitz ergriffen hatte. An einer kaputten Dachrinne hingen schwere Eiszapfen und zogen sie noch weiter in die Tiefe. Die Mauer um die Fenster herum war seinerzeit grün gestrichen worden, doch die Farbe war verblichen, die Holzverkleidung des oberen Stockwerkes mit kunstvollen Schnitzereien versehen, die jedoch ebenso morsch geworden waren wie das Dach. Einige Schindeln, die es einst bedeckten, hatten sich gelöst und waren auf den Boden gefallen. An einer Stelle hatte der Dachstuhl gar unter dem Gewicht der Schneemassen nachgegeben. Abgebrochene Balken ragten in die Luft und wirkten trostlos.
Es gab nicht den geringsten Hinweis darauf, dass dieses einsame Gebäude bewohnt war. Wenn sie hier wirklich Unterschlupf finden wollte, musste sie einbrechen - was leichter gesagt war, als getan. Sämtliche Fenster hatten Gitter - schmiedeeiserne Kunstwerke in Form von kleinen Blättern, Ästen und Weinreben. Helena rüttelte an einem, doch wie erwartet gab es nicht nach. Verzagt blieb sie stehen. Die Kälte setzte ihr zu, die Schneeflocken fielen immer dichter und dicker, das Grau des Himmels ging langsam ins Schwarze über. Wenn sie doch zum Auto zurückkehren wollte, würde sie es - wenn überhaupt - in völliger Dunkelheit erreichen.
Bis jetzt hatte sie das ungewollte Abenteuer lediglich als weitere Zumutung empfunden, die ihr das Leben auftischte - nun ergriff sie die nackte Angst. Sie konnte doch unmöglich die Nacht im Freien verbringen!
Sie stapfte um das Haus herum, stieß auf ein Stück flaches Land, das von ein paar wenigen dürren Obstbäumen eingegrenzt war, und erblickte ein weiteres Gebäude, das viel winziger war als das erste. Mit seinem spitzen Dach, einem kleinen Turm und einem Kreuz darauf war es als Kapelle auszumachen. Die Holztür war mit einem schweren Schloss verriegelt. Mutlos betrachtete Helena die Rückfront des Hauses, die ebenso verwahrlost und doch viel größer war, als die Vorderansicht es hätte vermuten lassen. Alles in allem handelte es sich um einen riesigen Besitz - wohl einst von einer reichen Familie in dieser Einöde errichtet, um hier möglichst abgeschottet zu leben oder zumindest den Sommer zu verbringen und der Jagd zu frönen.
Sie wollte schon wieder unverrichteter Dinge zurück, als ihr ein erleichterter Ausruf entfuhr. Eines der Fenster an der Rückseite des Hauses hatte kein Gitter, sondern war nur mit einem Holzbalken verschlossen worden - und der war ähnlich verwittert wie der Dachstuhl.
Es war ein Leichtes, an dem morschen Holz zu ziehen und es vom Fenster zu entfernen. Als ihr ein Splitter in den Daumen drang, achtete sie gar nicht auf den Schmerz. Nun galt es nur noch, die Glasscheibe aufzubrechen. Helena sah sich eine Weile um, formte dann einen kleinen, festen Schneeball und zielte aus einigen Schritten Entfernung auf das Fenster. Glas klirrte. Nachdem sie weitere Schneebälle geworfen hatte, war das Loch groß genug, um vorsichtig durchzugreifen und das Fenster von innen zu öffnen.
»Na also!«, rief sie triumphierend.
Durch das Fenster zu klettern war allerdings eine echte Herausforderung. Nachdem sie ihren Oberkörper hineingewuchtet hatte, hatte sie kurz Angst steckenzubleiben, zog sich jedoch, ans Fensterbrett geklammert, weiter und landete schließlich - mit einer Rolle nach vorwärts -- in der Küche.
Beim Anblick der vielen Spinnweben, die in sämtlichen Ecken hingen, legte sich eine erstickende Schicht über ihre Lungen. Noch nie hatte sie eine derart alte, verwahrloste Küche gesehen. Der Herd war so niedrig, dass jeder halbwegs großgewachsene Mensch beim Kochen schlimme Rückenschmerzen riskiert hätte, und schwarz von Ruß. Unter einer großen, runden Platte ließ sich nicht etwa ein Backrohr öffnen, sondern nur ein mit Holz beheizbarer Ofen. Helena brauchte eine Weile, um zu begreifen, dass die Platte auf diese Weise und nicht etwa mit Strom erhitzt wurde. Ein weiterer Ofen war unter einem kreisrunden, steinernen Gebilde angebracht, das offenbar zum Brotbacken diente und ebenfalls vor Ruß und Dreck starrte. Das Waschbecken, das fast so groß wie eine halbe Badewanne war, sah aus wie eine Altwiener Bassena. Der völlig verrostete Wasserhahn wurde von einem ebenfalls völlig verrosteten Miniaturhündchen gekrönt. Der Boden war mit einem Flickenteppich bedeckt, dessen Fransen von Mäusen abgenagt worden waren und durch dessen rissig gewordenen Stoff an manchen Stellen Eichendielen hindurchschienen.
»Hallo!«, rief sie laut.
Sie rechnete nicht mit einer Antwort und zuckte zusammen, als das Echo ihrer eigenen Stimme von den Wänden widerhallte. Hier war wohl schon seit Ewigkeiten nicht mehr gekocht worden und auch nicht mehr gesprochen oder gelacht. Dieses Haus schien nicht einfach nur heruntergekommen zu sein, es war wie ... tot.
Mit einem mulmigen Gefühl verließ Helena die Küche und kam an einem Bad vorbei. Die Toilette sah mit dem Spülkasten aus ockerfarbenem Plastik halbwegs neu aus, doch die schwarze Klobrille strotzte vor Urin- und Kalkflecken. Die Badewanne war rund, stand auf Löwenbeinen und hatte keine Brause, sondern nur einen Hahn, der an einen weiteren Ofen angeschlossen war. Um warmes Wasser zu bekommen, musste man offenbar mit Holz heizen. Eine riesige Spinne hockte neben dem verrosteten Ausfluss -- Helena hatte keine Ahnung, ob sie längst vertrocknet, im Winterschlaf versunken oder lebendig war, und wollte es auch gar nicht herausfinden. Ansonsten war das einst weiße Email zu einem stumpfen Grau voller schwarzer Löcher verkommen. Sie spürte einen Druck auf der Blase, konnte sich aber nicht überwinden, ihren Wintermantel zu öffnen und sich auf die verdreckte Klobrille zu setzen.
...
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Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von Sophia Cronberg
Sophia Cronberg wurde 1975 in Linz (Österreich) geboren. Fast ebenso alt ist ihre Leidenschaft, Geschichten zu erzählen. Mit vierzehn Jahren schrieb sie ihren ersten abgeschlossenen Roman. Seit einigen Jahren ist sie hauptberuflich Schriftstellerin. Sie spielt gern Klavier und liebt das Reisen. Sophia Cronberg ist Mutter einer kleinen Tochter und lebt abwechselnd in Frankfurt am Main und in Österreich.
Bibliographische Angaben
- Autor: Sophia Cronberg
- 480 Seiten, Maße: 14,5 x 22 cm, Geb. mit Su.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863652029
- ISBN-13: 9783863652029
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