Das ganze Leben umarmen
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Das ganze Leben umarmen von Bettina Eistel
Erster Teil »Es ist ein Mädchen!«
Sonntagskind & Sonnenschein
Genau genommen beginnt das menschliche Leben natürlich nicht erst mit der Geburt, sondern, wenn alles normal verläuft, neun bis zehn Monate davor. Meine Eltern freuten sich auf ihr zweites Kind. Sie freuten sich auf mich. Knapp vier Jahre zuvor war meine Schwester Barbara geboren worden, und nun würde sie endlich ein Brüderchen oder ein Schwesterchen bekommen – ach was, ganz egal, Hauptsache, gesund sollte es sein und vielleicht auch ein bisschen ruhiger als die Erstgeborene, hoffentlich: Denn meine Schwester Barbara war in ihren ersten Lebensjahren ein ausgesprochen lebhaftes, extrem anstrengendes Kind, das rasch zu einem interessierten Mädchen heranwuchs. Sie war so eine Art hyperintelligenter Brummkreisel, der sich selbst immer wieder aufziehen konnte. Heutzutage würde man bei Barbara wahrscheinlich eine deutliche Hochbegabung erkennen und die Familie entsprechend unterstützen. Damals hieß es nur: »Schreikinder sind Gedeihkinder«, doch für das schon leicht angeschlagene Nervenkostüm meiner Mutter war diese Volksweisheit letztendlich nur ein schwacher Trost. Der andauernde Schlafentzug zermürbte sie zusehends, verschlimmerte auch ihre regelmäßigen Migräneattacken, und so fiel es ihr in jenen Jahren immer schwerer, auch tagsüber ihren »Mann zu stehen«.
Auch meine Mutter erlag eines Tages auf Anraten ihres Hausarztes der Verlockung, sich mit Hilfe des Mittels endlich einmal eine gesunde Portion Schlaf zu gönnen. Sie schluckte das Medikament dann zwei oder drei Mal, und zwar exakt während des 38. und 44. Tages ihrer Schwangerschaft mit mir.
Das Contergan zeigte fatalerweise gleich eine dreifache Wirkung: Zum einen spricht meine Mutter bis heute von dem »bleiernen, geradezu komatösen Schlaf«, der sie damals überfiel. Zum anderen erinnert sie sich auch noch ganz genau an das merkwürdige Kribbeln in ihren Händen und Füßen, das im Laufe des Tages erstaunlicherweise in ein Taubheitsgefühl umschlug. Diese beiden Phänomene veranlassten sie dazu, das Contergan sofort von ihrem »Speiseplan« zu streichen. Sie hatte »irgendwie ein schlechtes Gefühl«.
Aber es war längst zu spät: Das Thalidomid hatte bereits in meine genetische Struktur eingegriffen, das Wachstum meiner Arme und meiner Gallenblase gestoppt sowie meinem Zwölffingerdarm einen Schlag versetzt, den er nur mit schwersten Schädigungen überleben sollte.
Als meine Mutter und ich über diese Zeit sprachen, in der sie mich erwartete, während mein Vater täglich 12 Stunden und länger in der Firma arbeitete und ihr meine Schwester Barbara auf den strapazierten Nerven herumtrampelte, fühlte ich keinerlei Vorwurf in mir aufsteigen, dass sie Contergan genommen hatte. Sie hatte mir bestimmt nicht schaden wollen, ganz im Gegenteil: Sie war doch bloß der festen Überzeugung gewesen, mir einen möglichst ausgeruhten, intakten Körper als vorläufiges Heim zur Verfügung stellen zu müssen. Tatsächlich konnte zu diesem frühen Zeitpunkt keine Mutter auch nur im Entferntesten ahnen, was sie mit dem Griff zur Tablette anrichten würde.
Allerdings kursierten Ende des Jahres 1959 in Fachkreisen erste Berichte klinischer Neurologen, dass Contergan wohl doch nicht so harmlos sei wie in der Werbung versprochen: »Ein Augenblick voll natürlicher Harmonie lässt uns wünschen, dass die Sekunde sich dehne. Doch zumeist bleibt es Augenblick und flüchtiger Wunsch, denn die Unruhe, dem Geiste einst dienstbar, beherrscht uns und treibt uns umher. Ruhe und Schlaf zu fördern vermag Contergan. Dieses gefahrlose Medikament belastet den Leber-Stoffwechsel nicht, beeinflusst weder den Blutdruck noch den Kreislauf und wird auch von empfindlichen Patienten gut vertragen. Schlaf und Ruhe: Contergan, Contergan forte.« 30 dieser Wunderpillen kosteten übrigens 3,90 Mark.
Die Rede war zunächst nur von »Nervenschädigungen infolge Langzeitmedikation«. 1960 wurde diese »Neurotoxizität« des Wirkstoffs Thalidomid dann von mehreren deutschen Universitäten attestiert. In den folgenden Monaten – nachdem fast vier Jahre lang nichts passiert oder an die Öffentlichkeit gedrungen war – gingen auf einmal Hunderte (andere Quellen sprechen gar von »Tausenden Alarmmeldungen«), Besorgnis erregende Berichte von Ärzten und Krankenhäusern beim Stolberger Pharmaunternehmen ein. Heute, im Zeitalter der Kommunikation und des aggressiven Verbraucherschutzes, erscheint es uns nach wie vor unbegreiflich, dass damals nicht sofort die Alarmglocken läuteten. Die zeitliche Distanz zwischen den ersten alarmierenden Beobachtungen und dem Bekanntwerden in der Öffentlichkeit bleibt dem Nachfragenden bis heute ein Rätsel, schließlich war jeder einzelne Tag entscheidend über das Schicksal der Mütter und ihrer Babys. Ein weiterer, schwacher Erklärungsversuch für das offensichtliche Desinteresse an einer tickenden Zeitbombe ist die konsequente Anwendung der »Es-kann-doch-nicht-sein-was-nicht-sein-darf«-Haltung. Denn die so genannte Obrigkeitshörigkeit, verbunden mit dem absoluten Vertrauen in die deutsche Medizin- und Pharmaforschung, war damals schließlich weit verbreitet. Wer legte sich schon freiwillig mit einem international erfolgreichen Unternehmen an? Wer sollte es wagen, die Kompetenz von deutschen Wissenschaftlern und Medizinern anzuzweifeln? Überdies befand sich das ganze Land dank des Wirtschaftswunders in einem Stimmungshoch, in dem schlechte Nachrichten häufig untergingen, weil sie einfach nicht gehört werden wollten.
Anfang des Jahres 1961 (und damit wenige Monate vor meiner Geburt) beschrieb der Direktor der Krefelder Kinderklinik, Prof. Dr. Hans-Rudolf Wiedemann, insgesamt 13 Fälle von »Gliedmaßenfehlbildungen« bei Neugeborenen, die er in den vergangenen zehn Monaten in seinem Krankenhaus beobachtet hatte (und die laut des bestehenden Krankenblattarchivs in den vorangegangenen Jahrzehnten kaum vorgekommen waren). Innerhalb weniger Wochen wurden Wiedemanns Beobachtungen von Kliniken aus allen Teilen (West-)Deutschlands bestätigt: Landauf, landab sahen Gynäkologen und Hebammen sich plötzlich mit derselben rätselhaften Häufung schrecklichster Phänomene konfrontiert: mit kleinen hilflosen Menschen, deren Extremitäten und häufig auch innere Organe ganz oder teilweise fehlten, die verkrüppelt und manchmal schlicht nicht überlebensfähig waren.
Mit einem Mal interessierten sich auch die großen Illustrierten wie die »Neue Revue«, die »Quick« und vor allem der »Stern« für das Medikament, und auch das Stolberger Pharmaunternehmen reagierte. Zunächst bemühte sich die firmeneigene Forschungsabteilung, die beschriebenen Nervenschädigungen im Tierversuch zu reproduzieren, was aber nicht gelang. War das Mittel also doch sicher? Hatte die plötzliche Missbildungsepidemie in Deutschland gar nichts mit dem Contergan zu tun, sondern etwa mit geheimnisvollen unterirdischen »Atombombenversuchen« der Supermächte, wie damals ein Gerücht lautete? Hatten die betroffenen Mütter – Männer schienen nämlich so gut wie über jeden Verdacht erhaben – etwa bis dato unbekannte genetische Defekte, oder hatten sie vielleicht bloß zu viel Alkohol getrunken, vor und während der Schwangerschaft?
Solange nicht zweifelsfrei bewiesen werden konnte, wie und ob überhaupt das Thalidomid für die enorme Steigerungsrate missgebildeter Kinder verantwortlich war, setzte das Unternehmen alle – auch die politischen – Hebel und Rädchen in Bewegung, um der drohenden Verschreibungspflicht zu entgehen, die sich naturgemäß negativ auf den Umsatz ausgewirkt hätte. Doch unter dem ständigen Einfluss immer neuer Hiobsbotschaften beugte Grünenthal sich schließlich dem Druck der Öffentlichkeit: Das Pharmaunternehmen beantragte am 26. Mai 1961 – und damit 19 Tage nach meiner Geburt – die Rezeptpflicht, die am 1. August desselben Jahres in Kraft trat. Für den Profit war das ein herber Schlag, denn bis dahin war gut die Hälfte des Umsatzes mit Contergan im freien Verkauf erzielt worden. Am 26. November jenes Jahres veröffentlichte schließlich die Wochenzeitung »Welt am Sonntag« einen Bericht über die Untersuchungen des Hamburger Kinderarztes Dr. Widukind Lenz: Der Humangenetiker glaubte herausgefunden zu haben, dass die Einnahme thalidomidhaltiger Medikamente in den ersten Wochen einer Schwangerschaft im direkten Zusammenhang mit den bekannten Verstümmelungen (»Missgeburt durch Tabletten?«) stehen könnte. Gleichzeitig stellte Lenz eine Liste zusammen, die Aufschluss darüber gab, welche Fehlbildungen beim Fötus möglich waren, wenn die werdende Mutter auch nur eine einzige Contergantablette eingenommen hatte – eine Liste des Schreckens:
• 34.–37. Tag nach der letzten Regel: Augenmuskel- und Hirnnervenlähmung
• 34.–39. Tag: völliges Fehlen der Ohrmuschel (Anotie)
• 35.–43. Tag: fehlende Organanlage (Agenesie) des Daumens
• 35.–43. Tag: grauer Star
• 36.–45. Tag: Fehlbildung (Dysplasie) des Herzens und der großen Gefäße
• 38.–43. Tag: Fehlbildung der Niere
• 38.–44. Tag: völliges Fehlen der Arme (Amelie)
• 38.–47. Tag: Hände sitzen an der Schulter (Phokomelie der Arme)
• 38.–48. Tag: Fehlbildung der Hüftgelenke
• 39.–44. Tag: Innen- und Mittelohrfehlbildungen
• 39.–46. Tag: Fehlbildung der Ober- und Unterarmknochen (Elekromelie)
• 40.–46. Tag: Zwölffingerdarmverschluss
• 40.–46. Tag: unvollkommene Bildung des Oberarmbeines
• 40.–48. Tag: Füße sitzen am Becken
• 40.–48. Tag: unvollkommene Bildung des Daumens
• 40.–48. Tag: Fehlbildung der Verdauungsorgane
• 41.–44. Tag: Zwölffingerdarmverengung
• 41.–44. Tag: Verschluss des Afters
• 41.–44. Tag: Fehlbildung des Atmungsapparates
• 41.–46. Tag: völliges Fehlen der Beine (Amelie)
• 41.–47. Tag: unvollkommene Bildung (Aplasie) des Zeigefingers
• 41.–49. Tag: unvollkommene Bildung der Speiche
• 41.–50. Tag: Verdoppelung der Großzehe
• 41.–44. Tag: fehlende Organanlage der Gallenblase
• 42.–45. Tag: Fehlbildung der Genitalien
• 42.–50. Tag: unvollkommene Bildung des Schienbeins
• 43.–46. Tag: Leistenbruch
• 43.–52. Tag: unvollkommene Bildung des Oberschenkelknochens
• 44.–48. Tag: Fehlbildung des Ober- und Unterschenkelknochens
• 45.–51. Tag: Dreigliedrigkeit (Triphalangie) des Daumens
Lenz hatte das Pharmaunternehmen bereits am 15. November mit seinen Untersuchungsergebnissen konfrontiert, doch erst nach seinem Aufsehen erregenden Zeitungsartikel in der »Welt am Sonntag« wurde das Medikament vom Markt genommen. © 2007 Verlagsgruppe Lübbe
- Autor: Bettina Eistel
- 2007, 299 Seiten, 37 farbige Abbildungen, mit Schwarz-Weiß-Abbildungen, Maße: 13,5 x 22,2 cm, Gebunden, Deutsch
- Mitarbeit: Schuller, Alexander
- Verlag: Ehrenwirth
- ISBN-10: 3431037100
- ISBN-13: 9783431037104
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