Das Haus der verlorenen Düfte
Roman
Jac und Robert L'Etoile wollen ihr Familienunternehmen - eine Parfümerie - vor dem Bankrott bewahren. Dabei kommen sie einer alten Legende eines Duftes auf die Spur, der den Menschen über den Tod hinaus ihren Weg weisen soll. Es beginnt eine...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Das Haus der verlorenen Düfte “
Jac und Robert L'Etoile wollen ihr Familienunternehmen - eine Parfümerie - vor dem Bankrott bewahren. Dabei kommen sie einer alten Legende eines Duftes auf die Spur, der den Menschen über den Tod hinaus ihren Weg weisen soll. Es beginnt eine Suche durch die Pariser Unterrwelt, die sie bis ins alte Ägypten führt.
Klappentext zu „Das Haus der verlorenen Düfte “
Die Macht eines legendären Parfüms1799 entdeckt der Parfümeur Giles L'Étoile im Gefolge einer ägyptischen Expedition die Mumien zweier Liebender, die sich noch im Tod an den Händen halten. Bei ihnen wird ein geheimnisvolles Artefakt aus der Parfümmanufaktur Kleopatras gefunden. Mehr als zweihundert Jahre später versuchen die Geschwister Jac und Robert L'Étoile, ihr Familienunternehmen vor dem Bankrott zu bewahren, und kommen der alten Legende eines Duftes auf die Spur, der den Menschen über den Tod hinaus ihren Weg weisen soll. Plötzlich verschwindet Robbie, und in seinem Labor wird ein Toter gefunden. Gemeinsam mit ihrem Exfreund Griffin macht sich Jac auf die Suche nach ihrem Bruder und der Rezeptur und verstrickt sich immer tiefer im Labyrinth der Vergangenheit.
"Raffiniert, mit unvergesslichen Charakteren; eine wundervolle Mischung aus Spannung, Tempo und Erzählkunst." Kate Mosse, Autorin von "Das verlorene Labyrinth"
"Ein wundervoll sinnlicher und spannungsreicher Roman." Publishers Weekly
Mit Bonusmaterial zur Geschichte des Parfüms
Lese-Probe zu „Das Haus der verlorenen Düfte “
Das Haus der verlorenen Düfte von Melisse J. RoseEins
Alexandria, Ägypten,
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Giles L'Étoile war ein Meister der Düfte, kein Dieb. Er hatte nie etwas gestohlen, bis auf das Herz einer einzigen Frau, und die hatte ihm immer versichert, sie habe es ihm freiwillig gegeben. Doch an diesem kühlen Abend in Ägypten trug ihn jeder einzelne seiner zögerlichen Schritte auf der klapprigen Leiter, die in die uralte Gruft hinabführte, einem Verbrechen entgegen.
Vor L'Étoile waren schon ein Forscher, ein Ingenieur, ein Architekt, ein Künstler, ein Kartograph und natürlich der General selbst die Stufen hinabgestiegen - lauter Spezialisten aus Napoleons Armada von Wissenschaftlern und Gelehrten, die sich jetzt anschickten, ein seit Jahrtausenden unberührtes Grab zu entweihen. Ein paar Tage zuvor hatten der Forschungsreisende Émile Saurent und seine jungen ägyptischen Helfer die Gruft entdeckt und die Grabungen eingestellt, sobald die versiegelte steinerne Tür freigelegt war. Nun sollte dem neunundzwanzigjährigen Napoleon das Privileg zukommen, als Erster zu sehen, was seit Tausenden von Jahren im Verborgenen lag. Es war allgemein bekannt, dass der General Hoffnungen hegte, Ägypten zu erobern. Doch seine Ambitionen gingen über militärische Siege weit hinaus: Unter seiner Ägide wurde auch die Geschichte des Landes erforscht und zu Papier gebracht.
Am Fuß der Leiter fand sich L'Étoile mit den anderen in einem matt erleuchteten Vorraum wieder. Er sog die Luft ein und registrierte den Geruch von Gipsstaub, abgestandene Luft, die Ausdünstungen der Arbeiter und den Hauch eines unbekannten Dufts, der fast zu schwach war, um ihn wahrzunehmen.
Vier rötliche Granitsäulen ragten aus dem Schutt und stützten ein Deckengewölbe, das mit einer Sternkarte in Lapislazuli und Silber bedeckt war. In die Wände waren mehrere Türen eingelassen. An der größten von ihnen hatte Saurent bereits begonnen, den Mörtel herauszubrechen, mit dem sie versiegelt war.
Die Wände des Vorraums waren mit kunstvollen, detaillierten Wandbildern verziert. Ihre Erd- und Ockertöne waren so leuchtend, dass L'Étoile fast erwartete, die frische Farbe riechen zu können, doch stattdessen stieg ihm Napoleons Eau de Cologne in die Nase. Besonders interessierte sich der Parfümeur für die stilisierten Seerosen, mit denen die Türen und Bilder eingerahmt waren. Die Ägypter nannten diese Pflanze den Blauen Lotus und nutzten ihre Extrakte seit Jahrtausenden für ihre Parfüms. L'Étoile, der sich trotz seiner jungen Jahre bereits seit fast einem Jahrzehnt mit der hochkomplexen, altehrwürdigen ägyptischen Parfümeurstradition befasste, kannte diese Blume und ihre Eigenschaften genau. Ihr Duft war betörend, doch was sie wirklich von allen anderen unterschied, waren ihre halluzinogenen Eigenschaften. Er hatte sie am eigenen Leib erfahren und wusste sie zu schätzen, wenn sich wieder einmal die Vergangenheit in seine Gegenwart drängen wollte.
Die Blaue Lotusblume war nicht das einzige pflanzliche Motiv in den Wandgemälden. Im ersten Bild holten Arbeiter Saat aus einem Lagerraum und säten sie im zweiten aus. Im nächsten pflegten sie die Keimlinge, Blumen und Bäume und ernteten im darauffolgenden Bild die Blüten, Zweige, Kräuter und Früchte. Zu guter Letzt sah man, wie sie ihre Ausbeute einem Mann zu Füßen legten, von dem L'Étoile annahm, dass er der Verstorbene war.
Mehr und mehr Mörtel bröckelte auf den Alabasterboden, und Abu, der von Saurent angeheuerte Führer, erklärte den Umstehenden, was sie vor sich sahen. Seine Ausführungen waren interessant, doch L'Étoile fühlte sich von dem Schweißgeruch, dem brennenden Kerzenwachs und dem Staub schier überwältigt und sah besorgt zu Napoleon hinüber. So sehr er als Parfümeur auch litt, für den General, das wusste L'Étoile, musste es weit schlimmer sein. Napoleon reagierte so sensibel auf Gerüche, dass er manche Bediensteten, Soldaten oder Frauen, deren Duft ihm zuwider war, nicht in seiner Nähe ertrug. Man erzählte sich von seiner Obsession für ausgiebige Bäder und für Eau de Cologne - seine persönliche Mixtur aus Zitrone und Zedernfrucht, Bergamotte und Rosmarin. Der General hatte eigens Kerzen aus Frankreich kommen lassen, die auch jetzt den Vorraum erhellten und deren Wachs aus kristallisiertem Pottwaltran weniger unangenehm roch.
Diese Obsession Napoleons war einer der Gründe, warum L'Étoile noch immer in Ägypten war. Der General hatte ihn gebeten, ihm als Parfümeur zur Verfügung zu stehen. L'Étoile war das nur recht. Alles, was ihn an Paris gebunden hatte, war ihm vor sechs Jahren, während der Schreckensherrschaft, genommen worden. Dort erwarteten ihn nur noch Erinnerungen.
Während Saurent den letzten Mörtel entfernte, trat der Parfümeur näher und besah sich die Schnitzereien auf dem Tür- blatt. Auch hier zog sich eine Borte aus Blauem Lotus um den Rand und rahmte Schriftfelder mit unleserlichen Hieroglyphen, wie man sie in Ägypten überall fand. Vielleicht würde der unlängst in der Hafenstadt Rosette entdeckte Stein helfen, die Zeichen zu entschlüsseln.
»Fertig«, meldete Saurent, übergab sein Werkzeug einem der ägyptischen Burschen und klopfte sich den Staub von den Händen. »Mon Général?«
Napoleon trat vor und versuchte, den noch immer glänzenden Messingring zu bewegen. Hustete. Zog fester. Der General war drahtig, beinahe mager, und L'Étoile hoffte, dass er stark genug wäre. Endlich hallte ein lautes Knarren durch das Gewölbe, und die Tür sprang auf.
Saurent und L'Étoile traten zu dem General auf die Schwelle, und alle drei hielten ihre Kerzen in die Dunkelheit. Ihr flackernder Lichtschein fiel in einen mit Schätzen reich gefüllten Korridor.
Doch was L'Étoile von diesem Augenblick ein Leben lang im Gedächtnis bleiben sollte, waren nicht die meisterhaft ausgeführten Wandgemälde, nicht die Alabasterkrüge, die filigran geschnitzten Figurinen oder die mit Kostbarkeiten gefüllte hölzerne Truhe. Es war der warme, duftende Lufthauch, der ihn umschmeichelte.
Der Parfümeur erkannte den Geruch des Todes und der Vergangenheit. Matte Dünste von welken Blüten, Früchten, Kräutern und Hölzern streiften ihn. Die meisten kannte er, doch es gab andere. Schwächere, fremdere Noten. Kaum spürbar waren sie, doch sie faszinierten und zogen ihn an wie ein verführerischer, sehnsuchtsvoller Traum, der sich gerade in nichts aufzulösen begann.
L'Étoile ignorierte Saurents Warnung vor dem Schritt ins Unbekannte, vor Schnappfallen und lauernden Schlangen, genauso wie Abus Sorgen um rastlose Geister, die sich als gefährlicher erweisen konnten als jedes giftige Reptil. Seiner Nase folgend, drängte er sich vor und tastete sich mit seiner Kerze ins Dunkel voran, begierig, mehr von diesem mysteriösen Duft in sich aufzunehmen.
Er folgte dem reich verzierten Gang in die Grabkammer und sog die abgestandene Luft tief in sich ein, um mehr zu erfahren. Dann atmete er enttäuscht wieder aus, so heftig, dass seine Kerze erlosch.
Vielleicht waren es die tiefen Atemzüge oder die durchdringende Dunkelheit. Vielleicht war es die stickige Atmosphäre der Kammer, die ihn schwindlig machte. Doch was es auch war - dieses Schwindelgefühl verstärkte seinen Eindruck von dem zarten Duft. Endlich konnte er einzelne Bestandteile unterscheiden: Weihrauch und Myrrhe, Blauen Lotus und Mandelöl, allesamt häufige Zutaten ägyptischer Parfüms. Aber da war noch etwas, ein flüchtiges, zartes Aroma, das sich ihm immer wieder knapp entzog.
L'Étoile war in der dunklen Grabkammer so in seine Konzentration versunken, dass er die sich nähernden Schritte der anderen nicht bemerkte.
»Was ist das für ein Geruch?«
L'Étoile fuhr zusammen und drehte sich nach Napoleon um, der soeben eingetreten war.
»Einer, der seit Jahrhunderten begraben lag«, flüsterte er.
Abu erklärte den nach und nach eintretenden Männern, dass sie sich nun in der Sargkammer befanden, und machte sie auf die farbenfrohen Wandmalereien aufmerksam. In einem der Bilder schmückte der Verstorbene eine große Statue mit Schakalkopf und stellte ihr Speisen zu Füßen. Hinter ihm war eine schöne, zierliche Frau in einem transparenten Gewand zu sehen, die ein Tablett voller Fläschchen in Händen hielt. In dem Bild daneben zündete sie gerade ein Stück Rauchwerk an, und eine Rauchfahne wand sich daraus empor. Noch ein Bild weiter war wieder der Schakalköpfige zu sehen, von Tiegeln, Destillierkolben und Kaltpressen umgeben, wie sie L'Étoile von der Parfümerie seines Vaters in Paris her kannte.
L'Étoile wusste um den hohen Stellenwert des Parfüms im Alten Ägypten, doch so viele Bilder von der Herstellung und dem Gebrauch von Duftstoffen hatte er noch nie gesehen.
1.
»Wer war dieser Mann?«, fragte Napoleon Abu. »Wissen wir es schon?«
»Noch nicht, mon Général«,antwortete Abu. »Aber dort finden wir wahrscheinlich weitere Hinweise.« Er deutete in die Mitte des Raums.
Der schwarze Sarkophag aus Granit war fünfmal so groß wie ein durchschnittlicher Mensch. In seine polierte Oberfläche waren Schriftfelder eingemeißelt, und eine Einlegearbeit aus Türkisen und Lapislazuli stellte einen wunderschönen, katzenhaften Jüngling dar, dessen Kopf von blauen Seerosenblüten umgeben war. L'Étoile erkannte ihn sofort. Es war Nefertem, Sohn der Isis, der Schutzgott des Parfüms.
Plötzlich ergaben die auf den Wänden dargestellten Szenen, die Seerosen, die Rauchfässchen in allen Ecken des Raums einen Sinn. Dies war das Grab eines altägyptischen Parfümeurs. Und nach dem Prunk zu urteilen, der ihn umgab, musste er ein sehr angesehener Priester gewesen sein.
Saurent rief seinen jungen Arbeitern Befehle zu, und mit einiger Mühe gelang es ihnen, den steinernen Deckel zu heben. Darunter kam ein breiter hölzerner Sarg zum Vorschein, auf dem wieder dieselben zwei Gestalten abgebildet waren wie auf den Wandgemälden. Diesen Sarg öffneten sie ohne größere Schwierigkeiten.
Darin lag eine unförmige, merkwürdig große Mumie von normaler Länge, aber viel breiter als gewöhnlich, die mit Erdpech aus dem Toten Meer bestrichen war. Statt einer trug sie zwei goldene Totenmasken. Zu beiden gehörten je ein Kopfputz aus Türkisen und Lapislazuli und eine mit Karneol, Gold und Amethyst besetzte Brustplatte. Sie unterschieden sich nur darin, dass eine von ihnen männlich und die andere weiblich war.
»So etwas habe ich noch nie gesehen«, stieß Abu hervor.
»Was bedeutet das?«, fragte Napoleon.
»Ich weiß es nicht, mon Général. Das hier ist äußert ungewöhnlich «, stammelte Abu.
»Saurent, wickeln Sie ihn aus«, befahl der General.
Obwohl Abu heftig protestierte, befahl Saurent den jungen Ägyptern, die Leinenbinden aufzuschneiden. Da der Franzose ihr Lohnherr war, gehorchten sie. L'Étoile wusste schon, was ihn erwartete: Die alte Kunst des Einbalsamierens mit duftenden Ölen und Salben und die trockene Luft in der Grabkammer würden verhindert haben, dass das Muskelgewebe des Verstorbenen verweste. Vielleicht wäre sogar sein Haar noch erhalten. Er hatte schon mehrere Mumien gesehen und war jedes Mal von ihrem schweren Duft fasziniert. Es dauerte nur wenige Augenblicke, die schwärzlichen Stoffbahnen zu durchtrennen und beiseite zu schieben.
»Nein. So etwas habe ich wirklich noch nie gesehen«, flüsterte Abu.
Der linke der beiden Leichname hatte seine Arme nicht, wie sonst üblich, vor der Brust gekreuzt, sondern sein rechter Arm war nach der Hand einer Frau ausgestreckt, die mit ihm gemeinsam einbalsamiert worden war. Ihre linke Hand lag in seiner rechten. Die zwei Liebenden wirkten so lebensnah, ihre Körper so unversehrt, als seien sie erst vor Monaten, nicht vor Hunderten von Jahren beerdigt worden.
Den Umstehenden stockte der Atem beim Anblick dieses im Tod vereinten Liebespaars, doch L'Étoile war nicht so sehr von dem überwältigt, was er sah. Hier, in diesem Sarg, lag die Quelle jenes Dufts, der ihn so magisch anzog, seit er die Leiter hinabgestiegen war.
Übersetzung: Gesine Schröder
1.Auflage 2012 © Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 2012 © 2012 by Melisse Shapiro
Giles L'Étoile war ein Meister der Düfte, kein Dieb. Er hatte nie etwas gestohlen, bis auf das Herz einer einzigen Frau, und die hatte ihm immer versichert, sie habe es ihm freiwillig gegeben. Doch an diesem kühlen Abend in Ägypten trug ihn jeder einzelne seiner zögerlichen Schritte auf der klapprigen Leiter, die in die uralte Gruft hinabführte, einem Verbrechen entgegen.
Vor L'Étoile waren schon ein Forscher, ein Ingenieur, ein Architekt, ein Künstler, ein Kartograph und natürlich der General selbst die Stufen hinabgestiegen - lauter Spezialisten aus Napoleons Armada von Wissenschaftlern und Gelehrten, die sich jetzt anschickten, ein seit Jahrtausenden unberührtes Grab zu entweihen. Ein paar Tage zuvor hatten der Forschungsreisende Émile Saurent und seine jungen ägyptischen Helfer die Gruft entdeckt und die Grabungen eingestellt, sobald die versiegelte steinerne Tür freigelegt war. Nun sollte dem neunundzwanzigjährigen Napoleon das Privileg zukommen, als Erster zu sehen, was seit Tausenden von Jahren im Verborgenen lag. Es war allgemein bekannt, dass der General Hoffnungen hegte, Ägypten zu erobern. Doch seine Ambitionen gingen über militärische Siege weit hinaus: Unter seiner Ägide wurde auch die Geschichte des Landes erforscht und zu Papier gebracht.
Am Fuß der Leiter fand sich L'Étoile mit den anderen in einem matt erleuchteten Vorraum wieder. Er sog die Luft ein und registrierte den Geruch von Gipsstaub, abgestandene Luft, die Ausdünstungen der Arbeiter und den Hauch eines unbekannten Dufts, der fast zu schwach war, um ihn wahrzunehmen.
Vier rötliche Granitsäulen ragten aus dem Schutt und stützten ein Deckengewölbe, das mit einer Sternkarte in Lapislazuli und Silber bedeckt war. In die Wände waren mehrere Türen eingelassen. An der größten von ihnen hatte Saurent bereits begonnen, den Mörtel herauszubrechen, mit dem sie versiegelt war.
Die Wände des Vorraums waren mit kunstvollen, detaillierten Wandbildern verziert. Ihre Erd- und Ockertöne waren so leuchtend, dass L'Étoile fast erwartete, die frische Farbe riechen zu können, doch stattdessen stieg ihm Napoleons Eau de Cologne in die Nase. Besonders interessierte sich der Parfümeur für die stilisierten Seerosen, mit denen die Türen und Bilder eingerahmt waren. Die Ägypter nannten diese Pflanze den Blauen Lotus und nutzten ihre Extrakte seit Jahrtausenden für ihre Parfüms. L'Étoile, der sich trotz seiner jungen Jahre bereits seit fast einem Jahrzehnt mit der hochkomplexen, altehrwürdigen ägyptischen Parfümeurstradition befasste, kannte diese Blume und ihre Eigenschaften genau. Ihr Duft war betörend, doch was sie wirklich von allen anderen unterschied, waren ihre halluzinogenen Eigenschaften. Er hatte sie am eigenen Leib erfahren und wusste sie zu schätzen, wenn sich wieder einmal die Vergangenheit in seine Gegenwart drängen wollte.
Die Blaue Lotusblume war nicht das einzige pflanzliche Motiv in den Wandgemälden. Im ersten Bild holten Arbeiter Saat aus einem Lagerraum und säten sie im zweiten aus. Im nächsten pflegten sie die Keimlinge, Blumen und Bäume und ernteten im darauffolgenden Bild die Blüten, Zweige, Kräuter und Früchte. Zu guter Letzt sah man, wie sie ihre Ausbeute einem Mann zu Füßen legten, von dem L'Étoile annahm, dass er der Verstorbene war.
Mehr und mehr Mörtel bröckelte auf den Alabasterboden, und Abu, der von Saurent angeheuerte Führer, erklärte den Umstehenden, was sie vor sich sahen. Seine Ausführungen waren interessant, doch L'Étoile fühlte sich von dem Schweißgeruch, dem brennenden Kerzenwachs und dem Staub schier überwältigt und sah besorgt zu Napoleon hinüber. So sehr er als Parfümeur auch litt, für den General, das wusste L'Étoile, musste es weit schlimmer sein. Napoleon reagierte so sensibel auf Gerüche, dass er manche Bediensteten, Soldaten oder Frauen, deren Duft ihm zuwider war, nicht in seiner Nähe ertrug. Man erzählte sich von seiner Obsession für ausgiebige Bäder und für Eau de Cologne - seine persönliche Mixtur aus Zitrone und Zedernfrucht, Bergamotte und Rosmarin. Der General hatte eigens Kerzen aus Frankreich kommen lassen, die auch jetzt den Vorraum erhellten und deren Wachs aus kristallisiertem Pottwaltran weniger unangenehm roch.
Diese Obsession Napoleons war einer der Gründe, warum L'Étoile noch immer in Ägypten war. Der General hatte ihn gebeten, ihm als Parfümeur zur Verfügung zu stehen. L'Étoile war das nur recht. Alles, was ihn an Paris gebunden hatte, war ihm vor sechs Jahren, während der Schreckensherrschaft, genommen worden. Dort erwarteten ihn nur noch Erinnerungen.
Während Saurent den letzten Mörtel entfernte, trat der Parfümeur näher und besah sich die Schnitzereien auf dem Tür- blatt. Auch hier zog sich eine Borte aus Blauem Lotus um den Rand und rahmte Schriftfelder mit unleserlichen Hieroglyphen, wie man sie in Ägypten überall fand. Vielleicht würde der unlängst in der Hafenstadt Rosette entdeckte Stein helfen, die Zeichen zu entschlüsseln.
»Fertig«, meldete Saurent, übergab sein Werkzeug einem der ägyptischen Burschen und klopfte sich den Staub von den Händen. »Mon Général?«
Napoleon trat vor und versuchte, den noch immer glänzenden Messingring zu bewegen. Hustete. Zog fester. Der General war drahtig, beinahe mager, und L'Étoile hoffte, dass er stark genug wäre. Endlich hallte ein lautes Knarren durch das Gewölbe, und die Tür sprang auf.
Saurent und L'Étoile traten zu dem General auf die Schwelle, und alle drei hielten ihre Kerzen in die Dunkelheit. Ihr flackernder Lichtschein fiel in einen mit Schätzen reich gefüllten Korridor.
Doch was L'Étoile von diesem Augenblick ein Leben lang im Gedächtnis bleiben sollte, waren nicht die meisterhaft ausgeführten Wandgemälde, nicht die Alabasterkrüge, die filigran geschnitzten Figurinen oder die mit Kostbarkeiten gefüllte hölzerne Truhe. Es war der warme, duftende Lufthauch, der ihn umschmeichelte.
Der Parfümeur erkannte den Geruch des Todes und der Vergangenheit. Matte Dünste von welken Blüten, Früchten, Kräutern und Hölzern streiften ihn. Die meisten kannte er, doch es gab andere. Schwächere, fremdere Noten. Kaum spürbar waren sie, doch sie faszinierten und zogen ihn an wie ein verführerischer, sehnsuchtsvoller Traum, der sich gerade in nichts aufzulösen begann.
L'Étoile ignorierte Saurents Warnung vor dem Schritt ins Unbekannte, vor Schnappfallen und lauernden Schlangen, genauso wie Abus Sorgen um rastlose Geister, die sich als gefährlicher erweisen konnten als jedes giftige Reptil. Seiner Nase folgend, drängte er sich vor und tastete sich mit seiner Kerze ins Dunkel voran, begierig, mehr von diesem mysteriösen Duft in sich aufzunehmen.
Er folgte dem reich verzierten Gang in die Grabkammer und sog die abgestandene Luft tief in sich ein, um mehr zu erfahren. Dann atmete er enttäuscht wieder aus, so heftig, dass seine Kerze erlosch.
Vielleicht waren es die tiefen Atemzüge oder die durchdringende Dunkelheit. Vielleicht war es die stickige Atmosphäre der Kammer, die ihn schwindlig machte. Doch was es auch war - dieses Schwindelgefühl verstärkte seinen Eindruck von dem zarten Duft. Endlich konnte er einzelne Bestandteile unterscheiden: Weihrauch und Myrrhe, Blauen Lotus und Mandelöl, allesamt häufige Zutaten ägyptischer Parfüms. Aber da war noch etwas, ein flüchtiges, zartes Aroma, das sich ihm immer wieder knapp entzog.
L'Étoile war in der dunklen Grabkammer so in seine Konzentration versunken, dass er die sich nähernden Schritte der anderen nicht bemerkte.
»Was ist das für ein Geruch?«
L'Étoile fuhr zusammen und drehte sich nach Napoleon um, der soeben eingetreten war.
»Einer, der seit Jahrhunderten begraben lag«, flüsterte er.
Abu erklärte den nach und nach eintretenden Männern, dass sie sich nun in der Sargkammer befanden, und machte sie auf die farbenfrohen Wandmalereien aufmerksam. In einem der Bilder schmückte der Verstorbene eine große Statue mit Schakalkopf und stellte ihr Speisen zu Füßen. Hinter ihm war eine schöne, zierliche Frau in einem transparenten Gewand zu sehen, die ein Tablett voller Fläschchen in Händen hielt. In dem Bild daneben zündete sie gerade ein Stück Rauchwerk an, und eine Rauchfahne wand sich daraus empor. Noch ein Bild weiter war wieder der Schakalköpfige zu sehen, von Tiegeln, Destillierkolben und Kaltpressen umgeben, wie sie L'Étoile von der Parfümerie seines Vaters in Paris her kannte.
L'Étoile wusste um den hohen Stellenwert des Parfüms im Alten Ägypten, doch so viele Bilder von der Herstellung und dem Gebrauch von Duftstoffen hatte er noch nie gesehen.
1.
»Wer war dieser Mann?«, fragte Napoleon Abu. »Wissen wir es schon?«
»Noch nicht, mon Général«,antwortete Abu. »Aber dort finden wir wahrscheinlich weitere Hinweise.« Er deutete in die Mitte des Raums.
Der schwarze Sarkophag aus Granit war fünfmal so groß wie ein durchschnittlicher Mensch. In seine polierte Oberfläche waren Schriftfelder eingemeißelt, und eine Einlegearbeit aus Türkisen und Lapislazuli stellte einen wunderschönen, katzenhaften Jüngling dar, dessen Kopf von blauen Seerosenblüten umgeben war. L'Étoile erkannte ihn sofort. Es war Nefertem, Sohn der Isis, der Schutzgott des Parfüms.
Plötzlich ergaben die auf den Wänden dargestellten Szenen, die Seerosen, die Rauchfässchen in allen Ecken des Raums einen Sinn. Dies war das Grab eines altägyptischen Parfümeurs. Und nach dem Prunk zu urteilen, der ihn umgab, musste er ein sehr angesehener Priester gewesen sein.
Saurent rief seinen jungen Arbeitern Befehle zu, und mit einiger Mühe gelang es ihnen, den steinernen Deckel zu heben. Darunter kam ein breiter hölzerner Sarg zum Vorschein, auf dem wieder dieselben zwei Gestalten abgebildet waren wie auf den Wandgemälden. Diesen Sarg öffneten sie ohne größere Schwierigkeiten.
Darin lag eine unförmige, merkwürdig große Mumie von normaler Länge, aber viel breiter als gewöhnlich, die mit Erdpech aus dem Toten Meer bestrichen war. Statt einer trug sie zwei goldene Totenmasken. Zu beiden gehörten je ein Kopfputz aus Türkisen und Lapislazuli und eine mit Karneol, Gold und Amethyst besetzte Brustplatte. Sie unterschieden sich nur darin, dass eine von ihnen männlich und die andere weiblich war.
»So etwas habe ich noch nie gesehen«, stieß Abu hervor.
»Was bedeutet das?«, fragte Napoleon.
»Ich weiß es nicht, mon Général. Das hier ist äußert ungewöhnlich «, stammelte Abu.
»Saurent, wickeln Sie ihn aus«, befahl der General.
Obwohl Abu heftig protestierte, befahl Saurent den jungen Ägyptern, die Leinenbinden aufzuschneiden. Da der Franzose ihr Lohnherr war, gehorchten sie. L'Étoile wusste schon, was ihn erwartete: Die alte Kunst des Einbalsamierens mit duftenden Ölen und Salben und die trockene Luft in der Grabkammer würden verhindert haben, dass das Muskelgewebe des Verstorbenen verweste. Vielleicht wäre sogar sein Haar noch erhalten. Er hatte schon mehrere Mumien gesehen und war jedes Mal von ihrem schweren Duft fasziniert. Es dauerte nur wenige Augenblicke, die schwärzlichen Stoffbahnen zu durchtrennen und beiseite zu schieben.
»Nein. So etwas habe ich wirklich noch nie gesehen«, flüsterte Abu.
Der linke der beiden Leichname hatte seine Arme nicht, wie sonst üblich, vor der Brust gekreuzt, sondern sein rechter Arm war nach der Hand einer Frau ausgestreckt, die mit ihm gemeinsam einbalsamiert worden war. Ihre linke Hand lag in seiner rechten. Die zwei Liebenden wirkten so lebensnah, ihre Körper so unversehrt, als seien sie erst vor Monaten, nicht vor Hunderten von Jahren beerdigt worden.
Den Umstehenden stockte der Atem beim Anblick dieses im Tod vereinten Liebespaars, doch L'Étoile war nicht so sehr von dem überwältigt, was er sah. Hier, in diesem Sarg, lag die Quelle jenes Dufts, der ihn so magisch anzog, seit er die Leiter hinabgestiegen war.
Übersetzung: Gesine Schröder
1.Auflage 2012 © Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 2012 © 2012 by Melisse Shapiro
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Autoren-Porträt von Melisse J. Rose
Melisse J. Rose schreibt und lebt mit ihrem Mann und ihrem Hund in Connecticut. Ihre Bücher erscheinen regelmäßig auf den Bestsellerlisten und wurden in neun Sprachen übersetzt.Gesine Schröder, geboren 1976, studierte in Kiel und Berlin. Sie ist Übersetzerin.
Bibliographische Angaben
- Autor: Melisse J. Rose
- 2012, 2, 494 Seiten, Maße: 12,5 x 21,5 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Übersetzung: Schröder, Gesine
- Übersetzer: Gesine Schröder
- Verlag: Rütten & Loening
- ISBN-10: 335200840X
- ISBN-13: 9783352008405
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