Das Lavendelhaus
Ein Sommer voller Leidenschaft
Fünf Jahre alt war Jocelyn Minton, als ihre Mutter starb. Trost fand sie bei einer alten Nachbarin: Edilean Harcourt. Jahre später hinterlässt Miss Edi ihrer jungen Seelenfreundin ein altes...
Fünf Jahre alt war Jocelyn Minton, als ihre Mutter starb. Trost fand sie bei einer alten Nachbarin: Edilean Harcourt. Jahre später hinterlässt Miss Edi ihrer jungen Seelenfreundin ein altes...
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Produktinformationen zu „Das Lavendelhaus “
Ein Sommer voller Leidenschaft
Fünf Jahre alt war Jocelyn Minton, als ihre Mutter starb. Trost fand sie bei einer alten Nachbarin: Edilean Harcourt. Jahre später hinterlässt Miss Edi ihrer jungen Seelenfreundin ein altes Haus - und einen Brief mit Hinweisen auf ein Familiengeheimnis. Doch damit nicht genug: In Virginia, so schreibt Miss Edi, wartet auch der ideale Mann auf Jocelyn. Und ein neues, wunderbares Leben.
"Eine meisterhafte Geschichtenerzählerin"
The Literary Times
Lese-Probe zu „Das Lavendelhaus “
Das Lavendelhaus von Jude DeverauxProlog
Helen?«, erkundigte sich die Anruferin. »Helen Aldredge?«
Hätte jemand Helen gefragt, ob sie Edilean Harcourts Stimme nach so langer Zeit wiedererkennen würde, sie hätte das wohl verneint. Und dennoch wusste sie sofort, wer da am Apparat war. Sie hatte diesen kultivierten, gebildeten Tonfall zwar nur einige Male gehört, allerdings stets in einem wichtigen Zusammenhang. Deshalb wies sie die Anruferin auch nicht darauf hin, dass sie seit ihrer Hochzeit Connor hieß. »Miss Edi? Bist du das?«
»Du hast ein ausgezeichnetes Gedächtnis.«
... mehr
Helen stellte sich die Frau vor, wie sie sie im Gedächtnis hatte: hochgewachsen, schlank, dunkles, stets perfekt frisiertes Haar. Ihre Kleidung war zeitlos und immer von der besten Qualität. Inzwischen musste sie beinahe neunzig sein, so alt wie Helens Vater David. »Gute Gene«, erwiderte Helen und hätte sich im nächsten Moment am liebsten auf die Zunge gebissen. Denn ihr Vater und Miss Edi waren früher einmal verlobt gewesen. Doch als Edilean aus dem Zweiten Weltkrieg zurückgekehrt war, hatte ihr geliebter David Helens Mutter, Mary Alice Welsch, geheiratet. In ihrer Trauer und Verzweiflung hatte Miss Edi das große, alte Haus, seit Generationen im Familienbesitz, ihrem Taugenichts von einem Bruder überlassen, der nach einer ihrer Vorfahrinnen benannten Stadt den Rücken gekehrt hatte, und nie geheiratet. Bis heute tuschelten einige ältere Leute in Edilean über die »große Tragödie« und hatten für Helens Mutter nur schiefe Blicke übrig. Davids und Mary Alices Entscheidung hatte das Ende der direkten Har- court-Linie, der Gründerfamilie des Städtchens, bedeutet. Und da Edilean, Virginia, ganz in der Nähe von Colonial Williamsburg lag, war es ein schwerer Schlag für seine Bewohner gewesen, eine Familie aussterben zu sehen, deren Vorfahren noch mit George Washington und Thomas Jefferson per Du gewesen waren.
»Ja, du hast gute Gene«, entgegnete Miss Edi, ohne zu zögern. »Ich bin von deinen Fähigkeiten sogar so überzeugt, dass ich beschlossen habe, dich um Hilfe zu bitten.«
»Hilfe?«, erkundigte Helen sich argwöhnisch. Sie war mit den Geschichten von den Fehden und dem Groll aufgewachsen, die ihr Vater mit seiner Entscheidung ausgelöst hatte. Eigentlich hätte sie es ja gar nicht wissen dürfen, denn es wurde nur hinter vorgehaltener Hand darüber geredet, doch Helen war schon immer neugierig gewesen. Und so hatte sie in einer Ecke der Veranda gesessen, mit ihren Puppen gespielt und dabei gelauscht.
»Ja, Hilfe, mein Kind«, antwortete Miss Edi in einem herablassenden Ton, der dafür sorgte, dass Helen errötete. »Und ich werde dich nicht bitten, hundert Plätzchen für den Kirchenbasar zu backen. Das kannst du dir also gleich aus dem Kopf schlagen.«
»Ich wollte nicht ...«, setzte Helen zu einer Rechtfertigung an. Sie stand am Spülbecken und beobachtete ihren Mann James, der sich draußen mit dem neuen Vogelhäuschen abmühte. Es sollte verboten sein, Männer in Rente zu schicken, dachte sie zum wohl tausendsten Mal. Sicher würde James jeden Moment, erbost über das Vogelhäuschen, hereinkommen, und dann würde sie sich seine Schimpftirade anhören müssen. Früher war er Herr über Hunderte von Mitarbeitern in verschiedenen Bundesstaaten gewesen. Doch inzwischen waren seine Frau und sein erwachsener Sohn die Einzigen, die er herumkommandieren konnte. Mehr als einmal hatte Helen sich in solchen Situationen zu Luke gefl üchtet und ihn gefragt, ob sie den Nachmittag bei ihm verbringen könne. Daraufhin sah Luke sie stets mit seinem typischen Grinsen an und beauftragte sie mit Unkrautjäten.
»Gut«, sagte Helen, »was kann ich für dich tun?« Wie lange hatte sie nicht mehr mit dieser Frau gesprochen? Zwanzig Jahre?
»Ich habe erfahren, dass ich höchstens noch ein Jahr zu leben habe, und ...« Sie brach ab, als Helen ein anteilnehmendes Geräusch von sich gab. »Bitte kein Mitleid. Ich habe wirklich große Lust, von dieser Welt abzutreten, denn ich bin schon viel zu lange hier. Doch seit ich weiß, dass mir nur noch ein Jahr bleibt, denke ich darüber nach, was ich bis dahin noch erledigen muss.«
Helen musste schmunzeln. Auch wenn Miss Edi nicht mehr in der Stadt wohnte, die nach ihrer Urgroßmutter benannt war, war ihr Einfluss noch immer spürbar. Dass es das Städtchen überhaupt noch gab, war nur Miss Edi zu verdanken. »Du hast viel für Edilean getan. Du hast ...«
»Ja, Liebes, ich weiß. Ich habe Projekte finanziert, Briefe geschrieben und Radau geschlagen, als man uns das Zuhause wegnehmen wollte. Dazu brauchte ich nur Geld auszugeben und viel Lärm zu veranstalten. Allerdings habe ich es versäumt, Dinge wiedergutzumachen, die passiert sind, als ich noch eine junge Frau war.«
Helen musste ein Aufstöhnen unterdrücken. Nicht schon wieder die alte Geschichte, dachte sie. Die, wie ihre Mutter Mary Alice gegen Ende des Zweiten Weltkriegs Miss Edi den Freund ausgespannt hatte. Arme Miss Edi, böse, böse Mary Alice. Das kannte sie doch alles schon zur Genüge. »Ja, ich weiß ...«
»Nein, nein«, fiel Miss Edi Helen wieder ins Wort. »Ich rede nicht von dem, was deine Eltern getan haben, als noch die Dinosaurier die Erde bevölkerten, sondern von heute. Was damals geschehen ist, hat Einfluss auf die Gegenwart.«
Stirnrunzelnd wandte sich Helen ab, um nicht mit ansehen zu müssen, wie ihr Mann dem Vogelhäuschen, das immer wieder umfiel, einen zornigen Tritt verpasste. »Du meinst, dass einige Dinge anders verlaufen wären, wenn mein Vater dich geheiratet hätte«, sagte sie zögernd.
»Mag sein«, entgegnete Miss Edi, klang aber, als lächle sie dabei. »Was weißt du über den 14. November 1941?«
»Dass kurz darauf der Angriff auf Pearl Harbor stattfand?«, fragte Helen zweifelnd.
»Daraus schließe ich, dass du bei deinen Lauschaktionen als kleines Mädchen nicht alles mitbekommen hast.«
Helen konnte ein Auflachen nicht unterdrücken. »Richtig, Miss Edi. Könntest du mir jetzt bitte verraten, worauf du hinauswillst? Mein Mann kommt gleich zum Mittagessen herein, und ich habe nicht mehr viel Zeit.«
»Ich möchte, dass du mich in Florida besuchst. Glaubst du, du kannst deinen Mann so lang allein lassen?«
»Der schreckliche Mensch ist in Rente. Vielleicht ziehe ich ja sogar für immer bei dir ein.«
Miss Edi kicherte spöttisch. »Ich verstehe. Aber du darfst niemandem erzählen, wohin du fährst oder wen du besuchst. Ich muss einiges mit dir besprechen, und dann überlegen wir uns, wie wir die Sache angehen. Selbstverständlich komme ich für sämtliche Kosten auf. Natürlich nur, wenn du interessiert bist.«
»Eine kostenlose Reise? Düstere Geheimnisse? Ich platze vor Neugier. Wie organisieren wir das?«
»Ich schicke sämtliche Reiseunterlagen an meine Adresse in Edilean. Dort kannst du sie abholen. Wie geht es deinem hübschen Sohn?«
Helen zögerte. Sollte sie ihr die übliche Standardantwort geben? Kaum jemand wusste, was Luke in den letzten Jahren durchgemacht hatte. Doch Helen vermutete, dass Miss Edi es irgendwie erfahren haben musste. »Er erholt sich langsam von dem Schlag. Meistens versteckt er sich in irgendeinem Garten in der Stadt und gräbt dort Löcher. Er will mit niemandem über seine Probleme reden. Nicht einmal mit mir.«
»Was, wenn ich sein Leben verändern würde?«
»Zum Guten oder zum Schlechten?«, fragte Helen, merkte aber auf. Ihr Sohn, ihr einziges Kind, war unglücklich, und sie wusste nicht, wie sie ihm helfen sollte.
»Zum Guten«, erwiderte Miss Edi. »Also, am besten kochst du jetzt das Mittagessen für deinen Mann. Vergiss nicht, dass du niemandem von diesem Telefonat erzählen darfst. Die Tickets müssten morgen um zehn da sein. Hol sie ab und ruf mich dann an. Ich werde dafür sorgen, dass dich jemand hier am Flughafen erwartet.«
»Einverstanden«, sagte Helen gerade, als sich die Hintertür öffnete.
»Verdammtes Drecksding«, hörte sie James schimpfen. »Ich sollte den Hersteller dieses fabrikneuen Schrotts anzeigen.«
Helen verdrehte die Augen. »Wird gemacht«, fl üsterte sie. »Ich muss aufl egen.«
Miss Edi hängte ein und blieb noch eine Weile neben dem Telefon sitzen. Dann stemmte sie sich mit zwei Stöcken aus dem Sessel hoch. Heute hatte sie solche Schmerzen in den Beinen, dass sie sich am liebsten hingelegt hätte und nie wieder aufgestanden wäre. Sie humpelte zu dem großen Karton hinüber, der auf der Klavierbank stand, und dachte an die Fotos darin, an die Geschichten, die sich damit verbanden, und das, was vor so vielen Jahren aus den darauf abgebildeten Personen geworden war.
Dann griff sie nach dem grün eingebundenen Highschool- Jahrbuch. Abschlussjahrgang 1937. Aufzuschlagen brauchte sie es nicht, weil sie alle Gesichter noch deutlich vor ihrem geistigen Auge hatte. Sie war froh, dass sie schon seit einigen Jahren nicht mehr in Edilean, Virginia, gewesen war. Sie vermisste das Städtchen, die Bäume und den Wechsel der Jahreszeiten. Doch was sie nicht sehen wollte, waren die alternden Gesichter ihrer Freunde oder ihre Namen auf Grabsteinen. Wer hätte gedacht, dass sie, David und Mary Alice als Letzte übrig bleiben würden. Und Pru... aber die zählte nicht. Fast alle anderen waren gestorben, einige erst vor Kurzem, manche schon vor vielen Jahren. Wie lange war die arme Sara nun schon tot? Edi erinnerte sich nicht mehr an das genaue Datum, wusste aber, dass es schon eine Weile her war.
Sie legte das Buch weg und betrachtete die kleine Schachtel, die Fotos von ihnen allen enthielt, machte sie aber nicht auf. Heute fühlte sie sich noch elender als sonst und war sicher, dass der Arzt sich irrte. Sie hatte sicher kein ganzes Jahr mehr zu leben, war jedoch froh darüber. Die Schmerzen in ihren alten, vernarbten Beinen wurden immer schlimmer. Wenn sie überhaupt aus dem Bett aufstand, dann nur, weil sie sich dazu zwang. Wenn sie es nicht schaffte, ließ sie sich von ihrer angestrengt gute Laune verbreitenden Pflegerin ihren Laptop bringen und verbrachte den ganzen Tag damit. Das Internet war wirklich eine wunderbare Sache! Und man konnte so viel damit herausfinden.
Sie hatte sogar David Clares Familie gegoogelt und festgestellt, dass sein ältester Bruder den Krieg überlebt hatte und ein erfolgreicher Geschäftsmann geworden war. Oft war sie versucht gewesen, dort anzurufen, hatte es aber aus Angst, verletzt zu werden, nicht getan. Vermutlich hatten Davids Angehörige nie von ihr gehört, denn er war ja schon wenige Wochen nach ihrem Kennenlernen gefallen.
Auf dem Weg in die Küche dachte Edi an Jocelyn, was wie immer dafür sorgte, dass ihre Schmerzen nachließen und dass sie sich friedlicher fühlte.
Alexander McDowell, der Mann dessen Leben im Mittelpunkt all der Geheimnisse und gebrochenen Herzen stand, hatte Edi mit dem jungen Mädchen bekannt gemacht.
»Ihre Großeltern, die Scovills, waren sehr, sehr gute Freunde von mir«, hatte Alex mit vom jahrzehntelangen Rauchen heiserer Stimme gesagt. »Ihre schöne Tochter Claire wurde auf die besten Schulen geschickt. Auf dem Debütantinnenball hat sie elf Heiratsanträge bekommen, doch sie hat erst mit dreiunddreißig geheiratet, und zwar den Hausmeister des Country Clubs.«
Miss Edi hatte zu viel erlebt, um ein Snob zu sein. »Was war er denn für ein Mensch?«
»Zu ihr war er gut. Kein Ehrgeiz und beinahe Analphabet, aber ein liebevoller Ehemann. Sie hatten eine Tochter namens Jocelyn, und nur wenige Jahre später starb die schöne Claire.«
Vielleicht lag es ja an dem Namen »Claire« oder daran, dass Edi damals vor einer schwierigen Lebensentscheidung gestanden hatte. Den Großteil ihres Berufslebens hatte sie damit verbracht, Dr. Brenner auf seinen Reisen zu begleiten. Da der Arzt aus reichem Hause kam, war er nicht auf Bezahlung angwiesen gewesen, und so reiste er von Krisengebiet zu Krisengebiet und half ehrenamtlich dort, wo er gebraucht wurde. Es wurde gemunkelt, dass Dr. Brenner schon den Flug zum Unglücksort gebucht hatte, bevor die Bombe überhaupt hochging. In Wahrheit aber war das Buchen von Flügen Edis Aufgabe, und sie folgte dem Arzt überallhin.
Doch als Dr. Brenner sich zur Ruhe setzte, war auch für Edi Schluss mit den Reisen. Sollte sie nach Edilean zurückkehren und mit ihrem Bruder, der sie zu Tode langweilte, in dem großen Haus wohnen? Oder war es besser, wenn sie mit ihrer Rente und ihren Ersparnissen ein ruhiges Leben führte und vielleicht ihre Memoiren schrieb? Ebenfalls zum Gähnen.
Als Alex McDowell, den sie schon seit frühester Kindheit kannte, ihr eine Stelle als Verwalterin eines Wohltätigkeitsfonds anbot und sie bat, ein Auge auf die kleine Enkelin seiner Freunde zu haben, hatte Edi sofort zugegriffen.
»Ich kenne das Kind nicht«, hatte Alex vor all den Jahren gesagt. »Sie könnte genauso gut die mangelnde Intelligenz ihres Vaters geerbt haben. Ich weiß nur, dass sie nach dem Tod ihrer Eltern bei ihren Großeltern aufgewachsen ist. Und als die ebenfalls starben, wurde Jocelyn - so heißt die Kleine - der Obhut ihres Vaters übergeben.«
»Er vergeht sich doch nicht etwa an ihr, oder?«, fragte Miss Edi rasch.
»Nein, ich habe einen Privatdetektiv auf ihn angesetzt und nichts dergleichen gehört. Allerdings hat der Vater sich verändert. «
»Wie verändert?«, hakte Miss Edi nach.
Alex lachte auf. »So, wie du es dir in deinen schlimmsten Albträumen nicht vorstellen kannst. Er hat eine Frau mit eineiigen Zwillingstöchtern geheiratet, und jetzt fahren sie zusammen Motorrad.«
Kurz schloss Miss Edi die Augen. Der Name Claire und das Bild von Motorrädern lenkten sie ab.
»... Boca Raton«, meinte Alex.
»Entschuldige, ich habe nicht richtig zugehört.«
»Ich besitze ein Haus in derselben bewachten Wohnsiedlung, wo auch die kleine Jocelyn mit ihrem Vater und den Stieflingen, wie sie sie nennt, wohnt. Einer meiner Detektive hat mit ihr geredet.«
»Sie hat mit einem fremden Mann gesprochen?«, stieß Miss Edi hervor.
Wieder lachte Alex auf. Du bist noch genau wie früher, was? Ich kann dir versichern, dass die Begegnung unter strenger Aufsicht stattfand. Sie waren bei einem NASCAR-Rennen.«
»Einem was?«
»Glaube mir, das willst du gar nicht wissen. Was mich interessiert, Edi, ist, ob du dir vorstellen könntest, in Boca Raton zu leben. Du würdest drei Häuser von Claires Tochter entfernt wohnen und ein Auge auf sie haben, während du für mich arbeitest. «
Bei jedem anderen wäre Edi wenig begeistert gewesen, doch Alex war ein alter Freund, dem sie vertraute. »Sehr, sehr gerne «, erwiderte sie. »Wirklich.«
»Ich dachte, die Wärme in Florida ist sicher gut für deine Beine.«
»Nicht wieder nach Edilean zu ziehen, wo mich alle als alte Jungfer bemitleiden würden, ist das Allerbeste für meine Beine. «
»Du und eine alte Jungfer«, entgegnete Alex. »Für mich wirst du immer dreiundzwanzig sein und die schönste Frau in ...«
»Wenn du nicht aufhörst, verpetze ich dich bei Lissie.«
»Sie hat dich genauso lieb wie ich«, sagte Alex rasch. »Also gib mir deine Adresse, und dann schicke ich dir die Daten.«
»Danke«, antwortete Edi. »Vielen, vielen Dank.«
»Nein«, entgegnete Alex. »Ich muss mich wie immer bei dir bedanken. Wenn du nicht wärst ...«
»Ich weiß. Küss alle von mir«, antwortete sie und legte auf. Es dauerte eine ganze Weile, bis sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht breitmachte. Sie hatte schon immer daran geglaubt, dass sich für jede Tür, die sich schloss, eine neue öffnete. Dr. Brenners Tür hatte sich geschlossen. Und nun war eine andere aufgegangen.
Jetzt, so viele Jahre später, war Jocelyn Minton das Wichtigste in Miss Edis Leben. Das Kind, das ihr nicht vergönnt gewesen war. Die Familie, die sie nie gehabt hatte.
Sobald sich Jocelyn von ihrem Arbeitsplatz in dem kleinen College, das sie gnadenlos ausbeutete und einen Hungerlohn bezahlte, loseisen konnte, sprang sie ins Auto und fuhr nach Hause. Und nach dem Pflichtbesuch bei Vater und Stiefmutter ging sie sofort zu Edi, wo sich die beiden vor Freude um den Hals fielen. Jocelyn war die Einzige, die sich von Edis abweisender Art nicht einschüchtern ließ, und umarmte sie wie damals als kleines Mädchen. »Meine Lebensretterin«, nannte sie Edi »Ich weiß nicht, wie ich ohne dich meine Kindheit überstanden hätte.«
Edi wusste, dass das übertrieben war. Schließlich starb ein Mensch nicht an Büchermangel. Auch nicht daran, ein Haus mit einem Vater, einer Stiefmutter und zwei Stiefschwestern teilen zu müssen, für die Pick-up-Rennen ein kulturelles Ereignis waren. Allerdings gab es verschiedene Arten zu sterben.
In Wahrheit war ihre Begegnung das Beste, was ihnen beiden hatte passieren können. Edi wohnte erst seit vier Monaten in dem reizenden Haus, das Alex gekauft hatte, als sie das Kind zum ersten Mal mit ihrer Familie sah. Das Haus, in dem sie lebten, hatte Jocelyns Großeltern gehört. Das Mädchen hatte es nach ihrem Tod geerbt. Und Edi hatte nicht lange gebraucht, um herauszufinden, dass das ebenfalls hinterlassene Geld rasch ausgegeben worden war.
Miss Edi betrachtete die Eltern in ihrer Lederkluft und die hoch aufgeschossenen Zwillinge, die gerade noch ausreichend bekleidet waren, um sich keine Anzeige wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses einzuhandeln. Jocelyn trottete hinter ihnen her. Meistens hatte sie ein Buch in der Hand, und das aschblonde Haar hing ihr ins Gesicht. Doch als Edi sie zum ersten Mal aus der Nähe betrachtete, erkannte sie Intelligenz in ihren dunkelblauen Augen. Sie war keine Schönheit wie ihre Mutter - Miss Edi kannte die Fotos -, hatte aber etwas an sich, was anziehend auf sie wirkte. Vielleicht war es das kantige Kinn mit dem kleinen Grübchen. Es erinnerte sie an ein anderes kantiges Kinn eines Menschen, den sie einmal von ganzem Herzen geliebt hatte. Möglicherweise fand sie es ja auch faszinierend, dass das Kind wusste, wie sehr es sich von den Menschen unterschied, bei denen es lebte.
Anfangs hatte Miss Edi zweimal absichtlich Situationen herbeigeführt, damit sie mit dem Mädchen sprechen konnte. Das eine Mal hatten sie in der Bibliothek eine halbe Stunde lang die Narnia-Bücher erörtert und sich einander vorgestellt, bevor sie sich wieder trennten. Beim zweiten Mal beschloss Miss Edi, einen Spaziergang zu unternehmen, der sie am Haus des Kindes vorbeiführte. Das Mädchen fuhr auf seinem Fahrrad Runden ums Gebäude. »Als ich ein Kind war, haben wir Kästchenhüpfen gespielt«, sagte Miss Edi.
»Was ist denn das?«
»Wenn du ein Stück Kreide dahast, zeig ich es dir.«
Miss Edi wartete, während Jocelyn ins Haus ging, um Kreide zu holen. Damals hatte Miss Edi nur einen Stock zum Gehen gebraucht. Doch all die Jahre, die sie stehend mit Dr. Brenner und seiner Mannschaft zusammengearbeitet hatte, hatten ihre Beinmuskulatur geschädigt, und sie wusste, dass sie bald zwei Stöcke brauchen würde. Dann einen Rollator, und danach ... Sie wollte lieber gar nicht erst daran denken.
Sie spürte, dass jemand sie beobachtete. Als sie sich umdrehte, erkannte sie Jocelyns Vater. Er hatte etwas an, was man in ihrer Generation als Unterhemd bezeichnet hatte, was hieß, dass Männer es eigentlich unter der Kleidung trugen. Außerdem war er von Kopf bis Fuß tätowiert und hatte sich offenbar seit Tagen nicht rasiert. Er schraubte an einem blauen Motorrad herum und drehte ständig am Lenker, damit es lauter wurde. Die Nachbarn hatten aufgehört, sich zu beschweren. Allerdings nicht, weil er Hausbesitzer in einer bewachten Wohnsiedlung war, denn in diesem Fall hätte ihn die Eigentümerversammlung zum Auszug zwingen können. Doch Gary Minton war noch immer Hausmeister, der Mann also, der auch mitten in der Nacht erschien, wenn die Toilette überlief und das Bad zu überfluten drohte. Er hatte auch schon ein Kind aus einem Pool gerettet und war auf einen Baum geklettert, um einen verängstigten kleinen Jungen herunterzuholen. Also war Motorradlärm etwas, was man hinnehmen konnte.
Nun aber betrachtete er Miss Edi abschätzend, als wolle er feststellen, ob seine Tochter Umgang mit ihr pflegen solle. Miss Edi wandte sich ab. Umgekehrt wäre die Frage angebrachter gewesen.
Wenig später kehrte Jocelyn mit der Kreide zurück, und Miss Edi zeigte ihr, wie man die Kästchen auf die betonierte Einfahrt malte, einen Kieselstein warf und auf einem Bein hinterherhüpfte. Das Kind war begeistert gewesen.
Als Edi einige Tage später ihre Haustür öffnete, sah sie das magere, schlecht angezogene kleine Mädchen auf der Vordertreppe sitzen. Das blonde Haar hing ihr ins Gesicht, und sie weinte bitterlich. Edi war nicht überrascht.
»Entschuldigen Sie«, stammelte das Mädchen und sprang auf. »Ich wollte nicht ...« Offenbar wusste sie nicht, was sie sagen sollte.
Edi sah die Kante eines Plastikkoffers hinter einem Hibiskusbusch hervorlugen und schloss daraus, dass Jocelyn von zu Hause weglaufen wollte.
Am ersten Tag behielt Edi das Kind fast drei Stunden bei sich. Sie sprachen über Bücher und über das Bioreferat, das sie gerade für die Schule vorbereitete. Edi wollte ihrem Vater eine Lektion erteilen. Er sollte sich Sorgen machen und besser auf sein Kind aufpassen.
Als Edi Jocelyn nach Hause begleitete, war sie fest entschlossen, den erleichterten Eltern eine Standpauke zu halten, wenn sie an die Tür kamen. Doch zu ihrem Entsetzen war es Vater und Stiefmutter gar nicht aufgefallen, dass das Mädchen weggelaufen war. Und was noch schlimmer war: Als sie es ihnen erklärte, waren sie weder besorgt noch überrascht. Ihre Einstellung war, dass Jocelyn ohnehin tat, was sie wollte. Die Wünsche und Sehnsüchte ihrer Tochter waren ihnen völlig fremd.
Noch am selben Abend rief Edi Alex an und teilte ihm mit, die Lage des Kindes sei noch kritischer, als er gedacht habe. »Sie ist ausgesprochen intelligent und wissbegierig. Du hättest ihr Gesicht sehen sollen, als ich ihr Vivaldi vorgespielt habe. Es ist, als müsste Shakespeare mit den Dorftrotteln zusammenwohnen. Habe ich dir schon von ihren widerlichen Stiefschwestern erzählt?«
»Ja«, erwiderte Alex. »Aber du kannst es gern noch mal tun.«
Am nächsten Wochenende erschien das Mädchen, wie Edi gehofft hatte, auf dem Gehweg vor ihrem Haus und tat so, als käme sie nur zufällig vorbei. Edi bat sie herein und rief dann ihren Vater an, um ihn zu fragen, ob sie Jocelyn bei den Hausaufgaben helfen dürfe. Dass er sich nicht nach der Natur dieser Hausaufgaben und auch nicht danach erkundigte, wie lange sie bleiben würde, bestätigte nur ihren schlechten Eindruck von ihm. »Ja«, sagte der Vater am Telefon. »Ich habe von Ihnen gehört und weiß, wo Sie wohnen. Klar kann Joce bei Ihnen bleiben. Falls Sie viele Bücher haben, ist sie glücklich. Da ist sie ganz wie Ihre Momma.«
»Kann ich Sie also den Nachmittag lang hier behalten?«, fragte Edi und klang dabei noch steifer als sonst, weil sie Mühe hatte, sich ihren Widerwillen gegen diesen Mann nicht anmerken zu lassen.
»Klar können Sie. Wir fahren zu einem Autorennen und kommen erst spät nach Hause. Hey! Kann sie bei Ihnen übernachten? Ich wette, Joce findet das gut.«
»Vielleicht«, erwiderte Edi und hängte auf.
Jocelyn übernachtete bei Edi. Die beiden kamen so gut miteinander zurecht, dass das Kind bis Sonntagabend blieb. Als die Kleine sich zum Gehen anschickte, drehte sie sich noch einmal um, lief auf Edi zu und schlang ihr die Arme um die Taille. »Du bist die netteste, klügste und wundervollste Frau, die ich je getroffen habe.«
Edi hatte zwar vorgehabt, Distanz zu wahren, war aber machtlos gegen das Bedürfnis, die Umarmung zu erwidern.
Danach verbrachte Jocelyn die Wochenenden und auch die meisten Feiertage bei Edi. Sie waren beide einsame Menschen, die einander brauchten und froh waren, sich gefunden zu haben. Bald spielte sich ein fester Ablauf ein - Ausflüge am Samstag, Kirchgang am Sonntag, und geruhsame Stunden im Garten.
Was ihren Vater betraf, den Edi zunächst als gleichgültig eingestuft hatte, stellte sie fest, dass er seine Tochter genauso liebte wie damals ihre Mutter und dass er nur ihr Bestes wollte. »Ich kann ihr nicht geben, was sie gehabt hätte, wenn ihre Mutter noch leben würde«, meinte er zu Edi. »Aber vielleicht können Sie das. Joce darf so oft zu Ihnen kommen, wie sie will, sagen Sie mir einfach Bescheid.« Er warf einen Blick auf seine Frau und seine Stieftöchter, die im Auto auf ihn warteten. »Die sind wie ich, wir passen zusammen. Doch Joce ist ... anders eben.«
Edi wusste, wie es war, anders zu sein. Jocelyn war ein Fremdkörper in ihrem Zuhause, so wie Edi es früher auch oft gewesen war.
Die Jahre mit Jocelyn wurden die glücklichsten in Edis Leben. Es machte sie so glücklich, den Verstand eines jungen Menschen zu schulen und ihm die Welt zu zeigen. Als Jocelyns Familie nach Disney World fuhr, flog Edi mit ihrem Schützling nach New York und besuchte mit dem Mädchen die Metropolitan Opera. Während ihre Stiefschwestern knappe Shorts anzogen, um ihre langen Beine zu betonen, trug Jocelyn Edis Perlenkette zu einem Twinset.
In dem Sommer, als Joce sechzehn wurde, reisten sie und Miss Edi zusammen nach London, Paris und Rom. Das Reisen strengte Miss Edi an, denn wegen ihrer Beine und ihres Alters hatte sie nicht mehr viel Kraft. Doch Jocelyn bummelte den ganzen Tag durch die Städte und machte Fotos. Am Abend erzählte sie Miss Edi dann von ihren Erlebnissen und lauschte den Geschichten von früher.
In London hatte Edi Joce gezeigt, wo sie einem Mann namens David begegnet war, den sie geliebt und verloren hatte. Seinen Nachnamen erwähnte sie nicht. »Er war der Einzige, der für mich in Frage kam«, sagte sie mit einem wehmütigen Blick auf das große Gebäude aus weißem Marmor.
Jocelyn hatte die Geschichte schon Dutzende von Malen gehört, konnte allerdings nicht genug davon bekommen. »Die einzig wahre Liebe«, »ewige Liebe«, »die Liebe aller Zeiten« - Worte, die in ihren Ohren klangen wie Musik.
»Warte auf die wahre Liebe, lass dir Zeit«, pflegte Miss Edi zu sagen, und Jocelyn hatte diese Ansicht geteilt. Die wahre Liebe.
Abgesehen davon, dass sie gern ihre Zeit miteinander verbrachten, half Jocelyn Miss Edi oft bei der Verwaltung der verschiedenen Wohltätigkeitsorganisationen, für die sie zuständig war. Joce recherchierte und suchte hin und wieder die Geschäftsstellen auf. Dreimal kam sie Betrugsfällen auf die Spur und freundete sich im Rahmen der Ermittlungen mit einigen Polizisten an.
Allerdings verriet Miss Edi ihr nie, dass das Geld, das sie verteilte, nicht ihres war. Sie verheimlichte ihr mit Bedacht, dass die Mittel von Alexander McDowell aus Edilean, Virginia, stammten. In all den Jahren ihrer Freundschaft fiel weder sein Name noch der des Städtchens.
Als Jocelyn das Studium an einem kleinen College in der Nähe aufnahm, fühlte Edi sich zunächst ohne sie einsam. Anfangs war Jocelyn so mit Geldverdienen und Studieren beschäftigt, dass sie nicht einmal Zeit für einen Anruf hatte. Sie schrieben sich zwar häufig Mails oder SMS - Miss Edi liebte technische Neuerungen -, doch es war trotzdem nicht dasselbe.
Nach dem ersten Semester fing Miss Edi an, die Studiengebühren zu bezahlen, damit Jocelyn mehr Zeit zu Hause verbringen konnte. Ihr Vater und die »Stieflinge«, wie sie die beiden gertenschlanken blonden Zwillinge nannten, erfuhren davon nichts. Edi glaubte zwar nicht, dass der Vater etwas dagegen einzuwenden haben würde, doch sie wollte es lieber nicht riskieren. Und insbesondere wolle sie vermeiden, dass die Zwillinge sie als Geldquelle entdeckten. Obwohl die Mädchen allgemein als Schönheiten galten, teilte Edi diese Ansicht nicht. Hin und wieder schneiten die beiden bei Edi herein, wenn Jocelyn nicht da war, und sahen sich im Haus um, als versuchten sie den Wert des Inventars abzuschätzen. Edi verabscheute sie ebenso, wie sie Jocelyn liebte.
Jocelyn machte ihren Abschluss in englischer Literatur und ergatterte eine Teilzeitstelle als Hilfsdozentin am selben College. Durch die Vermittlung eines Freundes von Miss Edi arbeitete sie außerdem freiberuflich und recherchierte für Autoren, die eine Biografie schreiben wollten. Jocelyn erwies sich in beiden Bereichen als äußerst fähig und verbrachte ihre Zeit am liebsten damit, in Bibliotheken alte Unterlagen zu durchwühlen.
Als Edi klar wurde, dass das leichte Stechen in der Brust nicht nur ein Alterszipperlein war, begann sie, sich Gedanken um Jocelyns Zukunft zu machen. Wenn Edi starb und Jocelyn alles vererbte, was ihr Plan war, würden die Stieflinge sicher alles in ihrer Macht Stehende tun, um ihr das Erbe abspenstig zu machen.
Edi wollte Jocelyn viel mehr hinterlassen als nur ihr Hab und Gut. Sie wollte, dass sie eine Zukunft hatte. Nein. Was sie wirklich wollte war, ihr zu einer Familie zu verhelfen. Jocelyn hatte den Großteil ihres Lebens mit alten Menschen, erst ihren Großeltern, dann Miss Edi, verbracht. Nun überdachte Edi alles, was sie über Jocelyn wusste, und steckte dann viel Zeit und Arbeit in die Beantwortung der Frage, wie Jocelyn bekommen konnte, was sie brauchte.
Sie klappte das Buch mit den Erinnerungen zu und schleppte sich mühevoll in die Küche. Welche kulinarische Zumutung hatte die Pflegerin ihr wohl zum Abendessen mitgebracht? Vermutlich etwas, auf dessen Verpackung das Wort Taco stand. Als sie hörte, wie der Kurierdienst in die Einfahrt einbog, um das Päckchen für Helen abzuholen, lächelte sie.
Edi öffnete den Kühlschrank, froh, weil sie nicht mehr dabei sein würde, wenn Jocelyn herausfand, dass sie ... Tja, gelogen hatte sie eigentlich nicht, nur ziemlich viel unter den Tisch fallen lassen.
Da Jocelyn Edi gerne über ihr langes Leben ausfragte, war es nicht leicht gewesen, Jahre zu überspringen und die Wahrheit zu schönen. Doch sie hatte es geschafft.
Sie holte den großen Salat, den die Pflegerin für sie eingekauft hatte, aus dem Kühlschrank und stellte ihn auf den Tisch. Jocelyn würde sich gar nicht freuen, wenn sie gewisse Dinge erfuhr. Doch Edi war sicher, dass sie sich auf die Suche nach den Antworten machen würde.
Schmunzelnd dachte Edi daran, dass ihre Pläne für Jocelyns Leben die beiden übergroßen, überschlanken, halb nackten Stiefschwestern ausschlossen. Dass die beiden »prominent« geworden waren - ein Begriff, den Miss Edi verabscheute -, sagte doch schon genug über die moderne Welt aus.
Jocelyn glaubte, dass Edi es nicht wusste, doch das Mädchen hatte viel geopfert, um für eine alte Frau da zu sein, und Edi wollte sie dafür entschädigen. Jocelyn sollte die Wahrheit erfahren. Allerdings wollte sie ihr nicht einfach alles erzählen.
Jocelyn sollte danach suchen, es sich erarbeiten, etwas, was sie sehr gut konnte.
»Und bitte verzeih mir«, flüsterte Edi. Dass Jocelyn ihr die jahrelange Heimlichtuerei vergab, war ihre größte Hoffnung. »Ich habe ein Versprechen gemacht, einen Eid abgelegt«, flüsterte sie. »Und ich habe mich daran gehalten.«
Sie begann, in Gedanken den Brief zu formulieren, den sie ihrem Testament beilegen wollte.
1
Jocelyn betrachtete sich ein letztes Mal im Spiegel ihres Hotelzimmers. Jetzt ist es so weit, dachte sie. Der Moment ist gekommen. Am liebsten hätte sie wieder ihr Nachthemd angezogen und sich ins Bett gelegt. Was mochte wohl tagsüber im Kabelfernsehen laufen? Gab es in diesem Hotel überhaupt Kabelfernsehen? Vielleicht sollte sie sich ja eines suchen, das welches hatte.
Sie holte tief Luft, schaute noch einmal in den Spiegel und straffte die Schultern. Was hätte Miss Edi gesagt, wenn sie gesehen hätte, dass sie sich so gehen ließ. Beim Gedanken an Miss Edi traten ihr wieder die Tränen in die Augen. Obwohl seit der Beerdigung inzwischen vier Monate verstrichen waren, vermisste sie ihre Freundin manchmal noch so sehr, dass sie kaum wusste, wie sie den Tag überstehen sollte. Immer wieder hatte sie das spontane Bedürfnis, Miss Edi anzurufen, um ihr von einem Ereignis zu erzählen, nur um erneut feststellen zu müssen, dass sie für immer fort war.
»Ich werde es schaffen«, sagte Joce und blickte wieder in den Spiegel. »Ich werde es ganz sicher schaffen.« Sie war konservativ mit einem Rock und einer gebügelten weißen Baumwollbluse bekleidet, wie Miss Edi es ihr beigebracht hatte. Ihr schulterlanges, dunkelblondes Haar wurde von einem Haarband zusammengehalten, und sie war nur sehr dezent geschminkt. Über das Städtchen Edilean, Virginia, wusste sie nur, dass Miss Edi dort aufgewachsen war. Deshalb wollte Jocelyn nicht in Jeans und Stretchoberteil dort erscheinen und die Einheimischen vor den Kopf stoßen.
Sie griff nach dem Autoschlüssel, nahm den Henkel ihres großen schwarzen Koffers und rollte ihn zur Tür. Heute würde sie in ihrem eigenen Haus schlafen, einem Haus, das sie noch nie gesehen, ja, von dessen Existenz sie erst durch einen Anwalt erfahren hatte. Und dennoch hatte Joce es geerbt. Es gehörte ihr.
Erst vor wenigen Tagen hatte sie in einer Anwaltskanzlei in Boca Raton, Florida, gesessen, ganz in Schwarz gekleidet und mit den Perlen um den Hals, die Miss Edi ihr geschenkt hatte. Seit der Beerdigung waren zwar schon einige Monate vergangen, doch in ihrem Testament hieß es, es solle am 1. Mai nach ihrem Todestag verlesen werden. Wäre Miss Edi an einem 1. Juni gestorben, hätte das bedeutet, dass man elf Monate hätte warten müssen. Doch sie war in der Neujahrsnacht friedlich im Schlaf verschieden, weshalb Jocelyn Zeit zum Trauern gehabt hatte, bevor sie sich der Tortur einer Testamentseröffnung hatte stellen müssen.
Neben ihr saßen ihr Vater, seine Frau und die Stieflinge, Belinda und Ashley, inzwischen besser als Bell und Ash bekannt. Dank der unermüdlichen Bemühungen ihrer Mutter waren sie Models geworden, und die Medien waren begeistert, weil es sie gleich in doppelter Ausführung gab. In den letzten zehn Jahren hatten sie die Titelseiten aller Zeitschriften von Rang und Namen geziert, die ganze Welt bereist und die Kreationen sämtlicher Modeschöpfer vorgeführt. Wenn sie durch ein Einkaufszentrum schlenderten, wurden sie von jungen Mädchen verfolgt, die sie ehrfürchtig anstarrten, und von Männern aller Altersgruppen lüstern begafft.
Doch Berühmtheit hin oder her, für Jocelyn hatten sich die Stieflinge seit ihrer gemeinsamen Kindheit nicht verändert. Damals hatten sie Joce wegen erfundener Schandtaten bei ihrer Mutter verpetzt, worauf Louisa ihre Stieftochter böse angesehen hatte. »Warte nur, bis dein Vater nach Hause kommt«, hatte sie gesagt. Aber Gary Minton hatte nur den Kopf geschüttelt und sein Möglichstes getan, um sich aus allem herauszuhalten. Er wollte ein angenehmes Leben führen, nicht für seine drei Kinder den Schiedsrichter spielen. Also verschwand er in seiner Hobbywerkstatt, wohin ihm seine Frau und seine hochgewachsenen Stieftöchter früher oder später folgten, während Jocelyn sich zu Miss Edi verdrückte.
»Und was hat dir die alte Hexe hinterlassen?«, fragte Bell und reckte den langen Hals, um Jocelyn über die lange Stuhlreihe hinweg anzusehen.
Für Joce war es nie schwierig gewesen, die Zwillinge auseinander zu halten. Bell war die klügere der beiden, die Anführerin, während Ash, die Zurückhaltendere, tat, was ihre Schwester von ihr verlangte. Da das normalerweise bedeutete, eine gehässige Bemerkung zu machen, um ein paar Lacher zu ernten, war Ash diejenige, der man besser aus dem Weg ging.
»Ihre Liebe«, entgegnete Jocelyn und wich dem Blick ihrer Stiefschwester aus. Bell war mittlerweile bei Ehemann Nummer drei angelangt, und ihre Mutter deutete an, dass sich bereits die Trennung abzeichnete. »Die Arme«, sagte sie. »Die Männer verstehen mein kleines Schätzchen einfach nicht.«
»Sie verstehen nur nicht, warum sie sich berechtigt fühlt, Affären zu haben, obwohl sie verheiratet ist«, murmelte Jocelyn.
»Was war das?«, zischte Louisa und klang fast, als wolle sie ein »Warte nur, bis dein Vater nach Hause kommt« hinzufügen. Offenbar begriff sie einfach nicht, dass ihre »Schätzchen« in diesem Jahr dreißig werden würden und den Höhepunkt ihrer Karriere bereits überschritten hatten. Erst letzte Woche hatte Joce gelesen, dass zwei Achtzehnjährige schon als »die neue Bell und Ash« gehandelt wurden.
Jocelyn neidete den Stieflingen ihren Ruhm nicht - und auch nicht das Vermögen, das sie inzwischen zum Fenster hinausgeworfen hatten. In ihren Augen hatten sie sich seit ihrer Kindheit nicht verändert: immer schlecht gelaunt, eifersüchtig auf alles und jeden und voller Verachtung für Menschen, über die nicht allwöchentlich in den Klatschzeitschriften berichtet wurde. Als Kinder waren sie ausgesprochen neidisch auf Jocelyn gewesen, weil sie so viel Zeit »bei der reichen alten Schachtel « verbrachte. Sie konnten einfach nicht glauben, dass Miss Edi Joce nicht Woche für Woche mit Geld überschüttete. »Warum gehst du sonst hin, wenn sie dir nichts schenkt?«
»Weil ich sie mag«, hatte Joce wieder und wieder beteuert. »Nein, ich liebe sie.«
»Ahhh«, antworteten sie nur in vielsagendem Ton.
Joce machte ihnen einfach die Zimmertür vor der Nase zu oder flüchtete sich zu Miss Edi.
Aber nun war Miss Edi für immer fort, und Jocelyn musste bei der Testamentseröffnung anwesend sein. Der Anwalt, ein Mann, der noch älter zu sein schien als Miss Edi, kam zu einer Seitentür herein und wirkte überrascht, fünf Personen im Raum vorzufinden. »Ich habe nur mit Miss Jocelyn gerechnet «, sagte er mit einem kurzen Blick auf sie und sah dann ihren Vater an, als erwarte er eine Erklärung von ihm.
»Ich ... äh ...«, begann Gary Minton. Die Zeit war gnädig mit ihm gewesen, sodass er noch immer ein attraktiver Mann war. Mit seinem dunklen Haar, den nur leicht ergrauten Schläfen und den dunklen Brauen wirkte er viel jünger, als er eigentlich war.
»Unsere Familie hält zusammen«, verkündete seine Frau. Es war fast, als hätten sich die Jahre, die man Garys Gesicht nicht ansah, in das seiner Frau eingegraben. Sonne, Zigarettenrauch und Wind hatten ihre Haut gegerbt, sodass sie beinahe an eine Mumie erinnerte.
»Es stört Sie doch nicht, dass wir hier sind, oder?«, wandte sich Bell zuckersüß an den Anwalt. Beide Zwillinge trugen ultrakurze Miniröcke und streckten ihre berühmten langen Beine so weit aus, dass sie fast seinen Schreibtisch berührten. Ihre knappen Oberteile standen beinahe bis zur Taille offen.
Mr Johnson musterte sie über den Rand seiner Lesebrille hinweg und runzelte leicht die Stirn. Vermutlich hätte er sie am liebsten aufgefordert, sich anständig anzuziehen. Dann betrachtete er wieder Jocelyn, nahm ihr schlichtes schwarzes Kostüm und die Perlenkette zur Kenntnis und lächelte ihr zu. »Falls Miss Jocelyn einverstanden ist, können Sie bleiben.«
»Ach herrje«, höhnte Ash. »Miss Jocelyn. Unsere hoch studierte Miss Jocelyn. Liest du uns jetzt ein Buch vor?«
»Es würde dir sicher nicht schaden«, entgegnete Jocelyn, ohne den Blick von dem Anwalt abzuwenden. »Sie können bleiben. Sie werden sowieso alles herausfinden.«
»Also gut.« Er beugte sich über die Papiere. »Edilean Harcourt hat Sie, Jocelyn Minton, mehr oder weniger zu ihrer Alleinerbin erklärt.«
»Und wie viel ist das?«, fragte Bell wie aus der Pistole geschossen.
Mr Johnson wandte sich zu ihr um. »Es steht mir nicht zu, mehr darüber zu sagen. Es ist Miss Jocelyns Entscheidung, was sie Ihnen anvertrauen will, von mir erfahren Sie nichts. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden, ich habe zu tun.« Er griff nach einer braunen, von einer Schnur zusammengehaltenen Mappe und reichte sie Jocelyn über den Schreibtisch hinweg. »Hier steht alles drin. Sie können sich die Unterlagen ansehen, wenn Sie Zeit dazu haben.« Als er stehen blieb, stand Jocelyn ebenfalls auf. »Danke«, erwiderte sie und nahm die Mappe entgegen. »Ich lese es später.«
»Ich würde vorschlagen, dass Sie das allein tun. Ungestört. Edilean hat einige Dinge geschrieben, die meiner Ansicht nach nur für Sie bestimmt sind.«
»Sie kriegt alles?«, fragte Ash, die endlich begriffen hatte, was geschehen war. »Aber was ist mit uns? Wir haben die alte Frau doch dauernd besucht.«
Mr Johnsons Gesicht verzog sich zu einem leichten Lächeln.
»Wie konnte ich das vergessen?« Er zog einen Schlüssel aus der Tasche und öffnete eine Schreibtischschublade. »Das hat sie Ihnen hinterlassen.«
Er hielt ihnen zwei kleine blaue Satinbeutel hin, die etwas Schweres zu enthalten schienen. Schmuck vielleicht?
»Ohhh«, riefen Bell und Ash im Chor. »Für uns? Wie reizend von ihr. Das wäre doch nicht nötig gewesen. Wir haben wirklich nicht damit gerechnet.«
Mit einem Strahlen in ihren so oft fotografierten Gesichtern machten sie die Beutel auf und sahen den Anwalt dann verdattert an. »Was ist das?«
Ash kippte sich den Inhalt ihres Beutels auf die Handfläche. Es waren etwa zwanzig kleine schwarze Gegenstände, einige davon im Smaragdschliff, andere geformt wie Diamanten. »Was ist das? Solche Steine habe ich noch nie gesehen.«
»Sind das schwarze Diamanten?«, erkundigte sich Bell.
»In gewisser Weise schon«, entgegnete Mr Johnson und ging, immer noch schmunzelnd, zur Tür, wo er, die Hand am Knauf, stehen blieb. Kurz drehte er sich zu Jocelyn um, zwinkerte ihr zu und verließ den Raum.
Joce hatte Mühe, ernst zu bleiben. Die »schwarzen Diamanten «, die Miss Edi den Stiefschwestern vermacht hatte, waren in Wirklichkeit Kohlestückchen.
Sie sagte kein Wort, als sie aus der Kanzlei traten. Auf der Heimfahrt saß sie hinten neben Bell und Ash, die die Kohlestückchen ans Licht hielten, ihre Schönheit bewunderten und debattierten, wie sie sie fassen lassen wollten.
Joce schaute aus dem Fenster, um ihr Grinsen zu verbergen. Dass Miss Edi ihren neidischen und habgierigen Stiefschwestern Kohle vererbt hatte, um sich einen Scherz mit ihnen zu erlauben, ließ sie ihre Freundin noch schmerzlicher und sehnsüchtiger vermissen. Miss Edi war für sie gleichzeitig Mutter, Großmutter, Freundin und Mentorin gewesen.
Als Joce aufblickte, stellte sie fest, dass ihr Stiefvater sie im Rückspiegel finster ansah. Sie merkte ihm an, dass er wusste, worum es sich bei den »Steinen« handelte. Sicher graute ihm schon vor dem Tobsuchtsanfall, wenn auch die Stieflinge dahinterkamen. Doch ihr war das gleichgültig. Wenn die Zwillinge erkannten, was es mit den schwarzen Steinen auf sich hatte, würde sie schon längst nicht mehr hier sein. Ihre Taschen standen gepackt im Kofferraum ihres Autos. Sobald sie zu Hause ankamen, würde sie wieder zu der Universität fahren, wo sie beschäftigt war.
Erst in ihrer winzigen Wohnung öffnete Jocelyn das Päckchen, das Miss Edis Testament enthielt. Obwohl sie versuchte, sich innerlich zu wappnen, war sie beim Anblick der geliebten Handschrift überwältigt.
Für meine Jocelyn, stand da.
Mit zitternden Händen nahm sie den Brief heraus und begann zu lesen.
Meine liebe, liebe Jocelyn, ich verspreche Dir, nicht sentimental zu werden. Ich weiß zwar nicht, ob seit meinem Fortgang Tage oder Monate vergangen sind, aber da Du ein weiches Herz hast, trauerst Du sicher immer noch. Ich weiß nur zu gut, wie es ist, einen geliebten Menschen zu verlieren. Schließlich musste ich mit ansehen, wie die meisten Menschen, die ich geliebt habe, gestorben sind. Ich war als eine der Letzten übrig.
Nun aber zum Geschäftlichen. Das Haus in Boca gehört mir nicht, und dasselbe gilt auch für den Großteil der Möbel. Inzwischen ist sicher alles ausgeräumt und versteigert worden. Aber keine Sorge, mein Kind, meine besten Besitztümer, also die, die ich aus Edilean Manor mitgenommen habe, werden wieder dorthin zurückgebracht.
Jocelyn ließ den Brief sinken. »Edilean Manor?«, wiederholte sie laut. Sie hatte noch nie davon gehört. Nachdem die erste Verwirrung sich gelegt hatte, fühlte sie sich ein wenig betrogen. Sie hatte viele Jahre ihres Lebens mit Miss Edi verbracht, war mit ihr gereist, hatte viele Menschen aus ihrer Vergangenheit kennengelernt und Hunderten von Geschichten aus ihrer Zeit mit Dr. Brenner gelauscht. Doch Edilean Manor hatte Miss Edi nie erwähnt. Sicher hatte das Haus eine Bedeutung in ihrem Leben, da es nach Miss Edi benannt war - oder sie nach dem Haus.
Jocelyn wandte sich wieder dem Brief zu.
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Helen stellte sich die Frau vor, wie sie sie im Gedächtnis hatte: hochgewachsen, schlank, dunkles, stets perfekt frisiertes Haar. Ihre Kleidung war zeitlos und immer von der besten Qualität. Inzwischen musste sie beinahe neunzig sein, so alt wie Helens Vater David. »Gute Gene«, erwiderte Helen und hätte sich im nächsten Moment am liebsten auf die Zunge gebissen. Denn ihr Vater und Miss Edi waren früher einmal verlobt gewesen. Doch als Edilean aus dem Zweiten Weltkrieg zurückgekehrt war, hatte ihr geliebter David Helens Mutter, Mary Alice Welsch, geheiratet. In ihrer Trauer und Verzweiflung hatte Miss Edi das große, alte Haus, seit Generationen im Familienbesitz, ihrem Taugenichts von einem Bruder überlassen, der nach einer ihrer Vorfahrinnen benannten Stadt den Rücken gekehrt hatte, und nie geheiratet. Bis heute tuschelten einige ältere Leute in Edilean über die »große Tragödie« und hatten für Helens Mutter nur schiefe Blicke übrig. Davids und Mary Alices Entscheidung hatte das Ende der direkten Har- court-Linie, der Gründerfamilie des Städtchens, bedeutet. Und da Edilean, Virginia, ganz in der Nähe von Colonial Williamsburg lag, war es ein schwerer Schlag für seine Bewohner gewesen, eine Familie aussterben zu sehen, deren Vorfahren noch mit George Washington und Thomas Jefferson per Du gewesen waren.
»Ja, du hast gute Gene«, entgegnete Miss Edi, ohne zu zögern. »Ich bin von deinen Fähigkeiten sogar so überzeugt, dass ich beschlossen habe, dich um Hilfe zu bitten.«
»Hilfe?«, erkundigte Helen sich argwöhnisch. Sie war mit den Geschichten von den Fehden und dem Groll aufgewachsen, die ihr Vater mit seiner Entscheidung ausgelöst hatte. Eigentlich hätte sie es ja gar nicht wissen dürfen, denn es wurde nur hinter vorgehaltener Hand darüber geredet, doch Helen war schon immer neugierig gewesen. Und so hatte sie in einer Ecke der Veranda gesessen, mit ihren Puppen gespielt und dabei gelauscht.
»Ja, Hilfe, mein Kind«, antwortete Miss Edi in einem herablassenden Ton, der dafür sorgte, dass Helen errötete. »Und ich werde dich nicht bitten, hundert Plätzchen für den Kirchenbasar zu backen. Das kannst du dir also gleich aus dem Kopf schlagen.«
»Ich wollte nicht ...«, setzte Helen zu einer Rechtfertigung an. Sie stand am Spülbecken und beobachtete ihren Mann James, der sich draußen mit dem neuen Vogelhäuschen abmühte. Es sollte verboten sein, Männer in Rente zu schicken, dachte sie zum wohl tausendsten Mal. Sicher würde James jeden Moment, erbost über das Vogelhäuschen, hereinkommen, und dann würde sie sich seine Schimpftirade anhören müssen. Früher war er Herr über Hunderte von Mitarbeitern in verschiedenen Bundesstaaten gewesen. Doch inzwischen waren seine Frau und sein erwachsener Sohn die Einzigen, die er herumkommandieren konnte. Mehr als einmal hatte Helen sich in solchen Situationen zu Luke gefl üchtet und ihn gefragt, ob sie den Nachmittag bei ihm verbringen könne. Daraufhin sah Luke sie stets mit seinem typischen Grinsen an und beauftragte sie mit Unkrautjäten.
»Gut«, sagte Helen, »was kann ich für dich tun?« Wie lange hatte sie nicht mehr mit dieser Frau gesprochen? Zwanzig Jahre?
»Ich habe erfahren, dass ich höchstens noch ein Jahr zu leben habe, und ...« Sie brach ab, als Helen ein anteilnehmendes Geräusch von sich gab. »Bitte kein Mitleid. Ich habe wirklich große Lust, von dieser Welt abzutreten, denn ich bin schon viel zu lange hier. Doch seit ich weiß, dass mir nur noch ein Jahr bleibt, denke ich darüber nach, was ich bis dahin noch erledigen muss.«
Helen musste schmunzeln. Auch wenn Miss Edi nicht mehr in der Stadt wohnte, die nach ihrer Urgroßmutter benannt war, war ihr Einfluss noch immer spürbar. Dass es das Städtchen überhaupt noch gab, war nur Miss Edi zu verdanken. »Du hast viel für Edilean getan. Du hast ...«
»Ja, Liebes, ich weiß. Ich habe Projekte finanziert, Briefe geschrieben und Radau geschlagen, als man uns das Zuhause wegnehmen wollte. Dazu brauchte ich nur Geld auszugeben und viel Lärm zu veranstalten. Allerdings habe ich es versäumt, Dinge wiedergutzumachen, die passiert sind, als ich noch eine junge Frau war.«
Helen musste ein Aufstöhnen unterdrücken. Nicht schon wieder die alte Geschichte, dachte sie. Die, wie ihre Mutter Mary Alice gegen Ende des Zweiten Weltkriegs Miss Edi den Freund ausgespannt hatte. Arme Miss Edi, böse, böse Mary Alice. Das kannte sie doch alles schon zur Genüge. »Ja, ich weiß ...«
»Nein, nein«, fiel Miss Edi Helen wieder ins Wort. »Ich rede nicht von dem, was deine Eltern getan haben, als noch die Dinosaurier die Erde bevölkerten, sondern von heute. Was damals geschehen ist, hat Einfluss auf die Gegenwart.«
Stirnrunzelnd wandte sich Helen ab, um nicht mit ansehen zu müssen, wie ihr Mann dem Vogelhäuschen, das immer wieder umfiel, einen zornigen Tritt verpasste. »Du meinst, dass einige Dinge anders verlaufen wären, wenn mein Vater dich geheiratet hätte«, sagte sie zögernd.
»Mag sein«, entgegnete Miss Edi, klang aber, als lächle sie dabei. »Was weißt du über den 14. November 1941?«
»Dass kurz darauf der Angriff auf Pearl Harbor stattfand?«, fragte Helen zweifelnd.
»Daraus schließe ich, dass du bei deinen Lauschaktionen als kleines Mädchen nicht alles mitbekommen hast.«
Helen konnte ein Auflachen nicht unterdrücken. »Richtig, Miss Edi. Könntest du mir jetzt bitte verraten, worauf du hinauswillst? Mein Mann kommt gleich zum Mittagessen herein, und ich habe nicht mehr viel Zeit.«
»Ich möchte, dass du mich in Florida besuchst. Glaubst du, du kannst deinen Mann so lang allein lassen?«
»Der schreckliche Mensch ist in Rente. Vielleicht ziehe ich ja sogar für immer bei dir ein.«
Miss Edi kicherte spöttisch. »Ich verstehe. Aber du darfst niemandem erzählen, wohin du fährst oder wen du besuchst. Ich muss einiges mit dir besprechen, und dann überlegen wir uns, wie wir die Sache angehen. Selbstverständlich komme ich für sämtliche Kosten auf. Natürlich nur, wenn du interessiert bist.«
»Eine kostenlose Reise? Düstere Geheimnisse? Ich platze vor Neugier. Wie organisieren wir das?«
»Ich schicke sämtliche Reiseunterlagen an meine Adresse in Edilean. Dort kannst du sie abholen. Wie geht es deinem hübschen Sohn?«
Helen zögerte. Sollte sie ihr die übliche Standardantwort geben? Kaum jemand wusste, was Luke in den letzten Jahren durchgemacht hatte. Doch Helen vermutete, dass Miss Edi es irgendwie erfahren haben musste. »Er erholt sich langsam von dem Schlag. Meistens versteckt er sich in irgendeinem Garten in der Stadt und gräbt dort Löcher. Er will mit niemandem über seine Probleme reden. Nicht einmal mit mir.«
»Was, wenn ich sein Leben verändern würde?«
»Zum Guten oder zum Schlechten?«, fragte Helen, merkte aber auf. Ihr Sohn, ihr einziges Kind, war unglücklich, und sie wusste nicht, wie sie ihm helfen sollte.
»Zum Guten«, erwiderte Miss Edi. »Also, am besten kochst du jetzt das Mittagessen für deinen Mann. Vergiss nicht, dass du niemandem von diesem Telefonat erzählen darfst. Die Tickets müssten morgen um zehn da sein. Hol sie ab und ruf mich dann an. Ich werde dafür sorgen, dass dich jemand hier am Flughafen erwartet.«
»Einverstanden«, sagte Helen gerade, als sich die Hintertür öffnete.
»Verdammtes Drecksding«, hörte sie James schimpfen. »Ich sollte den Hersteller dieses fabrikneuen Schrotts anzeigen.«
Helen verdrehte die Augen. »Wird gemacht«, fl üsterte sie. »Ich muss aufl egen.«
Miss Edi hängte ein und blieb noch eine Weile neben dem Telefon sitzen. Dann stemmte sie sich mit zwei Stöcken aus dem Sessel hoch. Heute hatte sie solche Schmerzen in den Beinen, dass sie sich am liebsten hingelegt hätte und nie wieder aufgestanden wäre. Sie humpelte zu dem großen Karton hinüber, der auf der Klavierbank stand, und dachte an die Fotos darin, an die Geschichten, die sich damit verbanden, und das, was vor so vielen Jahren aus den darauf abgebildeten Personen geworden war.
Dann griff sie nach dem grün eingebundenen Highschool- Jahrbuch. Abschlussjahrgang 1937. Aufzuschlagen brauchte sie es nicht, weil sie alle Gesichter noch deutlich vor ihrem geistigen Auge hatte. Sie war froh, dass sie schon seit einigen Jahren nicht mehr in Edilean, Virginia, gewesen war. Sie vermisste das Städtchen, die Bäume und den Wechsel der Jahreszeiten. Doch was sie nicht sehen wollte, waren die alternden Gesichter ihrer Freunde oder ihre Namen auf Grabsteinen. Wer hätte gedacht, dass sie, David und Mary Alice als Letzte übrig bleiben würden. Und Pru... aber die zählte nicht. Fast alle anderen waren gestorben, einige erst vor Kurzem, manche schon vor vielen Jahren. Wie lange war die arme Sara nun schon tot? Edi erinnerte sich nicht mehr an das genaue Datum, wusste aber, dass es schon eine Weile her war.
Sie legte das Buch weg und betrachtete die kleine Schachtel, die Fotos von ihnen allen enthielt, machte sie aber nicht auf. Heute fühlte sie sich noch elender als sonst und war sicher, dass der Arzt sich irrte. Sie hatte sicher kein ganzes Jahr mehr zu leben, war jedoch froh darüber. Die Schmerzen in ihren alten, vernarbten Beinen wurden immer schlimmer. Wenn sie überhaupt aus dem Bett aufstand, dann nur, weil sie sich dazu zwang. Wenn sie es nicht schaffte, ließ sie sich von ihrer angestrengt gute Laune verbreitenden Pflegerin ihren Laptop bringen und verbrachte den ganzen Tag damit. Das Internet war wirklich eine wunderbare Sache! Und man konnte so viel damit herausfinden.
Sie hatte sogar David Clares Familie gegoogelt und festgestellt, dass sein ältester Bruder den Krieg überlebt hatte und ein erfolgreicher Geschäftsmann geworden war. Oft war sie versucht gewesen, dort anzurufen, hatte es aber aus Angst, verletzt zu werden, nicht getan. Vermutlich hatten Davids Angehörige nie von ihr gehört, denn er war ja schon wenige Wochen nach ihrem Kennenlernen gefallen.
Auf dem Weg in die Küche dachte Edi an Jocelyn, was wie immer dafür sorgte, dass ihre Schmerzen nachließen und dass sie sich friedlicher fühlte.
Alexander McDowell, der Mann dessen Leben im Mittelpunkt all der Geheimnisse und gebrochenen Herzen stand, hatte Edi mit dem jungen Mädchen bekannt gemacht.
»Ihre Großeltern, die Scovills, waren sehr, sehr gute Freunde von mir«, hatte Alex mit vom jahrzehntelangen Rauchen heiserer Stimme gesagt. »Ihre schöne Tochter Claire wurde auf die besten Schulen geschickt. Auf dem Debütantinnenball hat sie elf Heiratsanträge bekommen, doch sie hat erst mit dreiunddreißig geheiratet, und zwar den Hausmeister des Country Clubs.«
Miss Edi hatte zu viel erlebt, um ein Snob zu sein. »Was war er denn für ein Mensch?«
»Zu ihr war er gut. Kein Ehrgeiz und beinahe Analphabet, aber ein liebevoller Ehemann. Sie hatten eine Tochter namens Jocelyn, und nur wenige Jahre später starb die schöne Claire.«
Vielleicht lag es ja an dem Namen »Claire« oder daran, dass Edi damals vor einer schwierigen Lebensentscheidung gestanden hatte. Den Großteil ihres Berufslebens hatte sie damit verbracht, Dr. Brenner auf seinen Reisen zu begleiten. Da der Arzt aus reichem Hause kam, war er nicht auf Bezahlung angwiesen gewesen, und so reiste er von Krisengebiet zu Krisengebiet und half ehrenamtlich dort, wo er gebraucht wurde. Es wurde gemunkelt, dass Dr. Brenner schon den Flug zum Unglücksort gebucht hatte, bevor die Bombe überhaupt hochging. In Wahrheit aber war das Buchen von Flügen Edis Aufgabe, und sie folgte dem Arzt überallhin.
Doch als Dr. Brenner sich zur Ruhe setzte, war auch für Edi Schluss mit den Reisen. Sollte sie nach Edilean zurückkehren und mit ihrem Bruder, der sie zu Tode langweilte, in dem großen Haus wohnen? Oder war es besser, wenn sie mit ihrer Rente und ihren Ersparnissen ein ruhiges Leben führte und vielleicht ihre Memoiren schrieb? Ebenfalls zum Gähnen.
Als Alex McDowell, den sie schon seit frühester Kindheit kannte, ihr eine Stelle als Verwalterin eines Wohltätigkeitsfonds anbot und sie bat, ein Auge auf die kleine Enkelin seiner Freunde zu haben, hatte Edi sofort zugegriffen.
»Ich kenne das Kind nicht«, hatte Alex vor all den Jahren gesagt. »Sie könnte genauso gut die mangelnde Intelligenz ihres Vaters geerbt haben. Ich weiß nur, dass sie nach dem Tod ihrer Eltern bei ihren Großeltern aufgewachsen ist. Und als die ebenfalls starben, wurde Jocelyn - so heißt die Kleine - der Obhut ihres Vaters übergeben.«
»Er vergeht sich doch nicht etwa an ihr, oder?«, fragte Miss Edi rasch.
»Nein, ich habe einen Privatdetektiv auf ihn angesetzt und nichts dergleichen gehört. Allerdings hat der Vater sich verändert. «
»Wie verändert?«, hakte Miss Edi nach.
Alex lachte auf. »So, wie du es dir in deinen schlimmsten Albträumen nicht vorstellen kannst. Er hat eine Frau mit eineiigen Zwillingstöchtern geheiratet, und jetzt fahren sie zusammen Motorrad.«
Kurz schloss Miss Edi die Augen. Der Name Claire und das Bild von Motorrädern lenkten sie ab.
»... Boca Raton«, meinte Alex.
»Entschuldige, ich habe nicht richtig zugehört.«
»Ich besitze ein Haus in derselben bewachten Wohnsiedlung, wo auch die kleine Jocelyn mit ihrem Vater und den Stieflingen, wie sie sie nennt, wohnt. Einer meiner Detektive hat mit ihr geredet.«
»Sie hat mit einem fremden Mann gesprochen?«, stieß Miss Edi hervor.
Wieder lachte Alex auf. Du bist noch genau wie früher, was? Ich kann dir versichern, dass die Begegnung unter strenger Aufsicht stattfand. Sie waren bei einem NASCAR-Rennen.«
»Einem was?«
»Glaube mir, das willst du gar nicht wissen. Was mich interessiert, Edi, ist, ob du dir vorstellen könntest, in Boca Raton zu leben. Du würdest drei Häuser von Claires Tochter entfernt wohnen und ein Auge auf sie haben, während du für mich arbeitest. «
Bei jedem anderen wäre Edi wenig begeistert gewesen, doch Alex war ein alter Freund, dem sie vertraute. »Sehr, sehr gerne «, erwiderte sie. »Wirklich.«
»Ich dachte, die Wärme in Florida ist sicher gut für deine Beine.«
»Nicht wieder nach Edilean zu ziehen, wo mich alle als alte Jungfer bemitleiden würden, ist das Allerbeste für meine Beine. «
»Du und eine alte Jungfer«, entgegnete Alex. »Für mich wirst du immer dreiundzwanzig sein und die schönste Frau in ...«
»Wenn du nicht aufhörst, verpetze ich dich bei Lissie.«
»Sie hat dich genauso lieb wie ich«, sagte Alex rasch. »Also gib mir deine Adresse, und dann schicke ich dir die Daten.«
»Danke«, antwortete Edi. »Vielen, vielen Dank.«
»Nein«, entgegnete Alex. »Ich muss mich wie immer bei dir bedanken. Wenn du nicht wärst ...«
»Ich weiß. Küss alle von mir«, antwortete sie und legte auf. Es dauerte eine ganze Weile, bis sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht breitmachte. Sie hatte schon immer daran geglaubt, dass sich für jede Tür, die sich schloss, eine neue öffnete. Dr. Brenners Tür hatte sich geschlossen. Und nun war eine andere aufgegangen.
Jetzt, so viele Jahre später, war Jocelyn Minton das Wichtigste in Miss Edis Leben. Das Kind, das ihr nicht vergönnt gewesen war. Die Familie, die sie nie gehabt hatte.
Sobald sich Jocelyn von ihrem Arbeitsplatz in dem kleinen College, das sie gnadenlos ausbeutete und einen Hungerlohn bezahlte, loseisen konnte, sprang sie ins Auto und fuhr nach Hause. Und nach dem Pflichtbesuch bei Vater und Stiefmutter ging sie sofort zu Edi, wo sich die beiden vor Freude um den Hals fielen. Jocelyn war die Einzige, die sich von Edis abweisender Art nicht einschüchtern ließ, und umarmte sie wie damals als kleines Mädchen. »Meine Lebensretterin«, nannte sie Edi »Ich weiß nicht, wie ich ohne dich meine Kindheit überstanden hätte.«
Edi wusste, dass das übertrieben war. Schließlich starb ein Mensch nicht an Büchermangel. Auch nicht daran, ein Haus mit einem Vater, einer Stiefmutter und zwei Stiefschwestern teilen zu müssen, für die Pick-up-Rennen ein kulturelles Ereignis waren. Allerdings gab es verschiedene Arten zu sterben.
In Wahrheit war ihre Begegnung das Beste, was ihnen beiden hatte passieren können. Edi wohnte erst seit vier Monaten in dem reizenden Haus, das Alex gekauft hatte, als sie das Kind zum ersten Mal mit ihrer Familie sah. Das Haus, in dem sie lebten, hatte Jocelyns Großeltern gehört. Das Mädchen hatte es nach ihrem Tod geerbt. Und Edi hatte nicht lange gebraucht, um herauszufinden, dass das ebenfalls hinterlassene Geld rasch ausgegeben worden war.
Miss Edi betrachtete die Eltern in ihrer Lederkluft und die hoch aufgeschossenen Zwillinge, die gerade noch ausreichend bekleidet waren, um sich keine Anzeige wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses einzuhandeln. Jocelyn trottete hinter ihnen her. Meistens hatte sie ein Buch in der Hand, und das aschblonde Haar hing ihr ins Gesicht. Doch als Edi sie zum ersten Mal aus der Nähe betrachtete, erkannte sie Intelligenz in ihren dunkelblauen Augen. Sie war keine Schönheit wie ihre Mutter - Miss Edi kannte die Fotos -, hatte aber etwas an sich, was anziehend auf sie wirkte. Vielleicht war es das kantige Kinn mit dem kleinen Grübchen. Es erinnerte sie an ein anderes kantiges Kinn eines Menschen, den sie einmal von ganzem Herzen geliebt hatte. Möglicherweise fand sie es ja auch faszinierend, dass das Kind wusste, wie sehr es sich von den Menschen unterschied, bei denen es lebte.
Anfangs hatte Miss Edi zweimal absichtlich Situationen herbeigeführt, damit sie mit dem Mädchen sprechen konnte. Das eine Mal hatten sie in der Bibliothek eine halbe Stunde lang die Narnia-Bücher erörtert und sich einander vorgestellt, bevor sie sich wieder trennten. Beim zweiten Mal beschloss Miss Edi, einen Spaziergang zu unternehmen, der sie am Haus des Kindes vorbeiführte. Das Mädchen fuhr auf seinem Fahrrad Runden ums Gebäude. »Als ich ein Kind war, haben wir Kästchenhüpfen gespielt«, sagte Miss Edi.
»Was ist denn das?«
»Wenn du ein Stück Kreide dahast, zeig ich es dir.«
Miss Edi wartete, während Jocelyn ins Haus ging, um Kreide zu holen. Damals hatte Miss Edi nur einen Stock zum Gehen gebraucht. Doch all die Jahre, die sie stehend mit Dr. Brenner und seiner Mannschaft zusammengearbeitet hatte, hatten ihre Beinmuskulatur geschädigt, und sie wusste, dass sie bald zwei Stöcke brauchen würde. Dann einen Rollator, und danach ... Sie wollte lieber gar nicht erst daran denken.
Sie spürte, dass jemand sie beobachtete. Als sie sich umdrehte, erkannte sie Jocelyns Vater. Er hatte etwas an, was man in ihrer Generation als Unterhemd bezeichnet hatte, was hieß, dass Männer es eigentlich unter der Kleidung trugen. Außerdem war er von Kopf bis Fuß tätowiert und hatte sich offenbar seit Tagen nicht rasiert. Er schraubte an einem blauen Motorrad herum und drehte ständig am Lenker, damit es lauter wurde. Die Nachbarn hatten aufgehört, sich zu beschweren. Allerdings nicht, weil er Hausbesitzer in einer bewachten Wohnsiedlung war, denn in diesem Fall hätte ihn die Eigentümerversammlung zum Auszug zwingen können. Doch Gary Minton war noch immer Hausmeister, der Mann also, der auch mitten in der Nacht erschien, wenn die Toilette überlief und das Bad zu überfluten drohte. Er hatte auch schon ein Kind aus einem Pool gerettet und war auf einen Baum geklettert, um einen verängstigten kleinen Jungen herunterzuholen. Also war Motorradlärm etwas, was man hinnehmen konnte.
Nun aber betrachtete er Miss Edi abschätzend, als wolle er feststellen, ob seine Tochter Umgang mit ihr pflegen solle. Miss Edi wandte sich ab. Umgekehrt wäre die Frage angebrachter gewesen.
Wenig später kehrte Jocelyn mit der Kreide zurück, und Miss Edi zeigte ihr, wie man die Kästchen auf die betonierte Einfahrt malte, einen Kieselstein warf und auf einem Bein hinterherhüpfte. Das Kind war begeistert gewesen.
Als Edi einige Tage später ihre Haustür öffnete, sah sie das magere, schlecht angezogene kleine Mädchen auf der Vordertreppe sitzen. Das blonde Haar hing ihr ins Gesicht, und sie weinte bitterlich. Edi war nicht überrascht.
»Entschuldigen Sie«, stammelte das Mädchen und sprang auf. »Ich wollte nicht ...« Offenbar wusste sie nicht, was sie sagen sollte.
Edi sah die Kante eines Plastikkoffers hinter einem Hibiskusbusch hervorlugen und schloss daraus, dass Jocelyn von zu Hause weglaufen wollte.
Am ersten Tag behielt Edi das Kind fast drei Stunden bei sich. Sie sprachen über Bücher und über das Bioreferat, das sie gerade für die Schule vorbereitete. Edi wollte ihrem Vater eine Lektion erteilen. Er sollte sich Sorgen machen und besser auf sein Kind aufpassen.
Als Edi Jocelyn nach Hause begleitete, war sie fest entschlossen, den erleichterten Eltern eine Standpauke zu halten, wenn sie an die Tür kamen. Doch zu ihrem Entsetzen war es Vater und Stiefmutter gar nicht aufgefallen, dass das Mädchen weggelaufen war. Und was noch schlimmer war: Als sie es ihnen erklärte, waren sie weder besorgt noch überrascht. Ihre Einstellung war, dass Jocelyn ohnehin tat, was sie wollte. Die Wünsche und Sehnsüchte ihrer Tochter waren ihnen völlig fremd.
Noch am selben Abend rief Edi Alex an und teilte ihm mit, die Lage des Kindes sei noch kritischer, als er gedacht habe. »Sie ist ausgesprochen intelligent und wissbegierig. Du hättest ihr Gesicht sehen sollen, als ich ihr Vivaldi vorgespielt habe. Es ist, als müsste Shakespeare mit den Dorftrotteln zusammenwohnen. Habe ich dir schon von ihren widerlichen Stiefschwestern erzählt?«
»Ja«, erwiderte Alex. »Aber du kannst es gern noch mal tun.«
Am nächsten Wochenende erschien das Mädchen, wie Edi gehofft hatte, auf dem Gehweg vor ihrem Haus und tat so, als käme sie nur zufällig vorbei. Edi bat sie herein und rief dann ihren Vater an, um ihn zu fragen, ob sie Jocelyn bei den Hausaufgaben helfen dürfe. Dass er sich nicht nach der Natur dieser Hausaufgaben und auch nicht danach erkundigte, wie lange sie bleiben würde, bestätigte nur ihren schlechten Eindruck von ihm. »Ja«, sagte der Vater am Telefon. »Ich habe von Ihnen gehört und weiß, wo Sie wohnen. Klar kann Joce bei Ihnen bleiben. Falls Sie viele Bücher haben, ist sie glücklich. Da ist sie ganz wie Ihre Momma.«
»Kann ich Sie also den Nachmittag lang hier behalten?«, fragte Edi und klang dabei noch steifer als sonst, weil sie Mühe hatte, sich ihren Widerwillen gegen diesen Mann nicht anmerken zu lassen.
»Klar können Sie. Wir fahren zu einem Autorennen und kommen erst spät nach Hause. Hey! Kann sie bei Ihnen übernachten? Ich wette, Joce findet das gut.«
»Vielleicht«, erwiderte Edi und hängte auf.
Jocelyn übernachtete bei Edi. Die beiden kamen so gut miteinander zurecht, dass das Kind bis Sonntagabend blieb. Als die Kleine sich zum Gehen anschickte, drehte sie sich noch einmal um, lief auf Edi zu und schlang ihr die Arme um die Taille. »Du bist die netteste, klügste und wundervollste Frau, die ich je getroffen habe.«
Edi hatte zwar vorgehabt, Distanz zu wahren, war aber machtlos gegen das Bedürfnis, die Umarmung zu erwidern.
Danach verbrachte Jocelyn die Wochenenden und auch die meisten Feiertage bei Edi. Sie waren beide einsame Menschen, die einander brauchten und froh waren, sich gefunden zu haben. Bald spielte sich ein fester Ablauf ein - Ausflüge am Samstag, Kirchgang am Sonntag, und geruhsame Stunden im Garten.
Was ihren Vater betraf, den Edi zunächst als gleichgültig eingestuft hatte, stellte sie fest, dass er seine Tochter genauso liebte wie damals ihre Mutter und dass er nur ihr Bestes wollte. »Ich kann ihr nicht geben, was sie gehabt hätte, wenn ihre Mutter noch leben würde«, meinte er zu Edi. »Aber vielleicht können Sie das. Joce darf so oft zu Ihnen kommen, wie sie will, sagen Sie mir einfach Bescheid.« Er warf einen Blick auf seine Frau und seine Stieftöchter, die im Auto auf ihn warteten. »Die sind wie ich, wir passen zusammen. Doch Joce ist ... anders eben.«
Edi wusste, wie es war, anders zu sein. Jocelyn war ein Fremdkörper in ihrem Zuhause, so wie Edi es früher auch oft gewesen war.
Die Jahre mit Jocelyn wurden die glücklichsten in Edis Leben. Es machte sie so glücklich, den Verstand eines jungen Menschen zu schulen und ihm die Welt zu zeigen. Als Jocelyns Familie nach Disney World fuhr, flog Edi mit ihrem Schützling nach New York und besuchte mit dem Mädchen die Metropolitan Opera. Während ihre Stiefschwestern knappe Shorts anzogen, um ihre langen Beine zu betonen, trug Jocelyn Edis Perlenkette zu einem Twinset.
In dem Sommer, als Joce sechzehn wurde, reisten sie und Miss Edi zusammen nach London, Paris und Rom. Das Reisen strengte Miss Edi an, denn wegen ihrer Beine und ihres Alters hatte sie nicht mehr viel Kraft. Doch Jocelyn bummelte den ganzen Tag durch die Städte und machte Fotos. Am Abend erzählte sie Miss Edi dann von ihren Erlebnissen und lauschte den Geschichten von früher.
In London hatte Edi Joce gezeigt, wo sie einem Mann namens David begegnet war, den sie geliebt und verloren hatte. Seinen Nachnamen erwähnte sie nicht. »Er war der Einzige, der für mich in Frage kam«, sagte sie mit einem wehmütigen Blick auf das große Gebäude aus weißem Marmor.
Jocelyn hatte die Geschichte schon Dutzende von Malen gehört, konnte allerdings nicht genug davon bekommen. »Die einzig wahre Liebe«, »ewige Liebe«, »die Liebe aller Zeiten« - Worte, die in ihren Ohren klangen wie Musik.
»Warte auf die wahre Liebe, lass dir Zeit«, pflegte Miss Edi zu sagen, und Jocelyn hatte diese Ansicht geteilt. Die wahre Liebe.
Abgesehen davon, dass sie gern ihre Zeit miteinander verbrachten, half Jocelyn Miss Edi oft bei der Verwaltung der verschiedenen Wohltätigkeitsorganisationen, für die sie zuständig war. Joce recherchierte und suchte hin und wieder die Geschäftsstellen auf. Dreimal kam sie Betrugsfällen auf die Spur und freundete sich im Rahmen der Ermittlungen mit einigen Polizisten an.
Allerdings verriet Miss Edi ihr nie, dass das Geld, das sie verteilte, nicht ihres war. Sie verheimlichte ihr mit Bedacht, dass die Mittel von Alexander McDowell aus Edilean, Virginia, stammten. In all den Jahren ihrer Freundschaft fiel weder sein Name noch der des Städtchens.
Als Jocelyn das Studium an einem kleinen College in der Nähe aufnahm, fühlte Edi sich zunächst ohne sie einsam. Anfangs war Jocelyn so mit Geldverdienen und Studieren beschäftigt, dass sie nicht einmal Zeit für einen Anruf hatte. Sie schrieben sich zwar häufig Mails oder SMS - Miss Edi liebte technische Neuerungen -, doch es war trotzdem nicht dasselbe.
Nach dem ersten Semester fing Miss Edi an, die Studiengebühren zu bezahlen, damit Jocelyn mehr Zeit zu Hause verbringen konnte. Ihr Vater und die »Stieflinge«, wie sie die beiden gertenschlanken blonden Zwillinge nannten, erfuhren davon nichts. Edi glaubte zwar nicht, dass der Vater etwas dagegen einzuwenden haben würde, doch sie wollte es lieber nicht riskieren. Und insbesondere wolle sie vermeiden, dass die Zwillinge sie als Geldquelle entdeckten. Obwohl die Mädchen allgemein als Schönheiten galten, teilte Edi diese Ansicht nicht. Hin und wieder schneiten die beiden bei Edi herein, wenn Jocelyn nicht da war, und sahen sich im Haus um, als versuchten sie den Wert des Inventars abzuschätzen. Edi verabscheute sie ebenso, wie sie Jocelyn liebte.
Jocelyn machte ihren Abschluss in englischer Literatur und ergatterte eine Teilzeitstelle als Hilfsdozentin am selben College. Durch die Vermittlung eines Freundes von Miss Edi arbeitete sie außerdem freiberuflich und recherchierte für Autoren, die eine Biografie schreiben wollten. Jocelyn erwies sich in beiden Bereichen als äußerst fähig und verbrachte ihre Zeit am liebsten damit, in Bibliotheken alte Unterlagen zu durchwühlen.
Als Edi klar wurde, dass das leichte Stechen in der Brust nicht nur ein Alterszipperlein war, begann sie, sich Gedanken um Jocelyns Zukunft zu machen. Wenn Edi starb und Jocelyn alles vererbte, was ihr Plan war, würden die Stieflinge sicher alles in ihrer Macht Stehende tun, um ihr das Erbe abspenstig zu machen.
Edi wollte Jocelyn viel mehr hinterlassen als nur ihr Hab und Gut. Sie wollte, dass sie eine Zukunft hatte. Nein. Was sie wirklich wollte war, ihr zu einer Familie zu verhelfen. Jocelyn hatte den Großteil ihres Lebens mit alten Menschen, erst ihren Großeltern, dann Miss Edi, verbracht. Nun überdachte Edi alles, was sie über Jocelyn wusste, und steckte dann viel Zeit und Arbeit in die Beantwortung der Frage, wie Jocelyn bekommen konnte, was sie brauchte.
Sie klappte das Buch mit den Erinnerungen zu und schleppte sich mühevoll in die Küche. Welche kulinarische Zumutung hatte die Pflegerin ihr wohl zum Abendessen mitgebracht? Vermutlich etwas, auf dessen Verpackung das Wort Taco stand. Als sie hörte, wie der Kurierdienst in die Einfahrt einbog, um das Päckchen für Helen abzuholen, lächelte sie.
Edi öffnete den Kühlschrank, froh, weil sie nicht mehr dabei sein würde, wenn Jocelyn herausfand, dass sie ... Tja, gelogen hatte sie eigentlich nicht, nur ziemlich viel unter den Tisch fallen lassen.
Da Jocelyn Edi gerne über ihr langes Leben ausfragte, war es nicht leicht gewesen, Jahre zu überspringen und die Wahrheit zu schönen. Doch sie hatte es geschafft.
Sie holte den großen Salat, den die Pflegerin für sie eingekauft hatte, aus dem Kühlschrank und stellte ihn auf den Tisch. Jocelyn würde sich gar nicht freuen, wenn sie gewisse Dinge erfuhr. Doch Edi war sicher, dass sie sich auf die Suche nach den Antworten machen würde.
Schmunzelnd dachte Edi daran, dass ihre Pläne für Jocelyns Leben die beiden übergroßen, überschlanken, halb nackten Stiefschwestern ausschlossen. Dass die beiden »prominent« geworden waren - ein Begriff, den Miss Edi verabscheute -, sagte doch schon genug über die moderne Welt aus.
Jocelyn glaubte, dass Edi es nicht wusste, doch das Mädchen hatte viel geopfert, um für eine alte Frau da zu sein, und Edi wollte sie dafür entschädigen. Jocelyn sollte die Wahrheit erfahren. Allerdings wollte sie ihr nicht einfach alles erzählen.
Jocelyn sollte danach suchen, es sich erarbeiten, etwas, was sie sehr gut konnte.
»Und bitte verzeih mir«, flüsterte Edi. Dass Jocelyn ihr die jahrelange Heimlichtuerei vergab, war ihre größte Hoffnung. »Ich habe ein Versprechen gemacht, einen Eid abgelegt«, flüsterte sie. »Und ich habe mich daran gehalten.«
Sie begann, in Gedanken den Brief zu formulieren, den sie ihrem Testament beilegen wollte.
1
Jocelyn betrachtete sich ein letztes Mal im Spiegel ihres Hotelzimmers. Jetzt ist es so weit, dachte sie. Der Moment ist gekommen. Am liebsten hätte sie wieder ihr Nachthemd angezogen und sich ins Bett gelegt. Was mochte wohl tagsüber im Kabelfernsehen laufen? Gab es in diesem Hotel überhaupt Kabelfernsehen? Vielleicht sollte sie sich ja eines suchen, das welches hatte.
Sie holte tief Luft, schaute noch einmal in den Spiegel und straffte die Schultern. Was hätte Miss Edi gesagt, wenn sie gesehen hätte, dass sie sich so gehen ließ. Beim Gedanken an Miss Edi traten ihr wieder die Tränen in die Augen. Obwohl seit der Beerdigung inzwischen vier Monate verstrichen waren, vermisste sie ihre Freundin manchmal noch so sehr, dass sie kaum wusste, wie sie den Tag überstehen sollte. Immer wieder hatte sie das spontane Bedürfnis, Miss Edi anzurufen, um ihr von einem Ereignis zu erzählen, nur um erneut feststellen zu müssen, dass sie für immer fort war.
»Ich werde es schaffen«, sagte Joce und blickte wieder in den Spiegel. »Ich werde es ganz sicher schaffen.« Sie war konservativ mit einem Rock und einer gebügelten weißen Baumwollbluse bekleidet, wie Miss Edi es ihr beigebracht hatte. Ihr schulterlanges, dunkelblondes Haar wurde von einem Haarband zusammengehalten, und sie war nur sehr dezent geschminkt. Über das Städtchen Edilean, Virginia, wusste sie nur, dass Miss Edi dort aufgewachsen war. Deshalb wollte Jocelyn nicht in Jeans und Stretchoberteil dort erscheinen und die Einheimischen vor den Kopf stoßen.
Sie griff nach dem Autoschlüssel, nahm den Henkel ihres großen schwarzen Koffers und rollte ihn zur Tür. Heute würde sie in ihrem eigenen Haus schlafen, einem Haus, das sie noch nie gesehen, ja, von dessen Existenz sie erst durch einen Anwalt erfahren hatte. Und dennoch hatte Joce es geerbt. Es gehörte ihr.
Erst vor wenigen Tagen hatte sie in einer Anwaltskanzlei in Boca Raton, Florida, gesessen, ganz in Schwarz gekleidet und mit den Perlen um den Hals, die Miss Edi ihr geschenkt hatte. Seit der Beerdigung waren zwar schon einige Monate vergangen, doch in ihrem Testament hieß es, es solle am 1. Mai nach ihrem Todestag verlesen werden. Wäre Miss Edi an einem 1. Juni gestorben, hätte das bedeutet, dass man elf Monate hätte warten müssen. Doch sie war in der Neujahrsnacht friedlich im Schlaf verschieden, weshalb Jocelyn Zeit zum Trauern gehabt hatte, bevor sie sich der Tortur einer Testamentseröffnung hatte stellen müssen.
Neben ihr saßen ihr Vater, seine Frau und die Stieflinge, Belinda und Ashley, inzwischen besser als Bell und Ash bekannt. Dank der unermüdlichen Bemühungen ihrer Mutter waren sie Models geworden, und die Medien waren begeistert, weil es sie gleich in doppelter Ausführung gab. In den letzten zehn Jahren hatten sie die Titelseiten aller Zeitschriften von Rang und Namen geziert, die ganze Welt bereist und die Kreationen sämtlicher Modeschöpfer vorgeführt. Wenn sie durch ein Einkaufszentrum schlenderten, wurden sie von jungen Mädchen verfolgt, die sie ehrfürchtig anstarrten, und von Männern aller Altersgruppen lüstern begafft.
Doch Berühmtheit hin oder her, für Jocelyn hatten sich die Stieflinge seit ihrer gemeinsamen Kindheit nicht verändert. Damals hatten sie Joce wegen erfundener Schandtaten bei ihrer Mutter verpetzt, worauf Louisa ihre Stieftochter böse angesehen hatte. »Warte nur, bis dein Vater nach Hause kommt«, hatte sie gesagt. Aber Gary Minton hatte nur den Kopf geschüttelt und sein Möglichstes getan, um sich aus allem herauszuhalten. Er wollte ein angenehmes Leben führen, nicht für seine drei Kinder den Schiedsrichter spielen. Also verschwand er in seiner Hobbywerkstatt, wohin ihm seine Frau und seine hochgewachsenen Stieftöchter früher oder später folgten, während Jocelyn sich zu Miss Edi verdrückte.
»Und was hat dir die alte Hexe hinterlassen?«, fragte Bell und reckte den langen Hals, um Jocelyn über die lange Stuhlreihe hinweg anzusehen.
Für Joce war es nie schwierig gewesen, die Zwillinge auseinander zu halten. Bell war die klügere der beiden, die Anführerin, während Ash, die Zurückhaltendere, tat, was ihre Schwester von ihr verlangte. Da das normalerweise bedeutete, eine gehässige Bemerkung zu machen, um ein paar Lacher zu ernten, war Ash diejenige, der man besser aus dem Weg ging.
»Ihre Liebe«, entgegnete Jocelyn und wich dem Blick ihrer Stiefschwester aus. Bell war mittlerweile bei Ehemann Nummer drei angelangt, und ihre Mutter deutete an, dass sich bereits die Trennung abzeichnete. »Die Arme«, sagte sie. »Die Männer verstehen mein kleines Schätzchen einfach nicht.«
»Sie verstehen nur nicht, warum sie sich berechtigt fühlt, Affären zu haben, obwohl sie verheiratet ist«, murmelte Jocelyn.
»Was war das?«, zischte Louisa und klang fast, als wolle sie ein »Warte nur, bis dein Vater nach Hause kommt« hinzufügen. Offenbar begriff sie einfach nicht, dass ihre »Schätzchen« in diesem Jahr dreißig werden würden und den Höhepunkt ihrer Karriere bereits überschritten hatten. Erst letzte Woche hatte Joce gelesen, dass zwei Achtzehnjährige schon als »die neue Bell und Ash« gehandelt wurden.
Jocelyn neidete den Stieflingen ihren Ruhm nicht - und auch nicht das Vermögen, das sie inzwischen zum Fenster hinausgeworfen hatten. In ihren Augen hatten sie sich seit ihrer Kindheit nicht verändert: immer schlecht gelaunt, eifersüchtig auf alles und jeden und voller Verachtung für Menschen, über die nicht allwöchentlich in den Klatschzeitschriften berichtet wurde. Als Kinder waren sie ausgesprochen neidisch auf Jocelyn gewesen, weil sie so viel Zeit »bei der reichen alten Schachtel « verbrachte. Sie konnten einfach nicht glauben, dass Miss Edi Joce nicht Woche für Woche mit Geld überschüttete. »Warum gehst du sonst hin, wenn sie dir nichts schenkt?«
»Weil ich sie mag«, hatte Joce wieder und wieder beteuert. »Nein, ich liebe sie.«
»Ahhh«, antworteten sie nur in vielsagendem Ton.
Joce machte ihnen einfach die Zimmertür vor der Nase zu oder flüchtete sich zu Miss Edi.
Aber nun war Miss Edi für immer fort, und Jocelyn musste bei der Testamentseröffnung anwesend sein. Der Anwalt, ein Mann, der noch älter zu sein schien als Miss Edi, kam zu einer Seitentür herein und wirkte überrascht, fünf Personen im Raum vorzufinden. »Ich habe nur mit Miss Jocelyn gerechnet «, sagte er mit einem kurzen Blick auf sie und sah dann ihren Vater an, als erwarte er eine Erklärung von ihm.
»Ich ... äh ...«, begann Gary Minton. Die Zeit war gnädig mit ihm gewesen, sodass er noch immer ein attraktiver Mann war. Mit seinem dunklen Haar, den nur leicht ergrauten Schläfen und den dunklen Brauen wirkte er viel jünger, als er eigentlich war.
»Unsere Familie hält zusammen«, verkündete seine Frau. Es war fast, als hätten sich die Jahre, die man Garys Gesicht nicht ansah, in das seiner Frau eingegraben. Sonne, Zigarettenrauch und Wind hatten ihre Haut gegerbt, sodass sie beinahe an eine Mumie erinnerte.
»Es stört Sie doch nicht, dass wir hier sind, oder?«, wandte sich Bell zuckersüß an den Anwalt. Beide Zwillinge trugen ultrakurze Miniröcke und streckten ihre berühmten langen Beine so weit aus, dass sie fast seinen Schreibtisch berührten. Ihre knappen Oberteile standen beinahe bis zur Taille offen.
Mr Johnson musterte sie über den Rand seiner Lesebrille hinweg und runzelte leicht die Stirn. Vermutlich hätte er sie am liebsten aufgefordert, sich anständig anzuziehen. Dann betrachtete er wieder Jocelyn, nahm ihr schlichtes schwarzes Kostüm und die Perlenkette zur Kenntnis und lächelte ihr zu. »Falls Miss Jocelyn einverstanden ist, können Sie bleiben.«
»Ach herrje«, höhnte Ash. »Miss Jocelyn. Unsere hoch studierte Miss Jocelyn. Liest du uns jetzt ein Buch vor?«
»Es würde dir sicher nicht schaden«, entgegnete Jocelyn, ohne den Blick von dem Anwalt abzuwenden. »Sie können bleiben. Sie werden sowieso alles herausfinden.«
»Also gut.« Er beugte sich über die Papiere. »Edilean Harcourt hat Sie, Jocelyn Minton, mehr oder weniger zu ihrer Alleinerbin erklärt.«
»Und wie viel ist das?«, fragte Bell wie aus der Pistole geschossen.
Mr Johnson wandte sich zu ihr um. »Es steht mir nicht zu, mehr darüber zu sagen. Es ist Miss Jocelyns Entscheidung, was sie Ihnen anvertrauen will, von mir erfahren Sie nichts. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden, ich habe zu tun.« Er griff nach einer braunen, von einer Schnur zusammengehaltenen Mappe und reichte sie Jocelyn über den Schreibtisch hinweg. »Hier steht alles drin. Sie können sich die Unterlagen ansehen, wenn Sie Zeit dazu haben.« Als er stehen blieb, stand Jocelyn ebenfalls auf. »Danke«, erwiderte sie und nahm die Mappe entgegen. »Ich lese es später.«
»Ich würde vorschlagen, dass Sie das allein tun. Ungestört. Edilean hat einige Dinge geschrieben, die meiner Ansicht nach nur für Sie bestimmt sind.«
»Sie kriegt alles?«, fragte Ash, die endlich begriffen hatte, was geschehen war. »Aber was ist mit uns? Wir haben die alte Frau doch dauernd besucht.«
Mr Johnsons Gesicht verzog sich zu einem leichten Lächeln.
»Wie konnte ich das vergessen?« Er zog einen Schlüssel aus der Tasche und öffnete eine Schreibtischschublade. »Das hat sie Ihnen hinterlassen.«
Er hielt ihnen zwei kleine blaue Satinbeutel hin, die etwas Schweres zu enthalten schienen. Schmuck vielleicht?
»Ohhh«, riefen Bell und Ash im Chor. »Für uns? Wie reizend von ihr. Das wäre doch nicht nötig gewesen. Wir haben wirklich nicht damit gerechnet.«
Mit einem Strahlen in ihren so oft fotografierten Gesichtern machten sie die Beutel auf und sahen den Anwalt dann verdattert an. »Was ist das?«
Ash kippte sich den Inhalt ihres Beutels auf die Handfläche. Es waren etwa zwanzig kleine schwarze Gegenstände, einige davon im Smaragdschliff, andere geformt wie Diamanten. »Was ist das? Solche Steine habe ich noch nie gesehen.«
»Sind das schwarze Diamanten?«, erkundigte sich Bell.
»In gewisser Weise schon«, entgegnete Mr Johnson und ging, immer noch schmunzelnd, zur Tür, wo er, die Hand am Knauf, stehen blieb. Kurz drehte er sich zu Jocelyn um, zwinkerte ihr zu und verließ den Raum.
Joce hatte Mühe, ernst zu bleiben. Die »schwarzen Diamanten «, die Miss Edi den Stiefschwestern vermacht hatte, waren in Wirklichkeit Kohlestückchen.
Sie sagte kein Wort, als sie aus der Kanzlei traten. Auf der Heimfahrt saß sie hinten neben Bell und Ash, die die Kohlestückchen ans Licht hielten, ihre Schönheit bewunderten und debattierten, wie sie sie fassen lassen wollten.
Joce schaute aus dem Fenster, um ihr Grinsen zu verbergen. Dass Miss Edi ihren neidischen und habgierigen Stiefschwestern Kohle vererbt hatte, um sich einen Scherz mit ihnen zu erlauben, ließ sie ihre Freundin noch schmerzlicher und sehnsüchtiger vermissen. Miss Edi war für sie gleichzeitig Mutter, Großmutter, Freundin und Mentorin gewesen.
Als Joce aufblickte, stellte sie fest, dass ihr Stiefvater sie im Rückspiegel finster ansah. Sie merkte ihm an, dass er wusste, worum es sich bei den »Steinen« handelte. Sicher graute ihm schon vor dem Tobsuchtsanfall, wenn auch die Stieflinge dahinterkamen. Doch ihr war das gleichgültig. Wenn die Zwillinge erkannten, was es mit den schwarzen Steinen auf sich hatte, würde sie schon längst nicht mehr hier sein. Ihre Taschen standen gepackt im Kofferraum ihres Autos. Sobald sie zu Hause ankamen, würde sie wieder zu der Universität fahren, wo sie beschäftigt war.
Erst in ihrer winzigen Wohnung öffnete Jocelyn das Päckchen, das Miss Edis Testament enthielt. Obwohl sie versuchte, sich innerlich zu wappnen, war sie beim Anblick der geliebten Handschrift überwältigt.
Für meine Jocelyn, stand da.
Mit zitternden Händen nahm sie den Brief heraus und begann zu lesen.
Meine liebe, liebe Jocelyn, ich verspreche Dir, nicht sentimental zu werden. Ich weiß zwar nicht, ob seit meinem Fortgang Tage oder Monate vergangen sind, aber da Du ein weiches Herz hast, trauerst Du sicher immer noch. Ich weiß nur zu gut, wie es ist, einen geliebten Menschen zu verlieren. Schließlich musste ich mit ansehen, wie die meisten Menschen, die ich geliebt habe, gestorben sind. Ich war als eine der Letzten übrig.
Nun aber zum Geschäftlichen. Das Haus in Boca gehört mir nicht, und dasselbe gilt auch für den Großteil der Möbel. Inzwischen ist sicher alles ausgeräumt und versteigert worden. Aber keine Sorge, mein Kind, meine besten Besitztümer, also die, die ich aus Edilean Manor mitgenommen habe, werden wieder dorthin zurückgebracht.
Jocelyn ließ den Brief sinken. »Edilean Manor?«, wiederholte sie laut. Sie hatte noch nie davon gehört. Nachdem die erste Verwirrung sich gelegt hatte, fühlte sie sich ein wenig betrogen. Sie hatte viele Jahre ihres Lebens mit Miss Edi verbracht, war mit ihr gereist, hatte viele Menschen aus ihrer Vergangenheit kennengelernt und Hunderten von Geschichten aus ihrer Zeit mit Dr. Brenner gelauscht. Doch Edilean Manor hatte Miss Edi nie erwähnt. Sicher hatte das Haus eine Bedeutung in ihrem Leben, da es nach Miss Edi benannt war - oder sie nach dem Haus.
Jocelyn wandte sich wieder dem Brief zu.
© 2014 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von Jude Deveraux
Jude Deveraux wurde in Kentucky geboren, studierte Kunst und arbeitete als Lehrerin, bevor sie sich ganz dem Schreiben zuwandte. Sie ist die Autorin von 37 Romanen, die alle auf der New-York-Times-Bestsellerliste standen. Ihre Werke sind in zahlreiche Sprachen übersetzt und erreichen eine Gesamtauflage von über 50 Millionen Büchern. Mehr über die Autorin erfahren Sie unter www.jude-deveraux.com.
Bibliographische Angaben
- Autor: Jude Deveraux
- 2014, 1, 384 Seiten, Taschenbuch
- ISBN-10: 3863659937
- ISBN-13: 9783863659936
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