Das große Buch der skandinavischen Weihnachtsgeschichten
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Das große Buch der skandinavischenWeihnachtsgeschichten von HenningMankell, Liza Marklund, Jostein Garder undanderen
LESEPROBE
Unni Nielsen
Schmetterlinge imDezember
An diesem Heiligen Abend regnet esmorgens Eis. Dünne Regenschleier gefrieren auf allen Glasoberflächen, die sieberühren. Schwarze Eiszweige spielen mit gekrümmten Fingern an den Apfelbäumenim Garten ihr Glasperlenspiel, Spröde Klänge im Wind. Benjamin steht imDunkeln und horcht auf das Glasperlenspiel, er weiß nicht, wie lange er schonhier steht, er spürt, dass die Kälte durch seine Kleidung dringt, bis zu denKnochen.
Und da bleibt sie für den restlichenTag. Er ist steif vor Frost, kann einfach nicht wieder warm werden, kann auchnichts tun. Er müsste eigentlich vor dem Auftritt in der Kirche noch einmalNoten und Liedertexte büffeln, er weiß, dass die irgendwo auf seinem Zimmer ineinem Papierhaufen liegen.
Die Zeit sickert Benjamin durch dieFinger, und immer wieder schaudert er zusammen, weil die Kälte ihm noch immer inden Knochen steckt. Dann klingelt das Telefon, und plötzlich herrscht dasChaos, er hört die allerzielstrebigsten Schritte seiner Mutter auf der Treppe;Joffe bat angerufen, sie hatten eine Verabredung, woin aller Welt bleibt Benjamin? Der Chor muss in zehn Minuten in der Kirchesein, das Konzert beginnt in einer Stunde. «Und du sitzt einfach hier wie vom Mondgefallen, und dabei hast du dich noch nicht einmal umgezogen. Was isteigentlich los mit dir, Benjamin?»
«Nerv hier nicht rum, ich bin jaschon fast weg.»
Benjamin läuft hinaus in eine Weltaus Glas und wird von einer Haut überzogen, die nicht schmelzen will. Ersteckt unter dem Eis, und sofort fühlt er sich angenehm betäubt vom Eis, wie ineiner Glasglocke, Schmetterlinge im Kopf. Die Bäume verschwinden im grauenNebel, der Umrisse, Farben und Geräusche dämpft. Es ist dunkel geworden. DasLicht war schon um fünf Uhr verschwunden. Der Tag ist eingekapselt unter durchsichtigenEishäuten. Es knirscht und knackt unter seinen Füßen, er scheint überzerstoßenes Glas zu laufen, Lichtkreise umgeben alle Straßenlaternen, davorhängt grauer Nebel, der das Licht in sich aufsaugt. Der Frost kriecht unterseine Kleidung.
Benjamin läuft, kommt zu spät, läuftaber trotzdem. Joffe wartet vor der Friedhofsmauer.
«Du blöder Trottel! Jetzt kriegenwir beide Ärger.»
Sie hören Orgelklänge, laufen dasletzte Stück, erreichen atemlos den Kirchenvorraum.
Plötzlicher Wechsel. Gelbes Licht,ein Raum aus kompaktem Klang und gelbem Licht hinter den Mauern, Musik, Widerhallan den hohen weißen Gewölben.
Wieso habt ihr denn so rumgetrödelt?»,kläfft Andersen total außer sich. «Nicht einmal am Heiligen Abend könnt ihr pünktlichsein!»
Sie werden die Treppen Zur Emporehochgescheucht, schlüpfen in die Reihe hinter den Tenören, machen sich an denNotenblättern zu schaffen. Plötzlich ist es ganz still, sie hören nur denNachhall in den Wänden, die Unruhe von unten, schon strömt das Publikumherein.
Benjamin steckt unter dem Eis, erist in eine Welt aus Glas hinausgegangen und wurde von einer Haut überzogen,die auch hier drinnen nicht schmilzt, in der Wärme und dem gelben Licht. Erist noch immer unter dem Eis, ist noch immer vom Frost betäubt, steckt in einerGlasglocke, wo die Orgeltöne seltsam und sprödeklingen, ein Glasperlenspiel von weit weg. Auch der Augenblick erstarrt, erweiß nicht, ob für lange oder kurze Zeit, dann folgt ein einzelner Trompetenton. «Panis Angelicus.» Das Trompetensolo verklingt, und Cecilies Sopranübernimmt. Dann fällt der Chor ein. Benjamin singt: «PanisAngelicus, fit panis hominum ...»
Brot vom Himmel, das Er uns Menschengegeben hat, steht als Übersetzung auf dem Notenblatt. Und das mag ja auchstimmen. Es ist Heiligabend, und vielleicht war auch das tägliche Brotursprünglich als Menschenrecht gedacht? Hat Andersen deshalb für diesen Tagdieses Lied ausgewählt?
«Öres mirabilis, manducat Dominum ...»
Es ist ein friedliches Gefühl,gefroren zu sein, betäubt, unter einer Eisschicht. Die Trompete, CeciliesStimme, dahinter die Chorstimmen, nichts kommt näher. Nichts kommt jetzt näher.Aus der hintersten Reihe sieht er die Decke des Kirchenschiffes, ein hohesweißes Steingewölbe, Kristallkronen, den obersten Rand der Altartafel und ganzoben Jesus mit dem Kreuz auf der Schulter. Benjamin sieht nur Jesus am Kreuz, ersieht nicht die Menschen dort unten, die jetzt applaudieren. Dort unten sindirgendwo seine Eltern und seine Tante Inga.
Die Eisschicht, die Benjamin umgibt,will nicht schmelzen. Alles ist ruhig und friedlich und fern und gefroren. Esist der Heilige Abend, und der Pastor spricht über die Frohe Botschaft und überSolidarität und Nächstenliebe, als handele es sich bei beidem ungefähr umdasselbe. Jetzt wird Papa sauer, denkt Benjamin. Und wenn sie nachher zu Hausesitzen, wird er uns erklären, warum, noch einmal. Aber auch das ist nichtweiter wichtig, denn hier unter dem Eis wird auch dann alles friedlich sein.
«Was ist los mit dir?», flüstertThale.
Sie ist einen Schrittzurückgetreten, sie lehnt sich an Benjamin, ist dicht an seinem Ohr. IhreSeidenhaare streifen über seine Wange, fast wie ein Hauch, wie ein Spinngewebe,wie ein honigfarbener Lichtflimmer vor seinen Augen, eine Erinnerung an Windund grüne Äpfel.
Die Glasglocke birst, einknirschendes Geräusch. Ein Rauschen in den Ohren, das ist die Brandung, aufdie er schon so lange wartet, er wusste nicht, dass es so sein würde, nur ein einsamerTön, ein Trompetensolo, weiche Bögen, weiße Gewölbe. Benjamin packt dasGeländer hinter sich mit beiden Händen, spannt den Rücken an und klammert sichfest, wie im Boot, hei hohem Seegang. Er begegnet Thales Blick, wäre fast darinverschwunden, klammert sich aber fest, schüttelt den Kopf, reißt sich los.
«Nichts», sagt er und bewegt seineMundwinkel zu einem Lächeln. Sie glaubt ihm nicht, das kann er sehen, und sie stehtviel zu dicht bei ihm. Er würde sie gern wegschieben, aber er darf jetzt nichtloslassen, er konzentriert sich wieder auf die Musik, die Orgelmusik kann dasRauschen in seinen Ohren mit Mühe übertönen. Die Orgel spielt «Schön ist's aufErden.» Alle singen. Chorstimmen in Benjamins Umgebung, Stimmen unten imKirchenschiff, sie alle heben das Lied zum weißen Gewölbe hoch. Benjamin krümmtsich zusammen, schlüpft unter dem Geländer hindurch, schleicht die Treppe hinunterund aus der Kirche.
Draußen istdas Wetter umgeschlagen. Es regnet nicht mehr, der Dunst ist dichter, weißerund viel kälter geworden. Der Frost hat weißen Reif über Treppenstufen undSäulen am Eingang gestreut, Eisblumen auf blauem Granit. Benjamin drückt Stirnund Hände gegen den Stein, doch die Kälte trifft ihn nicht mehr, sie schmilztan seiner Haut, sie hinterlässt keinerlei Erinnerung an den Frost. Die Orgeltöne hängen in der Luft und im Stein, «Schön ist's aufErden», seine Hände bringen die Eisblumen zum Schmelzen, Wassertropfen laufen dieSäulen hinab und erstarren sofort zu blankem Stahleis.Blaue Granitkristalle, Schmetterlinge unter dem Eis, aus Stein, Schmetterlingeim Dezember. Im Stein zittern Orgelakkorde, Untertöne, sie schlagen mit denFlügeln, sie vibrieren leise tief im Granit.
Dann schlagen die Kirchenglocken zu,dicht über ihm. Benjamin fährt zurück, muss sich an die Mauer lehnen. Die Zeitgefriert, bleibt für einen Moment aus steinschwerem Klang stehen, Widerhall undblaue Schmetterlinge auf schwarzem Grund. Er steckt mitten dazwischen, imKlang, der über ihn hinwegrollt, in den Brandungen, in den Bewegungen, die imselben Augenblick aus und ein gehen, in demAugenblick, der stehen geblieben ist.
Und dann ergießt sich plötzlich einWasserfall aus gelbem Licht über die Treppenstufen. Auch der Augenblickschmilzt, strömt über den Granit, ein Fluss aus Licht vor dem Fluss aus Menschen,aus der sich öffnenden Tür. Gesichter, seine Eltern, Tante Inga, die Benjaminansieht und seinen Arm packt, die Benjamin losreißt.
«Die Kälte hat sich jetztfestgesetzt», sagt sie. «Das spüre ich am Atem. Kann Benjamin mich nach Hausebringen' Ich habe keine Lust, mir gerade am Heiligen Abend den Oberschenkelhalszu brechen.»
« Wir können doch alle vier in dieseRichtung gehen», sagt Benjamins Mutter.
«Nein, stell dir vor, das finde ichtotal unnötig», sagt "Tante Inga mit einer ganzen Ladung Kieselsteine inder Stimme. «Ich brauche keine Völkerwanderung, ich brauche nur Benjamin»,fügt sie hinzu, ein wenig milder, aber nicht sehr viel.
Jetzt bricht kein Eis mehr unter denFüßen, bei jedem Schritt hören sie den Frost knacken und knirschen, es ist ein trockeneres,noch gefroreneres Geräusch. Aber Tante Inga hatseinen Arm gepackt, in einem festen warmen Griff, du brauchst dich nicht mehr sozusammenzureißen, sagt ihr Griff. Aber Benjamin weiß nicht, ob er es wagt,damit aufzuhören.
© Rowohlt Verlag
Übersetzung: Gabriele Haefs
- Autoren: Liza Marklund , Henning Mankell , Ake Edwardson , Jostein Gaarder , Hakan Nesser
- 9. Aufl., 266 Seiten, Maße: 11,4 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Herausgegeben: Annamari Arrakoski
- Übersetzer: Coletta Bürling, Wolfgang Butt, Susanne Dahmann
- Verlag: Rowohlt TB.
- ISBN-10: 3499244608
- ISBN-13: 9783499244605
- Erscheinungsdatum: 23.10.2006
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