Das Kind, das nicht fragte
Roman
An einem Frühlingstag im April landet Benjamin Merz mit dem Flugzeug in Catania. Merz ist Ethnologe, und er möchte die Lebensgewohnheiten der Menschen in Mandlica, einer kleinen Stadt an der Südküste Siziliens, erkunden. Er freut sich...
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Produktinformationen zu „Das Kind, das nicht fragte “
An einem Frühlingstag im April landet Benjamin Merz mit dem Flugzeug in Catania. Merz ist Ethnologe, und er möchte die Lebensgewohnheiten der Menschen in Mandlica, einer kleinen Stadt an der Südküste Siziliens, erkunden. Er freut sich auf das Frage- und Antwortspiel, auf das er sich gründlich vorbereitet, damit er mit den Einheimischen ins Gespräch kommt. Allerdings muss er große Hemmungen überwinden, um diese Gespräche auch tatsächlich zu führen. Denn Benjamin Merz ist zwar ein kluger Ethnologe, aber ihm fällt es ungeheuer schwer, das zu tun, worauf seine ganze Arbeit aufbaut: Fragen zu stellen. Und das hat seinen Grund.
Aufgewachsen ist Benjamin Merz mit vier weitaus älteren Brüdern. Seine Kinderjahre verbrachte er in einer aufgezwungenen Spracharmut. Seine älteren Brüder gaben in der Familie den Ton an, und er als Nachkömmling war schon häufig alleine damit überfordert, zu verstehen, worüber gesprochen wurde. Selbst einfachste Verständnisfragen traute er sich dann nicht zu stellen, und später musste er sich das Fragen mühsam antrainieren. Dafür kann er aber ausgezeichnet zuhören. Und diese Fähigkeit macht ihn in Mandlica, der Stadt der Dolci, zu einem begehrten Gesprächspartner - insbesondere bei den Frauen. Sie beginnen ihm Familiengeheimnisse und verborgenste Liebeswünsche anzuvertrauen ...
Mit dem Roman »Das Kind, das nicht fragte« schreibt Hanns-Josef Ortheil an dem großen autobiographischen Selbsterforschungsprojekt seiner Kinder- und Jugendjahre weiter. Nach »Die Erfindung des Lebens« und »Die Moselreise« setzt sich der Autor auch in diesem Roman mit dem großen Themenkomplex des Zusammenhangs von Verstummen und Sprechen, Fragen und Selbstfindung auseinander.
Aufgewachsen ist Benjamin Merz mit vier weitaus älteren Brüdern. Seine Kinderjahre verbrachte er in einer aufgezwungenen Spracharmut. Seine älteren Brüder gaben in der Familie den Ton an, und er als Nachkömmling war schon häufig alleine damit überfordert, zu verstehen, worüber gesprochen wurde. Selbst einfachste Verständnisfragen traute er sich dann nicht zu stellen, und später musste er sich das Fragen mühsam antrainieren. Dafür kann er aber ausgezeichnet zuhören. Und diese Fähigkeit macht ihn in Mandlica, der Stadt der Dolci, zu einem begehrten Gesprächspartner - insbesondere bei den Frauen. Sie beginnen ihm Familiengeheimnisse und verborgenste Liebeswünsche anzuvertrauen ...
Mit dem Roman »Das Kind, das nicht fragte« schreibt Hanns-Josef Ortheil an dem großen autobiographischen Selbsterforschungsprojekt seiner Kinder- und Jugendjahre weiter. Nach »Die Erfindung des Lebens« und »Die Moselreise« setzt sich der Autor auch in diesem Roman mit dem großen Themenkomplex des Zusammenhangs von Verstummen und Sprechen, Fragen und Selbstfindung auseinander.
Klappentext zu „Das Kind, das nicht fragte “
An einem Frühlingstag im April landet Benjamin Merz mit dem Flugzeug in Catania. Merz ist Ethnologe, und er möchte die Lebensgewohnheiten der Menschen in Mandlica, einer kleinen Stadt an der Südküste Siziliens, erkunden. Er freut sich auf das Frage- und Antwortspiel, auf das er sich gründlich vorbereitet, damit er mit den Einheimischen ins Gespräch kommt. Allerdings muss er große Hemmungen überwinden, um diese Gespräche auch tatsächlich zu führen. Denn Benjamin Merz ist zwar ein kluger Ethnologe, aber ihm fällt es ungeheuer schwer, das zu tun, worauf seine ganze Arbeit aufbaut: Fragen zu stellen. Und das hat seinen Grund. Aufgewachsen ist Benjamin Merz mit vier weitaus älteren Brüdern. Seine Kinderjahre verbrachte er in einer aufgezwungenen Spracharmut. Seine älteren Brüder gaben in der Familie den Ton an, und er als Nachkömmling war schon häufig alleine damit überfordert, zu verstehen, worüber gesprochen wurde. Selbst einfachste Verständnisfragen traute er sich dann nicht zu stellen, und später musste er sich das Fragen mühsam antrainieren. Dafür kann er aber ausgezeichnet zuhören. Und diese Fähigkeit macht ihn in Mandlica, der Stadt der Dolci, zu einem begehrten Gesprächspartner - insbesondere bei den Frauen. Sie beginnen ihm Familiengeheimnisse und verborgenste Liebeswünsche anzuvertrauen ...
Mit dem Roman »Das Kind, das nicht fragte« schreibt Hanns-Josef Ortheil an dem großen autobiographischen Selbsterforschungsprojekt seiner Kinder- und Jugendjahre weiter. Nach »Die Erfindung des Lebens« und »Die Moselreise« setzt sich der Autor auch in diesem Roman mit dem großen Themenkomplex des Zusammenhangs von Verstummen und Sprechen, Fragen und Selbstfindung auseinander.
Lese-Probe zu „Das Kind, das nicht fragte “
Das Kind, das nicht fragte von Hanns-Josef OrtheilI
Der Morgen
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1
AN EINEM sonnigen Aprilmorgen komme ich mit dem Flugzeug in Catania an. Wie schon so oft bin ich der letzte Fluggast, der das Flugzeug verlässt. Ich habe beim Anflug auf die Stadt in der Ferne den Ätna entdeckt, und das Bild des breit hingelagerten Vulkans mit seinen deutlich erkennbaren Rauchspuren und dem kegelförmigen Schneegipfel fesselt mich so, dass ich ihn von meinem Fensterplatz aus fotografiere. Zwei Stewardessen sind schließlich bei mir und bitten mich, das Flugzeug zu verlassen, sie sind freundlich und höflich, aber ich merke ihnen an, dass sie über meine Langsamkeit leicht verstimmt sind.
Ich nicke nur, obwohl mir die Frage auf der Zunge liegt, warum denn eine solche Eile geboten ist. Schließlich ist jedem Fluggast doch klar, dass man in einer scheußlichen Wartehalle lange auf die Koffer und das Gepäck warten wird. Warum kann ich dann aber nicht noch einen kleinen Moment im Flugzeug verweilen und die Schönheit des Ätna bewundern, anstatt ein rotierendes Laufband anzustarren?
Das sind einfache Fragen, die vielleicht sogar zu jenen seltenen Fragen gehören, über die man länger nachdenken könnte. Ich stelle diese Fragen jedoch nicht, ich habe Hemmungen. Auch als ich mein Handgepäck geordnet und den Weg zum Ausgang gefunden habe, frage ich nicht nach, obwohl mir lauter Fragen zu dem Thema, was die beiden Stewardessen mit dem weiteren Tag anstellen werden, auf der Zunge liegen: Zurück nach Deutschland fliegen? In Catania übernachten? Dort irgendwo (aber wo und vor allem mit wem?) einen schönen Abend verbringen?
Ich mag Stewardessen, ich sehe in ihnen weniger attraktive als mütterliche Gestalten, die den still und steif dasitzenden Fluggästen etwas Nahrung in die geöffneten Vogelmünder träufeln und stopfen, ich sehe sie als große, langbeinige Vögel, die sich über die Vogelnester zu beiden Seiten des schmalen Laufstegs hermachen und sie laufend beäugen. Gerne wäre ich mit einer von ihnen einmal einen Abend zusammen und würde sie alles fragen, was ich mir in meinen Flugjahren an Fragen für sie notiert habe. Doch leider - ich schweige, meine Hemmungen sind zu stark, und so nicke ich nur blöde auf ihren Abschiedsgruß hin und greife schweigend nach einer der sizilianischen Begrüßungsorangen, die sie den Fluggästen beim Verlassen des Flugzeugs in einem Korb hinhalten.
Als ich die Orange zu fassen bekomme, bemerke ich sofort, dass sie aus Marzipan ist, ich habe zu stark zugegriffen und dadurch das Marzipan etwas gedrückt und
gequetscht. Und so lege ich die aus der Form geratene Süßigkeit wieder in den Korb zurück und nicke den beiden etwas angewidert dreinblickenden Stewardessen erneut zu. Es ist eine Szene wie in einem Loriot-Sketch, sie werden dich jetzt für einen Verrückten halten, der Loriot-Sketche im richtigen Leben nachspielt, denke ich noch und werde bei diesem Gedanken so verlegen, dass ich, um meine Verlegenheit wegzulächeln, laut Arrivederci! sage. Auf Wiedersehen!, antworten die beiden Stewardessen da beinahe unisono, und die dezidiert deutschsprachige Antwort macht mich noch unsicherer, so dass ich zum dritten Mal nicke und dann mit meinem verzerrten Lächeln die Gangway hinabtrotte.
An den Fingern meiner rechten Hand klebt aber noch etwas Marzipan, ich versuche, es unauffällig am Geländer abzustreifen, da sehe ich, dass mir eine der beiden Stewardessen hinterherläuft und mir eine Serviette reicht. Wir stehen dicht nebeneinander auf einer mittleren Stufe der Gangway und sorgen uns gemeinsam um meine verklebten Finger, es muss ein seltsames, irritierendes Bild sein, jedenfalls starren uns die anderen Fluggäste aus dem Innern des wartenden Busses so entsetzt an, als wäre gerade ein großes Unglück passiert. Um der Sache ein Ende zu machen, nehme ich die Serviette in die rechte Hand und schlinge sie dann geschickt wie einen Verband um meine Finger, die Stewardess schaut mir etwas besorgt hinterher, doch ich schaffe es dann wirklich, den Boden Siziliens ohne weitere Komplikationen zu betreten.
Jetzt erst spüre ich die angenehme Wärme, die weiche Frühlingswärme Siziliens, dichte, niemals schwüle, sondern vom Meerwind gesiebt wirkende Luft, eine Luft voller Aromen, ein Duft von Orangen, Zitronen und Kräutern. Ich kenne diesen Geruch schon von meinen früheren Aufenthalten her, doch ich bin sofort wieder überrascht und gebannt. Kein mir bekanntes Land verströmt einen solchen Duft, er ist einzigartig, und er erinnert mich an die Bilder der südlich des Ätna gelegenen großen Orangenhaine, in denen ich einmal eine Nacht im Freien verbracht habe, um den Düften der Früchte ganz nahe zu sein. Ich bleibe also stehen und atme diese herrliche Luft ein, als die auf der Gangway stehende Stewardess mir erneut hinterherkommt. Anscheinend nimmt sie an, dass es mir nicht gut geht oder dass sonst irgendetwas mit mir nicht stimmt, jedenfalls fragt sie mich genau das: ob es mir nicht gut gehe und ob sie mir helfen könne. Da weiß ich sofort, dass es mir nun aus dem Stand heraus gelingen wird, endlich eine Frage zu platzieren, es ist eine richtige Erlösung, denn schließlich habe ich schon die ganze Zeit etwas fragen wollen und es doch nicht geschafft. Riechen Sie auch diese herrliche Luft? frage ich also und bin etwas stolz auf diese sich direkt aus der Situation ergebende Frage.
Es kommt jedoch nicht zu einer Antwort, denn die Stewardess wendet sich sofort, als machte ich nur einen Scherz, von mir ab und trippelt die Gangway so auffallend schnell wieder nach oben, als wollte sie mir ihre Verstimmung nun deutlich zeigen. Ich schaue ihr nach, als der Busfahrer hupt, und so betrete ich mit einer
nicht beantworteten Frage den Bus, wo ich meine Frage gleich der nächstbesten Mitreisenden erneut stelle: Riechen Sie auch diese herrliche Luft? Anstatt auf diese Frage einzugehen und sie endlich mit einer Antwort zu würdigen, antwortet die Mitreisende aber nur Haben Sie sich die Finger verbrannt oder was?, was mich sofort wieder schweigen lässt, worauf die Mitreisende sagt: Sie sollten die Finger mit Wasser kühlen. Was soll ich? Wovon ist denn überhaupt die Rede? Ich presse die Finger in der Serviette zusammen und verstumme, ich muss schlucken, es geht mir nun wirklich nicht gut, meine gut platzierte Frage wird von aller Welt ignoriert, was mir zeigt, dass diese Frage eben doch nicht so gut platziert ist, wie ich gedacht habe. Der Bus fährt los, ich lasse meine rechte Hand sinken und die Serviette zwischen den dicht gedrängt stehenden Mitreisenden auf den Boden fallen. Dann aber trete ich unauffällig darauf und zerstampfe sie mit beiden Füfien, bis ich sie - weiter vollkommen unauffällig und heimlich - in kleinste Teile zerrupft und vernichtet habe.
Im Innern des Flughafengebäudes stehen wir dann alle, genau wie ich befürchtet habe, um das unsäglich langsam rotierende Laufband herum und warten auf unsere Koffer und das Gepäck. Ich setze mich an den Rand der weiträumigen Halle, hole meinen Notizblock hervor und notiere: Riechen Sie auch diese herrliche Luft? - Ja, Sie haben recht, jetzt rieche ich sie auch. - Orangen? Zitronen? Was meinen Sie? - Ja, Orangen, Zitronen und vielleicht etwas Minze oder Melisse, jedenfalls etwas Grünes, Kühles.
In guten Dialogen reiht sich ganz selbstverständlich und weiterführend Frage an Frage, und die Antworten fordern immer neue Fragen heraus und verwandeln sich selbst wieder in Fragen. Das Fragen und Antworten ist in guten Dialogen eine Lust und ein Fest, doch man muss von dieser Kunst etwas verstehen, um sie als Lust und Fest zu erleben. Ich glaube davon viel zu verstehen, ich bin eine Art Fachmann für diese Kunst, und es ist mir gelungen, daraus sogar meinen Beruf zu machen.
Von Beruf bin ich nämlich Ethnologe, ich befrage Menschen fremder Kulturen und ziehe aus diesen Fragen meine Schlüsse. Nun bin ich auf Sizilien gelandet, um einer solchen Forschungsarbeit nachzugehen. Ich werde ein paar Monate auf der Insel bleiben, um nichts anderes zu tun, als Fragen zu stellen und Antworten in Fragen zu verwandeln. Wenn das gelingt, beginnt eine vorher noch weitgehend stumme oder verschwiegene Menschengegend mit einem Mal zu reden. So etwas ist wie ein Zauber. Alte und junge Menschen, Menschen jeder Herkunft und jedes Geschlechts, antworten und fragen selbst etwas und sprechen und reden und beginnen vielleicht sogar zu erzählen. Einige Male ist mir das bereits ansatzweise gelungen, ja, es ist mir gelungen, das Schweigen in Reden zu verwandeln, und ich habe Bücher über die Erzählungen aus der Fremde geschrieben, erfolgreiche und nicht nur von meinen Fachkollegen, sondern weit über eine so begrenzte Leserschaft hinaus gelesene Bücher.
Die Stadt der Dolci soll mein nächstes Buch heißen, ich habe diesen Titel im Kopf, halte ihn aber noch geheim. Der Titel spielt auf den sizilianischen Ort an, in dem ich meine Forschungsarbeiten durchführen will. Es ist ein Ort, der in der Welt der Süßigkeiten und Desserts, für die es im Italienischen den schönen, klingenden Namen Dolci gibt, sehr bekannt und berühmt ist. Fast alle Familien dieses Ortes sind nämlich in irgendeiner Weise mit der Herstellung solcher Dolci beschäftigt, mit Schokolade und Marzipan, mit Eis und Gebäck, mit Kuchen, Bonbons und dunkelfarbigem Fruchtsirup, den man über zerstoßenes Eis gießt. Um gute Fragen zu stellen, habe ich über diese geheim gehaltenen Künste viel gelesen, doch geht es mir nicht in erster Linie darum, über diese von Generation zu Generation vererbten Geheimnisse mehr zu erfahren. Mein eigentliches Ziel ist es vielmehr, die Einwohner dieses Ortes so zum Sprechen zu bringen, dass ich von den noch tiefer liegenden Geheimnissen des Ortes etwas erfahre. Diese Geheimnisse betreffen das innerste Leben und Fühlen der Menschen und die Art und Weise, wie sie auf den Tiefenschichten dieser Geheimnisse ihr Leben und ihre Welt eingerichtet haben. Stufe für Stufe will ich fragend bis zu diesen Schichten hin vordringen, und beginnen werde ich diese Tiefenbohrungen mit ein paar wenigen, sehr einfachen Fragen: Leben Sie gerne hier? Wo halten Sie sich am liebsten auf? Warum hier, im kleineren Café auf der Piazza - und nicht drüben, im größeren?
2
Als ich meinen Koffer und das weitere Gepäck endlich von den Laufbändern gefischt habe, gehe ich damit nach draußen, vor das Flughafengebäude, wo bereits eine Unmenge von Taxen und Bussen auf die Fluggäste wartet. Ich bleibe stehen und genieße die Wärme, nirgendwo in Europa ist es jetzt, im April, so angenehm warm, und nirgendwo blüht jetzt bereits so wie hier das ganze Land, bunt und farbensatt, als hätte ein leicht überdrehter Maler in der Tradition eines Spätexpressionismus die Farben mit einem breiten Pinsel auf eine erdockerfarbene Leinwand aufgetragen.
Einige Taxifahrer wollen mich in ihren Wagen locken, sie kommen zu mir und fragen mich nach meinem Ziel und machen einladende Bewegungen. Ich mag dieses Fragen, ich mag es schon aus beruflichen Gründen, denn es ist meist sehr interessant, wie und mit welchem Vokabular Menschen etwas fragen - aber ich bin vom Flug und seinen Begleiterscheinungen noch so befangen, dass ich nur stumm den Kopf schüttele. Nach einer Weile schiebe ich den kleinen Wagen mit meinem Gepäck hinüber zu den Mietwagenzentralen, wo sich bereits lange Schlangen von Wartenden gebildet haben. Am Ende einer dieser Schlangen stelle ich mich an und höre zu, wie die meist deutschen Reisenden rekapitulieren, was sie die Angestellten der Mietwagenbüros gleich fragen werden. Viele befürchten, auf irgendeine Weise betrogen zu werden, deshalb gehen sie noch einmal rasch die Ver-
träge durch, die sie bereits in Deutschland per Internet geschlossen haben: Autofabrikat, PS-Zahl, Kilometer-stand, Zustand des Wagens, Reifen- und Ölkontrolle, auf alles wollen sie achten.
Als ich selbst an der Reihe bin, lege ich ebenfalls den Vertrag vor, den ich bereits in Deutschland geschlossen habe. Der Angestellte schaut mich kurz an und beginnt auf Englisch zu sprechen, ich sage ihm aber sofort, dass er Italienisch mit mir sprechen könne. Er schaut mich et-was länger an und lächelt, dann stellt er, wie ich erwartet habe, erst gar keine Fragen und liest mir nur knapp und prägnant die Daten meines Wagens vor, der draußen auf dem Parkplatz auf mich wartet: Autofabrikat, PS-Zahl, Kilometerstand.
Das Italienisch-Sprechen erweist sich in diesem Fall so-fort als eine Basis für ein Vertrauensverhältnis, es gibt nichts mehr zu fragen oder zu antworten, wir sind beide sozusagen auf ein und derselben Ebene oder auf Augenhöhe. Außerdem erleichtert es unser Gespräch, dass ich nicht wie die meisten anderen deutschen Reisenden ein Fabrikat aus Deutschland (YW, Opel, Mercedes), sondern dezidiert einen Fiat für meine Fahrten durch Sizilien bestellt habe. Sie haben einen Fiat bestellt, sagt der Angestellte und nickt, und ich sehe ihm an, dass ich mich seiner italienischen Seele mit dieser Bestellung noch mehr genähert habe.
Natürlich kann er nicht ahnen, dass mich keineswegs eine besondere Liebe zu italienischen Automarken zu dieser Bestellung veranlasst hat, sondern vielmehr ein bestimmtes Gesetz meines Berufes als Ethnologe, das mir vorschreibt, mich während meiner Forschungen den Gegebenheiten der Fremde ganz und gar anzupassen. Die kurze Formel für dieses Gesetz lautet Teilnehmende Beobachtung, und sie besagt, dass ein forschender Ethnologe sich den Sitten und Gebräuchen der Untersuchungsregion beinahe bis zur Aufgabe seiner eigenen Identität hin anpassen soll. Konkret bedeutet das, dass man sich als Ethnologe in Sizilien mit einem italienischen Wagen fortbewegen, möglichst gut Italienisch sprechen, sich ausschließlich von italienischer Küche ernähren und in erster Linie mit Sizilianern oder zumindest Italienern verkehren soll. Ein Ethnologe auf Forschungsreise unterscheidet sich durch solche Vorgaben sehr von einem Touristen. Er besucht die Fremde nicht kurz und beobachtet nicht nur oberflächlich ein paar kulturelle Highlights an den Wegrändern, sondern er hält sich vielmehr für längere Zeit an ein und demselben Ort auf, um möglichst tief in das Leben der Einheimischen einzutauchen.
Unter uns Ethnologen gehören die Debatten, ob ein solches Eintauchen in die Fremde überhaupt möglich ist oder ob auch der Ethnologe trotz aller Bemühungen letztlich doch immer ein Fremder bleibt, zu den beliebtesten Themen. Ich will diese Debatten hier keineswegs im Einzelnen aufgreifen, möchte aber doch erwähnen, dass es einigen meiner deswegen zu großer Berühmtheit gelangten Kollegen durchaus gelungen ist, so mit der Fremde und ihren jeweils eigenen Lebensverhältnissen
eins zu werden, dass sie am Ende ihrer Forschungen beinahe schon für Einheimische gehalten wurden. Einige dieser Kollegen sind nach derartigen Erfolgen konsequenterweise auch gar nicht mehr aus der Fremde nach Hause zurückgekehrt, sondern haben ihr Leben ausschließlich in der Fremde weitergeführt. Das führt gar nicht selten zu der letzten Konsequenz, dass sie nämlich ihren Beruf aufgeben und in der Fremde einer anderen Tätigkeit nachgehen. Die meisten von ihnen heiraten außerdem und gründen Familien, die sich später durch besonders zahlreichen Nachwuchs auszeichnen, als wären viele Kinder der letzte und triumphale Beweis dafür, dass es ihnen gelungen ist, mit der Fremde ganz und gar zu verschmelzen.
Teilnehmende Beobachtung gibt es also in verschiedenen Graden. Die meisten Kollegen mischen sich, so gut es eben geht, unter die Einheimischen und versuchen, deren Lebenstempi und Lebensgewohnheiten anzunehmen. Manche scheitern dabei und ziehen sich rasch wieder in ihre heimatlichen Basisländer zurück, andere haben mäßigen Erfolg und kommen mit ein paar meist stark frisierten Forschungsergebnissen nach Hause. Die großen Meister unseres Faches aber tauchen so tief in das fremde Leben ein, dass sie am Ende von Einheimischen kaum noch zu unterscheiden sind.
© LUCHTERHAND
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AN EINEM sonnigen Aprilmorgen komme ich mit dem Flugzeug in Catania an. Wie schon so oft bin ich der letzte Fluggast, der das Flugzeug verlässt. Ich habe beim Anflug auf die Stadt in der Ferne den Ätna entdeckt, und das Bild des breit hingelagerten Vulkans mit seinen deutlich erkennbaren Rauchspuren und dem kegelförmigen Schneegipfel fesselt mich so, dass ich ihn von meinem Fensterplatz aus fotografiere. Zwei Stewardessen sind schließlich bei mir und bitten mich, das Flugzeug zu verlassen, sie sind freundlich und höflich, aber ich merke ihnen an, dass sie über meine Langsamkeit leicht verstimmt sind.
Ich nicke nur, obwohl mir die Frage auf der Zunge liegt, warum denn eine solche Eile geboten ist. Schließlich ist jedem Fluggast doch klar, dass man in einer scheußlichen Wartehalle lange auf die Koffer und das Gepäck warten wird. Warum kann ich dann aber nicht noch einen kleinen Moment im Flugzeug verweilen und die Schönheit des Ätna bewundern, anstatt ein rotierendes Laufband anzustarren?
Das sind einfache Fragen, die vielleicht sogar zu jenen seltenen Fragen gehören, über die man länger nachdenken könnte. Ich stelle diese Fragen jedoch nicht, ich habe Hemmungen. Auch als ich mein Handgepäck geordnet und den Weg zum Ausgang gefunden habe, frage ich nicht nach, obwohl mir lauter Fragen zu dem Thema, was die beiden Stewardessen mit dem weiteren Tag anstellen werden, auf der Zunge liegen: Zurück nach Deutschland fliegen? In Catania übernachten? Dort irgendwo (aber wo und vor allem mit wem?) einen schönen Abend verbringen?
Ich mag Stewardessen, ich sehe in ihnen weniger attraktive als mütterliche Gestalten, die den still und steif dasitzenden Fluggästen etwas Nahrung in die geöffneten Vogelmünder träufeln und stopfen, ich sehe sie als große, langbeinige Vögel, die sich über die Vogelnester zu beiden Seiten des schmalen Laufstegs hermachen und sie laufend beäugen. Gerne wäre ich mit einer von ihnen einmal einen Abend zusammen und würde sie alles fragen, was ich mir in meinen Flugjahren an Fragen für sie notiert habe. Doch leider - ich schweige, meine Hemmungen sind zu stark, und so nicke ich nur blöde auf ihren Abschiedsgruß hin und greife schweigend nach einer der sizilianischen Begrüßungsorangen, die sie den Fluggästen beim Verlassen des Flugzeugs in einem Korb hinhalten.
Als ich die Orange zu fassen bekomme, bemerke ich sofort, dass sie aus Marzipan ist, ich habe zu stark zugegriffen und dadurch das Marzipan etwas gedrückt und
gequetscht. Und so lege ich die aus der Form geratene Süßigkeit wieder in den Korb zurück und nicke den beiden etwas angewidert dreinblickenden Stewardessen erneut zu. Es ist eine Szene wie in einem Loriot-Sketch, sie werden dich jetzt für einen Verrückten halten, der Loriot-Sketche im richtigen Leben nachspielt, denke ich noch und werde bei diesem Gedanken so verlegen, dass ich, um meine Verlegenheit wegzulächeln, laut Arrivederci! sage. Auf Wiedersehen!, antworten die beiden Stewardessen da beinahe unisono, und die dezidiert deutschsprachige Antwort macht mich noch unsicherer, so dass ich zum dritten Mal nicke und dann mit meinem verzerrten Lächeln die Gangway hinabtrotte.
An den Fingern meiner rechten Hand klebt aber noch etwas Marzipan, ich versuche, es unauffällig am Geländer abzustreifen, da sehe ich, dass mir eine der beiden Stewardessen hinterherläuft und mir eine Serviette reicht. Wir stehen dicht nebeneinander auf einer mittleren Stufe der Gangway und sorgen uns gemeinsam um meine verklebten Finger, es muss ein seltsames, irritierendes Bild sein, jedenfalls starren uns die anderen Fluggäste aus dem Innern des wartenden Busses so entsetzt an, als wäre gerade ein großes Unglück passiert. Um der Sache ein Ende zu machen, nehme ich die Serviette in die rechte Hand und schlinge sie dann geschickt wie einen Verband um meine Finger, die Stewardess schaut mir etwas besorgt hinterher, doch ich schaffe es dann wirklich, den Boden Siziliens ohne weitere Komplikationen zu betreten.
Jetzt erst spüre ich die angenehme Wärme, die weiche Frühlingswärme Siziliens, dichte, niemals schwüle, sondern vom Meerwind gesiebt wirkende Luft, eine Luft voller Aromen, ein Duft von Orangen, Zitronen und Kräutern. Ich kenne diesen Geruch schon von meinen früheren Aufenthalten her, doch ich bin sofort wieder überrascht und gebannt. Kein mir bekanntes Land verströmt einen solchen Duft, er ist einzigartig, und er erinnert mich an die Bilder der südlich des Ätna gelegenen großen Orangenhaine, in denen ich einmal eine Nacht im Freien verbracht habe, um den Düften der Früchte ganz nahe zu sein. Ich bleibe also stehen und atme diese herrliche Luft ein, als die auf der Gangway stehende Stewardess mir erneut hinterherkommt. Anscheinend nimmt sie an, dass es mir nicht gut geht oder dass sonst irgendetwas mit mir nicht stimmt, jedenfalls fragt sie mich genau das: ob es mir nicht gut gehe und ob sie mir helfen könne. Da weiß ich sofort, dass es mir nun aus dem Stand heraus gelingen wird, endlich eine Frage zu platzieren, es ist eine richtige Erlösung, denn schließlich habe ich schon die ganze Zeit etwas fragen wollen und es doch nicht geschafft. Riechen Sie auch diese herrliche Luft? frage ich also und bin etwas stolz auf diese sich direkt aus der Situation ergebende Frage.
Es kommt jedoch nicht zu einer Antwort, denn die Stewardess wendet sich sofort, als machte ich nur einen Scherz, von mir ab und trippelt die Gangway so auffallend schnell wieder nach oben, als wollte sie mir ihre Verstimmung nun deutlich zeigen. Ich schaue ihr nach, als der Busfahrer hupt, und so betrete ich mit einer
nicht beantworteten Frage den Bus, wo ich meine Frage gleich der nächstbesten Mitreisenden erneut stelle: Riechen Sie auch diese herrliche Luft? Anstatt auf diese Frage einzugehen und sie endlich mit einer Antwort zu würdigen, antwortet die Mitreisende aber nur Haben Sie sich die Finger verbrannt oder was?, was mich sofort wieder schweigen lässt, worauf die Mitreisende sagt: Sie sollten die Finger mit Wasser kühlen. Was soll ich? Wovon ist denn überhaupt die Rede? Ich presse die Finger in der Serviette zusammen und verstumme, ich muss schlucken, es geht mir nun wirklich nicht gut, meine gut platzierte Frage wird von aller Welt ignoriert, was mir zeigt, dass diese Frage eben doch nicht so gut platziert ist, wie ich gedacht habe. Der Bus fährt los, ich lasse meine rechte Hand sinken und die Serviette zwischen den dicht gedrängt stehenden Mitreisenden auf den Boden fallen. Dann aber trete ich unauffällig darauf und zerstampfe sie mit beiden Füfien, bis ich sie - weiter vollkommen unauffällig und heimlich - in kleinste Teile zerrupft und vernichtet habe.
Im Innern des Flughafengebäudes stehen wir dann alle, genau wie ich befürchtet habe, um das unsäglich langsam rotierende Laufband herum und warten auf unsere Koffer und das Gepäck. Ich setze mich an den Rand der weiträumigen Halle, hole meinen Notizblock hervor und notiere: Riechen Sie auch diese herrliche Luft? - Ja, Sie haben recht, jetzt rieche ich sie auch. - Orangen? Zitronen? Was meinen Sie? - Ja, Orangen, Zitronen und vielleicht etwas Minze oder Melisse, jedenfalls etwas Grünes, Kühles.
In guten Dialogen reiht sich ganz selbstverständlich und weiterführend Frage an Frage, und die Antworten fordern immer neue Fragen heraus und verwandeln sich selbst wieder in Fragen. Das Fragen und Antworten ist in guten Dialogen eine Lust und ein Fest, doch man muss von dieser Kunst etwas verstehen, um sie als Lust und Fest zu erleben. Ich glaube davon viel zu verstehen, ich bin eine Art Fachmann für diese Kunst, und es ist mir gelungen, daraus sogar meinen Beruf zu machen.
Von Beruf bin ich nämlich Ethnologe, ich befrage Menschen fremder Kulturen und ziehe aus diesen Fragen meine Schlüsse. Nun bin ich auf Sizilien gelandet, um einer solchen Forschungsarbeit nachzugehen. Ich werde ein paar Monate auf der Insel bleiben, um nichts anderes zu tun, als Fragen zu stellen und Antworten in Fragen zu verwandeln. Wenn das gelingt, beginnt eine vorher noch weitgehend stumme oder verschwiegene Menschengegend mit einem Mal zu reden. So etwas ist wie ein Zauber. Alte und junge Menschen, Menschen jeder Herkunft und jedes Geschlechts, antworten und fragen selbst etwas und sprechen und reden und beginnen vielleicht sogar zu erzählen. Einige Male ist mir das bereits ansatzweise gelungen, ja, es ist mir gelungen, das Schweigen in Reden zu verwandeln, und ich habe Bücher über die Erzählungen aus der Fremde geschrieben, erfolgreiche und nicht nur von meinen Fachkollegen, sondern weit über eine so begrenzte Leserschaft hinaus gelesene Bücher.
Die Stadt der Dolci soll mein nächstes Buch heißen, ich habe diesen Titel im Kopf, halte ihn aber noch geheim. Der Titel spielt auf den sizilianischen Ort an, in dem ich meine Forschungsarbeiten durchführen will. Es ist ein Ort, der in der Welt der Süßigkeiten und Desserts, für die es im Italienischen den schönen, klingenden Namen Dolci gibt, sehr bekannt und berühmt ist. Fast alle Familien dieses Ortes sind nämlich in irgendeiner Weise mit der Herstellung solcher Dolci beschäftigt, mit Schokolade und Marzipan, mit Eis und Gebäck, mit Kuchen, Bonbons und dunkelfarbigem Fruchtsirup, den man über zerstoßenes Eis gießt. Um gute Fragen zu stellen, habe ich über diese geheim gehaltenen Künste viel gelesen, doch geht es mir nicht in erster Linie darum, über diese von Generation zu Generation vererbten Geheimnisse mehr zu erfahren. Mein eigentliches Ziel ist es vielmehr, die Einwohner dieses Ortes so zum Sprechen zu bringen, dass ich von den noch tiefer liegenden Geheimnissen des Ortes etwas erfahre. Diese Geheimnisse betreffen das innerste Leben und Fühlen der Menschen und die Art und Weise, wie sie auf den Tiefenschichten dieser Geheimnisse ihr Leben und ihre Welt eingerichtet haben. Stufe für Stufe will ich fragend bis zu diesen Schichten hin vordringen, und beginnen werde ich diese Tiefenbohrungen mit ein paar wenigen, sehr einfachen Fragen: Leben Sie gerne hier? Wo halten Sie sich am liebsten auf? Warum hier, im kleineren Café auf der Piazza - und nicht drüben, im größeren?
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Als ich meinen Koffer und das weitere Gepäck endlich von den Laufbändern gefischt habe, gehe ich damit nach draußen, vor das Flughafengebäude, wo bereits eine Unmenge von Taxen und Bussen auf die Fluggäste wartet. Ich bleibe stehen und genieße die Wärme, nirgendwo in Europa ist es jetzt, im April, so angenehm warm, und nirgendwo blüht jetzt bereits so wie hier das ganze Land, bunt und farbensatt, als hätte ein leicht überdrehter Maler in der Tradition eines Spätexpressionismus die Farben mit einem breiten Pinsel auf eine erdockerfarbene Leinwand aufgetragen.
Einige Taxifahrer wollen mich in ihren Wagen locken, sie kommen zu mir und fragen mich nach meinem Ziel und machen einladende Bewegungen. Ich mag dieses Fragen, ich mag es schon aus beruflichen Gründen, denn es ist meist sehr interessant, wie und mit welchem Vokabular Menschen etwas fragen - aber ich bin vom Flug und seinen Begleiterscheinungen noch so befangen, dass ich nur stumm den Kopf schüttele. Nach einer Weile schiebe ich den kleinen Wagen mit meinem Gepäck hinüber zu den Mietwagenzentralen, wo sich bereits lange Schlangen von Wartenden gebildet haben. Am Ende einer dieser Schlangen stelle ich mich an und höre zu, wie die meist deutschen Reisenden rekapitulieren, was sie die Angestellten der Mietwagenbüros gleich fragen werden. Viele befürchten, auf irgendeine Weise betrogen zu werden, deshalb gehen sie noch einmal rasch die Ver-
träge durch, die sie bereits in Deutschland per Internet geschlossen haben: Autofabrikat, PS-Zahl, Kilometer-stand, Zustand des Wagens, Reifen- und Ölkontrolle, auf alles wollen sie achten.
Als ich selbst an der Reihe bin, lege ich ebenfalls den Vertrag vor, den ich bereits in Deutschland geschlossen habe. Der Angestellte schaut mich kurz an und beginnt auf Englisch zu sprechen, ich sage ihm aber sofort, dass er Italienisch mit mir sprechen könne. Er schaut mich et-was länger an und lächelt, dann stellt er, wie ich erwartet habe, erst gar keine Fragen und liest mir nur knapp und prägnant die Daten meines Wagens vor, der draußen auf dem Parkplatz auf mich wartet: Autofabrikat, PS-Zahl, Kilometerstand.
Das Italienisch-Sprechen erweist sich in diesem Fall so-fort als eine Basis für ein Vertrauensverhältnis, es gibt nichts mehr zu fragen oder zu antworten, wir sind beide sozusagen auf ein und derselben Ebene oder auf Augenhöhe. Außerdem erleichtert es unser Gespräch, dass ich nicht wie die meisten anderen deutschen Reisenden ein Fabrikat aus Deutschland (YW, Opel, Mercedes), sondern dezidiert einen Fiat für meine Fahrten durch Sizilien bestellt habe. Sie haben einen Fiat bestellt, sagt der Angestellte und nickt, und ich sehe ihm an, dass ich mich seiner italienischen Seele mit dieser Bestellung noch mehr genähert habe.
Natürlich kann er nicht ahnen, dass mich keineswegs eine besondere Liebe zu italienischen Automarken zu dieser Bestellung veranlasst hat, sondern vielmehr ein bestimmtes Gesetz meines Berufes als Ethnologe, das mir vorschreibt, mich während meiner Forschungen den Gegebenheiten der Fremde ganz und gar anzupassen. Die kurze Formel für dieses Gesetz lautet Teilnehmende Beobachtung, und sie besagt, dass ein forschender Ethnologe sich den Sitten und Gebräuchen der Untersuchungsregion beinahe bis zur Aufgabe seiner eigenen Identität hin anpassen soll. Konkret bedeutet das, dass man sich als Ethnologe in Sizilien mit einem italienischen Wagen fortbewegen, möglichst gut Italienisch sprechen, sich ausschließlich von italienischer Küche ernähren und in erster Linie mit Sizilianern oder zumindest Italienern verkehren soll. Ein Ethnologe auf Forschungsreise unterscheidet sich durch solche Vorgaben sehr von einem Touristen. Er besucht die Fremde nicht kurz und beobachtet nicht nur oberflächlich ein paar kulturelle Highlights an den Wegrändern, sondern er hält sich vielmehr für längere Zeit an ein und demselben Ort auf, um möglichst tief in das Leben der Einheimischen einzutauchen.
Unter uns Ethnologen gehören die Debatten, ob ein solches Eintauchen in die Fremde überhaupt möglich ist oder ob auch der Ethnologe trotz aller Bemühungen letztlich doch immer ein Fremder bleibt, zu den beliebtesten Themen. Ich will diese Debatten hier keineswegs im Einzelnen aufgreifen, möchte aber doch erwähnen, dass es einigen meiner deswegen zu großer Berühmtheit gelangten Kollegen durchaus gelungen ist, so mit der Fremde und ihren jeweils eigenen Lebensverhältnissen
eins zu werden, dass sie am Ende ihrer Forschungen beinahe schon für Einheimische gehalten wurden. Einige dieser Kollegen sind nach derartigen Erfolgen konsequenterweise auch gar nicht mehr aus der Fremde nach Hause zurückgekehrt, sondern haben ihr Leben ausschließlich in der Fremde weitergeführt. Das führt gar nicht selten zu der letzten Konsequenz, dass sie nämlich ihren Beruf aufgeben und in der Fremde einer anderen Tätigkeit nachgehen. Die meisten von ihnen heiraten außerdem und gründen Familien, die sich später durch besonders zahlreichen Nachwuchs auszeichnen, als wären viele Kinder der letzte und triumphale Beweis dafür, dass es ihnen gelungen ist, mit der Fremde ganz und gar zu verschmelzen.
Teilnehmende Beobachtung gibt es also in verschiedenen Graden. Die meisten Kollegen mischen sich, so gut es eben geht, unter die Einheimischen und versuchen, deren Lebenstempi und Lebensgewohnheiten anzunehmen. Manche scheitern dabei und ziehen sich rasch wieder in ihre heimatlichen Basisländer zurück, andere haben mäßigen Erfolg und kommen mit ein paar meist stark frisierten Forschungsergebnissen nach Hause. Die großen Meister unseres Faches aber tauchen so tief in das fremde Leben ein, dass sie am Ende von Einheimischen kaum noch zu unterscheiden sind.
© LUCHTERHAND
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Autoren-Porträt von Hanns-Josef Ortheil
Hanns-Josef Ortheil wurde 1951 in Köln geboren. Er ist Schriftsteller, Pianist und Professor für Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus an der Universität Hildesheim. Seit vielen Jahren gehört er zu den beliebtesten und meistgelesenen deutschen Autoren der Gegenwart. Sein Werk wurde mit vielen Preisen ausgezeichnet, darunter dem Thomas-Mann-Preis, dem Nicolas-Born-Preis, dem Stefan-Andres-Preis und dem Hannelore-Greve-Literaturpreis. Seine Romane wurden in über zwanzig Sprachen übersetzt.
Bibliographische Angaben
- Autor: Hanns-Josef Ortheil
- 2012, Originalausgabe, 432 Seiten, Maße: 13,5 x 21,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Luchterhand Literaturverlag
- ISBN-10: 3630873022
- ISBN-13: 9783630873022
- Erscheinungsdatum: 14.11.2012
Rezension zu „Das Kind, das nicht fragte “
"Eine liebevoll erzählte Geschichte über Familienhierarchien und falsch gestellte Lebensgleise, aber auch ein Roman über Neubeginn und Lebensfreude. Das macht das Buch sympathisch und lesenswert."
Pressezitat
"Ein italienischer Liebestraum und ein wunderbares Mittel gegen deutsche Winterdepressionen." Christel Freitag / NDR Kultur
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