Das giftige Herz
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KONTUREN IM SCHNEE
Gregor Wanner griff nach dem Messerund fragte sich, ob es nicht wirklich an der Zeit wäre, sich die Kehledurchzuschneiden. Er hatte die Klinge des Rasiermessers gewissenhaft abgezogen.Sie war jetzt so scharf, dass er den Schnitt gar nicht spüren würde. Er würdenur seine buschigen Augenbrauen überrascht in die Höhe ziehen und sich einwenig nach vorn beugen. Er würde beobachten, wie das Blut den Rasierschaum rotverfärben und auf sein weißes Unterhemd tropfen würde. Er würde neugierigdabei zusehen, wie die Lebenskraft aus seinen Augen wich. Das Messer mit derblutverschmierten Klinge würde auf den Dielenboden fallen und er langsam in dieKnie gehen und zu Boden sinken. Ein letztes Aufbäumen, die Arme nach hintenwerfen, liegen bleiben und darauf warten, dass Frau Esslinger hereinkam undeinen gehörigen Schreck bekam. Wanner grinste. Er rückte den Rasierspiegel einwenig zur Seite und wandte das Gesicht dem Fenster zu, damit mehr Licht auf ihnfiel. Er hob das Kinn, setzte die Klinge an und begann langsam undgewissenhaft mit der Rasur.
Als er gerade dabei war, seinendichten Schnurrbart ein wenig zu stutzen und dabei zu seinem großen Erstaunenein graues Haar entdeckte, polterte es gegen seine Tür. Er zuckte, die Klingerutschte aus, glitt im falschen Winkel über die Wange und hinterließ einenfeinen Schnitt. Der Schnitt füllte sich mit Blut, dann bildete sich einTropfen, dann noch einer.
«Herrgott, Sakra! Frau Esslinger!Was ist denn los! »
Wanner legte das Messer beiseite undgriff nach dem Handtuch neben der Waschschüssel.
Die Zimmertür ging auf, und einekleine alte
Zu spät.
«Mein Handtuch! , rief FrauEsslinger. «Blut!»
Wanner blickte erstaunt auf dasHandtuch, das eben noch blütenweiß gewesen war und nun Flecken aufwies.
«Zum Teufel, Frau Esslinger. Das istIhre eigene Schuld! Was rumoren Sie auch vor meiner Tür herum?»
«Ich rumore nicht, ich fege!Außerdem ...»
Hinter Frau Essfinger tauchte eingroßer dünner Mann auf.
Er drängte sich an der kleinen Frauvorbei und blieb im Türrahmen stehen.
«Herr Oberrat?», sagte Wannerüberrascht.
«Sie haben Besuch», sagte FrauEsslinger, drehte sich um und verschwand. « Herr Inspektor, Ihnen tropft Blutvon der Wange.»
Wanner legte das Handtuch auf dieWunde. Jetzt spürte er den Schmerz und kniff die Lippen zusammen.
«Was ... verschafft mir die Ehre,Herr Oberrat ...?»
«Ziehen Sie sich an, Herr Inspektor.Ich warte unten in der Kutsche auf Sie.» Oberrat Schreiber drehte sich um undverschwand.
Und schon stand wieder die Esslingerin der Tür. Ihre Augen glänzten vor Neugier.
«Ist wieder was passiert?», fragtesie.
Wanner zuckte mit den Schultern.Dann fiel ihm auf, dass er hier in Unterhosen, Unterhemd und Socken vor seiner Zimmerwirtinstand, noch dazu blutend. Schlagartig wurde er wütend.
«Lassen Sie mich allein, Sieneugieriges Aas!»
Er hob drohend den kleinen Blechnapfmit dem Rasierschaum. Frau Esslinger zog den Kopf ein, verschwand in Windeseileim Flur.
Wanner schloss die Tür. Missmutig zoger sich an. Die halbe Nacht war er durch die engen Gassen von Nürnberg geschlichen,auf der Suche nach verdächtigen Subjekten, die angeblich planten, die neueelektrische Beleuchtung auf dem Hauptmarkt zu sabotieren. Spitzel hatten diesesGerücht aufgebracht, dem nach Meinung von Inspektor Wanner jede vernünftigeGrundlage fehlte. Aber Oberrat Schreiber wollte dem Patriziat der Staatunbedingt beweisen, dass er auch in der Adventszeit für Sicherheit und Ordnungsorgen konnte. Deshalb schickte er wegen jedem Gerücht seine «fähigsten Beamten»los. Und weil Schreiber den oberbayerischen Dickkopf Wanner nicht leiden.konnte, musste der immer die nächtlichen Kontrollgänge unternehmen.
Aber dass der Oberrat dann gleich amnächsten Morgen in Wanners Wohnung kam, um ihn abzuholen, war noch nievorgekommen.
Frau Esslinger war nirgends zusehen, als Wanner über die steile Außentreppe in den engen, düsteren Hinterhof hinunterstieg. Es herrschte eine fürchterliche Unordnung:alte Fässer, kaputte Kisten und zerrissene Körbe lagen herum, ein demolierterLeiterwagen stand ihm im Weg, und neuerdings hatte sich sogar ein alterKanonenofen zu dem Unrat gesellt. Wanner trat durch den niedrigen Torbogen indie schmale Gasse mit den schiefen Fachwerkhäusern.
Oberrat Schreiber saß in einemEinspänner und schlug ungeduldig mit dem Knauf seines Spazierstocks auf dielinke Handfläche. Das Verdeck war nach hinten geschoben, obwohl dünneSchneeflocken vom Himmel herunterfielen. Inspektor Wanner stieg in die Kutscheund ließ sich auf den gepolsterten Sitz neben dem Oberrat fallen.
«Sie werden doch wohl nicht miteinem blutbesudelten Handtuch durch die Stadt fahren wollen, Inspektor», sagte Schreiber.
Wanner bemerkte erstaunt, dass ernoch immer das Handtuch gegen die Wange gepresst hielt. Er besah sich denfleckigen Stoff. Die Blutung hatte noch nicht aufgehört, aber deutlich nachgelassen.Er warf das Handtuch aus der Kutsche.
Oberrat Schreiber klopfte demKutscher mit dem Stockknauf gegen den Rücken. Der Kutscher schnalzte mit der Zunge,die Kutsche ruckte nach vorn.
Schweigend saßen sie nebeneinander.Die Räder der Kutsche knirschten auf dem unebenen Pflaster. Mal ging es ein wenigbergauf, dann wieder bergab, dann um eine enge Kurve, Richtung Burg. Wannertraute sich nicht, den Oberrat nach dem Grund für diesen morgendlichen Ausflugzu fragen. Er wusste, dass Schreiber ihn für einen Bauerntölpel hielt. Warumsonst hätte man den Inspektor von München nach Nürnberg zwangsversetzensollen? Wanner war ja selbst der Ansicht, dass er diese Versetzung verdienthatte. Immer noch besser Nürnberg als irgendein kleines Kaff in seiner oberbayerischenHeimat. Aber ehrlich gesagt war ihm Nürnberg zu eng. Er hatte ständig dasGefühl, er müsse seine Arme dicht am Körper halten, wenn er durch die Gassenging. Wenn er sich streckte, würde er womöglich eine morsche Hauswand einreißen.Verdammtes Nürnberg! Diese Stadt war einfach nicht für Menschen mit seinerStatur gebaut worden.
«Sie werden Ihre nächtlichenKontrollgänge einstellen», sagte der Oberrat plötzlich. Nanu, dachte Wanner,werde ich degradiert? Hat jemand es trotz meiner nächtlichen Streifzüge geschafft,die elektrische Beleuchtung auf dem Hauptmarkt zu sabotieren? Bin ich wirklichein Versager? Schicken sie mich jetzt vielleicht doch nach Oberbayern?
« Sie werden ganz auf sich alleingestellt sein in dieser Angelegenheit», sagte der Oberrat.
Welche Angelegenheit?, fragte sich Wanner. Aber er traute sich nicht, zu fragen.
Es passt nicht in die Adventszeit,dass solche Dinge passieren», murmelte der Oberrat vor sich hin.
Sprach er nur mit sich selbst, odererwartete er eine Antwort?
«Der Stadtrat ist in Sorge.» Jetztsprach der Oberrat noch leiser. «Es darf kein Schatten auf den Christkindlesmarkt fallen», murmelte er, «kein Schatten.»
Es ist doch etwas mit derelektrischen Beleuchtung geschehen, dachte Wanner. Und mich werden sie zurVerantwortung ziehen.
Sie erreichten das Westtor, wandtensich nach links und fuhren direkt an der Stadtmauer entlang Richtung Fürther Tor.Rechts von ihnen erhob sich die massive Steinwand der Stadtbefestigung, auf derlinken Seite duckten sich verwinkelte, ineinander verkeilte Häuschen, alswürden sie Schutz hinter der Mauer suchen. Sie passierten das Fürther Tor,erreichten das Spittlertor und hielten direkt vor demmächtigen Turm, der hier drohend die Stadtmauer überragte.
Der Kutscher stieg ab und öffnetedie Wagentür. Oberrat Schreiber kletterte aus dem Wagen und erklomm über eineüberdachte schmale Steintreppe den Wehrgang. Schreiber ging so schnell, dassWanner kaum einen Blick durch die Scharten der Brustwehr nach draußen werfenkonnte. Dann erreichten sie einen Wehrturm, und plötzlich kletterte der Oberratdurch eine Öffnung des halb zerfallenen Mauerwerks nachdraußen.
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© Verlag Wunderlich
- Autor: Virginia Doyle
- 2005, Neuausg., 190 Seiten, Maße: 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Rowohlt TB.
- ISBN-10: 3499265958
- ISBN-13: 9783499265952
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