Das Leben ein Fest
Roman
Schweden in den 1940er-Jahren. Nach dem Tod des Vaters kämpfen Nancy und ihre Mutter ums Überleben. Nancys Traum vom höheren Schulabschluss rückt in weite Ferne. Doch als ihre Mutter Arbeit in Uppsala findet, wendet sich alles zum Besseren. Als Nancy dort...
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Produktinformationen zu „Das Leben ein Fest “
Schweden in den 1940er-Jahren. Nach dem Tod des Vaters kämpfen Nancy und ihre Mutter ums Überleben. Nancys Traum vom höheren Schulabschluss rückt in weite Ferne. Doch als ihre Mutter Arbeit in Uppsala findet, wendet sich alles zum Besseren. Als Nancy dort allerdings vor dem Gymnasium steht, verlässt sie der Mut. Wie soll sie, das Arbeiterkind, hier jemals bestehen? Eine unsentimentale Emanzipationsgeschichte in klarer, lebendiger Sprache. »Elsie Johanssons Romane zu lesen ist so, als hätte man auf einmal eine große Schwester bekommen, mit der man alles teilen kann.« (Expressen)
Klappentext zu „Das Leben ein Fest “
Die Romane der Schwedin Elsie Johansson haben in ihrer Heimat längst Klassikerstatus: Die stolze junge Nancy bleibt nach dem Tod des Vaters im ärmlichen Haus der Mutter und kämpft mit ihr um ein menschenwürdiges Leben. Wieder einmal muss ihr Traum von einem höheren Schulabschluß warten. Aber dann ändert sich alles, von einem Tag auf den anderen: Die Mutter findet Arbeit in der nahe gelegenen Universitätsstadt Uppsala, Nancys Ziele scheinen zum Greifen nahe. Beim Anblick des altehrwürdigen Gymnasiums aber verläßt sie ihr Selbstvertrauen. Und als eines Abends ihr Schwager auf der Durchreise zu Besuch ist und eine Nacht mit ihr verbringt, droht ihr Leben eine endgültige Wendung zu nehmen. Unsentimental und in einer klaren und lebendigen Sprache schildert Elsie Johansson das Schweden der vierziger Jahre und die Emanzipationsgeschichte einer Frau aus einfachsten Verhältnissen.
Lese-Probe zu „Das Leben ein Fest “
Elsie JohanssonDas Leben ein Fest
Roman
Mein Vater, Karl Viktor Pettersson, genannt ZehenPelle, starb am 16. November 1941. Wie Mutter und ich diesen Herbst mit seinen schwarzen gepflügten Äckern und den durchweichten Schindeldächern und den unendlich langen und kalten Winter überstanden, es war der dritte Kriegswinter, weiß ich nicht genau.
In der ersten Zeit konnte ich mir nur schwer vorstellen, daß er wirklich fort war. Nach der Beerdigung, bei der ich ja gesehen hatte, wie der Sarg hinabgesenkt wurde, lebte ich einfach in der Erwartung, daß alles wieder so werden würde wie immer, als wäre nichts geschehen. Da war eine Bereitschaft und ein Aufhorchen in mir, das nachmittags um kurz vor fünf besonders deutlich wurde, wenn er immer von der Säge gekommen war. Dann schwappte die Klangerinnerung in meinen Ohren, ich meinte, das Stapfen auf der Veranda und das Scharren des großen Reisigbesens zu hören; bevor er hereinkam, fegte er immer ein paarmal rings um seine Füße und vor der Haustür. Auch das Schneuzen hörte ich oder hatte es vielmehr vor Augen. Ich sah, wie er seinen Kautabak ausspuckte und sich in die Finger schneuzte.
Ob Mutter die gleichen Erwartungen hatte und Vaters Anwesenheit genauso spürte wie ich, weiß ich nicht. Aber ich glaube, es war so, denn in vieler Hinsicht verhielten wir uns ganz ähnlich, obwohl zwischen uns nichts ausgesprochen war. Das betraf beispielsweise den Radioapparat. Der stand mit seinem beigebraunen Gitter und den großen runden Knöpfen, an denen niemand drehte, lange Zeit stumm da, ich glaube, wir hörten in den ersten Wochen nicht einmal die Nachrichten. Ob die Welt da draußen mit ihren großen Ereignissen, Krieg und Elend, uns in unserer Versenkung nichts anzugehen schien oder ob die Nachrichten aus irgendeinem Grund Vater geweiht waren, ist schwer zu sagen. Immer hatte er vornübergebeugt auf der Küchenbank gesessen und mit der Hand hinterm Ohr aufmerksam gelauscht. Wenn wir beim Abwaschen zu laut mit dem Geschirr
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klapperten, zischte er. Nun schlichen wir rücksichtsvoll herum, als säße er noch immer dort und dürfte nicht gestört werden.
Morgens genauso. Wie immer werde ich von einer Hand an meiner Schulter und einem Flüstern an meinem Ohr geweckt: "Wach auf, Nancy - es ist fünf!" Und wir bewegen uns so vorsichtig und wispern noch, während der Kaffee getrunken wird und Mutter den Proviant einpackt, nur für eine Person. Die große Uhr tickt, und der Haken neben der Tür starrt leer zur Decke, denn Mutter hat Vaters alte Mütze weggeräumt. Doch was hilft das? Wir sind noch lange nicht da angekommen, wo sich seine Anwesenheit verflüchtigt und die Erinnerungen einsetzen.
Wenn ich mich zurücktaste und nachzuempfinden versuche, wie es kurz nach Vaters Tod war, scheint mich ein Tunnel oder eine Grotte zu umschließen. Mutter und ich, wir sitzen im Schein der Karbidlampe am Tisch, sie gebeugt über ihre Sachen, ich über meine. Draußen ist es pechschwarz. Kohlpechrabenschwarz, wir sind umgeben von Dunkelheit, denn es ist November, und es hat noch nicht geschneit. Im Herd knistert das Feuer, die Katze liegt zusammengerollt auf der Platte, und es gäbe viel zu sagen, aber dafür ist es noch zu früh. Zu früh, um über die Zukunft zu sprechen. Und an so gewaltige Gefühle wie Liebe, Trauer und Schuld haben wir nie gerührt. So waren wir eben, das war unsere hilflose Methode, wir schwiegen uns einfach durch.
Als einziges leiert Mutter wieder und wieder herunter, daß es zum Glück schnell gegangen sei. Immerhin, sagt sie. Wenigstens mußte er nicht lange leiden! Und wenn die Zeit gekommen ist... Danach kommt das Seufzen.
Und was soll ich darauf antworten? Was gibt es da zu sagen? Ich nicke und versuche zu trösten, denn sie braucht den Trost vermutlich mehr als ich. Aber Schmerzen hatte er, egal, was Mutter sagt. Ich habe den Schrei doch gehört, habe gesehen, wie er sich beim Holzschuppen herumwälzte, wie die Oberlippe in seiner schmerzverzerrten Fratze sich so weit nach oben zog und über die Zähne spannte, daß man den Kautabak sehen konnte. Also hat es doch weh getan, als sein Herz kaputtging. Aber es ging schnell, da hat sie recht.
Abend für Abend höre ich den mühseligen Wehmutsklang, wenn Mutter den alten Wecker aufzieht. Ein paar Hölzchen werden nachgelegt, die letzten für diese Nacht, ich höre die Endgültigkeit im Knallen der Ofenluke und dem Klang des Schürhakens. Wenn sie die Lampe auspustet und gute Nacht sagt, liege ich bereits auf dem Sofa in der Kammer. Und da sind wir zwei, sie und ich. "Gute Nacht, Nancy! Und schlaf gut! Du mußt morgen früh raus, du Ärmste, hoffentlich kannst du bald einschlafen."
Der Schlaf wird schon kommen, aber nicht sofort. Ich liege wach und denke. Hier drin lag Vater in der Nacht nach seinem Tod auf einem Küchenbankdeckel zwischen zwei Stühlen, bedeckt mit einem Laken. Mutter saß und wachte, und in Großmutters alten Kerzenhaltern brannten Kerzen. Der Gedanke daran ist nicht unangenehm, ich sehe keine Schreckensbilder, und ich habe keine Angst. Vater ist Teil der Küche und nicht der Kammer, er war selten hier drin, sein Gesicht ist nicht eingeätzt in das Glas des länglichen Spiegels, der in einem Kipprahmen auf der braunen Kommode steht. Im übrigen ist es stockfinster hinter den Verdunklungsgardinen, und meistens denke ich überhaupt nicht an Vater. Ich denke über mich selbst nach und daran, wie alles werden soll.
Vaters Tod hat meinen Plänen ein Ende gesetzt, alles hat sich mit einem Schlag verändert. Ich wollte ja ausziehen. In aller Heimlichkeit hatte ich per Briefwechsel mit Sara, der Verlobten von Börje, ausgemacht, daß ich gleich nach Neujahr nach Eskilstuna kommen würde, sie wollte mir helfen, eine Arbeit und ein Zimmer zu finden. Ich würde meinen Fernkursus beenden und ernsthaft versuchen, die Prüfungen für den Realschulabschluß zu schaffen. Wie sollte das jetzt gehen? Ich hatte Geld gespart, so daß ich wenigstens etwas für den Anfang hatte. Alles war vorbereitet, nur das Schlimmste hatte mir noch bevorgestanden: es Mutter zu sagen!
Gott sei Dank war ich nicht dazu gekommen. Und noch mehr mußte ich Gott dafür danken, daß ich nicht zu Fräulein Hansson, genannt PostBerta, gerannt war und meine Stelle bei der Post gekündigt hatte, denn jetzt war es, wie es war. Ich konnte Mutter nicht allein lassen, das stand für mich an dem Morgen fest, als Vater hinausgetragen wurde auf den Weg aus frischen Tannenzweigen, die Arvid in der Biege kreuzweise von der Verandatreppe bis zum Gartentor gelegt hatte, als wir dort in der Kälte standen und Mutter mir den Arm um die Schultern legte. "Gut, daß ich dich habe, LüttNancy", sagte sie. Es war wie ein Joch, ein Liebesjoch.
Nach der Beerdigung wurde es auch nicht leichter, da packte Betty die Gelegenheit beim Schopf: "Tja, jetzt mußt du Mutter helfen, Nancy! Nun mußt du für sie dasein! Ist schließlich nicht zuviel verlangt, daß du ein bißchen was zurückgibst - hast ja zu Hause gewohnt und studiert, Gott bewahre! Auf Vaters Kosten, obwohl du ein erwachsener Mensch bist. Meine Güte, mit achtzehn Jahren. Von uns anderen ist keiner so verhätschelt worden. Wir haben selber für uns gesorgt, das haben wir!" Verächtlich verzog sie den Mund.
Sinnlos, mit Betty zu diskutieren. Sie wollte sich an mir rächen, wofür, weiß ich nicht. Doch, ich glaube, ich weiß es. Sie ertrug es nicht, daß ich anders war. Sie war eifersüchtig, weil mein Leben, zumindest in ihren Augen, noch unberührt war, weil ich über Möglichkeiten verfügte, die sie nicht hatte und nie gehabt hatte, ständig hielt sie mir das vor. Arme Betty! Erst zweiundzwanzig Jahre und schon drei Kinder, eins nach dem anderen. Natürlich verstand ich, daß sie mit ihrem Leben unzufrieden war, doch war das meine Schuld? Warum mußte sie sich immer auf mich stürzen? Obwohl ihre Gefühle und Ansichten in vielem ihre Berechtigung hatten: ich war die Jüngste und war mehr umsorgt worden, das ließ sich nicht abstreiten, und die Natur hatte mich anders ausgerüstet. Obwohl ich nichts dafür konnte, hatte ich das Gefühl einer Schuld, die ich abbezahlen mußte. Betty hatte recht. Es war klar, daß ich bei Mutter bleiben mußte, wie auch sonst? Sie brauchte mich jetzt.
Vermutlich habe ich deswegen den Eindruck, in einem Tunnel zu stecken, unter der Erde und an beiden Enden verriegelt, wenn ich mich zurücktaste zu den ersten schwarzen Wochen nach Vaters Tod. Wir saßen dort in der Hütte, und die Zeit stand still. Und dann kam der Schnee.
Es war ein strenger Winter prophezeit worden, doch daß er uns schon im Dezember unter seiner Knute haben und überhaupt nicht mehr loslassen würde, hatte niemand ahnen können. Viel später, als man Kurven und Tabellen aufgezeichnet hatte, wurde bewiesen, daß es der härteste Winter der Kriegsjahre war. Schnee- und Kälterekord, selbst in Schweden starben Menschen vor Kälte. An den Ostfronten erfroren den Soldaten Wangen und Füße, war in der Zeitung zu lesen, und Pferde starben an Lungenentzündung. Wir bei ZehenPelles, Mutter und ich, hätten aufgeben können - aber wie hätte das gehen sollen? Sich hinzustellen, das Maul aufzureißen und zu brüllen und den Him-mel zu verfluchen wäre sinnlos gewesen, so verrückt waren wir nicht. Was hätte das genützt? Wir beteten auch nicht. Wir bissen einfach die Zähne zusammen.
Wir hatten eine Schaufel und den großen Reisigbesen, wir hatten den Herd in der Küche und einen alten Ofen, aber doppelte Fenster hatten wir nur in der Kammer, die Innenseite der Glasscheiben war mit Eiskristallen überzogen. Wir kratzten mit den Nägeln und hauchten kleine Gucklöcher an die Scheiben. Das Tageslicht verdunkelte sich. Der Schnee wurde zwischen Haustür und Schwelle geweht, die Tapeten waren mit Rauhreif bedeckt, und das Wasser im Wassereimer gefror. Wenn wir aufs Plumpsklo mußten, gingen wir zwischen Wänden hindurch, die nicht aus Stein, sondern aus blauweißem steinhartem Schnee waren. Lockerte sich der Kältegriff hin und wieder, kam neuer dichter Schneefall. Ein unsichtbarer Himmel schien mit dem Messer aufgeschlitzt worden zu sein, es schneite tagelang, ein Tag mit Schneetreiben reihte sich an den nächsten. Dann war wieder alles so zugeschneit, daß keine Wege zu sehen waren, vor allem im Februar gab es ein Inferno.
Doch unser Häuschen hielt stand, seltsamerweise. Obwohl ihm die Kälte in die Ecken biß und der Sturm es peitschte, es hielt stand. Und wir, Mutter und ich, taten es auch. Wir erwachten aus dem Lähmungszustand nach Vaters Tod, jetzt gab es keine Zeit mehr für Grübeleien und Selbstmitleid, nun ging es ums Überleben, im wahrsten Sinne des Wortes. Es gab keinen anderen Ausweg, als weiterzukämpfen. Der Winter half uns mit seinen schmerzhaften Kniffen auf die Sprünge, doch das begriffen wir nicht, als wir mittendrin steckten, da verfluchten wir den Schnee. Und liebten ihn auch, auf merkwürdige Weise. Er brachte zumindest ein bißchen Spannung, die von anderen Dingen ablenkte.
Mutter hatte mich verhätschelt und behandelt wie ein Kind - damit hatte Betty recht. Nun war Schluß mit der Hätschelei, nicht direkt über Nacht, aber so ungefähr. Während dieses strengen Winters 1941/42 wurden wir zwangsweise ein beinahe ebenbürtiges Paar, wir kämpften unter fast gleichen Bedingungen nebeneinander. Sie nannte mich nicht mehr so oft LüttNancy und betüddelte mich nicht mehr von vorne bis hinten. Sie schien mich endlich als Erwachsene akzeptiert zu haben. Doch ich war nicht erwachsen, ich war kindisch und übereifrig. Zu meiner Verteidigung muß gesagt werden, daß der Zeitgeist mich anfeuerte. Für Schweden zu marschieren und Einsatz zu zeigen, das war in diesen unruhigen Zeiten die Pflicht eines jeden Mitbürgers! Tja, und ich zeigte Einsatz. Eine tapfere kleine Heldin an der Heimatfront, das war ich, ZehenPelles Nancy! Besonders wenn ich morgens zur Post trabte - vermutlich von allen im Dorf als erste auf den Beinen -, oft ganz oben auf dem steinharten Schneewall, da die Wege noch nicht gepflügt waren, den Schal um Nasenspitze und Mund gewickelt und mit hoch über die Waden gezogenen Wollsocken, dann fühlte ich mich wie ein Soldat in der Armee Karls des Zwölften. Ich schulterte meine Verantwortung und genoß meine eigene Tüchtigkeit.
Auf dem Heimweg traf ich fast täglich jemanden, der eine Hand im Fäustling hob und mir zuwinkte: "Ojemine! Was für ein scheußliches Wetter! Aber du läßt dich nicht unterkriegen, Nancy! Grüß deine Mutter! Ein Glück, daß sie dich hat ..."
Doch, ich leistete schon meinen Beitrag. Mit Schneeschippe und allem drum und dran. Unter dem Verandadach, wenn ich den Schnee abgetreten und abgebürstet hatte, muß es um mich vor Heldenmut nur so geklingelt haben, während ich meine Stiefel auszog und die Kälte meinen Kopf wie eine Wolke umgab.
Ich merkte nicht, daß meine geschäftige Tüchtigkeit Mutter verletzte, ich merkte nicht, daß das feine Gleichgewicht zwischen ihr und mir in eine Schieflage geriet. Sie hatte ihren Stolz, und ich hatte meinen, und sie sollten gleich viel wiegen. Daß dies eine ernste Sache war, begriff ich erst an dem Tag, als ich meinen Weihnachtslohn bekam.
Ich hatte bisher jeden Monat vierzig Kronen zu Hause abgegeben, manchmal waren es fünfzig, obwohl Mutter sich dagegen wehrte. Von dem Rest, das heißt ungefähr genausoviel, ging das meiste für den Fernkursus von Hermods drauf, den ich zu günstigen Bedingungen abbezahlte. Das übrige Geld konnte ich für Kleider und ähnliches ausgeben, doch in diesem Herbst hatte ich den Überschuß meistens in die Schachtel mit den gelben Rosen auf dem Deckel gelegt. Für künftigen Bedarf. Als ich nun meinen Lohnzettel für Dezember erhielt und ein wenig mehr als üblich quittierte, weil es der Weihnachtsmonat war, genauer gesagt hundertzwanzig Kronen, übermannte mich die Großmut. Ich konnte mich kaum beherrschen, bis ich die Küche betreten und das Portemonnaie aus dem Rucksack gezogen hatte. Achtzig Kronen legte ich auf den Tisch und sagte: "Bitte sehr, Mama! Jetzt nimm das. Dann kannst du Weihnachtseinkäufe machen. Die Kursbriefe können warten, die sind nicht so dringend."
Wie kann man es so gut meinen und sich so dumm anstellen? Ich weiß, daß ich einen Fehler gemacht habe, ich wußte es, sobald mir die Worte rausgerutscht waren. Dann kannst du Weihnachtseinkäufe machen! Ich hätte es vorsichtiger angehen sollen. Vor allem hätte mein tüchtiges Ich genug Verstand haben müssen, meinen überbordenden Stolz zu bremsen, der mit Märtyrertum gepaart war, was aber wirklich nicht angemessen war. Mutter zuckte zurück und bekam rote Flecken am Hals.
"Kommt nicht in Frage, Nancy! Gib mir vierzig, wie abgemacht, keine Öre mehr! Und von Aufhören mit der Lernerei will ich keinen Ton mehr hören! Was glaubst du, was Vater sagen würde? Nein, es ist nicht der Sinn der Sache, daß du mich versorgst! So weit ist es noch nicht gekommen, daß ich mich von meinen Kindern durchfüttern lassen muß. Ich werde schon selbst eine Lösung finden..."
Dann drehte sie sich um und hielt sich am Herdsockel fest, ich weiß nicht, ob sie weinte, das glaube ich nicht, jedenfalls war nichts zu hören. Es war lähmend still. Vorsichtig nahm ich drei Zehner vom Tisch, steckte sie ins Portemonnaie und verschloß leise den Druckknopf. Fünfzig Kronen ließ ich liegen, es war schließlich Weihnachten! Ich schämte mich fürchterlich. Ich hatte ihren Stolz mit Füßen getreten, und das war unverzeihlich. Mutter war verletzbar, wenn es um Geld ging, das hatte ich nun verstanden. Seit Vaters Tod hatten Sorge und Ratlosigkeit wegen der Versorgung ihr Tag und Nacht den Kopf zermartert. Doch über Geldsorgen konnte man nicht sprechen, genausowenig wie über Trauer, Schuld und Sehnsucht. Nur über den Schnee, den vermaledeiten, dieses Elend mit dem Schnee, darüber durfte man fluchen, soviel man wollte. In einem Moment wie diesem wäre Väterchen ZehenPelle mit einem Affenzahn zur Tür gehastet, hätte seine Mütze vom Haken gerissen, wäre hinausgehumpelt und hätte mit höllischem Elan geschippt und gefegt, doch diesen Fluchtweg scheute ich, sie hätte sonst auch dies als Hinweis deuten können, daß sie nicht einmal dazu taugte, den Schnee beiseite zu schaffen.
Das Geld blieb jedenfalls liegen, bis die Kartoffeln gekocht waren und es Zeit war, den Tisch zu decken. Da hörte ich hinter meinem Rücken, wie die Schublade des Küchenbüfetts aufgezogen wurde, in der Vaters alte Brieftasche lag, sie wurde aufgezogen und wieder zugeschoben. Als ich vorsichtig über die Schulter linste, war der Fünfziger fort. Über die Sache wurde kein Wort mehr verloren, auch nicht über den Extrazehner. Unter Schweigen aßen wir Grützwurst und Kartoffeln, ich glaube, wir schämten uns und waren beide gleich unglücklich.
"Verzeih" war ein Ausdruck, der bei uns nicht gebraucht wurde. Es war eins von diesen gefühlsgeladenen Worten, mit denen man nicht einfach so um sich warf, sie gehörten in die Kirche und ins Bethaus und möglicherweise an ein Totenbett, sie waren mit Ernst verknüpft, und so etwas in den Mund zu nehmen barg ein gewisses Risiko. Zum Glück hatten wir, die wir vor Gefühlsausbrüchen solche Angst hatten, andere Möglichkeiten, hatten unsere verschlungenen Umwege. Während wir abwuschen und die Krümel unterm Küchentisch auffegten, sagte Mutter: "Es ist alles nicht so einfach, Nancy, glaub das ja nicht. Man fühlt sich so nutzlos, das mußt du verstehen. Ich weiß, wie gut du es meinst, und du bist so tüchtig, niemand sonst ist so tüchtig - und so lieb. Aber ich muß eine Lösung finden. Und selbst zurechtkommen. So ist das eben."
Wir berührten uns nicht, umarmten uns nicht. Auch ich sagte nicht viel, der Hochmut in mir hatte einen Dämpfer bekommen, und ich hatte eine Lektion erhalten, nun war ich vorsichtig. Nickte bloß, natürlich verstünde ich, und murmelte: "Alles wird gut, Mama ..." Dann tranken wir Kaffee und teilten uns ein Milchbrötchen, gebraten und mit Zucker und Zimt bestreut. Das war eine gute alte Methode, trostreich und bewährt.
Unsere finanzielle Situation gestaltete sich folgendermaßen: Vater war in seinem Todesjahr dreiundsechzig geworden, ihm fehlten vier Jahre bis zur Pensionierung. Obwohl er die "Rechte des Arbeiters" immer hochgehalten hatte, war er kein Gewerkschaftsmitglied gewesen. Ob das auf Trägheit beruhte, auf Geldmangel oder den Prinzipien seines Arbeitgebers, des Sägewerkdirektors, weiß ich nicht. Aber es kam keine einzige Öre für die Beerdigung aus dieser Richtung, obwohl wir sie gut hätten gebrauchen können. Vater besaß kein Konto, hatte nie eines besessen, in der Küchenschublade lagen ein paar Hunderter und ein Fünfziger, das war das vorhandene Vermögen, abgesehen von dem ausstehenden Lohn. Ein Wochenlohn, mehr nicht. Nach dem Preiselbeerverkauf und den Aushilfsarbeiten im Herbst hatte Mutter zum Glück ein wenig Geld in die Kakaodose mit den Holländern und den Dschunken drauf gesteckt. Aber damit kam sie nicht weit, obwohl es ein einfaches Begräbnis war; wir hatten keine Familiengrabstelle gekauft, sondern ließen Vater auf dem allgemeinen Gelände bestatten.
Anschließend luden wir zum Kaffee ein, es gab eine Torte, verziert mit einem braunen Schokoladenkreuz. Die Nachbarn kamen. BiegenArvid, Vaters ewiger Widersacher, war mit der Liste herumgegangen, das war so üblich unter kleinen Leuten und bedeutete kein Almosen, für das man sich hätte schämen müssen. Als das bißchen Geld überreicht wurde, sprach Onkel Ågren einige Gedenkworte. Und von der Säge kamen Blumen. Das war alles.
Die Leute waren nett zu uns. Nicht einmal Mutter, die niemandem über den Weg traute, konnte etwas anderes behaupten. Abgesehen von dem Geld auf der Liste, das uns sozusagen zustand, wurde uns von November bis Weihnachten mehrfach Wohlwollen erwiesen. Es begann ja nun ohnehin die freundliche Zeit, so gesehen hatten wir Glück. Sogar bei Kaufmann C.G. Persson brach die Mildtätigkeit aus, er schenkte uns Sago und Reis und eine große Dose Anschovis, um die ein Papierstreifen mit tanzenden Weihnachtswichteln gewickelt war - die Dekoration, die aus den Anschovis Weihnachtsanschovis machte. Von einigen anderen Leuten bekamen wir Würste, eine Tüte Nachmehl, ein schönes Stück Speck und ein paar andere Leckereien.
Mutter war nicht uneingeschränkt dankbar. Wohltätigkeit verabscheute sie wie die Pest. "Klar doch, natürlich sind die nett. Sicher - es ist gut gemeint. Aber die brauchen nicht herkommen und uns was zu essen bringen, wir verhungern schon nicht. So weit ist es noch nicht gekommen."
Morgens genauso. Wie immer werde ich von einer Hand an meiner Schulter und einem Flüstern an meinem Ohr geweckt: "Wach auf, Nancy - es ist fünf!" Und wir bewegen uns so vorsichtig und wispern noch, während der Kaffee getrunken wird und Mutter den Proviant einpackt, nur für eine Person. Die große Uhr tickt, und der Haken neben der Tür starrt leer zur Decke, denn Mutter hat Vaters alte Mütze weggeräumt. Doch was hilft das? Wir sind noch lange nicht da angekommen, wo sich seine Anwesenheit verflüchtigt und die Erinnerungen einsetzen.
Wenn ich mich zurücktaste und nachzuempfinden versuche, wie es kurz nach Vaters Tod war, scheint mich ein Tunnel oder eine Grotte zu umschließen. Mutter und ich, wir sitzen im Schein der Karbidlampe am Tisch, sie gebeugt über ihre Sachen, ich über meine. Draußen ist es pechschwarz. Kohlpechrabenschwarz, wir sind umgeben von Dunkelheit, denn es ist November, und es hat noch nicht geschneit. Im Herd knistert das Feuer, die Katze liegt zusammengerollt auf der Platte, und es gäbe viel zu sagen, aber dafür ist es noch zu früh. Zu früh, um über die Zukunft zu sprechen. Und an so gewaltige Gefühle wie Liebe, Trauer und Schuld haben wir nie gerührt. So waren wir eben, das war unsere hilflose Methode, wir schwiegen uns einfach durch.
Als einziges leiert Mutter wieder und wieder herunter, daß es zum Glück schnell gegangen sei. Immerhin, sagt sie. Wenigstens mußte er nicht lange leiden! Und wenn die Zeit gekommen ist... Danach kommt das Seufzen.
Und was soll ich darauf antworten? Was gibt es da zu sagen? Ich nicke und versuche zu trösten, denn sie braucht den Trost vermutlich mehr als ich. Aber Schmerzen hatte er, egal, was Mutter sagt. Ich habe den Schrei doch gehört, habe gesehen, wie er sich beim Holzschuppen herumwälzte, wie die Oberlippe in seiner schmerzverzerrten Fratze sich so weit nach oben zog und über die Zähne spannte, daß man den Kautabak sehen konnte. Also hat es doch weh getan, als sein Herz kaputtging. Aber es ging schnell, da hat sie recht.
Abend für Abend höre ich den mühseligen Wehmutsklang, wenn Mutter den alten Wecker aufzieht. Ein paar Hölzchen werden nachgelegt, die letzten für diese Nacht, ich höre die Endgültigkeit im Knallen der Ofenluke und dem Klang des Schürhakens. Wenn sie die Lampe auspustet und gute Nacht sagt, liege ich bereits auf dem Sofa in der Kammer. Und da sind wir zwei, sie und ich. "Gute Nacht, Nancy! Und schlaf gut! Du mußt morgen früh raus, du Ärmste, hoffentlich kannst du bald einschlafen."
Der Schlaf wird schon kommen, aber nicht sofort. Ich liege wach und denke. Hier drin lag Vater in der Nacht nach seinem Tod auf einem Küchenbankdeckel zwischen zwei Stühlen, bedeckt mit einem Laken. Mutter saß und wachte, und in Großmutters alten Kerzenhaltern brannten Kerzen. Der Gedanke daran ist nicht unangenehm, ich sehe keine Schreckensbilder, und ich habe keine Angst. Vater ist Teil der Küche und nicht der Kammer, er war selten hier drin, sein Gesicht ist nicht eingeätzt in das Glas des länglichen Spiegels, der in einem Kipprahmen auf der braunen Kommode steht. Im übrigen ist es stockfinster hinter den Verdunklungsgardinen, und meistens denke ich überhaupt nicht an Vater. Ich denke über mich selbst nach und daran, wie alles werden soll.
Vaters Tod hat meinen Plänen ein Ende gesetzt, alles hat sich mit einem Schlag verändert. Ich wollte ja ausziehen. In aller Heimlichkeit hatte ich per Briefwechsel mit Sara, der Verlobten von Börje, ausgemacht, daß ich gleich nach Neujahr nach Eskilstuna kommen würde, sie wollte mir helfen, eine Arbeit und ein Zimmer zu finden. Ich würde meinen Fernkursus beenden und ernsthaft versuchen, die Prüfungen für den Realschulabschluß zu schaffen. Wie sollte das jetzt gehen? Ich hatte Geld gespart, so daß ich wenigstens etwas für den Anfang hatte. Alles war vorbereitet, nur das Schlimmste hatte mir noch bevorgestanden: es Mutter zu sagen!
Gott sei Dank war ich nicht dazu gekommen. Und noch mehr mußte ich Gott dafür danken, daß ich nicht zu Fräulein Hansson, genannt PostBerta, gerannt war und meine Stelle bei der Post gekündigt hatte, denn jetzt war es, wie es war. Ich konnte Mutter nicht allein lassen, das stand für mich an dem Morgen fest, als Vater hinausgetragen wurde auf den Weg aus frischen Tannenzweigen, die Arvid in der Biege kreuzweise von der Verandatreppe bis zum Gartentor gelegt hatte, als wir dort in der Kälte standen und Mutter mir den Arm um die Schultern legte. "Gut, daß ich dich habe, LüttNancy", sagte sie. Es war wie ein Joch, ein Liebesjoch.
Nach der Beerdigung wurde es auch nicht leichter, da packte Betty die Gelegenheit beim Schopf: "Tja, jetzt mußt du Mutter helfen, Nancy! Nun mußt du für sie dasein! Ist schließlich nicht zuviel verlangt, daß du ein bißchen was zurückgibst - hast ja zu Hause gewohnt und studiert, Gott bewahre! Auf Vaters Kosten, obwohl du ein erwachsener Mensch bist. Meine Güte, mit achtzehn Jahren. Von uns anderen ist keiner so verhätschelt worden. Wir haben selber für uns gesorgt, das haben wir!" Verächtlich verzog sie den Mund.
Sinnlos, mit Betty zu diskutieren. Sie wollte sich an mir rächen, wofür, weiß ich nicht. Doch, ich glaube, ich weiß es. Sie ertrug es nicht, daß ich anders war. Sie war eifersüchtig, weil mein Leben, zumindest in ihren Augen, noch unberührt war, weil ich über Möglichkeiten verfügte, die sie nicht hatte und nie gehabt hatte, ständig hielt sie mir das vor. Arme Betty! Erst zweiundzwanzig Jahre und schon drei Kinder, eins nach dem anderen. Natürlich verstand ich, daß sie mit ihrem Leben unzufrieden war, doch war das meine Schuld? Warum mußte sie sich immer auf mich stürzen? Obwohl ihre Gefühle und Ansichten in vielem ihre Berechtigung hatten: ich war die Jüngste und war mehr umsorgt worden, das ließ sich nicht abstreiten, und die Natur hatte mich anders ausgerüstet. Obwohl ich nichts dafür konnte, hatte ich das Gefühl einer Schuld, die ich abbezahlen mußte. Betty hatte recht. Es war klar, daß ich bei Mutter bleiben mußte, wie auch sonst? Sie brauchte mich jetzt.
Vermutlich habe ich deswegen den Eindruck, in einem Tunnel zu stecken, unter der Erde und an beiden Enden verriegelt, wenn ich mich zurücktaste zu den ersten schwarzen Wochen nach Vaters Tod. Wir saßen dort in der Hütte, und die Zeit stand still. Und dann kam der Schnee.
Es war ein strenger Winter prophezeit worden, doch daß er uns schon im Dezember unter seiner Knute haben und überhaupt nicht mehr loslassen würde, hatte niemand ahnen können. Viel später, als man Kurven und Tabellen aufgezeichnet hatte, wurde bewiesen, daß es der härteste Winter der Kriegsjahre war. Schnee- und Kälterekord, selbst in Schweden starben Menschen vor Kälte. An den Ostfronten erfroren den Soldaten Wangen und Füße, war in der Zeitung zu lesen, und Pferde starben an Lungenentzündung. Wir bei ZehenPelles, Mutter und ich, hätten aufgeben können - aber wie hätte das gehen sollen? Sich hinzustellen, das Maul aufzureißen und zu brüllen und den Him-mel zu verfluchen wäre sinnlos gewesen, so verrückt waren wir nicht. Was hätte das genützt? Wir beteten auch nicht. Wir bissen einfach die Zähne zusammen.
Wir hatten eine Schaufel und den großen Reisigbesen, wir hatten den Herd in der Küche und einen alten Ofen, aber doppelte Fenster hatten wir nur in der Kammer, die Innenseite der Glasscheiben war mit Eiskristallen überzogen. Wir kratzten mit den Nägeln und hauchten kleine Gucklöcher an die Scheiben. Das Tageslicht verdunkelte sich. Der Schnee wurde zwischen Haustür und Schwelle geweht, die Tapeten waren mit Rauhreif bedeckt, und das Wasser im Wassereimer gefror. Wenn wir aufs Plumpsklo mußten, gingen wir zwischen Wänden hindurch, die nicht aus Stein, sondern aus blauweißem steinhartem Schnee waren. Lockerte sich der Kältegriff hin und wieder, kam neuer dichter Schneefall. Ein unsichtbarer Himmel schien mit dem Messer aufgeschlitzt worden zu sein, es schneite tagelang, ein Tag mit Schneetreiben reihte sich an den nächsten. Dann war wieder alles so zugeschneit, daß keine Wege zu sehen waren, vor allem im Februar gab es ein Inferno.
Doch unser Häuschen hielt stand, seltsamerweise. Obwohl ihm die Kälte in die Ecken biß und der Sturm es peitschte, es hielt stand. Und wir, Mutter und ich, taten es auch. Wir erwachten aus dem Lähmungszustand nach Vaters Tod, jetzt gab es keine Zeit mehr für Grübeleien und Selbstmitleid, nun ging es ums Überleben, im wahrsten Sinne des Wortes. Es gab keinen anderen Ausweg, als weiterzukämpfen. Der Winter half uns mit seinen schmerzhaften Kniffen auf die Sprünge, doch das begriffen wir nicht, als wir mittendrin steckten, da verfluchten wir den Schnee. Und liebten ihn auch, auf merkwürdige Weise. Er brachte zumindest ein bißchen Spannung, die von anderen Dingen ablenkte.
Mutter hatte mich verhätschelt und behandelt wie ein Kind - damit hatte Betty recht. Nun war Schluß mit der Hätschelei, nicht direkt über Nacht, aber so ungefähr. Während dieses strengen Winters 1941/42 wurden wir zwangsweise ein beinahe ebenbürtiges Paar, wir kämpften unter fast gleichen Bedingungen nebeneinander. Sie nannte mich nicht mehr so oft LüttNancy und betüddelte mich nicht mehr von vorne bis hinten. Sie schien mich endlich als Erwachsene akzeptiert zu haben. Doch ich war nicht erwachsen, ich war kindisch und übereifrig. Zu meiner Verteidigung muß gesagt werden, daß der Zeitgeist mich anfeuerte. Für Schweden zu marschieren und Einsatz zu zeigen, das war in diesen unruhigen Zeiten die Pflicht eines jeden Mitbürgers! Tja, und ich zeigte Einsatz. Eine tapfere kleine Heldin an der Heimatfront, das war ich, ZehenPelles Nancy! Besonders wenn ich morgens zur Post trabte - vermutlich von allen im Dorf als erste auf den Beinen -, oft ganz oben auf dem steinharten Schneewall, da die Wege noch nicht gepflügt waren, den Schal um Nasenspitze und Mund gewickelt und mit hoch über die Waden gezogenen Wollsocken, dann fühlte ich mich wie ein Soldat in der Armee Karls des Zwölften. Ich schulterte meine Verantwortung und genoß meine eigene Tüchtigkeit.
Auf dem Heimweg traf ich fast täglich jemanden, der eine Hand im Fäustling hob und mir zuwinkte: "Ojemine! Was für ein scheußliches Wetter! Aber du läßt dich nicht unterkriegen, Nancy! Grüß deine Mutter! Ein Glück, daß sie dich hat ..."
Doch, ich leistete schon meinen Beitrag. Mit Schneeschippe und allem drum und dran. Unter dem Verandadach, wenn ich den Schnee abgetreten und abgebürstet hatte, muß es um mich vor Heldenmut nur so geklingelt haben, während ich meine Stiefel auszog und die Kälte meinen Kopf wie eine Wolke umgab.
Ich merkte nicht, daß meine geschäftige Tüchtigkeit Mutter verletzte, ich merkte nicht, daß das feine Gleichgewicht zwischen ihr und mir in eine Schieflage geriet. Sie hatte ihren Stolz, und ich hatte meinen, und sie sollten gleich viel wiegen. Daß dies eine ernste Sache war, begriff ich erst an dem Tag, als ich meinen Weihnachtslohn bekam.
Ich hatte bisher jeden Monat vierzig Kronen zu Hause abgegeben, manchmal waren es fünfzig, obwohl Mutter sich dagegen wehrte. Von dem Rest, das heißt ungefähr genausoviel, ging das meiste für den Fernkursus von Hermods drauf, den ich zu günstigen Bedingungen abbezahlte. Das übrige Geld konnte ich für Kleider und ähnliches ausgeben, doch in diesem Herbst hatte ich den Überschuß meistens in die Schachtel mit den gelben Rosen auf dem Deckel gelegt. Für künftigen Bedarf. Als ich nun meinen Lohnzettel für Dezember erhielt und ein wenig mehr als üblich quittierte, weil es der Weihnachtsmonat war, genauer gesagt hundertzwanzig Kronen, übermannte mich die Großmut. Ich konnte mich kaum beherrschen, bis ich die Küche betreten und das Portemonnaie aus dem Rucksack gezogen hatte. Achtzig Kronen legte ich auf den Tisch und sagte: "Bitte sehr, Mama! Jetzt nimm das. Dann kannst du Weihnachtseinkäufe machen. Die Kursbriefe können warten, die sind nicht so dringend."
Wie kann man es so gut meinen und sich so dumm anstellen? Ich weiß, daß ich einen Fehler gemacht habe, ich wußte es, sobald mir die Worte rausgerutscht waren. Dann kannst du Weihnachtseinkäufe machen! Ich hätte es vorsichtiger angehen sollen. Vor allem hätte mein tüchtiges Ich genug Verstand haben müssen, meinen überbordenden Stolz zu bremsen, der mit Märtyrertum gepaart war, was aber wirklich nicht angemessen war. Mutter zuckte zurück und bekam rote Flecken am Hals.
"Kommt nicht in Frage, Nancy! Gib mir vierzig, wie abgemacht, keine Öre mehr! Und von Aufhören mit der Lernerei will ich keinen Ton mehr hören! Was glaubst du, was Vater sagen würde? Nein, es ist nicht der Sinn der Sache, daß du mich versorgst! So weit ist es noch nicht gekommen, daß ich mich von meinen Kindern durchfüttern lassen muß. Ich werde schon selbst eine Lösung finden..."
Dann drehte sie sich um und hielt sich am Herdsockel fest, ich weiß nicht, ob sie weinte, das glaube ich nicht, jedenfalls war nichts zu hören. Es war lähmend still. Vorsichtig nahm ich drei Zehner vom Tisch, steckte sie ins Portemonnaie und verschloß leise den Druckknopf. Fünfzig Kronen ließ ich liegen, es war schließlich Weihnachten! Ich schämte mich fürchterlich. Ich hatte ihren Stolz mit Füßen getreten, und das war unverzeihlich. Mutter war verletzbar, wenn es um Geld ging, das hatte ich nun verstanden. Seit Vaters Tod hatten Sorge und Ratlosigkeit wegen der Versorgung ihr Tag und Nacht den Kopf zermartert. Doch über Geldsorgen konnte man nicht sprechen, genausowenig wie über Trauer, Schuld und Sehnsucht. Nur über den Schnee, den vermaledeiten, dieses Elend mit dem Schnee, darüber durfte man fluchen, soviel man wollte. In einem Moment wie diesem wäre Väterchen ZehenPelle mit einem Affenzahn zur Tür gehastet, hätte seine Mütze vom Haken gerissen, wäre hinausgehumpelt und hätte mit höllischem Elan geschippt und gefegt, doch diesen Fluchtweg scheute ich, sie hätte sonst auch dies als Hinweis deuten können, daß sie nicht einmal dazu taugte, den Schnee beiseite zu schaffen.
Das Geld blieb jedenfalls liegen, bis die Kartoffeln gekocht waren und es Zeit war, den Tisch zu decken. Da hörte ich hinter meinem Rücken, wie die Schublade des Küchenbüfetts aufgezogen wurde, in der Vaters alte Brieftasche lag, sie wurde aufgezogen und wieder zugeschoben. Als ich vorsichtig über die Schulter linste, war der Fünfziger fort. Über die Sache wurde kein Wort mehr verloren, auch nicht über den Extrazehner. Unter Schweigen aßen wir Grützwurst und Kartoffeln, ich glaube, wir schämten uns und waren beide gleich unglücklich.
"Verzeih" war ein Ausdruck, der bei uns nicht gebraucht wurde. Es war eins von diesen gefühlsgeladenen Worten, mit denen man nicht einfach so um sich warf, sie gehörten in die Kirche und ins Bethaus und möglicherweise an ein Totenbett, sie waren mit Ernst verknüpft, und so etwas in den Mund zu nehmen barg ein gewisses Risiko. Zum Glück hatten wir, die wir vor Gefühlsausbrüchen solche Angst hatten, andere Möglichkeiten, hatten unsere verschlungenen Umwege. Während wir abwuschen und die Krümel unterm Küchentisch auffegten, sagte Mutter: "Es ist alles nicht so einfach, Nancy, glaub das ja nicht. Man fühlt sich so nutzlos, das mußt du verstehen. Ich weiß, wie gut du es meinst, und du bist so tüchtig, niemand sonst ist so tüchtig - und so lieb. Aber ich muß eine Lösung finden. Und selbst zurechtkommen. So ist das eben."
Wir berührten uns nicht, umarmten uns nicht. Auch ich sagte nicht viel, der Hochmut in mir hatte einen Dämpfer bekommen, und ich hatte eine Lektion erhalten, nun war ich vorsichtig. Nickte bloß, natürlich verstünde ich, und murmelte: "Alles wird gut, Mama ..." Dann tranken wir Kaffee und teilten uns ein Milchbrötchen, gebraten und mit Zucker und Zimt bestreut. Das war eine gute alte Methode, trostreich und bewährt.
Unsere finanzielle Situation gestaltete sich folgendermaßen: Vater war in seinem Todesjahr dreiundsechzig geworden, ihm fehlten vier Jahre bis zur Pensionierung. Obwohl er die "Rechte des Arbeiters" immer hochgehalten hatte, war er kein Gewerkschaftsmitglied gewesen. Ob das auf Trägheit beruhte, auf Geldmangel oder den Prinzipien seines Arbeitgebers, des Sägewerkdirektors, weiß ich nicht. Aber es kam keine einzige Öre für die Beerdigung aus dieser Richtung, obwohl wir sie gut hätten gebrauchen können. Vater besaß kein Konto, hatte nie eines besessen, in der Küchenschublade lagen ein paar Hunderter und ein Fünfziger, das war das vorhandene Vermögen, abgesehen von dem ausstehenden Lohn. Ein Wochenlohn, mehr nicht. Nach dem Preiselbeerverkauf und den Aushilfsarbeiten im Herbst hatte Mutter zum Glück ein wenig Geld in die Kakaodose mit den Holländern und den Dschunken drauf gesteckt. Aber damit kam sie nicht weit, obwohl es ein einfaches Begräbnis war; wir hatten keine Familiengrabstelle gekauft, sondern ließen Vater auf dem allgemeinen Gelände bestatten.
Anschließend luden wir zum Kaffee ein, es gab eine Torte, verziert mit einem braunen Schokoladenkreuz. Die Nachbarn kamen. BiegenArvid, Vaters ewiger Widersacher, war mit der Liste herumgegangen, das war so üblich unter kleinen Leuten und bedeutete kein Almosen, für das man sich hätte schämen müssen. Als das bißchen Geld überreicht wurde, sprach Onkel Ågren einige Gedenkworte. Und von der Säge kamen Blumen. Das war alles.
Die Leute waren nett zu uns. Nicht einmal Mutter, die niemandem über den Weg traute, konnte etwas anderes behaupten. Abgesehen von dem Geld auf der Liste, das uns sozusagen zustand, wurde uns von November bis Weihnachten mehrfach Wohlwollen erwiesen. Es begann ja nun ohnehin die freundliche Zeit, so gesehen hatten wir Glück. Sogar bei Kaufmann C.G. Persson brach die Mildtätigkeit aus, er schenkte uns Sago und Reis und eine große Dose Anschovis, um die ein Papierstreifen mit tanzenden Weihnachtswichteln gewickelt war - die Dekoration, die aus den Anschovis Weihnachtsanschovis machte. Von einigen anderen Leuten bekamen wir Würste, eine Tüte Nachmehl, ein schönes Stück Speck und ein paar andere Leckereien.
Mutter war nicht uneingeschränkt dankbar. Wohltätigkeit verabscheute sie wie die Pest. "Klar doch, natürlich sind die nett. Sicher - es ist gut gemeint. Aber die brauchen nicht herkommen und uns was zu essen bringen, wir verhungern schon nicht. So weit ist es noch nicht gekommen."
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Autoren-Porträt von Elsie Johansson
Elsie Johansson, geboren 1931 in Vendel bei Uppsala, wuchs in einer Arbeiterfamilie auf. Sie war lange als Postbeamtin tätig, bevor sie den Traum ihres Lebens wahrmachte und Schriftstellerin wurde.
Bibliographische Angaben
- Autor: Elsie Johansson
- 2006, 298 Seiten, Maße: 13,5 x 21 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzer: Katrin Frey
- Verlag: Piper Taschenbuch
- ISBN-10: 3492047769
- ISBN-13: 9783492047760
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