Das Liebesmenü
Roman
Lillian, eine erfolgreiche Restaurant-Besitzerin, weiß ganz genau um die aufheiternde und bezirzende Wirkung bestimmer Gerichte. Um dieses Wissen weiterzugeben, gibt sie jeden zweiten Montag einen Koch-Kurs. Dabei zeigt sie ihren Lehrlingen das perfekte...
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Buch
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Das Liebesmenü “
Lillian, eine erfolgreiche Restaurant-Besitzerin, weiß ganz genau um die aufheiternde und bezirzende Wirkung bestimmer Gerichte. Um dieses Wissen weiterzugeben, gibt sie jeden zweiten Montag einen Koch-Kurs. Dabei zeigt sie ihren Lehrlingen das perfekte Rezept für ein exquisites Gericht - aber auch für ein glückliches Leben. Neben Rühren, Schneiden und Hacken werden Ehekrisen gemeistert, Freundschaften geschlossen und Tragödien verhindert. Und am Ende bahnt sich das Glück für alle seinen Weg...
Eine sinnliche Hymne auf das Leben!
Eine sinnliche Hymne auf das Leben!
Klappentext zu „Das Liebesmenü “
Wenn Kochen die Liebensgeister wecktMan nehme - einen Schuss Liebe, einen Spritzer Lebenswürze und neun Menschen, die durch das Kochen verzaubert werden! Am liebsten mochte Lillian den Augenblick, bevor sie das Licht einschaltete. Sie stand im Türrahmen der Restaurantküche und ließ sich von den Düften umhüllen hefiger Sauerteig und süßlich-erdiger Kaffee, reife Tomaten, Cantaloupe-Melonen und frisch gewaschene Salatblätter. Lillian ist Besitzerin eines Nobelrestaurants. Sie stammt aus ärmlichen Verhältnissen, aber dank ihrer Kochkünste hat sie es bis ganz nach oben geschafft. Besonders am Herzen liegt ihr die Weitergabe ihres kulinarischen Wissens. Jeden zweiten Montag im Monat treffen sich die Teilnehmer ihres Kochkurses: Da ist etwa Claire, die ganz in ihrer Rolle als Hausfrau und Mutter aufgeht und endlich wieder etwas für sich selbst tun möchte; Tom, der über den Tod seiner geliebten Frau Charlie hinwegzukommen versucht; oder die hübsche Antonia, die aus Italien eingewandert ist und sich immer noch fremd fühlt. Jeder der acht Koch-Lehrlinge sucht nach dem perfekten Rezept für ein exquisites Gericht oder, wie bald klar wird, auch für ein glückliches Leben. Während des Kurses wird gekocht, gegrillt und gebacken und es werden Ehekrisen gemeistert, zarte Bande gesponnen, Tragödien verhindert und Freundschaften geschlossen. Und am Ende findet nicht nur Antonia ihr Glück.
'Ein hinreißend geschriebener Roman über das Leben, die Liebe und den Zauber der Kochkunst' -- www.powells.com
Lese-Probe zu „Das Liebesmenü “
PROLOG Am liebsten mochte Lillian den Augenblick, bevor sie die Lichter einschaltete. Sie stand im Türrahmen der Restaurantküche, hinter ihr die regenfeuchte Luft, und ließ sich von den Düften umhüllen - hefiger Sauerteig, süßlich-erdiger Kaffee und Knoblauch. Darunter lag, subtiler, flüchtiger, der Geruch von frischem Fleisch, rohen Tomaten, Cantaloupe-Melonen und frisch gewaschenen Salatblättern. Lillian atmete tief ein, spürte, wie die Düfte sie umgaben, sie durchströmten, selbst als ihre Nase den typischen Geruch einer verfaulenden Orange herausfilterte oder nach einem Anzeichen suchte, ob ihre neue Assistentin die Curry-Gerichte immer noch zu stark würzte. Sie tat es. Das Mädchen war die Tochter eines Freundes und verstand sich zwar auf den Umgang mit Messern, aber an manchen Tagen war es, als versuche man einem Gewitter beizubringen, sanften Regen zu spenden, dachte Lillian seufzend.Aber heute war Montag. Keine Assistenten, keine Gäste auf der Suche nach Trost oder einer Gelegenheit zum Feiern. Heute war Montag. Kochkursabend.
Nach sieben Jahren Erfahrung wusste Lillian, wie die Schüler am ersten Abend des neuen Kurses auftauchen würden - allein oder in spontan vor der Restauranttür gebildeten Zweier- oder Dreiergrüppchen, in leise, nervöse Unterhaltungen mit Wildfremden vertieft, mit deren Speisen sie schon bald in Berührung kommen würden. Wenn sie die Küche erst betreten hatten, blieben manche von ihnen dicht beisammen, um erste Bekanntschaften zu machen, während andere durch die Küche streiften, mit den Fingern über Messingtöpfe fuhren oder eine schimmernde Paprikaschote in die Hand nahmen, wie kleine, magisch vom Christbaumschmuck angezogene Kinder - unsicher, ob sie ihn anfassen durften, aber nicht fähig, die Finger davon zu lassen.
Lillian liebte es, ihre Schüler in diesen Momenten zu beobachten. Sie waren wie Elemente, die immer komplexer und faszinierender wurden, sobald sie sich miteinander vermischten, doch zu Beginn, solange sie sich noch
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gegen die fremde Umgebung abhoben, war ihr innerster Kern klar und deutlich erkennbar. Da war der junge Mann, der die Hand ausstreckte, um die Schulter der stillen jungen Frau neben ihm zu berühren - ?"Wie heißen Sie eigentlich??" -, während ihre Finger über die glatte Oberfläche der stählernen Arbeitsplatte strichen. Dann eine andere Frau, die allein dastand, mit den Gedanken noch bei ^ einem Kind? Einem Geliebten? Von Zeit zu Zeit kamen auch Paare, verbunden durch ihre Liebe füreinander oder ihre zerrüttete Beziehung.
Lillians Schüler kamen aus den verschiedensten Beweggründen. Manche wurden von der Sehnsucht angetrieben, eines Tages leise Komplimente über ihre kulinarischen Künste zu hören, andere, um einen Koch zu finden, statt selbst einer zu werden. Einige wenige Teilnehmer hatten keinerlei Lust, unterrichtet zu werden, sondern kamen mit Geschenkgutscheinen in den Händen an, als hätte man sie auf einen Zwangsmarsch ins sichere Versagen geschickt. Sie wussten von vornherein, dass ihre Kuchen nicht aufgehen und in ihren Sahnesaucen widerliche Mehlklümpchen schwimmen würden, so wie Rechnungen im Briefkasten, wo man doch auf einen Liebesbrief gehofft hatte.
Und dann gab es jene Schüler, die scheinbar keine andere Wahl hatten; die sich von einer Küche ebenso wenig fernhalten konnten wie ein Kleptomane die Finger von den Taschen anderer Leute. Sie kamen früh, blieben lange und schwelgten mit einer Mischung aus Schuldbewusstsein und Lust in Fantasien darüber, ihren Job in einem Konzern an den Nagel zu hängen und Koch zu werden, wie jemand, der sämtliche Vorspeisen des Menüs sausen lässt und sich gleich aufs Dessert stürzt. Würde Lillian sich instinktiv zu jener letzten Gruppe hingezogen fühlen, wäre dies nur allzu nachvollziehbar, doch in Wahrheit fand sie sie allesamt faszinierend. Eines konnte sie mit Gewissheit sagen: Was auch immer die Teilnehmer hergeführt hatte, es würde einen Moment im Kurs geben, wenn sich ihre Augen vor Freude, Entsetzen oder Entschlossenheit weiteten - das passierte immer. Der Zeitpunkt und der Grund waren bei jedem anders, doch genau das machte es ja so faszinierend. Es war wie bei den Gewürzen, jedes hatte seine individuelle Note, jedes erzielte seine ganz eigene Wirkung.
Die Küche war vorbereitet. Die langen Arbeitsplatten aus rostfreiem Stahl erstreckten sich vor ihr, kühl und endlos in der Dunkelheit. Ohne hinzusehen, wusste Lillian, dass Robert die Bestellung des Gemüsehändlers bekommen hatte, der nur montags lieferte. Caroline hatte über den mageren, frechen Daniel gewacht, bis die Böden geschrubbt und die dicken Gummimatten vor dem Haus mit dem Schlauch abgespritzt waren, so dass sie schwarz glänzten. Hinter den Schwingtüren am anderen Ende der Küche wartete der Speiseraum, ein regloses Heer aus Tischen unter den gestärkten weißen Leinentischdecken und zu haarscharfen Dreiecken gefalteten Servietten. Aber heute Abend würde niemand darin Platz nehmen. Alles, was zählte, war die Küche.
Lillian bog die Finger durch. Ein Mal, ein zweites Mal. Dann knipste sie das Licht an.
LILLIAN Lillian war vier Jahre alt gewesen, als ihr Vater sie verlassen hatte und ihre völlig erschütterte Mutter in die Welt der Bücher eingetaucht war wie ein Otter ins Wasser. Lillian hatte beobachtet, wie sie abwechselnd an der Oberfläche erschienen und wieder abgetaucht war. Trotz ihres Alters hatte sie instinktiv die unpersönliche, lediglich als Mittel zum Überleben getroffene Wahl begriffen und sich mit dem Platz im Leben abgefunden, den sie fortan innehaben würde - als Beobachterin am Ufer des Ozeans ihrer Mutter.
In diesem neuen Leben wurde das Gesicht ihrer Mutter zu einer Aneinanderreihung von Buchumschlägen, die jenen Raum einnahmen, der sonst Augen, Nase und Mund vorbehalten war. Schon bald stellte Lillian fest, dass Buchumschläge Stimmungen ebenso gut widerspiegeln konnten wie ein Gesichtsausdruck, denn ihre Mutter tauchte so tief in die Bücher ein, die sie las, dass die Protagonisten sie umgaben wie ein wahllos aufgelegtes Parfum. Lillian konnte nie im Voraus sagen, wer sie am Frühstückstisch begrüßen würde, auch wenn Morgenrock, Haar und Füße stets dieselben blieben. Es war, als hätte sie eine Zauberin als Mutter, obwohl Lillian vermutete, dass die Zauberer, die sie bei Geburtstagspartys erlebte, nach ihrem Auftritt nach Hause gingen und sich in stämmige Männer mit drei Kindern und einem Garten, dessen Rasen dringend gemäht werden musste, zurückverwandelten. Lillians Mutter dagegen las das eine Buch zu Ende und wandte sich sofort dem nächsten zu.
Die Verschmelzung ihrer Mutter mit den Büchern ging nicht gänzlich geräuschlos vonstatten. Lange bevor ihr Vater sie verlassen hatte und Lillian wusste, dass Worte eine Bedeutung jenseits des Rhythmus ihrer Flexion besaßen, hatte ihre Mutter ihr laut vorgelesen. Nicht aus den kartonierten Bilderbüchern mit den kindlichen Illustrationen und den einsilbigen Reimen. Diese übersprang ihre Mutter wie ein Manager mit wenig Zeit und großem Anspruch ans Produkt.
?"Man braucht keine Kartoffeln zu essen, Lily?", sagte sie immer, ?"wenn ein Viergänge-Menü schon bereitsteht.?" Und dann begann sie zu lesen.
Für Lillians Mutter war jeder Teil eines Buches reine Magie; was sie jedoch am meisten in Entzücken versetzte, waren die Worte selbst. Sie sammelte herausragende Sätze und komplizierte Reime, Umschreibungen, die über eine Seite glitten wie Kuchenteig in eine Springform - laut rezitiert, damit die Worte im Raum hingen, so dass sie sie nicht nur hören, sondern auch sehen konnte.
?"Oh, Lily?", pflegte sie zu sagen, ?"hör dir das hier an. Es klingt nach grün, findest du nicht auch??"
Und Lillian, die noch zu klein war, um zu begreifen, dass Worte keine Farben und Gedanken keine Laute darstellten, lauschte, während die Silben sanft durch sie hindurchflossen. So fühlt sich also grün an, dachte sie dann.
Doch nachdem ihr Vater fort war, veränderte sich alles, und Lillian sah sich mehr und mehr als stumme, gehorsame Helferin bei der Sammlung außergewöhnlicher Sätze oder, wenn sie sich zufällig in der ?-ffentlichkeit aufhielten, als gesellschaftlicher Deckmantel ihrer Mutter. Die Leute lächelten beim Anblick einer Mutter, die die literarische Fantasie ihrer Tochter tatkräftig unterstützte, doch Lillian wusste es besser. Für sie war ihre Mutter ein Museum für Worte. Sie war eine Art Anbau - der immer dann gebraucht wurde, wenn der Platz im ursprünglichen Gebäude knapp wurde.
Es war nicht weiter überraschend, dass Lillian sich gegen ihre Mutter auflehnte, als sie lesen lernte. Es war nicht nur ein Akt des Trotzes, auch wenn sie zu der Zeit, als sie in den Kindergarten kam, insgeheim Aggressionen gegen Bücher hegte, die sowohl Verwirrung als auch ein Gefühl der Macht in ihr auslösten. Nein, das allein war es nicht - in Lillians Welt waren Bücher nur Umschläge und Worte Laute und Bewegungen anstelle von Gebilden. Sie war nicht imstande, die sprachlichen Rhythmen, die sich in ihrer Fantasie eingenistet hatten, mit dem in Einklang zu bringen, was vor ihr auf dem Blatt stand. Die Buchstaben lagen auf dem Papier verstreut wie vertrocknete, schwarze, mit unnachgiebiger Präzision arrangierte Ameisenleichen. Die Seite selbst besaß keinerlei Magie, und während dies zwar Lillians Wertschätzung der Fähigkeiten ihrer Mutter wachsen ließ, trug es nicht dazu bei, ihr Interesse für Bücher zu schüren.
Während Lillians ersten Kämpfen mit dem gedruckten Wort entdeckte sie das Kochen für sich. Seit der Zeit, als ihr Vater die Familie verlassen hatte, war die Hausarbeit zu einem Reiseziel geworden, das ihre Mutter nur sehr selten ansteuerte, die Wäsche ein Freund, den sie nur allzu oft anzurufen vergaß. Lillian eignete sich die Fähigkeiten an, indem sie den Müttern ihrer Freundinnen auf Schritt und Tritt durchs Haus folgte. Die Mütter gaben vor, es nicht zu bemerken, und machten Andeutungen über das Bleichen der Wäsche und den Austausch des Staubsaugerbeutels, als wären es lediglich weitere Spiele, für die sich die Kinder begeisterten. Lillian lernte immer mehr dazu, und schon bald stellte sich in ihrem eigenen Zuhause - zumindest bis zur Höhe von rund einem Meter vierzig - eine gewisse häusliche Ordnung ein.
Am faszinierendsten fand Lillian es jedoch, wenn in den Heimen ihrer Freundinnen gekocht wurde - die Aromen, die ihr in die Nase stiegen, wenn sie sich abends auf den Heimweg machen musste. Manche Gerüche waren scharf und kantig wie das Geräusch klappernder Absätze auf einem Dielenboden. Andere fühlten sich wie ein warmer Abend im Spätsommer an. Lillian beobachtete, wie der Duft von schmelzendem Käse die Kinder aus ihren Zimmern lockte, wie Knoblauch sie gesprächig machte, sie zu Scherzen anregte, aus denen sich Geschichten über ihren Tag entspannen. Sie fand es seltsam, dass die Mütter all das offenbar nicht bemerkten - Sarahs Mutter kochte beispielsweise immer Curry, wenn sie sich mit ihrer halbwüchsigen Tochter stritt, und dessen Geruch zog sich wie eine blanke Provokation durchs Haus. Doch schon bald wurde ihr bewusst, dass viele Menschen die Sprache der Gerüche nicht verstanden, wohingegen sie für Lillian so unübersehbar wie ein Werbeplakat war.
Vielleicht, dachte Lillian, waren Gerüche für sie das, was Worte für andere waren - etwas Lebendiges, das stetig wuchs und sich veränderte. Nicht nur der Duft von Rosmarin im Garten, sondern auch der Geruch an ihren Händen, nachdem sie ein paar Zweige für Elizabeths Mutter gepflückt hatte. Das Aroma, das sich mit dem schweren Geruch von Brathähnchenfett und Knoblauch im Ofen mischte, der noch tags darauf in den Sofakissen hing. Auf diese Weise war Elizabeth für sie fortan mit dem Duft nach Rosmarin verbunden, mit der Erinnerung, wie sich ihr rundes Gesicht zu einem Lachen verzogen hatte, als Lillian sie mit dem dürren, spitzen Zweig angestupst hatte.
Lillian dachte gern über Gerüche nach, genoss es, das Gewicht der schweren Pfanne von Marys Mutter in der Hand zu spüren, oder mochte die Art und Weise, wie sich das Aroma von Vanille mit dem Geruch warmer Milch vermischte. Sie dachte oft daran, wie Margarets Mutter erlaubt hatte, ihr bei der Zubereitung einer weißen Sauce zu helfen. Sie ließ die Erinnerung daran in ihrem Kopf ablaufen, Bild für Bild, Stück für Stück, so wie manche Kinder die einzelnen Momente ihrer Lieblingsgeburtstagsparty wieder aufleben ließen. Margaret hatte geschmollt, weil sie, wie sie steif und fest behauptete, niemals in der Küche helfen durfte, doch Lillian hatte jeden Anflug von Loyalität beiseitegeschoben und war auf den Stuhl geklettert. Von dort aus hatte sie zugesehen, wie die Butter in der Pfanne schmolz und darin herumfloss wie die vordersten Zungen einer Welle, die im Sand versickerte, dann das Mehl, anfangs eine hässliche klumpige Masse, bis es vollständig eingerührt war. Sie erinnerte sich, wie Margarets Mutter die Hand auf ihre Finger um den Holzlöffel legte, als sie die Klumpen zerstampfen wollte, und stattdessen in langsamen Bewegungen rührte, kreisend, behutsam, bis die Mehl-Butter-Masse glatt wurde, vollständig glatt, ehe sich der Anblick erneut veränderte, als die Milch hinzukam und die Sauce immer dünnflüssiger machte. Bei jedem weiteren Schuss dachte Lillian, die Sauce könne nicht mehr Flüssigkeit aufnehmen, sondern würde sich in einen flüssigen und einen festen Teil aufspalten, doch es passierte nichts dergleichen. Während der letzten Minute stellte Margarets Mutter die Tasse mit der Milch beiseite, und Lillian betrachtete die Sauce, ein unberührtes Schneefeld mit einem Duft, der sich so still wie das Ende einer schlimmen Krankheit anfühlte, wenn die Welt einen wieder in seiner Mitte willkommen hieß.
Mit acht Jahren übernahm Lillian das Kochen in ihrem Zuhause. Ihre Mutter erhob keine Einwände. Essen war keineswegs mit dem Weggang ihres Vaters aus ihrem Dasein verschwunden, doch weil man während des Kochens nicht lesen konnte, stellte es ein Problem für sie dar. Außerdem neigte sie dazu, die Gewürze zu verwechseln, wenn ein Buch ungewöhnlich spannend war. Die Schmackhaftigkeit der Gerichte ließ sehr zu wünschen übrig, auch wenn sich die eine oder andere faszinierende Kreation daraus ergab. Insofern war die Übertragung der Küchenpflichten von Mutter auf Tochter für beide Seiten mit einem gewissen Maß an Erleichterung verbunden.
Die Übergabe der kulinarischen Fackel läutete die Jahre des Experimentierens ein, die sich wegen Lillians eiserner Weigerung, auf das geschriebene Wort, selbst in Form eines Kochbuchs, zurückzugreifen, sowohl in die Länge zogen als auch ungewöhnliche Blüten trieben. Anhand dieser pädagogischen Vorgehensweise die Kniffe der Zubereitung von Rührei zu erlernen konnte durchaus eine volle Woche dauern - am ersten Abend gab es bloß vorsichtig mit der Gabel verquirlte Eier, am nächsten mit Milch vermengte Eier, dann folgten mit Wasser und schließlich mit Sahne vermengte Eier. Falls ihre Mutter Einwände hatte, so äußerte sie diese nicht, sondern begleitete Lillian auf ihrer Suche nach den Zutaten, indem sie laut aus ihrem jeweils aktuellen Buch vorlas. Außerdem, dachte Lillian, waren Rühreier an fünf aufeinanderfolgenden Abenden ein gerechter Ausgleich für eine ansonsten von James Joyce dominierte Woche. Vielleicht sollte sie heute Abend ja Schnittlauch dazugeben. Ja, sagte ich, ja, das werde ich tun. Ja.
Während sich Lillians Fertigkeiten im Lauf der Jahre verbesserten, lernte sie andere, unerwartete kulinarische Lektionen. Sie stellte fest, dass aus einem Teig, der mit einem Nudelholz bearbeitet wurde, hartes Brot wurde, was sich in derselben Weise auf die Stimmung niederschlug. Sie fand heraus, dass warme und weiche Kekse ein anderes menschliches Bedürfnis befriedigten als knusprige und abgekühlte Exemplare. Je mehr sie kochte, umso mehr begann sie, Gewürze als Träger jener Gefühle und Erinnerungen an die Orte zu betrachten, von denen sie ursprünglich stammten, und an all jene, die sie im Lauf der Jahre bereist hatten. Sie stellte fest, dass die Leute in ähnlicher Weise auf Gewürze reagierten wie auf andere Menschen. Bei manchen entspannten sie sich, bei anderen hingegen verfielen sie förmlich in eine emotionale Totenstarre. Mit zwölf war Lillian zu der Überzeugung gelangt, dass ein wahrer Koch, jemand, der sowohl ins Innere der Menschen als auch ins Innere der Gewürze blicken konnte, die Reaktionen noch vor dem ersten Bissen vorherbestimmen und somit den Verlauf eines Essens oder gar eines ganzen Abends beeinflussen konnte. Diese Erkenntnis führte Lillian zu ihrer großartigen Idee.
?"Ich werde sie mit dem Kochen zurückholen?", verkündete Lillian eines Tages, als sie auf der Veranda vor Elizabeths Haus saßen.
?"Was??" Elizabeth, die acht Monate älter als Lillian war, hatte ihr Interesse am Kochen gegen eine wesentlich glühendere Leidenschaft für den Nachbarjungen eingetauscht, der in diesem Moment auf sein Skateboard sprang und in einem waghalsigen Manöver über eine Rampe vor Elizabeths Gartentürchen sauste.
?"Meine Mutter. Ich werde sie mit Kochen zurückholen.?"
?"Lily.?" Auf Elizabeths Miene zeichnete sich eine Mischung aus Mitgefühl und Hohn ab. ?"Wann gibst du es endlich auf??"
?"Sie ist nicht so tief in ihrer Welt versunken, wie du glaubst?", erklärte Lillian. Sie wollte gerade ihre Gedanken über Gewürze und Kekse darlegen, als ihr dämmerte, dass Elizabeth wohl kaum an die Macht des Kochens glauben und es sich noch weniger als potenzielle Methode vorstellen konnte, um Einfluss auf ihre Mutter zu nehmen.
Doch sie glaubte so fest an die Wirkung von Lebensmitteln und Speisen wie manche Menschen an Gott. Und deshalb tat sie, was viele Menschen taten, wenn sie sich an einem entscheidenden Punkt in ihrem Leben befanden. Als sie an diesem Abend in der Küche stand, inmitten der Töpfe und Pfannen, die sie im Lauf der Jahre zusammengesammelt hatte, schloss sie einen Handel mit sich selbst.
?"Wenn ich es schaffe, sie zurückzubringen?", sagte sie zu sich selbst, ?"werde ich für den Rest meines Lebens kochen. Wenn nicht, gebe ich es für immer auf.?" Dann legte sie die Hand auf den Boden der großen Bratpfanne und leistete einen Schwur. Und nur weil sie gerade einmal zwölf und noch nicht mit den traditionellen Religionen vertraut war, entging ihr, dass die meisten ein Opfer an eine höhere Macht als Austausch für das erhoffte Ziel beinhalteten und dass ihr Risiko aus diesem Grund wesentlich höher war, weil es bedeutete, dass sie alles gewinnen konnte. Oder alles verlieren.
Wie bei vielen derartigen Unternehmungen war auch dieses zu Beginn die reinste Katastrophe. Angestachelt von der Hoffnung, setzte Lillian ihrer Mutter Speisen vor, die ihr die Bücher geradewegs aus den Händen reißen sollten - Gerichte, die sie mit so raffinierten Gewürzen verfeinerte, dass sie sowohl den Magen als auch die Gefühlsebene ansprachen. Eine Woche lang duftete es in der Küche intensiv nach roten Chilischoten und Koriander. Lillians Mutter nahm ihre Mahlzeiten wie gewohnt zu sich, anschließend zog sie sich zurück und widmete sich einer Diät aus britischer Literatur des 19. Jahrhunderts, bei der Essen nur selten eine bedeutende Rolle spielte.
Also blies Lillian zum Rückzug, formierte ihre Truppen neu und kredenzte ihrer Mutter Dinge, die zu ihrem jeweils aktuellen Buch passten. Porridge, Tee und Scones, gedünstete Karotten und weißen Fisch. Doch nach drei Monaten verschwand Charles Dickens, nur um vom scheinbar festen Entschluss abgelöst zu werden, sich sämtliche Werke von Henry James zu Gemüte zu führen. Lillian war verzweifelt. Ihre Mutter mochte literarisch gesehen den Kontinent gewechselt haben, aber leider nur in einem sehr allgemeinen Sinne.
?"Sie hängt einfach in ihrer Welt fest?", sagte sie zu Elizabeth.
?"Lily, das funktioniert nie im Leben.?" Elizabeth stand vor dem Spiegel. ?"Koch ihr einfach ein paar Kartoffeln, und lass es gut sein.?"
?"Kartoffeln?", wiederholte Lillian.
Am unteren Treppenabsatz stand ein Zwanzig-Kilo- Sack Kartoffeln, den ihre Mutter während ihrer Oliver Twist-Phase bestellt hatte, einer Zeit, als sich die Mengen in solchen Dimensionen vor ihrer Haustür stapelten, dass sich die Nachbarn bei Lillian erkundigten, ob sie und ihre Mutter Besuch erwarteten oder sich auf einen Luftangriff vorbereiteten. Wäre Lillian noch kleiner gewesen, hätte sie vielleicht eine Burg daraus gebaut, doch dafür war sie viel zu beschäftigt. Sie nahm ihr Messer, zerschnitt die Juteschnüre des Sacks und zog vier ovale Kartoffeln heraus.
?"Also gut, meine Hübschen?", sagte sie.
Sie nahm sie mit nach oben, wusch den Schmutz von ihrer wachsigen Oberfläche und reinigte die Furchen und Einbuchtungen mit einer Bürste. Elizabeth beschwerte sich immer, wenn ihre Mutter sie bat, die Kartoffeln fürs Abendessen zu waschen, und fragte Lillian und jeden anderen, der sich zufällig in der Nähe aufhielt, wieso es eigentlich keine glatten Kartoffeln geben konnte. Lillian hingeben liebte die Kerben und Dellen, selbst wenn es deswegen doppelt so lange dauerte, sie sauber zu bekommen. Sie erinnerten sie an die Felder, auf denen sie angebaut wurden, wo jeder Hügel und jedes Erdloch ein Zuhause war, der Ort, an dem sich ein häuslicher Streit oder eine Romanze zwischen irgendwelchen kleinen Tieren abspielte.
Als die Kartoffeln sauber waren, nahm sie ihr Lieblingsmesser aus der Halterung, schnitt sie in Würfel und ließ eine nach der anderen in den großen blauen Topf mit Wasser fallen, der bereits auf dem Herd stand. Mit einem dumpfen, befriedigenden Laut schlugen die Kartoffelstücke auf dem Topfboden auf, trudelten einen Moment lang umher, bis sie ihre richtige Position gefunden hatten, ehe sie zum Stillstand kamen und sich kaum merklich bewegten, als das Wasser zu sieden begann.
Ihre Mutter betrat die Küche, die Gesammelten Werke von Henry James vorm Gesicht.
?"Abendessen oder ein Experiment??", fragte sie.
?"Wir werden sehen?", antwortete Lillian.
Draußen wurde es bereits dunkel. Die Autofahrer schalteten die Scheinwerfer an, als sich das letzte Licht des Tages gräulich-blau durch die Wolken schob. In der Küche brannten die Deckenlampen, deren Lichtschein sich in den Chromflächen spiegelte und in der hölzernen Arbeitsplatte und dem Fußboden versickerte. Lillians Mutter setzte sich auf den rot lackierten Stuhl neben dem Küchentisch und schlug ihr Buch auf.
Lillians Schüler kamen aus den verschiedensten Beweggründen. Manche wurden von der Sehnsucht angetrieben, eines Tages leise Komplimente über ihre kulinarischen Künste zu hören, andere, um einen Koch zu finden, statt selbst einer zu werden. Einige wenige Teilnehmer hatten keinerlei Lust, unterrichtet zu werden, sondern kamen mit Geschenkgutscheinen in den Händen an, als hätte man sie auf einen Zwangsmarsch ins sichere Versagen geschickt. Sie wussten von vornherein, dass ihre Kuchen nicht aufgehen und in ihren Sahnesaucen widerliche Mehlklümpchen schwimmen würden, so wie Rechnungen im Briefkasten, wo man doch auf einen Liebesbrief gehofft hatte.
Und dann gab es jene Schüler, die scheinbar keine andere Wahl hatten; die sich von einer Küche ebenso wenig fernhalten konnten wie ein Kleptomane die Finger von den Taschen anderer Leute. Sie kamen früh, blieben lange und schwelgten mit einer Mischung aus Schuldbewusstsein und Lust in Fantasien darüber, ihren Job in einem Konzern an den Nagel zu hängen und Koch zu werden, wie jemand, der sämtliche Vorspeisen des Menüs sausen lässt und sich gleich aufs Dessert stürzt. Würde Lillian sich instinktiv zu jener letzten Gruppe hingezogen fühlen, wäre dies nur allzu nachvollziehbar, doch in Wahrheit fand sie sie allesamt faszinierend. Eines konnte sie mit Gewissheit sagen: Was auch immer die Teilnehmer hergeführt hatte, es würde einen Moment im Kurs geben, wenn sich ihre Augen vor Freude, Entsetzen oder Entschlossenheit weiteten - das passierte immer. Der Zeitpunkt und der Grund waren bei jedem anders, doch genau das machte es ja so faszinierend. Es war wie bei den Gewürzen, jedes hatte seine individuelle Note, jedes erzielte seine ganz eigene Wirkung.
Die Küche war vorbereitet. Die langen Arbeitsplatten aus rostfreiem Stahl erstreckten sich vor ihr, kühl und endlos in der Dunkelheit. Ohne hinzusehen, wusste Lillian, dass Robert die Bestellung des Gemüsehändlers bekommen hatte, der nur montags lieferte. Caroline hatte über den mageren, frechen Daniel gewacht, bis die Böden geschrubbt und die dicken Gummimatten vor dem Haus mit dem Schlauch abgespritzt waren, so dass sie schwarz glänzten. Hinter den Schwingtüren am anderen Ende der Küche wartete der Speiseraum, ein regloses Heer aus Tischen unter den gestärkten weißen Leinentischdecken und zu haarscharfen Dreiecken gefalteten Servietten. Aber heute Abend würde niemand darin Platz nehmen. Alles, was zählte, war die Küche.
Lillian bog die Finger durch. Ein Mal, ein zweites Mal. Dann knipste sie das Licht an.
LILLIAN Lillian war vier Jahre alt gewesen, als ihr Vater sie verlassen hatte und ihre völlig erschütterte Mutter in die Welt der Bücher eingetaucht war wie ein Otter ins Wasser. Lillian hatte beobachtet, wie sie abwechselnd an der Oberfläche erschienen und wieder abgetaucht war. Trotz ihres Alters hatte sie instinktiv die unpersönliche, lediglich als Mittel zum Überleben getroffene Wahl begriffen und sich mit dem Platz im Leben abgefunden, den sie fortan innehaben würde - als Beobachterin am Ufer des Ozeans ihrer Mutter.
In diesem neuen Leben wurde das Gesicht ihrer Mutter zu einer Aneinanderreihung von Buchumschlägen, die jenen Raum einnahmen, der sonst Augen, Nase und Mund vorbehalten war. Schon bald stellte Lillian fest, dass Buchumschläge Stimmungen ebenso gut widerspiegeln konnten wie ein Gesichtsausdruck, denn ihre Mutter tauchte so tief in die Bücher ein, die sie las, dass die Protagonisten sie umgaben wie ein wahllos aufgelegtes Parfum. Lillian konnte nie im Voraus sagen, wer sie am Frühstückstisch begrüßen würde, auch wenn Morgenrock, Haar und Füße stets dieselben blieben. Es war, als hätte sie eine Zauberin als Mutter, obwohl Lillian vermutete, dass die Zauberer, die sie bei Geburtstagspartys erlebte, nach ihrem Auftritt nach Hause gingen und sich in stämmige Männer mit drei Kindern und einem Garten, dessen Rasen dringend gemäht werden musste, zurückverwandelten. Lillians Mutter dagegen las das eine Buch zu Ende und wandte sich sofort dem nächsten zu.
Die Verschmelzung ihrer Mutter mit den Büchern ging nicht gänzlich geräuschlos vonstatten. Lange bevor ihr Vater sie verlassen hatte und Lillian wusste, dass Worte eine Bedeutung jenseits des Rhythmus ihrer Flexion besaßen, hatte ihre Mutter ihr laut vorgelesen. Nicht aus den kartonierten Bilderbüchern mit den kindlichen Illustrationen und den einsilbigen Reimen. Diese übersprang ihre Mutter wie ein Manager mit wenig Zeit und großem Anspruch ans Produkt.
?"Man braucht keine Kartoffeln zu essen, Lily?", sagte sie immer, ?"wenn ein Viergänge-Menü schon bereitsteht.?" Und dann begann sie zu lesen.
Für Lillians Mutter war jeder Teil eines Buches reine Magie; was sie jedoch am meisten in Entzücken versetzte, waren die Worte selbst. Sie sammelte herausragende Sätze und komplizierte Reime, Umschreibungen, die über eine Seite glitten wie Kuchenteig in eine Springform - laut rezitiert, damit die Worte im Raum hingen, so dass sie sie nicht nur hören, sondern auch sehen konnte.
?"Oh, Lily?", pflegte sie zu sagen, ?"hör dir das hier an. Es klingt nach grün, findest du nicht auch??"
Und Lillian, die noch zu klein war, um zu begreifen, dass Worte keine Farben und Gedanken keine Laute darstellten, lauschte, während die Silben sanft durch sie hindurchflossen. So fühlt sich also grün an, dachte sie dann.
Doch nachdem ihr Vater fort war, veränderte sich alles, und Lillian sah sich mehr und mehr als stumme, gehorsame Helferin bei der Sammlung außergewöhnlicher Sätze oder, wenn sie sich zufällig in der ?-ffentlichkeit aufhielten, als gesellschaftlicher Deckmantel ihrer Mutter. Die Leute lächelten beim Anblick einer Mutter, die die literarische Fantasie ihrer Tochter tatkräftig unterstützte, doch Lillian wusste es besser. Für sie war ihre Mutter ein Museum für Worte. Sie war eine Art Anbau - der immer dann gebraucht wurde, wenn der Platz im ursprünglichen Gebäude knapp wurde.
Es war nicht weiter überraschend, dass Lillian sich gegen ihre Mutter auflehnte, als sie lesen lernte. Es war nicht nur ein Akt des Trotzes, auch wenn sie zu der Zeit, als sie in den Kindergarten kam, insgeheim Aggressionen gegen Bücher hegte, die sowohl Verwirrung als auch ein Gefühl der Macht in ihr auslösten. Nein, das allein war es nicht - in Lillians Welt waren Bücher nur Umschläge und Worte Laute und Bewegungen anstelle von Gebilden. Sie war nicht imstande, die sprachlichen Rhythmen, die sich in ihrer Fantasie eingenistet hatten, mit dem in Einklang zu bringen, was vor ihr auf dem Blatt stand. Die Buchstaben lagen auf dem Papier verstreut wie vertrocknete, schwarze, mit unnachgiebiger Präzision arrangierte Ameisenleichen. Die Seite selbst besaß keinerlei Magie, und während dies zwar Lillians Wertschätzung der Fähigkeiten ihrer Mutter wachsen ließ, trug es nicht dazu bei, ihr Interesse für Bücher zu schüren.
Während Lillians ersten Kämpfen mit dem gedruckten Wort entdeckte sie das Kochen für sich. Seit der Zeit, als ihr Vater die Familie verlassen hatte, war die Hausarbeit zu einem Reiseziel geworden, das ihre Mutter nur sehr selten ansteuerte, die Wäsche ein Freund, den sie nur allzu oft anzurufen vergaß. Lillian eignete sich die Fähigkeiten an, indem sie den Müttern ihrer Freundinnen auf Schritt und Tritt durchs Haus folgte. Die Mütter gaben vor, es nicht zu bemerken, und machten Andeutungen über das Bleichen der Wäsche und den Austausch des Staubsaugerbeutels, als wären es lediglich weitere Spiele, für die sich die Kinder begeisterten. Lillian lernte immer mehr dazu, und schon bald stellte sich in ihrem eigenen Zuhause - zumindest bis zur Höhe von rund einem Meter vierzig - eine gewisse häusliche Ordnung ein.
Am faszinierendsten fand Lillian es jedoch, wenn in den Heimen ihrer Freundinnen gekocht wurde - die Aromen, die ihr in die Nase stiegen, wenn sie sich abends auf den Heimweg machen musste. Manche Gerüche waren scharf und kantig wie das Geräusch klappernder Absätze auf einem Dielenboden. Andere fühlten sich wie ein warmer Abend im Spätsommer an. Lillian beobachtete, wie der Duft von schmelzendem Käse die Kinder aus ihren Zimmern lockte, wie Knoblauch sie gesprächig machte, sie zu Scherzen anregte, aus denen sich Geschichten über ihren Tag entspannen. Sie fand es seltsam, dass die Mütter all das offenbar nicht bemerkten - Sarahs Mutter kochte beispielsweise immer Curry, wenn sie sich mit ihrer halbwüchsigen Tochter stritt, und dessen Geruch zog sich wie eine blanke Provokation durchs Haus. Doch schon bald wurde ihr bewusst, dass viele Menschen die Sprache der Gerüche nicht verstanden, wohingegen sie für Lillian so unübersehbar wie ein Werbeplakat war.
Vielleicht, dachte Lillian, waren Gerüche für sie das, was Worte für andere waren - etwas Lebendiges, das stetig wuchs und sich veränderte. Nicht nur der Duft von Rosmarin im Garten, sondern auch der Geruch an ihren Händen, nachdem sie ein paar Zweige für Elizabeths Mutter gepflückt hatte. Das Aroma, das sich mit dem schweren Geruch von Brathähnchenfett und Knoblauch im Ofen mischte, der noch tags darauf in den Sofakissen hing. Auf diese Weise war Elizabeth für sie fortan mit dem Duft nach Rosmarin verbunden, mit der Erinnerung, wie sich ihr rundes Gesicht zu einem Lachen verzogen hatte, als Lillian sie mit dem dürren, spitzen Zweig angestupst hatte.
Lillian dachte gern über Gerüche nach, genoss es, das Gewicht der schweren Pfanne von Marys Mutter in der Hand zu spüren, oder mochte die Art und Weise, wie sich das Aroma von Vanille mit dem Geruch warmer Milch vermischte. Sie dachte oft daran, wie Margarets Mutter erlaubt hatte, ihr bei der Zubereitung einer weißen Sauce zu helfen. Sie ließ die Erinnerung daran in ihrem Kopf ablaufen, Bild für Bild, Stück für Stück, so wie manche Kinder die einzelnen Momente ihrer Lieblingsgeburtstagsparty wieder aufleben ließen. Margaret hatte geschmollt, weil sie, wie sie steif und fest behauptete, niemals in der Küche helfen durfte, doch Lillian hatte jeden Anflug von Loyalität beiseitegeschoben und war auf den Stuhl geklettert. Von dort aus hatte sie zugesehen, wie die Butter in der Pfanne schmolz und darin herumfloss wie die vordersten Zungen einer Welle, die im Sand versickerte, dann das Mehl, anfangs eine hässliche klumpige Masse, bis es vollständig eingerührt war. Sie erinnerte sich, wie Margarets Mutter die Hand auf ihre Finger um den Holzlöffel legte, als sie die Klumpen zerstampfen wollte, und stattdessen in langsamen Bewegungen rührte, kreisend, behutsam, bis die Mehl-Butter-Masse glatt wurde, vollständig glatt, ehe sich der Anblick erneut veränderte, als die Milch hinzukam und die Sauce immer dünnflüssiger machte. Bei jedem weiteren Schuss dachte Lillian, die Sauce könne nicht mehr Flüssigkeit aufnehmen, sondern würde sich in einen flüssigen und einen festen Teil aufspalten, doch es passierte nichts dergleichen. Während der letzten Minute stellte Margarets Mutter die Tasse mit der Milch beiseite, und Lillian betrachtete die Sauce, ein unberührtes Schneefeld mit einem Duft, der sich so still wie das Ende einer schlimmen Krankheit anfühlte, wenn die Welt einen wieder in seiner Mitte willkommen hieß.
Mit acht Jahren übernahm Lillian das Kochen in ihrem Zuhause. Ihre Mutter erhob keine Einwände. Essen war keineswegs mit dem Weggang ihres Vaters aus ihrem Dasein verschwunden, doch weil man während des Kochens nicht lesen konnte, stellte es ein Problem für sie dar. Außerdem neigte sie dazu, die Gewürze zu verwechseln, wenn ein Buch ungewöhnlich spannend war. Die Schmackhaftigkeit der Gerichte ließ sehr zu wünschen übrig, auch wenn sich die eine oder andere faszinierende Kreation daraus ergab. Insofern war die Übertragung der Küchenpflichten von Mutter auf Tochter für beide Seiten mit einem gewissen Maß an Erleichterung verbunden.
Die Übergabe der kulinarischen Fackel läutete die Jahre des Experimentierens ein, die sich wegen Lillians eiserner Weigerung, auf das geschriebene Wort, selbst in Form eines Kochbuchs, zurückzugreifen, sowohl in die Länge zogen als auch ungewöhnliche Blüten trieben. Anhand dieser pädagogischen Vorgehensweise die Kniffe der Zubereitung von Rührei zu erlernen konnte durchaus eine volle Woche dauern - am ersten Abend gab es bloß vorsichtig mit der Gabel verquirlte Eier, am nächsten mit Milch vermengte Eier, dann folgten mit Wasser und schließlich mit Sahne vermengte Eier. Falls ihre Mutter Einwände hatte, so äußerte sie diese nicht, sondern begleitete Lillian auf ihrer Suche nach den Zutaten, indem sie laut aus ihrem jeweils aktuellen Buch vorlas. Außerdem, dachte Lillian, waren Rühreier an fünf aufeinanderfolgenden Abenden ein gerechter Ausgleich für eine ansonsten von James Joyce dominierte Woche. Vielleicht sollte sie heute Abend ja Schnittlauch dazugeben. Ja, sagte ich, ja, das werde ich tun. Ja.
Während sich Lillians Fertigkeiten im Lauf der Jahre verbesserten, lernte sie andere, unerwartete kulinarische Lektionen. Sie stellte fest, dass aus einem Teig, der mit einem Nudelholz bearbeitet wurde, hartes Brot wurde, was sich in derselben Weise auf die Stimmung niederschlug. Sie fand heraus, dass warme und weiche Kekse ein anderes menschliches Bedürfnis befriedigten als knusprige und abgekühlte Exemplare. Je mehr sie kochte, umso mehr begann sie, Gewürze als Träger jener Gefühle und Erinnerungen an die Orte zu betrachten, von denen sie ursprünglich stammten, und an all jene, die sie im Lauf der Jahre bereist hatten. Sie stellte fest, dass die Leute in ähnlicher Weise auf Gewürze reagierten wie auf andere Menschen. Bei manchen entspannten sie sich, bei anderen hingegen verfielen sie förmlich in eine emotionale Totenstarre. Mit zwölf war Lillian zu der Überzeugung gelangt, dass ein wahrer Koch, jemand, der sowohl ins Innere der Menschen als auch ins Innere der Gewürze blicken konnte, die Reaktionen noch vor dem ersten Bissen vorherbestimmen und somit den Verlauf eines Essens oder gar eines ganzen Abends beeinflussen konnte. Diese Erkenntnis führte Lillian zu ihrer großartigen Idee.
?"Ich werde sie mit dem Kochen zurückholen?", verkündete Lillian eines Tages, als sie auf der Veranda vor Elizabeths Haus saßen.
?"Was??" Elizabeth, die acht Monate älter als Lillian war, hatte ihr Interesse am Kochen gegen eine wesentlich glühendere Leidenschaft für den Nachbarjungen eingetauscht, der in diesem Moment auf sein Skateboard sprang und in einem waghalsigen Manöver über eine Rampe vor Elizabeths Gartentürchen sauste.
?"Meine Mutter. Ich werde sie mit Kochen zurückholen.?"
?"Lily.?" Auf Elizabeths Miene zeichnete sich eine Mischung aus Mitgefühl und Hohn ab. ?"Wann gibst du es endlich auf??"
?"Sie ist nicht so tief in ihrer Welt versunken, wie du glaubst?", erklärte Lillian. Sie wollte gerade ihre Gedanken über Gewürze und Kekse darlegen, als ihr dämmerte, dass Elizabeth wohl kaum an die Macht des Kochens glauben und es sich noch weniger als potenzielle Methode vorstellen konnte, um Einfluss auf ihre Mutter zu nehmen.
Doch sie glaubte so fest an die Wirkung von Lebensmitteln und Speisen wie manche Menschen an Gott. Und deshalb tat sie, was viele Menschen taten, wenn sie sich an einem entscheidenden Punkt in ihrem Leben befanden. Als sie an diesem Abend in der Küche stand, inmitten der Töpfe und Pfannen, die sie im Lauf der Jahre zusammengesammelt hatte, schloss sie einen Handel mit sich selbst.
?"Wenn ich es schaffe, sie zurückzubringen?", sagte sie zu sich selbst, ?"werde ich für den Rest meines Lebens kochen. Wenn nicht, gebe ich es für immer auf.?" Dann legte sie die Hand auf den Boden der großen Bratpfanne und leistete einen Schwur. Und nur weil sie gerade einmal zwölf und noch nicht mit den traditionellen Religionen vertraut war, entging ihr, dass die meisten ein Opfer an eine höhere Macht als Austausch für das erhoffte Ziel beinhalteten und dass ihr Risiko aus diesem Grund wesentlich höher war, weil es bedeutete, dass sie alles gewinnen konnte. Oder alles verlieren.
Wie bei vielen derartigen Unternehmungen war auch dieses zu Beginn die reinste Katastrophe. Angestachelt von der Hoffnung, setzte Lillian ihrer Mutter Speisen vor, die ihr die Bücher geradewegs aus den Händen reißen sollten - Gerichte, die sie mit so raffinierten Gewürzen verfeinerte, dass sie sowohl den Magen als auch die Gefühlsebene ansprachen. Eine Woche lang duftete es in der Küche intensiv nach roten Chilischoten und Koriander. Lillians Mutter nahm ihre Mahlzeiten wie gewohnt zu sich, anschließend zog sie sich zurück und widmete sich einer Diät aus britischer Literatur des 19. Jahrhunderts, bei der Essen nur selten eine bedeutende Rolle spielte.
Also blies Lillian zum Rückzug, formierte ihre Truppen neu und kredenzte ihrer Mutter Dinge, die zu ihrem jeweils aktuellen Buch passten. Porridge, Tee und Scones, gedünstete Karotten und weißen Fisch. Doch nach drei Monaten verschwand Charles Dickens, nur um vom scheinbar festen Entschluss abgelöst zu werden, sich sämtliche Werke von Henry James zu Gemüte zu führen. Lillian war verzweifelt. Ihre Mutter mochte literarisch gesehen den Kontinent gewechselt haben, aber leider nur in einem sehr allgemeinen Sinne.
?"Sie hängt einfach in ihrer Welt fest?", sagte sie zu Elizabeth.
?"Lily, das funktioniert nie im Leben.?" Elizabeth stand vor dem Spiegel. ?"Koch ihr einfach ein paar Kartoffeln, und lass es gut sein.?"
?"Kartoffeln?", wiederholte Lillian.
Am unteren Treppenabsatz stand ein Zwanzig-Kilo- Sack Kartoffeln, den ihre Mutter während ihrer Oliver Twist-Phase bestellt hatte, einer Zeit, als sich die Mengen in solchen Dimensionen vor ihrer Haustür stapelten, dass sich die Nachbarn bei Lillian erkundigten, ob sie und ihre Mutter Besuch erwarteten oder sich auf einen Luftangriff vorbereiteten. Wäre Lillian noch kleiner gewesen, hätte sie vielleicht eine Burg daraus gebaut, doch dafür war sie viel zu beschäftigt. Sie nahm ihr Messer, zerschnitt die Juteschnüre des Sacks und zog vier ovale Kartoffeln heraus.
?"Also gut, meine Hübschen?", sagte sie.
Sie nahm sie mit nach oben, wusch den Schmutz von ihrer wachsigen Oberfläche und reinigte die Furchen und Einbuchtungen mit einer Bürste. Elizabeth beschwerte sich immer, wenn ihre Mutter sie bat, die Kartoffeln fürs Abendessen zu waschen, und fragte Lillian und jeden anderen, der sich zufällig in der Nähe aufhielt, wieso es eigentlich keine glatten Kartoffeln geben konnte. Lillian hingeben liebte die Kerben und Dellen, selbst wenn es deswegen doppelt so lange dauerte, sie sauber zu bekommen. Sie erinnerten sie an die Felder, auf denen sie angebaut wurden, wo jeder Hügel und jedes Erdloch ein Zuhause war, der Ort, an dem sich ein häuslicher Streit oder eine Romanze zwischen irgendwelchen kleinen Tieren abspielte.
Als die Kartoffeln sauber waren, nahm sie ihr Lieblingsmesser aus der Halterung, schnitt sie in Würfel und ließ eine nach der anderen in den großen blauen Topf mit Wasser fallen, der bereits auf dem Herd stand. Mit einem dumpfen, befriedigenden Laut schlugen die Kartoffelstücke auf dem Topfboden auf, trudelten einen Moment lang umher, bis sie ihre richtige Position gefunden hatten, ehe sie zum Stillstand kamen und sich kaum merklich bewegten, als das Wasser zu sieden begann.
Ihre Mutter betrat die Küche, die Gesammelten Werke von Henry James vorm Gesicht.
?"Abendessen oder ein Experiment??", fragte sie.
?"Wir werden sehen?", antwortete Lillian.
Draußen wurde es bereits dunkel. Die Autofahrer schalteten die Scheinwerfer an, als sich das letzte Licht des Tages gräulich-blau durch die Wolken schob. In der Küche brannten die Deckenlampen, deren Lichtschein sich in den Chromflächen spiegelte und in der hölzernen Arbeitsplatte und dem Fußboden versickerte. Lillians Mutter setzte sich auf den rot lackierten Stuhl neben dem Küchentisch und schlug ihr Buch auf.
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Autoren-Porträt von Erica Bauermeister
Erica Bauermeister wurde in Pasadena geboren. Sie studierte Literatur an der Universität von Washington, wo sie anschließend Kreatives Schreiben unterrichtete. Nach zwei Sachbüchern über Frauenliteratur beschloss sie, selbst Belletristik zu schreiben. Die Autorin lebt mit ihrem Mann und ihren Kindern in Seattle.
Bibliographische Angaben
- Autor: Erica Bauermeister
- 2009, 1, 282 Seiten, Maße: 14,5 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Aus d. Amerikan. v. Andrea Brandl
- Übersetzer: Andrea Brandl
- Verlag: Page & Turner
- ISBN-10: 3442203457
- ISBN-13: 9783442203451
Rezension zu „Das Liebesmenü “
"Ein hinreißend geschriebener Roman über das Leben, die Liebe und den Zauber der Kochkunst"
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