Das erste Mal sah ich sie an einem Samstagnachmittag
Roman
Joachim lebt als Maler und Fotograf in Paris. Immer schon hatte er ein ausgeprägtes Interesse für Menschen, deren Körper sich durch Besonderheiten auszeichnen. Für ihn sind sie rare Objekte, die er mit Leidenschaft auf Papier bannt, und so bevölkert eine...
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Produktinformationen zu „Das erste Mal sah ich sie an einem Samstagnachmittag “
Joachim lebt als Maler und Fotograf in Paris. Immer schon hatte er ein ausgeprägtes Interesse für Menschen, deren Körper sich durch Besonderheiten auszeichnen. Für ihn sind sie rare Objekte, die er mit Leidenschaft auf Papier bannt, und so bevölkert eine Sammlung wundersamer Kunstwerke sein Atelier. Marica ist eine junge Frau auf der Suche nach der Liebe. Eigentlich hat sie keine spektakulären Makel aufzuweisen, außer dass sie sich als hässlich empfindet. Dennoch entschließt sich Joachim, sie als Modell zu engagieren, denn er ist vom ersten Moment an zutiefst fasziniert von Maricas Erscheinung. Zwischen den beiden beginnt eine fatale erotische Verstrickung, die sie an ihre tiefsten Abgründe heranführt ...
Joachim lebt als Maler und Fotograf in Paris, und seine ganze Faszination gilt Menschen, die er kperliche Anomalien verfen. Und so bevkert bereits ein wahres Kabinett von "Monstern" sein Atelier. Die junge Marica erflt Joachims Kriterien eigentlich nicht - die junge Frau hat keine spektakulen Makel aufzuweisen, aur dass sie hslich ist. Dennoch entschlie sich Joachim, Marica als Modell zu engagieren - und zwischen den beiden beginnt eine obsessive erotische Beziehung, die sie an ihre tiefsten Abgrde heranfrt.
Lese-Probe zu „Das erste Mal sah ich sie an einem Samstagnachmittag “
1. KapitelMarica hatte salzige Haut.
Marica hatte salzige Haut, und dafür habe ich sie geliebt. Eine perverse Begierde, die Laune eines Verdammten. Dabei ist bekannt, dass der Körper eines Mädchens nach Zucker, der eines Jungen nach Schweiß schmecken sollte; so war das auch für gewöhnlich. Doch dann stellte Marica alles auf den Kopf. Ihre Haut schmeckte würzig, wie nach Paprika, doch auf der Zungenspitze ein wenig fade und süßlich, und verrückt, wie ich war, habe ich sie dafür geliebt.
An jenem Tag, jenem tragischen Tag, trug sie einen schwarzen, unförmigen Anorak, der ihre Figur nicht verriet. Wir waren in ein Café im Mouffetard-Viertel gegangen. Sie hatte Zitronensaft bestellt - ein sanftes Gift, eine beißende Säure, die ich eine Stunde später in ihrem Mundwinkel wiederfand, als ich sie zum ersten Mal küsste. Etwas Absurdes ging von ihr aus. Wie diese Zigarette, die sie lässig rauchte, um sich interessant zu machen, und dabei leicht am Filter knabberte; und ich mochte das. Ich mochte dieses verliebte Schmachten, diesen einfältigen Blick. Kleine dumme Marica, sagte ich mir.
Armes kleines Dummerchen mit dem schlecht aufgetragenen Lippenstift - Sie sind nicht schön. Und trotzdem geschah etwas Unwiderrufliches, es überkam mich wie ein Fieber, ein widerliches Verlangen: sie mit meinen Händen zu berühren, sie ganz und gar zu besitzen.
Ihre ersten Küsse waren bitter und unbeholfen. Ihre Zunge war trocken, und sie machte nie wirklich den Mund auf, weil sie ihre Zähne nicht mochte, wie sie mir später sagte, ihre großen gelben Zähne, die sie verunstalteten und die sie unbedingt verstecken wollte. Sie zu verführen war nicht schwierig, Marica ließ es arglos geschehen. Wir waren in ihr Zimmer gegangen, in der Rue des Feuillantines. Marica hatte einen hübschen Körper, ziemlich sinnlich, kleine wohlgeformte Knie, glatte rundliche Füße, jugendliche Brüste. Sie liebte langsam und träge, mit geschlossenen Augen, das Gesicht an meine Schulter gedrückt, als wolle sie
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mir verbieten, sie anzusehen.
Marica Marica.
Nixe mit den grünen Augen, fantastische Nymphe. Spinne, deren Küsse einen Kokon um meine Haut spannen. Im Nu war ich eingefangen, eingesponnen - einem schrecklichen Tod ausgeliefert.
Marica war hässlich, und auch dafür habe ich sie geliebt.
Körperliche Makel, monströse Menschen haben mich schon immer fasziniert. Ich schwärmte für Märchengestalten, studierte die Mythen; ich traf Zwerge, Bucklige, Versehrte. Ich hatte es zu einer Art Zeitvertreib gemacht. Andere sammeln Bücher oder Bilder, ihre Leidenschaft gilt leblosen Objekten. Ich hingegen sammelte Menschen. Mein Museum war eine Monstergalerie. Ich trug Gesichter und Körper zusammen. Ich klapperte Spitäler und Anstalten ab. Ich suchte rare Exemplare, Wunder der Natur - die äußerste Form menschlicher Entstellung.
So habe ich sie getroffen.
Im Frühjahr jenes Jahres hatte ich, wie ich es seit fünf Jahren tat, eine Annonce in die Zeitungen gesetzt. Ich suchte Modelle zum Fotografieren. Menschen mit körperlichen Besonderheiten.
Eines Abends rief Marica an.
Wir plauderten ein wenig. Sie hatte noch nie Modell gestanden, es war das erste Mal. Sie wusste nicht so genau, wie sie sich dabei anstellen sollte. Sicherlich kam daher auch diese Unbeholfenheit am anderen Ende der Leitung. Sie hatte eine tiefe Stimme wie ein Junge im Stimmbruch. Ich stellte sie mir sehr jung vor, sehr töricht. Achtzehn, neunzehn. Ich bat sie, sich zu beschreiben, und nach kurzem Schweigen sagte sie plötzlich: "Ich bin hässlich. Einfach hässlich."
Ich war überrascht, ungläubig, um ehrlich zu sein. Vielleicht übertrieb sie, vielleicht war es nur ein Jungmädchenkomplex. Ich wollte meine Zeit nicht verschwenden.
"Wenn wir uns treffen, können Sie es selbst beurteilen."
So verabredeten wir uns für einen Donnerstagabend im Jardin du Luxembourg.
Sie hatte getagt, dass sie im Schatten der Kastanienbäume beim Spielplatz auf mich warten würde. Ich war früh dran, hatte mit trockener Kehle und feuchten Händen gewartet. Wie sagte sie, hieß sie noch? Marica. Ma-ri-ca. Die Töne koltidieren im Mund, als wollten sich die drei Silben verheddern.
Marica Marica. Während ich den Weg entlangging, murmelte ich diesen Namen. Ich stellte mir ein pubertierendes Mädchen vor, plump, pickelig oder pummelig.
Am Spielplatz waren nur Kinder, Pärchen in ihren Dreißigern und ein paar Rentner - nicht die Spur einer depressiven oder übergewichtigen Jugendlichen. Da wartete nur ein sehr großes Mädchen. Reglos vor einem Gitter, ein zerknülltes Taschentuch in der Hand. Ich wusste nicht, ob sie es war; ich schlenderte noch ein wenig umher, drehte eine Runde und ging zurück. Wie auf ein Signal hin stand sie von der Bank auf - sie war es also. Und während ich auf sie zuging und versuchte, ihr Gesicht im Sonnenlicht zu erkennen, senkte sie wie aus Niedertracht den Kopf. So, dass ich in den ersten Minuten, da ich sie nicht sehen und nur ihre mädchenhafte Figur ausmachen konnte, an einen Betrug glaubte.
Ich fragte, ob sie Marica Barbier sei. Sie nickte nur, das war alles.
Wir wussten nicht, wie wir es anfangen sollten, also gingen wir ein Stück. Wir schlenderten aufs Geratewohl an den Bassins entlang. Ich stellte ihr ein paar Fragen, sie erzählte von sich. Sie war einundzwanzig und arbeitete in einer Buchhandlung in der Rue des Écoles. Zerstreut hörte ich ihr zu, ihre unbeholfene Ausdrucksweise störte mich - Marica sprach nämlich schlecht und sehr schnell, sie verschluckte Wörter, sie beendete ihre Sätze nicht. Im Sonnenlicht, das schräg einfiel wie ein schwarzer Schleier, sah ich ihr Gesicht nicht richtig. Außerdem traute ich mich kaum, sie anzusehen, weil ich fürchtete, sie könne es missverstehen. Aus dem Augenwinkel beobachtete ich ihre hastigen Schritte, ihre langen Beine ragten aus dem Saum eines roten Kleids.
Ich schlug vor, in ein Cafe in Montparnasse zu gehen. Sie war einverstanden. Wir setzten uns in eine schummrige Ecke, geschützt vor dem grellen Licht.
Kaum saß ich ihr gegenüber und hob den Blick - da war sie plötzlich präsent und bot mir ihr Gesicht dar, wie man eine Wunde, ein Tabu entblößt. In den ersten zehn Minuten unseres Zusammenseins war ich neben ihr hergegangen wie neben jedem anderen Mädchen ihres Alters, und binnen einer Sekunde sollte ich eine andere entdecken, die mir dort gegenübersaß. Automatisch schlug ich die Augen nieder, als hätte diese Konfrontation etwas Schamloses.
Denn Marica war nicht hübsch.
Der Kiefer war zu eng für ihr Gebiss. Die Lippen waren schmal, die Zähne sehr groß, fast unförmig. Dadurch standen die Schneidezähne vor, der Mund schloss sich nicht ganz. Das verlieh ihr eine Art ständiges schiefes Lächeln, ein schwachsinniges Lächeln, das aussah wie ein Loch. Alles andere hingegen war normal; die Nase war gerade, die Brauen schwarz und geschwungen. Doch durch den schiefen Mund wirkte altes wie verzerrt, selbst der Blick. So folgte Maricas Gesicht einer absurden Logik, als hätten sich die einzelnen Bestandteile irrtümlich ineinander geschoben.
Am Ende fragte sie mich, worin meine Arbeit bestehe. Ausweichend erzählte ich ihr von meiner Studie. Stotterte herum. Normalerweise, mit allen anderen, waren die Dinge von Anfang an klar, es kümmerte mich nicht besonders, ob ich sie kränkte. War es ihre Jugend, ihre Zerbrechlichkeit, die mir dieses Mal Schuldgefühle bereitete? Ich schämte mich mit einem Mal, ihr zu sagen, dass es mein Hobby war, Monster zu fotografieren, und dass ich, ohne wirklich zu verstehen warum, nach diesen wenigen Minuten mit ihr überzeugt war, dass sie genau das war, wonach ich immer gesucht hatte.
Wie dem auch sei, sie hörte mir gar nicht zu. Was spielte es schon für eine Rolle? Sie wollte lediglich, dass ich sie engagierte, dass ich sie fotografierte, dass ich sie betrachtete. Meine Beweggründe waren ihr gleichgültig. Schließlich fragte sie mich mit unbegreiflichem Eifer - als hätte sie plötzlich vergessen, dass ich sie nur wegen ihrer Hässlichkeit engagierte -, ob ich sie nun als Modell nehmen würde. Ich sagte, man müsse es versuchen.
Schweigen trat ein. Marica lächelte flüchtig.
"Danke. Hoffentlich enttäusche ich Sie nicht. Ich habe keine Erfahrung, wissen Sie."
Doch ich begriff, dass sie traurig war.
Ich begriff auch, dass unter diesem Gesicht ein tieferer Makel lag als nur ein körperlicher - eine verborgene Wunde, die jene Hässlichkeit noch zu betonen schien oder deren eigentliche Ursache war.
Und nun war alles verdorben.
Das frisch aufgelegte Make-up, der Geruch der Creme auf der Haut, das Rot des Kleides, das um den Körper schwang. Die Illusion von Schönheit auf meinem Gesicht. All das endgültig kaputt, vertan.
Ich mag die Versprechungen des Sommers nicht, die Erregung, die die ersten heißen Tage begleitet. Vor allem mag ich die Tage nicht, an denen mehr Pollen durch die Luft fliegen als gewöhnlich, als hätten alle Pflanzen der Stadt sich verschworen, um zur selben Zeit ihren schrecklichen Samen auszustoßen.
Ich bin allergisch gegen Pollen. Jedes Jahr im Frühling vollzieht sich die Metamorphose: Ich verwandle mich in einen Kolben. In meinen Adern wird das Blut heiß, es kocht, es wird destilliert. Mein Gesicht sieht dann aus wie eine Larve: tränende Augen, juckende Nase, geschwollene Lippen. Ich bin voller Gift.
Dieses Jahr war der Pollenflug besonders schlimm. Vor allem an jenem Abend, jenem Maiabend im Quartier Latin. Als der Blütenstaub sich plötzlich ergoss wie in einem Traum, war ich im Jardin du Luxembourg, genauer: unter den Rosskastanienbäumen der mittleren Allee. Rosskastanien sind fruchtbare Bäume; wenn man so einen feindseligen Körper hat wie ich, ist es nicht ratsam, sich unter ihnen aufzuhalten.
Und an jenem Abend kam alles noch schlimmer.
Ich habe trotzdem alles versucht, um den Schein zu wahren und meinen Körper wie mit einer Rüstung zu schützen. Ich hatte gerade geduscht. Meine Haut roch gut. Mein Gesicht war glatt. Ich trug sogar das rote Kleid von Gaelle, das sie mir vor zwei Jahren ausgeliehen hatte und das ich ihr nie wieder zurückgegeben habe.
Das Kleid stand Gaelle gut. Sie ist ein sehr dunkler Typ. Ihre Haut, ihre Haare. Sie trug immer warme Farben, dunkle Rottöne, und ihr Körper war unendliche Lust, ein sinnlicher, aufreizender Tanz. Ich sah es gern, wenn sie an Sommerabenden dies es Kleid anzog und sich mit ihrem momentanen Freund traf. Ich beneidete sie um diese Kupferhaut - wie Asphalt, der in den Augen brennt, wenn die Sonne ein wenig zu hell scheint.
Eines Tages hatte Gaelle gesagt, ich könne das Kleid mitnehmen. Am Abend probierte ich es in meinem Zimmer an, allein, und bildete mir dabei ein, das Kleid sei ihre Haut, und ich würde sie anlegen. Das Ergebnis war grotesk. Ich betrachtete eine Weile diesen Körper; er hatte sich nicht verändert, er war im Kontrast zu dem Stoff nur noch blasser. Vielleicht ist meine Haut deshalb so bleich, so mineralisch, weil ich meine Kindheit im Norden, im Land der Zechen verbracht habe.
Ich war nicht schön. Kleid hin oder her, ich hatte keinerlei Ausstrahlung. Ich hatte zwar schöne, lange und nicht zu dicke Beine mit hübschen Knien. Darauf war ich eigentlich ganz stolz. Ständig schlug ich das eine und dann wieder das andere Bein über. Gaelle hingegen war in dieser Hinsicht nicht verwöhnt. Sie hatte mir erzählt, dass sie in jüngeren Jahren eher mollig gewesen war, und trotz ihrer Diät waren ihre Beine drall geblieben. Sie hatte Männerwaden, die dicken strammen Waden einer Bäuerin ohne jede Eleganz.
Doch sie hatte ein hübsches Gesicht, einen Schmollmund und einen wunderschönen Hals wie eine junge Katze - was ich nicht hatte. Gaelle hatte ein Gesicht, während ich eine Visage hatte, sie strahlte, während ich mich für meinen Mund schämte, sie hatte einen Körper, während ich ein Klotz war.
Gaelle hatte ein bisschen Mitleid mit mir, mir gegenüber zeigte sie nicht, dass sie wusste, wie schön sie war. Selbst wenn ich mich beklagte oder wenn ich ihr Komplimente machte, damit auch ich welche bekäme, schlug sie die Augen nieder, wie um mir zu sagen: "Es ist nun einmal, wie es ist." Es gibt wohl nichts Grausameres als diese körperlichen Ungerechtigkeiten. Manchmal hätte ich mir gewünscht, dass sie lügt und sagt, dass auch ich hübsch sei. Nur aus Höflichkeit. Aber ich habe ihr verziehen. Ihre naive Schönheit, für die sie sich mir gegenüber schuldig fühlte, machte sie mir sympathisch. Wir wurden Freundinnen.
Schon eine ganze Weile, seit meinem Abgang von der Universität, hatte ich sie nicht mehr wieder gesehen. Das Kleid behielt ich absichtlich. Wie um Gaelles Wesen, den dunklen Schatten ihres Körpers, heimlich bei mir zu bewahren, bis auch mich ein Mann ansehen würde.
An jenem Abend im Jardin du Luxembourg war die Welt also auf einmal böse geworden.
Die Kinder auf dem Spielplatz freuten sich über diesen warmen, unzeitigen Schnee. Dieser Blütenstaub ist wie ein Zauber. Sosehr er auch da ist, sosehr er auch die Luft tränkt und verseucht wie ein Gift, man kriegt ihn doch niemals zu fassen, kann ihn nicht mit der Hand einfangen. Die Kinder versuchen es. Manchmal gelingt es ihnen, wenn sich zufällig eine Flocke in ihrem Haar verfängt. Sie nehmen sie in die Hand, betrachten sie kurz, dann zerdrücken sie sie grausam.
Die Allergie brach sogleich aus. Ich setzte mich auf eine Bank neben den Tennisplätzen und drückte ein Taschentuch ganz fest in der Hand, um den Juckreiz besser auszuhalten, den die Luft bei mir auslöste. Manchmal sage ich mir, ich sei nicht allergisch gegen Pollen, sondern gegen die ganze lebendige Welt, gegen das vegetabile Sommergewimmel. Ich bin für das Klima von Valenciennes geschaffen, für aride Minen und unterirdische Gruben, wo nichts wächst außer Steinen.
Dort, hinter dem Gitter, spielen junge Männer Tennis. Ich kann sie schlecht sehen, weil das Licht auf dem Platz flimmert. Ich sehe nur dunkle Körper, braune Haut, die mit der gestampften Erde verschwimmt. Ich reiße die Augen weit auf. Flecken sprenkeln meinen Blick. Ich nehme Schatten wahr, behände Bewegungen. Dumpfes Stöhnen, wenn der Schläger den Ball trifft. Alles wirkt plötzlich schwachsinnig, in diesem grellroten Licht und mit diesen Silhouetten, die um sich schlagen wie in einem schlechten Traum.
Ich putze mir die Nase, um meinen Körper wieder zu spüren, um diese Schwere abzuschütteln. Um die Augen zu öffnen.
Sie dürften achtzehn Jahre alt sein. Sie stoßen kehlige Schreie aus, lachen völlig unsinnig, wenn einer von ihnen aus Ungeschicklichkeit den Ball verfehlt. Für einen Moment denke ich, sie machen sich über mich lustig. Denn ich bin lächerlich, wie ich da sitze, mit laufender Nase und verschmierter Wimperntusche.
Sie sind ein bisschen plump, fast tölpelhaft. Und dennoch hat ihre Jugendlichkeit etwas Bösartiges. Etwas Unverschämtes. Ich stelle mir ihre verzerrten Gesichter vor, ihre Augen, die sie, von der Sonne geblendet, zusammenkneifen; wie sie sich über die Strähnen ärgern, die ihnen in die Stirn fallen. Gleich nach der Partie werden sie nach Hause gehen, wahrscheinlich irgendwo im Quartier Latin, sie werden duschen und dabei blöd prusten, dann werden sie sich mit ihren Freundinnen treffen und mit der gleichen begierigen Heftigkeit mit ihnen schlafen.
Die Körper von Jungen sind immer ein bisschen brutal.
Solche wie sie gab es zu Dutzenden, in der Metro, an der Uni, an der Straßenecke. Nette griechische Götter mit schamlosem Lachen, und ich habe sie geliebt.
Ich habe all die Jungen der Welt mit mehr Liebe und mehr Aufopferung geliebt als jede andere, habe sie mit dieser kindischen und verzweifelten Leidenschaft geliebt, die nur hässliche Frauen kennen.
Ich habe ihre zu langen Haare geliebt, ihre flaumigen Nacken, ihre feuchte, pubertäre Haut. Ich habe es geliebt, sie in der Sonne schwitzen zu sehen, und mir für einen Augenblick den Geschmack ihres Speichels ausgemalt. Im Lyzeum machte ich mir einen Spaß daraus, sie mit ihren dicken Fingern voller Tintenflecke beim Durchstreichen und bei Rechtschreibfehlern zu ertappen. Die armen Trottel - ich machte mich über ihre Dummheit lustig. Ich sah gerne, wie sie unter Freunden freiheraus lachten und so taten, als gebe es die Mädchen nicht; das faszinierte mich, mich, die ich ständig nur an sie dachte, mich, die ewig unbefriedigte Besessene.
Auch die älteren Jungen habe ich geliebt, Sorbonne-Studenten, die gerade erst ihren Schulabschluss gemacht hatten, auch sie hatten noch zu lange Haare. Sie trugen Brillen und ziemlich altmodische Schals. Sie hatten lange, dünne Beine und Frauenhände. Sie rauchten und sprachen über irgendwelche wichtigen Themen, um anzugeben und die Romantiker zu mimen. Sie beschlossen den Tag im Theater, im Piano Vache oder auch in einer Mansarde, dann jedoch mit einem Mädchen.
Mittwochnachmittags ging ich oft in die Nationalbibliothek im 13. Arrondissement und sah mir all die Studenten an, die, in Celine oder La Rochefoucauld vertieft, ihre Zulassungsarbeit schrieben. Ich erinnere mich an diese Zeit, an diese Liebe, die ich für sie empfand. Ihre Gesichter habe ich vergessen. Sie sind nur noch ein loser Haufen aus verschwommenen Details wie diese Tennisspieler, die ich undeutlich vor mir sehe. Ich erinnere mich an zerzauste braune Haare, knochige Hände, hagere, fast zerbrechliche Körper im Licht der Leselampen.
Ich blieb bis fünfzehn Uhr, dann ging ich und überquerte dabei den großen zugigen Platz; der Wind bläst immer stark über diese Fläche, auf der die vier Türme der Bibliothek emporragen. Einige Studenten standen dort am Geländer. Ich ging an ihnen vorbei, sie sahen mich nicht an. Dann nahm ich die oberirdische Metro, die Linie sechs bis zur Station Raspail, ich sah zu, wie die Stadt vorbeizog, ruhig und grau. Und immer fürchtete ich ein wenig diesen Moment, wenn der Zug wieder in die Erde eindrang.Ich verbrachte meine Zeit in Bibliotheken und beobachtete sie, die jungen Männer, ich, die ich nichts anderes zu tun hatte, ich, die ich nur ihretwegen kam. Denn ich war nur eine mittelmäßige Studentin. Ich war in Philologie eingeschrieben, aber ich hatte keine Ahnung von Büchern, gut war ich nur in Grammatik und in Latein. Ich frage mich übrigens, wie es kam, dass ich nach meinem Examen in dieser Buchhandlung angestellt wurde. Literatur langweilte mich. Nicht die Umgebung der Bücher hatte mich gelockt, sondern eher der Anblick all dieser Studenten, dieser Jungen mit dem strengen Blick, die nach ihren Seminaren an der Sorbonne hierher kamen - und noch lange Zeit frönte ich in diesem abgelegenen Laden im Quartier Latin meiner Fantasie vom jungen Studenten, ohne mich je zu trauen, denjenigen kennen zu lernen, der sich hinter diesem Bild hochmütiger Schönheit verbarg.
Marica Marica.
Nixe mit den grünen Augen, fantastische Nymphe. Spinne, deren Küsse einen Kokon um meine Haut spannen. Im Nu war ich eingefangen, eingesponnen - einem schrecklichen Tod ausgeliefert.
Marica war hässlich, und auch dafür habe ich sie geliebt.
Körperliche Makel, monströse Menschen haben mich schon immer fasziniert. Ich schwärmte für Märchengestalten, studierte die Mythen; ich traf Zwerge, Bucklige, Versehrte. Ich hatte es zu einer Art Zeitvertreib gemacht. Andere sammeln Bücher oder Bilder, ihre Leidenschaft gilt leblosen Objekten. Ich hingegen sammelte Menschen. Mein Museum war eine Monstergalerie. Ich trug Gesichter und Körper zusammen. Ich klapperte Spitäler und Anstalten ab. Ich suchte rare Exemplare, Wunder der Natur - die äußerste Form menschlicher Entstellung.
So habe ich sie getroffen.
Im Frühjahr jenes Jahres hatte ich, wie ich es seit fünf Jahren tat, eine Annonce in die Zeitungen gesetzt. Ich suchte Modelle zum Fotografieren. Menschen mit körperlichen Besonderheiten.
Eines Abends rief Marica an.
Wir plauderten ein wenig. Sie hatte noch nie Modell gestanden, es war das erste Mal. Sie wusste nicht so genau, wie sie sich dabei anstellen sollte. Sicherlich kam daher auch diese Unbeholfenheit am anderen Ende der Leitung. Sie hatte eine tiefe Stimme wie ein Junge im Stimmbruch. Ich stellte sie mir sehr jung vor, sehr töricht. Achtzehn, neunzehn. Ich bat sie, sich zu beschreiben, und nach kurzem Schweigen sagte sie plötzlich: "Ich bin hässlich. Einfach hässlich."
Ich war überrascht, ungläubig, um ehrlich zu sein. Vielleicht übertrieb sie, vielleicht war es nur ein Jungmädchenkomplex. Ich wollte meine Zeit nicht verschwenden.
"Wenn wir uns treffen, können Sie es selbst beurteilen."
So verabredeten wir uns für einen Donnerstagabend im Jardin du Luxembourg.
Sie hatte getagt, dass sie im Schatten der Kastanienbäume beim Spielplatz auf mich warten würde. Ich war früh dran, hatte mit trockener Kehle und feuchten Händen gewartet. Wie sagte sie, hieß sie noch? Marica. Ma-ri-ca. Die Töne koltidieren im Mund, als wollten sich die drei Silben verheddern.
Marica Marica. Während ich den Weg entlangging, murmelte ich diesen Namen. Ich stellte mir ein pubertierendes Mädchen vor, plump, pickelig oder pummelig.
Am Spielplatz waren nur Kinder, Pärchen in ihren Dreißigern und ein paar Rentner - nicht die Spur einer depressiven oder übergewichtigen Jugendlichen. Da wartete nur ein sehr großes Mädchen. Reglos vor einem Gitter, ein zerknülltes Taschentuch in der Hand. Ich wusste nicht, ob sie es war; ich schlenderte noch ein wenig umher, drehte eine Runde und ging zurück. Wie auf ein Signal hin stand sie von der Bank auf - sie war es also. Und während ich auf sie zuging und versuchte, ihr Gesicht im Sonnenlicht zu erkennen, senkte sie wie aus Niedertracht den Kopf. So, dass ich in den ersten Minuten, da ich sie nicht sehen und nur ihre mädchenhafte Figur ausmachen konnte, an einen Betrug glaubte.
Ich fragte, ob sie Marica Barbier sei. Sie nickte nur, das war alles.
Wir wussten nicht, wie wir es anfangen sollten, also gingen wir ein Stück. Wir schlenderten aufs Geratewohl an den Bassins entlang. Ich stellte ihr ein paar Fragen, sie erzählte von sich. Sie war einundzwanzig und arbeitete in einer Buchhandlung in der Rue des Écoles. Zerstreut hörte ich ihr zu, ihre unbeholfene Ausdrucksweise störte mich - Marica sprach nämlich schlecht und sehr schnell, sie verschluckte Wörter, sie beendete ihre Sätze nicht. Im Sonnenlicht, das schräg einfiel wie ein schwarzer Schleier, sah ich ihr Gesicht nicht richtig. Außerdem traute ich mich kaum, sie anzusehen, weil ich fürchtete, sie könne es missverstehen. Aus dem Augenwinkel beobachtete ich ihre hastigen Schritte, ihre langen Beine ragten aus dem Saum eines roten Kleids.
Ich schlug vor, in ein Cafe in Montparnasse zu gehen. Sie war einverstanden. Wir setzten uns in eine schummrige Ecke, geschützt vor dem grellen Licht.
Kaum saß ich ihr gegenüber und hob den Blick - da war sie plötzlich präsent und bot mir ihr Gesicht dar, wie man eine Wunde, ein Tabu entblößt. In den ersten zehn Minuten unseres Zusammenseins war ich neben ihr hergegangen wie neben jedem anderen Mädchen ihres Alters, und binnen einer Sekunde sollte ich eine andere entdecken, die mir dort gegenübersaß. Automatisch schlug ich die Augen nieder, als hätte diese Konfrontation etwas Schamloses.
Denn Marica war nicht hübsch.
Der Kiefer war zu eng für ihr Gebiss. Die Lippen waren schmal, die Zähne sehr groß, fast unförmig. Dadurch standen die Schneidezähne vor, der Mund schloss sich nicht ganz. Das verlieh ihr eine Art ständiges schiefes Lächeln, ein schwachsinniges Lächeln, das aussah wie ein Loch. Alles andere hingegen war normal; die Nase war gerade, die Brauen schwarz und geschwungen. Doch durch den schiefen Mund wirkte altes wie verzerrt, selbst der Blick. So folgte Maricas Gesicht einer absurden Logik, als hätten sich die einzelnen Bestandteile irrtümlich ineinander geschoben.
Am Ende fragte sie mich, worin meine Arbeit bestehe. Ausweichend erzählte ich ihr von meiner Studie. Stotterte herum. Normalerweise, mit allen anderen, waren die Dinge von Anfang an klar, es kümmerte mich nicht besonders, ob ich sie kränkte. War es ihre Jugend, ihre Zerbrechlichkeit, die mir dieses Mal Schuldgefühle bereitete? Ich schämte mich mit einem Mal, ihr zu sagen, dass es mein Hobby war, Monster zu fotografieren, und dass ich, ohne wirklich zu verstehen warum, nach diesen wenigen Minuten mit ihr überzeugt war, dass sie genau das war, wonach ich immer gesucht hatte.
Wie dem auch sei, sie hörte mir gar nicht zu. Was spielte es schon für eine Rolle? Sie wollte lediglich, dass ich sie engagierte, dass ich sie fotografierte, dass ich sie betrachtete. Meine Beweggründe waren ihr gleichgültig. Schließlich fragte sie mich mit unbegreiflichem Eifer - als hätte sie plötzlich vergessen, dass ich sie nur wegen ihrer Hässlichkeit engagierte -, ob ich sie nun als Modell nehmen würde. Ich sagte, man müsse es versuchen.
Schweigen trat ein. Marica lächelte flüchtig.
"Danke. Hoffentlich enttäusche ich Sie nicht. Ich habe keine Erfahrung, wissen Sie."
Doch ich begriff, dass sie traurig war.
Ich begriff auch, dass unter diesem Gesicht ein tieferer Makel lag als nur ein körperlicher - eine verborgene Wunde, die jene Hässlichkeit noch zu betonen schien oder deren eigentliche Ursache war.
Und nun war alles verdorben.
Das frisch aufgelegte Make-up, der Geruch der Creme auf der Haut, das Rot des Kleides, das um den Körper schwang. Die Illusion von Schönheit auf meinem Gesicht. All das endgültig kaputt, vertan.
Ich mag die Versprechungen des Sommers nicht, die Erregung, die die ersten heißen Tage begleitet. Vor allem mag ich die Tage nicht, an denen mehr Pollen durch die Luft fliegen als gewöhnlich, als hätten alle Pflanzen der Stadt sich verschworen, um zur selben Zeit ihren schrecklichen Samen auszustoßen.
Ich bin allergisch gegen Pollen. Jedes Jahr im Frühling vollzieht sich die Metamorphose: Ich verwandle mich in einen Kolben. In meinen Adern wird das Blut heiß, es kocht, es wird destilliert. Mein Gesicht sieht dann aus wie eine Larve: tränende Augen, juckende Nase, geschwollene Lippen. Ich bin voller Gift.
Dieses Jahr war der Pollenflug besonders schlimm. Vor allem an jenem Abend, jenem Maiabend im Quartier Latin. Als der Blütenstaub sich plötzlich ergoss wie in einem Traum, war ich im Jardin du Luxembourg, genauer: unter den Rosskastanienbäumen der mittleren Allee. Rosskastanien sind fruchtbare Bäume; wenn man so einen feindseligen Körper hat wie ich, ist es nicht ratsam, sich unter ihnen aufzuhalten.
Und an jenem Abend kam alles noch schlimmer.
Ich habe trotzdem alles versucht, um den Schein zu wahren und meinen Körper wie mit einer Rüstung zu schützen. Ich hatte gerade geduscht. Meine Haut roch gut. Mein Gesicht war glatt. Ich trug sogar das rote Kleid von Gaelle, das sie mir vor zwei Jahren ausgeliehen hatte und das ich ihr nie wieder zurückgegeben habe.
Das Kleid stand Gaelle gut. Sie ist ein sehr dunkler Typ. Ihre Haut, ihre Haare. Sie trug immer warme Farben, dunkle Rottöne, und ihr Körper war unendliche Lust, ein sinnlicher, aufreizender Tanz. Ich sah es gern, wenn sie an Sommerabenden dies es Kleid anzog und sich mit ihrem momentanen Freund traf. Ich beneidete sie um diese Kupferhaut - wie Asphalt, der in den Augen brennt, wenn die Sonne ein wenig zu hell scheint.
Eines Tages hatte Gaelle gesagt, ich könne das Kleid mitnehmen. Am Abend probierte ich es in meinem Zimmer an, allein, und bildete mir dabei ein, das Kleid sei ihre Haut, und ich würde sie anlegen. Das Ergebnis war grotesk. Ich betrachtete eine Weile diesen Körper; er hatte sich nicht verändert, er war im Kontrast zu dem Stoff nur noch blasser. Vielleicht ist meine Haut deshalb so bleich, so mineralisch, weil ich meine Kindheit im Norden, im Land der Zechen verbracht habe.
Ich war nicht schön. Kleid hin oder her, ich hatte keinerlei Ausstrahlung. Ich hatte zwar schöne, lange und nicht zu dicke Beine mit hübschen Knien. Darauf war ich eigentlich ganz stolz. Ständig schlug ich das eine und dann wieder das andere Bein über. Gaelle hingegen war in dieser Hinsicht nicht verwöhnt. Sie hatte mir erzählt, dass sie in jüngeren Jahren eher mollig gewesen war, und trotz ihrer Diät waren ihre Beine drall geblieben. Sie hatte Männerwaden, die dicken strammen Waden einer Bäuerin ohne jede Eleganz.
Doch sie hatte ein hübsches Gesicht, einen Schmollmund und einen wunderschönen Hals wie eine junge Katze - was ich nicht hatte. Gaelle hatte ein Gesicht, während ich eine Visage hatte, sie strahlte, während ich mich für meinen Mund schämte, sie hatte einen Körper, während ich ein Klotz war.
Gaelle hatte ein bisschen Mitleid mit mir, mir gegenüber zeigte sie nicht, dass sie wusste, wie schön sie war. Selbst wenn ich mich beklagte oder wenn ich ihr Komplimente machte, damit auch ich welche bekäme, schlug sie die Augen nieder, wie um mir zu sagen: "Es ist nun einmal, wie es ist." Es gibt wohl nichts Grausameres als diese körperlichen Ungerechtigkeiten. Manchmal hätte ich mir gewünscht, dass sie lügt und sagt, dass auch ich hübsch sei. Nur aus Höflichkeit. Aber ich habe ihr verziehen. Ihre naive Schönheit, für die sie sich mir gegenüber schuldig fühlte, machte sie mir sympathisch. Wir wurden Freundinnen.
Schon eine ganze Weile, seit meinem Abgang von der Universität, hatte ich sie nicht mehr wieder gesehen. Das Kleid behielt ich absichtlich. Wie um Gaelles Wesen, den dunklen Schatten ihres Körpers, heimlich bei mir zu bewahren, bis auch mich ein Mann ansehen würde.
An jenem Abend im Jardin du Luxembourg war die Welt also auf einmal böse geworden.
Die Kinder auf dem Spielplatz freuten sich über diesen warmen, unzeitigen Schnee. Dieser Blütenstaub ist wie ein Zauber. Sosehr er auch da ist, sosehr er auch die Luft tränkt und verseucht wie ein Gift, man kriegt ihn doch niemals zu fassen, kann ihn nicht mit der Hand einfangen. Die Kinder versuchen es. Manchmal gelingt es ihnen, wenn sich zufällig eine Flocke in ihrem Haar verfängt. Sie nehmen sie in die Hand, betrachten sie kurz, dann zerdrücken sie sie grausam.
Die Allergie brach sogleich aus. Ich setzte mich auf eine Bank neben den Tennisplätzen und drückte ein Taschentuch ganz fest in der Hand, um den Juckreiz besser auszuhalten, den die Luft bei mir auslöste. Manchmal sage ich mir, ich sei nicht allergisch gegen Pollen, sondern gegen die ganze lebendige Welt, gegen das vegetabile Sommergewimmel. Ich bin für das Klima von Valenciennes geschaffen, für aride Minen und unterirdische Gruben, wo nichts wächst außer Steinen.
Dort, hinter dem Gitter, spielen junge Männer Tennis. Ich kann sie schlecht sehen, weil das Licht auf dem Platz flimmert. Ich sehe nur dunkle Körper, braune Haut, die mit der gestampften Erde verschwimmt. Ich reiße die Augen weit auf. Flecken sprenkeln meinen Blick. Ich nehme Schatten wahr, behände Bewegungen. Dumpfes Stöhnen, wenn der Schläger den Ball trifft. Alles wirkt plötzlich schwachsinnig, in diesem grellroten Licht und mit diesen Silhouetten, die um sich schlagen wie in einem schlechten Traum.
Ich putze mir die Nase, um meinen Körper wieder zu spüren, um diese Schwere abzuschütteln. Um die Augen zu öffnen.
Sie dürften achtzehn Jahre alt sein. Sie stoßen kehlige Schreie aus, lachen völlig unsinnig, wenn einer von ihnen aus Ungeschicklichkeit den Ball verfehlt. Für einen Moment denke ich, sie machen sich über mich lustig. Denn ich bin lächerlich, wie ich da sitze, mit laufender Nase und verschmierter Wimperntusche.
Sie sind ein bisschen plump, fast tölpelhaft. Und dennoch hat ihre Jugendlichkeit etwas Bösartiges. Etwas Unverschämtes. Ich stelle mir ihre verzerrten Gesichter vor, ihre Augen, die sie, von der Sonne geblendet, zusammenkneifen; wie sie sich über die Strähnen ärgern, die ihnen in die Stirn fallen. Gleich nach der Partie werden sie nach Hause gehen, wahrscheinlich irgendwo im Quartier Latin, sie werden duschen und dabei blöd prusten, dann werden sie sich mit ihren Freundinnen treffen und mit der gleichen begierigen Heftigkeit mit ihnen schlafen.
Die Körper von Jungen sind immer ein bisschen brutal.
Solche wie sie gab es zu Dutzenden, in der Metro, an der Uni, an der Straßenecke. Nette griechische Götter mit schamlosem Lachen, und ich habe sie geliebt.
Ich habe all die Jungen der Welt mit mehr Liebe und mehr Aufopferung geliebt als jede andere, habe sie mit dieser kindischen und verzweifelten Leidenschaft geliebt, die nur hässliche Frauen kennen.
Ich habe ihre zu langen Haare geliebt, ihre flaumigen Nacken, ihre feuchte, pubertäre Haut. Ich habe es geliebt, sie in der Sonne schwitzen zu sehen, und mir für einen Augenblick den Geschmack ihres Speichels ausgemalt. Im Lyzeum machte ich mir einen Spaß daraus, sie mit ihren dicken Fingern voller Tintenflecke beim Durchstreichen und bei Rechtschreibfehlern zu ertappen. Die armen Trottel - ich machte mich über ihre Dummheit lustig. Ich sah gerne, wie sie unter Freunden freiheraus lachten und so taten, als gebe es die Mädchen nicht; das faszinierte mich, mich, die ich ständig nur an sie dachte, mich, die ewig unbefriedigte Besessene.
Auch die älteren Jungen habe ich geliebt, Sorbonne-Studenten, die gerade erst ihren Schulabschluss gemacht hatten, auch sie hatten noch zu lange Haare. Sie trugen Brillen und ziemlich altmodische Schals. Sie hatten lange, dünne Beine und Frauenhände. Sie rauchten und sprachen über irgendwelche wichtigen Themen, um anzugeben und die Romantiker zu mimen. Sie beschlossen den Tag im Theater, im Piano Vache oder auch in einer Mansarde, dann jedoch mit einem Mädchen.
Mittwochnachmittags ging ich oft in die Nationalbibliothek im 13. Arrondissement und sah mir all die Studenten an, die, in Celine oder La Rochefoucauld vertieft, ihre Zulassungsarbeit schrieben. Ich erinnere mich an diese Zeit, an diese Liebe, die ich für sie empfand. Ihre Gesichter habe ich vergessen. Sie sind nur noch ein loser Haufen aus verschwommenen Details wie diese Tennisspieler, die ich undeutlich vor mir sehe. Ich erinnere mich an zerzauste braune Haare, knochige Hände, hagere, fast zerbrechliche Körper im Licht der Leselampen.
Ich blieb bis fünfzehn Uhr, dann ging ich und überquerte dabei den großen zugigen Platz; der Wind bläst immer stark über diese Fläche, auf der die vier Türme der Bibliothek emporragen. Einige Studenten standen dort am Geländer. Ich ging an ihnen vorbei, sie sahen mich nicht an. Dann nahm ich die oberirdische Metro, die Linie sechs bis zur Station Raspail, ich sah zu, wie die Stadt vorbeizog, ruhig und grau. Und immer fürchtete ich ein wenig diesen Moment, wenn der Zug wieder in die Erde eindrang.Ich verbrachte meine Zeit in Bibliotheken und beobachtete sie, die jungen Männer, ich, die ich nichts anderes zu tun hatte, ich, die ich nur ihretwegen kam. Denn ich war nur eine mittelmäßige Studentin. Ich war in Philologie eingeschrieben, aber ich hatte keine Ahnung von Büchern, gut war ich nur in Grammatik und in Latein. Ich frage mich übrigens, wie es kam, dass ich nach meinem Examen in dieser Buchhandlung angestellt wurde. Literatur langweilte mich. Nicht die Umgebung der Bücher hatte mich gelockt, sondern eher der Anblick all dieser Studenten, dieser Jungen mit dem strengen Blick, die nach ihren Seminaren an der Sorbonne hierher kamen - und noch lange Zeit frönte ich in diesem abgelegenen Laden im Quartier Latin meiner Fantasie vom jungen Studenten, ohne mich je zu trauen, denjenigen kennen zu lernen, der sich hinter diesem Bild hochmütiger Schönheit verbarg.
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Autoren-Porträt von Anne-Sophie Brasme
Mit ihrem Debüt »Dich schlafen sehen« sorgte die 16-jährige Autorin in Frankreich für Furore: Der Roman wurde als literarische Sensation betrachtet und stand wochenlang auf der Bestsellerliste. Anne-Sophie Brasme, geboren 1984, gilt seitdem als eines der vielversprechendsten Talente der jungen französischen Literatur. Sie lebt in der Nähe von Metz.Gaby Wurster, geboren 1958, ist Autorin und freie Übersetzerin aus dem Englischen, Französischen, Griechischen und Italienischen. Sie lebt in Tübingen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Anne-Sophie Brasme
- 2008, 190 Seiten, Maße: 12,1 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Wurster, Gaby
- Übersetzer: Gaby Wurster
- Verlag: Goldmann
- ISBN-10: 3442465680
- ISBN-13: 9783442465682
Rezension zu „Das erste Mal sah ich sie an einem Samstagnachmittag “
"Die Autorin deckt unsere dunklen Seiten auf. Meisterhaft!"
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