Das Lied des Falken
Zwei rätselhafte Todesfälle im Rhein stellen Alyss, die Tochter der Begine Almut, vor neue Herausforderungen.
Mit Entsetzen erkennt Alyss in der Frau Luitgard, die Amme ihres verstorbenen Sohnes Terricus, der vor vier Jahren...
Mit Entsetzen erkennt Alyss in der Frau Luitgard, die Amme ihres verstorbenen Sohnes Terricus, der vor vier Jahren...
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Produktinformationen zu „Das Lied des Falken “
Zwei rätselhafte Todesfälle im Rhein stellen Alyss, die Tochter der Begine Almut, vor neue Herausforderungen.
Mit Entsetzen erkennt Alyss in der Frau Luitgard, die Amme ihres verstorbenen Sohnes Terricus, der vor vier Jahren aufgrund der Nachlässigkeit eben dieser Amme im Rhein ertrunken ist. Es heißt, es sei ein Unfall gewesen. Als Alyss dann auch noch von Unbekannten in einem dunklen Hof bewusstlos geschlagen und entführt wird, erkennt sie, dass hier ein falsches Spiel mit ihr getrieben wird. Doch wer steckt hinter der Entführung - und vor allem warum? Unterdessen beginnen Alyss‘ Freunde eine fieberhafte Suche nach ihr und decken Ungeheuerliches auf.
Mit Entsetzen erkennt Alyss in der Frau Luitgard, die Amme ihres verstorbenen Sohnes Terricus, der vor vier Jahren aufgrund der Nachlässigkeit eben dieser Amme im Rhein ertrunken ist. Es heißt, es sei ein Unfall gewesen. Als Alyss dann auch noch von Unbekannten in einem dunklen Hof bewusstlos geschlagen und entführt wird, erkennt sie, dass hier ein falsches Spiel mit ihr getrieben wird. Doch wer steckt hinter der Entführung - und vor allem warum? Unterdessen beginnen Alyss‘ Freunde eine fieberhafte Suche nach ihr und decken Ungeheuerliches auf.
Klappentext zu „Das Lied des Falken “
Köln, im Frühjahr 1404: Der kalte, trockene Winter ist vorbei, das Hauswesen regt seine Glieder. Die friedliche Idylle wird jäh gestört, als man eine Wasserleiche findet. Alyss muss mit Entsetzen feststellen, dass es sich bei der Frau um Luitgard, die Amme ihres verstorbenen Sohnes Terricus, handelt. Aufgrund von Luitgards Nachlässigkeit ist Terricus vor vier Jahren im Rhein ertrunken. Es heißt, es sei ein Unfall gewesen. Kurze Zeit später wird Alyss von Unbekannten in einem dunklen Hof bewusstlos geschlagen. Als sie wieder zu sich kommt, befindet sie sich in einen Sack gehüllt auf einem Karren. Alyss Verschwinden bleibt nicht unbemerkt und so starten ihre Freunde eine fieberhafte Suche nach ihr. Ihre Ermittlungen führen die Freunde auf die Spur eines Mörders ...
Lese-Probe zu „Das Lied des Falken “
Das Lied des Falken von Andrea Schacht Vorwort
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Wein gab es zu Alyss' Zeiten und auch Bier, doch keine stärkeren Alkoholika. Der Branntwein - hochprozentiger, durch Destillation gewonnener Alkohol - wurde erst im 16. Jahrhundert gebräuchlich, auch wenn man durchaus schon den Weingeist herstellen konnte. Man verwendete ihn aber nicht als Genuss-, sondern als Heilmittel gegen allerlei Krankheiten. Bier war noch etwas entfernt von der heutigen Qualität, mit Hopfen wurde gerade erst experimentiert. Die Grut - die Würze - bestand aus allerlei Kräutern, vor allem aber den Blättern des Gagelstrauchs. Gelegentlich wurde das Bier auch mit Bilsen gebraut - und Bilsen gehören zu den psychoaktiven Pflanzen. Mit dem Erfolg, dass der Bierrausch recht heftig wurde. Der Wein wurde bis weit in den Norden angebaut und gekeltert, doch die stärksten Weine kamen aus dem Süden Europas. Um den leichten Weinen des Nordens mehr Gehalt zu geben, wurden ihm Gewürze und Honig beigemischt, manchmal auch Pfeffer, um ihn stärker schmecken zu lassen, als er war. Rauschmittel waren also im Mittelalter durchaus bekannt, und zu denen, die Träume, Visionen und Offenbarungen verursachten, gehörte der Fliegenpilz. Entgegen landläufiger Meinung ist der weiß gepunktete Pilz nicht so giftig, wie man ihm nachsagt. Man muss schon eine recht große Portion frischer Ware davon zu sich nehmen, damit man das Zeitliche segnet. Bei getrockneten Pilzen sieht das anderes aus, die letale Dosis ist selbstredend geringer. Ich rate allerdings dringend von Selbstversuchen ab, denn schon wenig Fliegenpilz kann zu recht wirren Rauschzuständen führen. Ein Pantherina-Syndrom mit seinen Angstgefühlen möchten Sie sicher nicht erleben. Zaubersche (Hexen wurden sie zu der damaligen Zeit noch nicht genannt) und Apotheker wussten um die Wirkung des Amanita muscaria. Eine geringe Dosis verursacht freund liche Träume, oft vom Schweben, wirkt stimmungsaufhellend oder hat eine aphrodisierende Wirkung. Eine größere Menge aber führt zu Identitäts- und Wirklichkeitsverlust. Der Fliegenpilz hat jedoch seinen Namen auch daher bekommen, dass man aus ihm ein Ungeziefervernichtungsmittel herstellte, indem man Pilzstücke in gesüßte Milch einlegte. Die Fliegen, die davon naschten, fielen nach dem Genuss um. In diesem Roman verwendet jemand getrockneten Fliegenpilz zur Ruhigstellung einer Gefangenen. Das mag sich modern anhören, dürfte aber dem mittelalterlichen Kenntnisstand der Pharmazie durchaus entsprochen haben. Trinken Sie zu der Lektüre also, wenn Sie ein Genussmittel zu sich nehmen möchten, lieber Tee oder Most oder ein kleines Glas Wein oder Bier, statt an getrockneten Fliegenpilzhäppchen zu knabbern.
Prolog
»Ich will sie aber zur Ostermesse zurückhaben!«, schniefte Luitgard und stampfte mit dem Fuß auf. »Hör auf, dich wie ein trotziges Gör zu benehmen«, blaffte ihr Gatte sie an. »Aber was sollen denn die Leute denken?«, maulte die stämmige Winzersfrau weiter. »Die wissen, dass uns der Weingarten halb abgebrannt ist und ich kein Geld hab. Du wirst ohne Glitzerkram deine Gebete verrichten. Den Herrn wird's nicht stören.« Luitgard sandte ihrem Mann einen bösen Blick unter tränennassen Wimpern und wandte sich abrupt ab, um wütend die verschütteten Körner aus der Küche zu fegen. Der Kerl war ene solche Klotzkopp! Der verstand gar nichts. Man schmückte sich doch nicht wegen der Gebete, verdamp!, sondern um den Nachbarn zu zeigen, was man besaß. Und mehr als ein halbes Jahr war das kostbare Familienerbstück jetzt schon beim Pfandleiher. Klar - der Franz musste es ja beleihen, nachdem die letzte Ernte draufgegangen war. Neue Weinstöcke bekam man nicht um Gotteslohn. Aber wenigstens für die Feiertage könnte er die Fibel wieder auslösen. Wo sie doch noch nicht mal ein neues Kleid zu Ostern bekommen hatte. Grummelnd schwang sie den Besen, und Staubwolken wallten durch die offene Tür. Die Ernte war so schlecht nicht gewesen, er sollte sehen, dass er die paar Fässer zu einem ordentlichen Preis verkauft bekam. Aber nein, er wurzelte jeden Tag im Weingarten herum und kümmerte sich nicht darum, das Gesöff unter die Leute zu bringen. Ihre Älteste, eine energische Dreijährige, lief quengelnd hinter Hanna, der Tagelöhnerin her, die sich bei ihnen als Magd verdingt hatte. Luitgard wandte sich ab und grollte weiter. Sie würde ja selbst mit dem Wein auf den Markt ziehen, aber die drei Blagen hingen ihr am Kittel. Franz hatte ihr verboten, die Geschäfte in die Hand zu nehmen. Dabei gab es eine ganze Reihe Frauen, die Weinhandel betrieben. Luitgard stützte sich auf den Stiel des Reisigbesens. Ein kleiner Faden begann sich zu spinnen. Eine Weinhändlerin in Köln - Alyss vom Spiegel. Von ihr hatte sie in den letzten Tagen einiges gehört. Und zwar Unfassbares. Vor drei Jahren hatte Frau Alyss sie aus ihrem Haus in der Witschgasse geworfen. Weil sie ihr die Schuld daran gab, dass ihr Sohn ertrunken war. Eine Weile hatte Luitgard deshalb sogar ein schlechtes Gewissen gehabt. Eine Amme durfte nicht nachlässig sein. Aber jetzt? Hanna, die Tagelöhnerin, hatte ihr etwas anvertraut, das ein völlig anderes Licht auf die Sache warf. Und mit dieser Erkenntnis, dachte Luitgard zufrieden, würde sie ein hübsches Sümmchen erzielen. Und mit diesem Sümmchen konnte sie die Fibel auslösen. Am Ostertag würde das Sonnenlicht die geschliffenen Rheinkiesel an ihrer Schulter wieder zum Funkeln bringen. Und die Nachbarn würden endlich wissen, dass sie nicht mehr knapsen mussten. Vielleicht war auch noch ein neues Gewand mit drin. Ein prächtiger Plan. Luitgard summte beim Fegen zufrieden vor sich hin.
1. Kapitel
Alyss kennzeichnete die Weinfässchen, die an die Wirtsleute vom »Adler« ausgeliefert werden sollten, mit einem Kreidevog el, diejenigen, die der Turmwächter bestellt hatte, mit einem Turm. Peer, der Handelsknecht, konnte nicht lesen, aber sie hatten ein System von Zeichen vereinbart, sodass die Kunden immer die richtigen Fässer erhielten. Ein schrilles Keifen aus Mädchenkehlen lenkte sie von ihrem Tun ab, und sie drehte sich um. Auf dem Hof stand Lore, breitbeinig, die Hände in die Hüften gestemmt, die roten Haare wild gesträubt, ihre Augen schossen Blitze auf die zierliche Denise. Die allerdings hielt sich die Nase zu und plärrte: »Du stinkst. Comme un crottin. Wie Schiss von Jennet!« »Das Messveech riecht besser als du, Schnuddelnas!« Besagtes Messveech, die Eselin Jennet, stimmte mit einem gleichfalls schrillen Wiehern seiner Freundin zu, und Denise machte einen ängstlichen Schritt rückwärts. Dabei trat sie dem martialischen Hahn in die Seite. Der schlug seinen Schnabel in ihre Wade und krähte dann lauthals seine Empörung heraus. Denise heulte auf, Benefiz begann zu kläffen, und Lore grinste breit und siegesgewiss, als auch noch die Gänseschar, nach biblischem Vorbild Gog und Magog genannt, schnatternd auf das Mädchen zugeschossen kam.
»Lore, ruf die heidnischen Völker zurück«, befahl Alyss ruhig. »Benefiz, Schluss jetzt. Denise, in die Küche mit dir.« Catrin, einen Beutel Weizen in der Hand, trat auf das Schlachtfeld und streute die Körner für die gackernden Hühner aus. Dann blieb sie schnüffelnd stehen. »Es stinkt.« Alyss sog die Luft ein. Ein penetranter Hauch von Verwestem drang an ihre Nase. »Lore?« »Ja, Frau Herrin?« »Du riechst wirklich etwas streng.« »Is nich meine Schuld. Das war der Lutziän.« Eine schwarze Braue hob sich wie ein samtiges Räupchen über Alyss' Auge. »Lucien?« »Der hat einen faulen Fisch in meine Schürze gesteckt.« »Und wo befindet dieser Fisch sich jetzt?« Ein schmuddeliger Daumen wies in die Richtung des schwanzlosen Hundes Benefiz, der auf seinem Hinterteil saß und sich die Lefzen leckte. »Nun gut, dann ist der wenigstens fort. Zieh die Schürze aus, Lore, und wirf sie in den Wäschesack. Catrin wird dir eine frische geben.« »Aber die hab ich doch erst vorgestern ...« »Sie stinkt.« »Ja, Frau Herrin.« Nachdem diese kleine Auseinandersetzung geregelt war, schüttelte Catrin besorgt den Kopf. »Lucien und Denise machen dir viel Arbeit, Alyss. Ich verstehe das gar nicht. Den ganzen Weg von Burgund bis hier haben sie sich anständig benommen. Ich schäme mich für sie.« »Das ist doch nicht deine Schuld. Es sind Kindsköpfe, sie genießen hier ihr neues Leben und wollen wissen, wie weit sie gehen können. Lore wird Denise schon beibringen, nicht so zimperlich zu sein, und Lucien ...« Lucien, eben sechzehn Lenze jung, kam aus dem Weingarten geschossen, Frieder, der achtzehn Winter auf dem Buckel hatte, war ihm auf den Fersen. Sie rasten um den Karren, Lucien stolperte, prallte dagegen, ein Fass löste sich und polterte nach unten. Der Spund brach auf, und roter Wein ergoss sich auf den lehmigen Boden. Frieder rutschte darauf aus, Lucien sprang auf ihn und knallte seinen Kopf auf den Boden. Catrin und Alyss sahen einander wortlos an, packten beide je ein Schaff Wasser und gossen den Inhalt mit Schwung über die kämpfenden Helden. Die fuhren auseinander und starrten sie triefend an. Peer, der knorrige Handelsknecht, hob das Weinfass auf und seufzte. »Den Wein bezahlt ihr«, knurrte Alyss die Kämpen an. »Und jetzt auf die Knie. Beide! Hände gefaltet.« Lucien murrte, bekam einen Knuff von Frieders Ellenbogen in die Rippen und tat wie befohlen. Auch Frieder begab sich auf die Knie. Seine Nase blutete, Luciens Auge schwoll zu. »Je fünfzig Vaterunser und fünfzig Ave-Maria. In reinem, wohlklingendem Latein, meine Herren. Und so laut, dass ich es auch noch in der Küche hören kann. - Denise!« »Ja, Frau Alyss?« »Du zählst. Wenn sich einer vertut, muss er doppelt beten. Möge der Herr Euch gnädig sein.« Damit wandte Alyss sich ab und ging ins Haus. »Ave Maria, gratia plena ...«, schallte es laut und zweistimmig über den Hof. »Lucien braucht eine starke Hand«, sagte Catrin. »Was haben wir dir nur aufgebürdet!« »Frieder ist auch kein Unschuldslamm. Aber mein Bruder wird bald zurückkommen und John hoffentlich auch. Die werden Lucien schon zu bändigen wissen.« Alyss ging in die Speisekammer und nahm den Krug mit dem roten Burgunder, schenkte Catrin und sich je einen Becher ein und tat einen tiefen Schluck. Der Tag hatte schon seine Höhepunkte gehabt. »Der ist richtig gut«, sagte sie und setzte sich auf den H ocker am Herd. »Ihr habt die beste Qualität erworben.« »Mhm«, meinte Catrin und nippte an ihrem Becher. Vor einer Woche war sie mit ihrem frisch angetrauten Ehemann von ihrer Reise ins Frankenland zurückgekommen, wo sie einen reichen Vorrat an Wein eingekauft hatten. Außer den Fässern aber waren auch die beiden jungen Leute, entfernte Verwandte, eingetroffen, die in Alyss' Hauswesen für zwei Jahre gesellschaftlichen Schliff, die deutsche Sprache und die Haushaltsführung lernen sollten. Zumindest an Lucien gab es noch einiges zu schleifen. Aber das schreckte Alyss nicht. Sie hatte gerne junges Volk um sich, und da zwei ihrer Schützlinge das Haus verlassen hatten, um in Kürze zu heiraten, und ein dritter inzwischen seinem Vater zur Hand ging, war es ihr nur recht, dass die beiden in ihre Obhut gegeben worden waren. Auch Lore, die früher ein erbärmlich karges Dasein als Päckelchesträgerin gefristet hatte, lebte inzwischen bei ihr und übte sich in gesittetem Benehmen. Nicht immer gelang es ihr. Die Paternoster draußen schwollen zu einem Brüllen an, und Alyss warf einen kritischen Blick in den Hof. Oh ja, die Gänse! Gog und Magog betrachteten alle, die ihnen nicht aus dem Weg gingen, als Feinde, die man kneifen musste. Und ihre Schnäbel waren sehr hart. Frieder und Lucien knieten inzwischen Rücken an Rücken und versuchten, die heidnischen Völker durch Gebrüll zu vertreiben. Oben vom Verschlag aus, in dem Jerkin, der weiße Gerfalke, hauste, beobachtete Malefiz mit einem kätzischen Grinsen in seinem schwarzen Gesicht das Geschehen. Lore stand an die Türzarge gelehnt und grinste ebenfalls. »Lore, scheuch sie weg.« »Muss ich, Frau Herrin?« »Musst du.« Ganz, ganz langsam schlenderte Lore zu den Gänsen, donnerte dann Gog die Faust auf den Schnabel und trat nach ihm. Protestierend wandte die Schar sich ab, und Gott der Herr wurde in gedämpfteren Lauten angerufen. »Ich muss noch die neue Lieferung und die Einkäufe von heute Morgen in das Haushaltsbuch eintragen«, sagte Alyss und leerte ihren Becher. »Wenn jemand nach mir fragt, ich bin im Kontor.« Das Geschäft florierte, stellte Alyss fest, als sie mit gespitzter Feder ihre Zahlenkolonnen in dem Registerband addierte. Sie hatte einen festen Kundenstamm, den sie regelmäßig belieferte, und dank Mertens Hilfe auch einige Abnehmer außerhalb der Stadtmauern. Der Weiße aus Speyer war süffig, der Burgunder vollmundig, und aus ihrem eigenen Weingarten hatte sie einige Fässer gekeltert, die mit Kräutern und Gewürzen angesetzt einen ganz passablen Claret lieferten. Der Beutel mit dem Haushaltsgeld war gut gefüllt, in der Vorratskammer hingen zwei geräucherte Schinken, Säcke mit Mehl, Erbsen, Grieß und sogar Reis stapelten sich auf den Borden. Goldgelbe Butter, Schmalz und Öl waren in ausreichenden Mengen vorrätig, mürbe Äpfel, eingelegtes Sauerkraut und Gurken, getrocknete Pilze, harter Käse, Töpfe mit Honig und Rosinen - alles wurde ständig aufgefüllt, um das gefräßige Hauswesen zu nähren. Vor allem aber fanden derzeit die eingelegten Heringe, die geräucherten Forellen, der salzige Fastenspeck und frischer Lachs in der Küche Verwendung. Die Fastenzeit würde jedoch am Ende dieser Woche vorüber sein, und Alyss plante bereits das üppige Osteressen. Bei dem Gedanken an den kroschen Lammbraten musste sie schlucken. Es klopfte an der Tür, und ein Herr in einer feinen grünen Heuke, mit Marderfell abgesetzt, trat ein. »Robert!«, sagte Alyss und lächelte ihrem Schwager zu. Er war kein schöner Mann, sein Kinn ein wenig fliehend, über der Stirn lichteten sich die Haare, aber er pflegte sich wohl zu gewanden und auf sein Äußeres zu achten. »Was bedeutet diese lautstarke Glaubensbekundung dort draußen?« »Buße für verschütteten Wein und eine Schlägerei.« »Ist meine männlich starke Hand vonnöten?« »Diesmal wohl nicht. Aber bei dem nächsten Unfug überlasse ich die Sünder gerne dir.« »Es wird nicht lange auf sich warten lassen.« »Vermutlich nicht. Was führt dich in mein Kontor, Schwager? « »Ein Pfandleiher namens Ambrosio di Como. Er wünscht den Erben des Arndt van Doorne zu sprechen.« »Ei wei.« »Soll ich ihn fortschicken?« »Nein, lass nur. Ich spreche mit ihm.« »Ich bleibe dabei, wenn du nichts dagegen hast.« Alyss nickte, und Robert verließ das Kontor, um gleich darauf mit einem äußerst rundlichen Mann zurückzukommen. Der verbeugte sich schwungvoll, dann trat er mit ausgestreckten Händen und tieftrauriger Miene auf Alyss' Schreibpult zu. »Signora, es schmerzt mich so, Euch behelligen zu müssen. So bald nach Eurem schmerzlichen Verlust.« Seine Hände pressten sich auf sein Herz. Alyss musterte ihn kühl. Er war recht dunkel, seine schwarzen Locken glänzten fettig unter seinem Barett, seine großporige Haut glänzte ebenfalls, aber sein Wams, das sich über seinen Bauch spannte, wirkte reinlich. »Was ist Euer Anliegen, Ambrosio di Como?«, fragte sie nüchtern. »Ah, ein Weib, das wenig Worte macht über ihr Leid. Gefasst und besonnen, doch innerlich sicher noch immer verwundet. Meine Ehrerbietung, Signora. Das Leben geht weiter. Und die leidenschaftlichen Gebete der Euren werden Euch Trost sein.« Ein Ave-Maria dröhnte durch die Türritzen, begleitet von der Eselin Gesang. Alyss unterdrückte mannhaft ihre Erheiterung. »Euer Begehr?« »Ah, kein Beileid erwünscht?« Ambrosios Hände flatterten resigniert. »Kommt zur Sache«, sagte Robert. »Ja, die Sache. Es sind zwei Sachen, wohledle Herrschaften, und sie betreffen das Erbe des wohledlen Arndt van Doorne.« »Dessen Erbin ich bin. Was hat er mir hinterlassen?« Misstrauen klang in Alyss' Frage mit. Sie hatte allen Grund, die Machenschaften ihres Gatten auch nach seinem Dahinscheiden noch zu fürchten. Zuletzt hatte sich herausgestellt, dass das Hurenhaus »Zur Eselin« ebenfalls zu dem Erbe gehörte, das er ihr hinterlassen hatte. Das allerdings hatte sie gegen eine echte Eselin, eben jene singende Jennet, eingetauscht. »Im vergangenen Herbst hat der wohledle Herr Gemahl zwei Fässer Salz aus Lüneburg von mir beleihen lassen. Auf ein halbes Jahr. Das aber ist mit dem Osterfest verstrichen. Und darum biete ich sie Euch zur Auslöse an.« »Ich bin Weinhändlerin. Verkauft sie in der Salzgasse.« »Ähm ... ja, aber ...« »Und nun gehabt Euch wohl, Ambrosio di Como.« Der aber wedelte entsetzt mit seine Händen und brauchte noch ein gutes Dutzend Sätze, um seine Verwunderung auszudrücken, seinen Abschied vorzubereiten und den Segen Gottes auf das Haus herabzuflehen. »Sabbelschnüss«, murmelte Alyss, als er endlich gegangen war. »Wortgewaltig und reich an Gesten, in der Tat. Aber du hast recht daran getan, das Salz nicht auszulösen. Mag der Teufel wissen, was sich wirklich in den Fässern befindet.« »Mir egal. - Ah, wie ich höre, ist die Buße getan. Ich werde mich dann mal um die Verwundeten kümmern. Wenn ich es richtig gesehen habe, wird Lucien ein blaues Auge bekommen und Frieder eine mächtige Beule am Kopf entwickeln.« Sie schlug den Registerband zu und wischte die Feder gründlich ab. »Worum ging der Streit der beiden?« »Keine Ahnung. Die Inquisition wird jetzt stattfinden.« Die Befragung, gütlich, nicht peinlich, ergab, dass es um die Beleidigung der Ehre einer Dame gegangen war. Lucien hatte sich abfällig über Alyss' Base Leocadie geäußert, die dem Ritter Arbo von Bachem anverlobt und deren Hochzeit für den Mai geplant war. Frieder, der die schöne Leocadie selbst für ein Tränenkrüglein hielt, verstand Luciens Bezeichnung »bécasse ennuyeuse mit ihrem chevalier de fer claquant« zwar nicht wortwörtlich, wohl aber den Tonfall, in dem sie geäußert worden war, und hatte eine Übersetzung verlangt. Die durch Luciens Mangel an Sprachkenntnis dann noch derber wurde, weshalb Frieder Lucien eins aufs Maul gab. Die Angelegenheit eskalierte darauf. »Langweilige Schnepfe«, flüsterte Alyss die korrekte Übersetzung in Catrins Ohr. »Mit Ritter Klappereisen.« Die seufzte. »Leocadie ist so schön, Alyss, da fällt es nicht sonderlich auf, dass sie nicht zu geistreichen Bemerkungen fähig ist. Aber Lucien muss lernen, seine Zunge zu zügeln. Und sie der unseren Sprache gefügig zu machen.« »Ich werde ihnen Unterricht erteilen. Wenngleich meine Kenntnisse des Welschen langsam eingerostet sind.« »Du hast genug zu tun, Alyss. Aber vielleicht finden wir einen Studiosus, der ihnen Lektionen erteilen kann.« Während sie überlegten, versammelten sich die anderen Mitglieder des Hauswesens in der Küche, und Hilda, die Haushälterin, verteilte die Aufgaben, um das Abendessen zu richten: Lauryn, Frieders Schwester, schnitt das knusprige Brot in Scheiben, Lore, jetzt in frischer, unriechbarer Schürze, verteilte Heringe und junge Zwiebeln auf den Tellern, Frieder schenkte Most aus, Denise schöpfte Quark aus einem Topf, und Lucien hockte schmollend auf der Bank und sandte Malefiz böse Blicke. Den Kater schienen die jedoch nicht zu stören, er rieb seinen Kopf schmeichelnd an Alyss' Bein und bekam ein Stückchen Fisch gereicht. Als alle am Tisch saßen, nickte Alyss Robert zu. Er sollte den Tischsegen sprechen, doch bevor er dazu ansetzte, kam Merten in die Küche gepoltert. »Habt Mitleid mit dem Elend«, rief er und lächelte in die Runde. »Den ganzen Tag habe ich geschuftet und keinen Krumen Brot bekommen. Ich flehe Euch an, werte Dame, gebt einem Verhungernden Nahrung.« »Lauryn, eine weitere Portion Fisch, Quark und Brot! Frieder, Becher und Most! Lucien, rück ein Stück zur Seite!« Merten, der Stiefsohn ihres verstorbenen Gatten, genoss Gastrecht in Alyss' Haus, auch wenn nicht jeder den geckenhaft gekleideten jungen Mann mochte. Sie hatte lange Jahre ein gewisses Mitleid mit ihm gehabt. Früh hatte er den leiblichen Vater, dann die Mutter verloren, war bei einer zänkischen Großmutter aufgewachsen und hatte kein Handwerk und keinen Handel gelernt. Sie war nachsichtig gewesen, doch dann hatte Arndt ihr Vermögen vergeudet, und sie hatte Merten nicht mehr unterstützen können. Seither hatte er einen Teil seines lustigen Lebenswandels aufgegeben und sich um einige ihrer Kunden gekümmert. So weit, so gut, doch seit dem letzten Herbst hatte er begonnen, ihr den Hof zu machen, und das war ihr mehr als unangenehm. Auch jetzt warf er ihr heimliche Blicke zu, die selbstredend nicht unbemerkt blieben. Lucien stupste seine Schwester Denise an und verkündete in deutlich hörbarem Geflüster: »Vois comme il bave. Il veut à sa chemise.« »Lucien, tais-toi!«, raunzte Robert ihn an. Der zog nur laut die Nase hoch und erhielt von Hilda, die hinter ihm am Herd werkelte, eine kräftige Kopfnuss. »Au!« »Benimm dich, Junge. Und kein welsches Zeug mehr.« »Isch nix kann Kölsch.« »Dann lernst du es. Robert, kannst du uns einen Lehrer für Denise und Lucien finden? Unter den Händlern wird doch sicher der eine oder andere sein, der beide Sprachen beherrscht und einen harten Stock zu führen weiß.« »Ich höre mich um. Den harten Stock allerdings weiß ich auch zu führen.« Denise flüsterte jetzt auf ihren Bruder ein, der ein immer düstereres Gesicht zog. Alyss hatte den Verdacht, dass das Mädchen weit mehr verstand als er. Der Rest des Abendmahls verlief friedlich, und als schließlich der Tisch abgeräumt war, fragte Catrin Alyss leise: »Was hat er gesagt?« »Dass Merten geifert und an meinen Kittel will.« »Da hat er wohl leider recht, der kleine Unhold.«
2. Kapitel
Marian trottete die Stiege zum Schlafraum des Gasthauses hoch. Ihm war kalt, er war müde, und seine Schulter schmerzte, weil ein ungebärdiges Maultier der Meinung gewesen war, dass er die Schuld an dem trüben Regenwetter trug. Der Biss ging zwar nicht tief, aber er war sicher, dass er einen prächtigen blauen Fleck hinterlassen hatte. In seinem Beutel würde er einen Topf mit Arnikasalbe finden und sich verarzten, bevor er sich zum Schlafen niederlegte. Bett - je nun. Fünf breite Betten standen Seite an Seite in dem muffigen Raum unter dem Dach, drei davon waren bereits belegt, und sonores Schnarchen dröhnte aus ihnen. Im flackernden Schein der Tranlampe wühlte er in seinem Gepäck und stellte missmutig fest, dass sein kostbarer Vorrat an Heilsalbe beinahe erschöpft war. Mit einem leisen Stöhnen zog er die feuchten Lederstiefel aus, schälte sich aus den Kleidern und betrachtete seine malträtierte Schulter. Schwärzlich schimmerte die Haut, und mit zusammengebissenen Zähnen behandelte er die wunde Stelle. Dann legte er sein Untergewand wieder an und kroch unter die schäbige Decke. Zwei Wochen noch - mehr oder weniger, dann würde er wieder zu Hause sein. Reisen war anstrengend, vor allem so früh im Jahr. Aber trotz aller Widrigkeiten war Marian nicht unzufrieden. Die Zeit in Venedig war erfolgreich gewesen, die Handelsgeschäfte blühten, und in den Ballen und Gebinden, die seine Gesellschaft mit sich führte, befanden sich vielfältige Waren, die er mit großem Gewinn zu veräußern gedachte. So hatte er prunkvolle Seiden aus dem Morgenland erstanden, Spezereien aus den Ländern jenseits des mittelländischen Meeres, feinstes Papier aus der Lombardei und vor allem Glaswaren aus Venedig. Die bunten Perlen würden die Herzen der Frauen höherschlagen lassen. Vermutlich auch das seiner Zwillingsschwester Alyss. Aber als er die Kostbarkeiten aussuchte, war es Gislindis gewesen, die seine Hand geführt hatte. Marian lächelte im Dunklen. Die Tochter des Messerschleifers schlich sich oft in seine Gedanken. Sie war eine weise Frau und klug obendrein. Sie war auch ein schönes Weib, mutig und treu. Er hatte einst mit ihr getändelt, müßig und ohne Absicht. Dann aber hatte er gemerkt, dass er sich in ihrer Gegenwart glücklicher fühlte und die Wunden in seinem Gemüt allmählich aufhörten, ihn zu bedrücken. Bei seiner letzten Reise in den Süden hatte eine junge Frau sein Herz erobert, doch sie war gestorben und hatte eine Leere hinterlassen, die kaum zu ertragen gewesen war. Heute jedoch fragte er sich, ob sie wirklich glücklich mit ihm geworden wäre, ein Kind südlicher Sonne - konnte man es wie ein Zitronenbäumchen in den Norden verpflanzen? Und schließlich gestand er sich ein, dass er sich nun nach Gislindis sehnte, nach ihrer Freundschaft, ihrem Witz und ihren süßen Küssen. Sie war von niederem Stand, die Tochter einer Fahrenden und eines wolfsrachigen Messerschleifers, und in den Augen der Welt würde er nur ein ungesegnetes Verhältnis mit ihr eingehen können. Das aber wollte er ihr nicht antun. Sechs Monate war er nun unterwegs, und während dieser Zeit hatte er Pläne geschmiedet. Pläne, die möglicherweise nicht einfach auszuführen waren, aber wenn die passenden Umstände zusammenkamen, würde er Gislindis eines Tages doch als sein Weib heimführen. Vorsichtig drehte Marian sich auf die Seite seiner gesunden Schulter. Sein eigenes Bett hatte eine weiche Matratze aus Daunen, die Decke war flauschig gefüllt und aus feinstem Leinen. Hier stach ihm hartes Stroh durch das löchrige Laken in die Hüften, und das Kopfpolster strömte den knoblauchartigen Geruch von jenen aus, die vor ihm auf diesem Lager übernachtet hatten. Ein weiterer Gast betrat den Raum, rülpste, ließ seine Stiefel zu Boden poltern und sank schwer auf die andere Seite des Bettes. Bierdunst umgab ihn, und er zerrte an der Decke. Marian musste sich einen kurzen, heftigen Kampf mit ihm liefern, aber dann war der Kerl eingeschlafen, und er rettete seinen Anteil an der Decke. Der Schlummer blieb ihm fern, aber damit fand Marian sich ab. Es gab Dinge, über die er nur des Nachts nachdenken konnte, den Tag über musste er beständig sein Augenmerk auf die Mitglieder seiner Reisegruppe lenken, musste das Umladen der Fracht beaufsichtigen, mit den Karrenführern und Schiffseignern handeln, Obdach für seine Männer suchen und die Wegstrecken festlegen. Bis Straßburg waren sie nun gekommen, ohne dass es nennenswerte Verluste gegeben hatte. Ab morgen würde es leichter werden, die Fracht würde auf einen Oberländer verladen und stromabwärts Richtung Köln verschifft werden. Die Ostertage wollten sie in Speyer verbringen. Dort hatte das Handelshaus derer vom Spiegel eine Niederlassung, und die drei Tage Ruhe würden ihnen allen guttun. Es war richtig, dass er sich endlich entschieden hatte, die Nachfolge seines Vaters in den Handelsgeschäften anzutreten, befand Marian. Auch wenn die ärztliche Heilkunst noch immer einen gewissen Reiz auf ihn ausübte. Vor zwei Jahren, nach dieser entsetzlichen Spanienfahrt, als er und sein Tross überfallen worden waren, er seine Geliebte verloren hatte und dabei selbst schwer verwundet worden war, hatte er geschworen, Köln nie wieder zu verlassen. Stattdessen wollte er lernen, wie man Kranke und Verletzte heilt - und eigentlich hatte er den vermessenen Wunsch gehegt, Tote wieder zum Leben zu erwecken. Er hatte die Hebammenkunst gelernt - verbotenerweise, denn Männern war diese Tätigkeit nicht erlaubt. Er hatte das Knocheneinrenken vom Meister Hans, dem Henker, beigebracht bekommen, und die Apotheker Trine und Jan hatten ihm die Geheimnisse der Heilkräuter und Gifte enthüllt. Und bis vor Kurzem war er sogar dem Bader Pitter zur Hand gegangen, wenn es um blutige Operationen ging. Die theoria der Medizin hatte er in den Folianten der Universität und in der Infirmerie des Klosters zu ergründen versucht, aber die praktische Seite hatte ihn immer weit mehr fasziniert. Sofern sie nicht mit Schmerzen verbunden war. Und das war schließlich auch ein Grund für ihn, dem Studium der Heilkunst zu entsagen. Seine dumme, lästige Gabe, die Schmerzen seiner Patienten erspüren zu können, half ihm zwar, die Krankheit zu erkennen, aber die Behandlung, vor allem wenn es um Knochenrichten und Schneiden ging, fiel ihm schwer. Also hatte er für sich entschieden, dass er helfen würde, wenn man ihn darum bat, aber als Beruf würde er die Heilkunst nicht ausüben. Immerhin, diese Reise hatte ihm in Venedig einige interessante Gespräche beschert. Ein jüdischer Arzt und ein arabischer Kollege hatten sich an seinen Kenntnissen und Ideen erfreut und ihm ihrerseits etliche Geheimnisses ihrer medizinischen Traditionen weitergegeben. Und so war er auch in der Lage gewesen, einem freundlichen Kontoristen erfolgreich den Star zu stechen, allerlei Reisebeschwerden seiner Leute zu mildern und verrenkte Glieder zu richten. Sein Bettgenosse wälzte sich auf ihn und hauchte ihm seinen Atem ins Gesicht. Marian rutschte zum Bettrand, befreite sich aus der Umarmung und den Decken und zog tastend Stiefel, Hose und Wams an. Leise verließ er den dumpfen Schlafraum. Die Gaststube war leer, der Riegel vor der Tür. Er öffnete ihn und schlüpfte hinaus in den Hof. Dankbar atmete er die kühle Nachtluft ein. Dann wandte er sich den Ställen zu. Sein Pferd wieherte verhalten, als er sich zu ihm ins Stroh setzte. »Gestatte, dass ich die Nacht wieder bei dir verbringe, mein Freund.« Das Tier gestattete, und Marian streckte sich auf dem Boden aus. Es war hart, das Stroh nicht mehr ganz frisch, aber wenigstens hatte sein Pferd kein Bier getrunken und keine scharf gewürzten Speisen zu sich genommen. Noch einmal wanderten seine Gedanken der Heimat entgegen, und in seiner Vorstellung zog er die lavendelduftende Decke seines eigenen Bettes über sich, und darüber schlief er ein.
3. Kapitel
Der Tag hatte sonnig begonnen, und nachdem Alyss die Pflichten und Aufgaben verteilt hatte, war sie mit Jerkin auf dem Handschuh zum Weingarten gegangen. Die Wurzeln der Reben hatten sie in den letzten Tagen abgedeckt, die Stecken aufgerichtet, bald würde sie die jungen Triebe daran hochbinden. Wieder nahte ein Frühling, wieder vollendeten sie und ihr Bruder ein Lebensjahr. Ihr sechsundzwanzigstes war es, und als der Falke sich in den blauen, wolkenlosen Himmel erhob, wischte sie sich eine ungebärdige Locke aus der Stirn. Sie war eine alte Frau geworden. Eine kinderlose alte Witwe ... Fort!, befahl sie diesem trüben Gedanken. Was für ein Unsinn. Ihre Ziehschwester Catrin war neun Jahre älter als sie und hatte nun doch einen Gatten gefunden. Nicht nur das, es wollte ihr sogar scheinen, dass sie gesegneten Leibes war. Welch ein Glück sie hatte. Als Kind war Catrin ein unscheinbares Geschöpf gewesen, das nur stammeln und stottern, nicht aber sprechen konnte. Alyss' Mutter Almut hatte sie zu sich genommen, und in deren Obhut hatte sie gelernt, ihre Zunge zu disziplinieren. Sie hatte jedoch die Ehelosigkeit in dem Beginenkonvent am Eigelstein den Freiern vorgezogen, die ihre Eltern für sie ausgesucht hatten. Zu Alyss' Schwager Robert aber hatte sie eine keusche Zuneigung entwickelt, die er ebenso keusch zu erwidern schien. Dann war er vor zwei Jahren Opfer eines bösartigen Anschlags geworden. Sein eigener Bruder, Alyss' Gatte, hatte den gewalttätigen Friesen Yskalt aufgehetzt, ihn zu ermorden. Doch der Zufall wollte es, dass der Mörder den Falschen erschlug und Robert untertauchen konnte. Dabei war ihm der englische Tuchhändler John of Lynne eine entscheidende Hilfe gewesen. Bis zum vergangenen Jahr hatte er John als dessen struppiger Diener Bob begleitet und zusammen mit ihm über Alyss' Hauswesen und auch über Catrin gewacht. Alyss hatte ihren Schwager schon früher sehr gernegehabt, er war ein vernünftiger Mann mit einem feinen Sinn für Humor. Die vergangene Zeit, die er unter harten Bedingungen verbracht hatte, hatten ihn jedoch entschlossener werden lassen - und auch breitschultriger. Als dann endlich die Tage des Versteckens gezählt waren, hatte er sich Catrin erklärt, und sie hatte freudig das Beginendasein aufgegeben. Als Hebamme aber würde sie weiterhin tätig sein, wenn man ihre Dienste wünschte. Benefiz hechelte hinter Malefiz her, der wiederum sein Jagdrevier in dem Rebgarten hatte. Oben stieß der Falke seinen schrillen Schrei aus. John würde bald zurückkommen. Alyss hatte eine Botschaft von ihm erhalten, in der er ihr den Tod seines Vaters kundtat. Einige Regelungen zur Erbschaft mussten noch getroffen, Waren mussten eingekauft werden, danach aber wollte er nach Köln zurückkehren. Und dann? Johns scheinheilig-frommes Weib hatte den Schleier genommen, seine unselige Ehe war aufgelöst. Als sie im Herbst den Mörder von Arndt van Doorne gefunden hatten, den Bettelscholaren Caspar, den Merten dann im Streit erschlug, da war auch sie, Alyss, frei geworden.
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Wein gab es zu Alyss' Zeiten und auch Bier, doch keine stärkeren Alkoholika. Der Branntwein - hochprozentiger, durch Destillation gewonnener Alkohol - wurde erst im 16. Jahrhundert gebräuchlich, auch wenn man durchaus schon den Weingeist herstellen konnte. Man verwendete ihn aber nicht als Genuss-, sondern als Heilmittel gegen allerlei Krankheiten. Bier war noch etwas entfernt von der heutigen Qualität, mit Hopfen wurde gerade erst experimentiert. Die Grut - die Würze - bestand aus allerlei Kräutern, vor allem aber den Blättern des Gagelstrauchs. Gelegentlich wurde das Bier auch mit Bilsen gebraut - und Bilsen gehören zu den psychoaktiven Pflanzen. Mit dem Erfolg, dass der Bierrausch recht heftig wurde. Der Wein wurde bis weit in den Norden angebaut und gekeltert, doch die stärksten Weine kamen aus dem Süden Europas. Um den leichten Weinen des Nordens mehr Gehalt zu geben, wurden ihm Gewürze und Honig beigemischt, manchmal auch Pfeffer, um ihn stärker schmecken zu lassen, als er war. Rauschmittel waren also im Mittelalter durchaus bekannt, und zu denen, die Träume, Visionen und Offenbarungen verursachten, gehörte der Fliegenpilz. Entgegen landläufiger Meinung ist der weiß gepunktete Pilz nicht so giftig, wie man ihm nachsagt. Man muss schon eine recht große Portion frischer Ware davon zu sich nehmen, damit man das Zeitliche segnet. Bei getrockneten Pilzen sieht das anderes aus, die letale Dosis ist selbstredend geringer. Ich rate allerdings dringend von Selbstversuchen ab, denn schon wenig Fliegenpilz kann zu recht wirren Rauschzuständen führen. Ein Pantherina-Syndrom mit seinen Angstgefühlen möchten Sie sicher nicht erleben. Zaubersche (Hexen wurden sie zu der damaligen Zeit noch nicht genannt) und Apotheker wussten um die Wirkung des Amanita muscaria. Eine geringe Dosis verursacht freund liche Träume, oft vom Schweben, wirkt stimmungsaufhellend oder hat eine aphrodisierende Wirkung. Eine größere Menge aber führt zu Identitäts- und Wirklichkeitsverlust. Der Fliegenpilz hat jedoch seinen Namen auch daher bekommen, dass man aus ihm ein Ungeziefervernichtungsmittel herstellte, indem man Pilzstücke in gesüßte Milch einlegte. Die Fliegen, die davon naschten, fielen nach dem Genuss um. In diesem Roman verwendet jemand getrockneten Fliegenpilz zur Ruhigstellung einer Gefangenen. Das mag sich modern anhören, dürfte aber dem mittelalterlichen Kenntnisstand der Pharmazie durchaus entsprochen haben. Trinken Sie zu der Lektüre also, wenn Sie ein Genussmittel zu sich nehmen möchten, lieber Tee oder Most oder ein kleines Glas Wein oder Bier, statt an getrockneten Fliegenpilzhäppchen zu knabbern.
Prolog
»Ich will sie aber zur Ostermesse zurückhaben!«, schniefte Luitgard und stampfte mit dem Fuß auf. »Hör auf, dich wie ein trotziges Gör zu benehmen«, blaffte ihr Gatte sie an. »Aber was sollen denn die Leute denken?«, maulte die stämmige Winzersfrau weiter. »Die wissen, dass uns der Weingarten halb abgebrannt ist und ich kein Geld hab. Du wirst ohne Glitzerkram deine Gebete verrichten. Den Herrn wird's nicht stören.« Luitgard sandte ihrem Mann einen bösen Blick unter tränennassen Wimpern und wandte sich abrupt ab, um wütend die verschütteten Körner aus der Küche zu fegen. Der Kerl war ene solche Klotzkopp! Der verstand gar nichts. Man schmückte sich doch nicht wegen der Gebete, verdamp!, sondern um den Nachbarn zu zeigen, was man besaß. Und mehr als ein halbes Jahr war das kostbare Familienerbstück jetzt schon beim Pfandleiher. Klar - der Franz musste es ja beleihen, nachdem die letzte Ernte draufgegangen war. Neue Weinstöcke bekam man nicht um Gotteslohn. Aber wenigstens für die Feiertage könnte er die Fibel wieder auslösen. Wo sie doch noch nicht mal ein neues Kleid zu Ostern bekommen hatte. Grummelnd schwang sie den Besen, und Staubwolken wallten durch die offene Tür. Die Ernte war so schlecht nicht gewesen, er sollte sehen, dass er die paar Fässer zu einem ordentlichen Preis verkauft bekam. Aber nein, er wurzelte jeden Tag im Weingarten herum und kümmerte sich nicht darum, das Gesöff unter die Leute zu bringen. Ihre Älteste, eine energische Dreijährige, lief quengelnd hinter Hanna, der Tagelöhnerin her, die sich bei ihnen als Magd verdingt hatte. Luitgard wandte sich ab und grollte weiter. Sie würde ja selbst mit dem Wein auf den Markt ziehen, aber die drei Blagen hingen ihr am Kittel. Franz hatte ihr verboten, die Geschäfte in die Hand zu nehmen. Dabei gab es eine ganze Reihe Frauen, die Weinhandel betrieben. Luitgard stützte sich auf den Stiel des Reisigbesens. Ein kleiner Faden begann sich zu spinnen. Eine Weinhändlerin in Köln - Alyss vom Spiegel. Von ihr hatte sie in den letzten Tagen einiges gehört. Und zwar Unfassbares. Vor drei Jahren hatte Frau Alyss sie aus ihrem Haus in der Witschgasse geworfen. Weil sie ihr die Schuld daran gab, dass ihr Sohn ertrunken war. Eine Weile hatte Luitgard deshalb sogar ein schlechtes Gewissen gehabt. Eine Amme durfte nicht nachlässig sein. Aber jetzt? Hanna, die Tagelöhnerin, hatte ihr etwas anvertraut, das ein völlig anderes Licht auf die Sache warf. Und mit dieser Erkenntnis, dachte Luitgard zufrieden, würde sie ein hübsches Sümmchen erzielen. Und mit diesem Sümmchen konnte sie die Fibel auslösen. Am Ostertag würde das Sonnenlicht die geschliffenen Rheinkiesel an ihrer Schulter wieder zum Funkeln bringen. Und die Nachbarn würden endlich wissen, dass sie nicht mehr knapsen mussten. Vielleicht war auch noch ein neues Gewand mit drin. Ein prächtiger Plan. Luitgard summte beim Fegen zufrieden vor sich hin.
1. Kapitel
Alyss kennzeichnete die Weinfässchen, die an die Wirtsleute vom »Adler« ausgeliefert werden sollten, mit einem Kreidevog el, diejenigen, die der Turmwächter bestellt hatte, mit einem Turm. Peer, der Handelsknecht, konnte nicht lesen, aber sie hatten ein System von Zeichen vereinbart, sodass die Kunden immer die richtigen Fässer erhielten. Ein schrilles Keifen aus Mädchenkehlen lenkte sie von ihrem Tun ab, und sie drehte sich um. Auf dem Hof stand Lore, breitbeinig, die Hände in die Hüften gestemmt, die roten Haare wild gesträubt, ihre Augen schossen Blitze auf die zierliche Denise. Die allerdings hielt sich die Nase zu und plärrte: »Du stinkst. Comme un crottin. Wie Schiss von Jennet!« »Das Messveech riecht besser als du, Schnuddelnas!« Besagtes Messveech, die Eselin Jennet, stimmte mit einem gleichfalls schrillen Wiehern seiner Freundin zu, und Denise machte einen ängstlichen Schritt rückwärts. Dabei trat sie dem martialischen Hahn in die Seite. Der schlug seinen Schnabel in ihre Wade und krähte dann lauthals seine Empörung heraus. Denise heulte auf, Benefiz begann zu kläffen, und Lore grinste breit und siegesgewiss, als auch noch die Gänseschar, nach biblischem Vorbild Gog und Magog genannt, schnatternd auf das Mädchen zugeschossen kam.
»Lore, ruf die heidnischen Völker zurück«, befahl Alyss ruhig. »Benefiz, Schluss jetzt. Denise, in die Küche mit dir.« Catrin, einen Beutel Weizen in der Hand, trat auf das Schlachtfeld und streute die Körner für die gackernden Hühner aus. Dann blieb sie schnüffelnd stehen. »Es stinkt.« Alyss sog die Luft ein. Ein penetranter Hauch von Verwestem drang an ihre Nase. »Lore?« »Ja, Frau Herrin?« »Du riechst wirklich etwas streng.« »Is nich meine Schuld. Das war der Lutziän.« Eine schwarze Braue hob sich wie ein samtiges Räupchen über Alyss' Auge. »Lucien?« »Der hat einen faulen Fisch in meine Schürze gesteckt.« »Und wo befindet dieser Fisch sich jetzt?« Ein schmuddeliger Daumen wies in die Richtung des schwanzlosen Hundes Benefiz, der auf seinem Hinterteil saß und sich die Lefzen leckte. »Nun gut, dann ist der wenigstens fort. Zieh die Schürze aus, Lore, und wirf sie in den Wäschesack. Catrin wird dir eine frische geben.« »Aber die hab ich doch erst vorgestern ...« »Sie stinkt.« »Ja, Frau Herrin.« Nachdem diese kleine Auseinandersetzung geregelt war, schüttelte Catrin besorgt den Kopf. »Lucien und Denise machen dir viel Arbeit, Alyss. Ich verstehe das gar nicht. Den ganzen Weg von Burgund bis hier haben sie sich anständig benommen. Ich schäme mich für sie.« »Das ist doch nicht deine Schuld. Es sind Kindsköpfe, sie genießen hier ihr neues Leben und wollen wissen, wie weit sie gehen können. Lore wird Denise schon beibringen, nicht so zimperlich zu sein, und Lucien ...« Lucien, eben sechzehn Lenze jung, kam aus dem Weingarten geschossen, Frieder, der achtzehn Winter auf dem Buckel hatte, war ihm auf den Fersen. Sie rasten um den Karren, Lucien stolperte, prallte dagegen, ein Fass löste sich und polterte nach unten. Der Spund brach auf, und roter Wein ergoss sich auf den lehmigen Boden. Frieder rutschte darauf aus, Lucien sprang auf ihn und knallte seinen Kopf auf den Boden. Catrin und Alyss sahen einander wortlos an, packten beide je ein Schaff Wasser und gossen den Inhalt mit Schwung über die kämpfenden Helden. Die fuhren auseinander und starrten sie triefend an. Peer, der knorrige Handelsknecht, hob das Weinfass auf und seufzte. »Den Wein bezahlt ihr«, knurrte Alyss die Kämpen an. »Und jetzt auf die Knie. Beide! Hände gefaltet.« Lucien murrte, bekam einen Knuff von Frieders Ellenbogen in die Rippen und tat wie befohlen. Auch Frieder begab sich auf die Knie. Seine Nase blutete, Luciens Auge schwoll zu. »Je fünfzig Vaterunser und fünfzig Ave-Maria. In reinem, wohlklingendem Latein, meine Herren. Und so laut, dass ich es auch noch in der Küche hören kann. - Denise!« »Ja, Frau Alyss?« »Du zählst. Wenn sich einer vertut, muss er doppelt beten. Möge der Herr Euch gnädig sein.« Damit wandte Alyss sich ab und ging ins Haus. »Ave Maria, gratia plena ...«, schallte es laut und zweistimmig über den Hof. »Lucien braucht eine starke Hand«, sagte Catrin. »Was haben wir dir nur aufgebürdet!« »Frieder ist auch kein Unschuldslamm. Aber mein Bruder wird bald zurückkommen und John hoffentlich auch. Die werden Lucien schon zu bändigen wissen.« Alyss ging in die Speisekammer und nahm den Krug mit dem roten Burgunder, schenkte Catrin und sich je einen Becher ein und tat einen tiefen Schluck. Der Tag hatte schon seine Höhepunkte gehabt. »Der ist richtig gut«, sagte sie und setzte sich auf den H ocker am Herd. »Ihr habt die beste Qualität erworben.« »Mhm«, meinte Catrin und nippte an ihrem Becher. Vor einer Woche war sie mit ihrem frisch angetrauten Ehemann von ihrer Reise ins Frankenland zurückgekommen, wo sie einen reichen Vorrat an Wein eingekauft hatten. Außer den Fässern aber waren auch die beiden jungen Leute, entfernte Verwandte, eingetroffen, die in Alyss' Hauswesen für zwei Jahre gesellschaftlichen Schliff, die deutsche Sprache und die Haushaltsführung lernen sollten. Zumindest an Lucien gab es noch einiges zu schleifen. Aber das schreckte Alyss nicht. Sie hatte gerne junges Volk um sich, und da zwei ihrer Schützlinge das Haus verlassen hatten, um in Kürze zu heiraten, und ein dritter inzwischen seinem Vater zur Hand ging, war es ihr nur recht, dass die beiden in ihre Obhut gegeben worden waren. Auch Lore, die früher ein erbärmlich karges Dasein als Päckelchesträgerin gefristet hatte, lebte inzwischen bei ihr und übte sich in gesittetem Benehmen. Nicht immer gelang es ihr. Die Paternoster draußen schwollen zu einem Brüllen an, und Alyss warf einen kritischen Blick in den Hof. Oh ja, die Gänse! Gog und Magog betrachteten alle, die ihnen nicht aus dem Weg gingen, als Feinde, die man kneifen musste. Und ihre Schnäbel waren sehr hart. Frieder und Lucien knieten inzwischen Rücken an Rücken und versuchten, die heidnischen Völker durch Gebrüll zu vertreiben. Oben vom Verschlag aus, in dem Jerkin, der weiße Gerfalke, hauste, beobachtete Malefiz mit einem kätzischen Grinsen in seinem schwarzen Gesicht das Geschehen. Lore stand an die Türzarge gelehnt und grinste ebenfalls. »Lore, scheuch sie weg.« »Muss ich, Frau Herrin?« »Musst du.« Ganz, ganz langsam schlenderte Lore zu den Gänsen, donnerte dann Gog die Faust auf den Schnabel und trat nach ihm. Protestierend wandte die Schar sich ab, und Gott der Herr wurde in gedämpfteren Lauten angerufen. »Ich muss noch die neue Lieferung und die Einkäufe von heute Morgen in das Haushaltsbuch eintragen«, sagte Alyss und leerte ihren Becher. »Wenn jemand nach mir fragt, ich bin im Kontor.« Das Geschäft florierte, stellte Alyss fest, als sie mit gespitzter Feder ihre Zahlenkolonnen in dem Registerband addierte. Sie hatte einen festen Kundenstamm, den sie regelmäßig belieferte, und dank Mertens Hilfe auch einige Abnehmer außerhalb der Stadtmauern. Der Weiße aus Speyer war süffig, der Burgunder vollmundig, und aus ihrem eigenen Weingarten hatte sie einige Fässer gekeltert, die mit Kräutern und Gewürzen angesetzt einen ganz passablen Claret lieferten. Der Beutel mit dem Haushaltsgeld war gut gefüllt, in der Vorratskammer hingen zwei geräucherte Schinken, Säcke mit Mehl, Erbsen, Grieß und sogar Reis stapelten sich auf den Borden. Goldgelbe Butter, Schmalz und Öl waren in ausreichenden Mengen vorrätig, mürbe Äpfel, eingelegtes Sauerkraut und Gurken, getrocknete Pilze, harter Käse, Töpfe mit Honig und Rosinen - alles wurde ständig aufgefüllt, um das gefräßige Hauswesen zu nähren. Vor allem aber fanden derzeit die eingelegten Heringe, die geräucherten Forellen, der salzige Fastenspeck und frischer Lachs in der Küche Verwendung. Die Fastenzeit würde jedoch am Ende dieser Woche vorüber sein, und Alyss plante bereits das üppige Osteressen. Bei dem Gedanken an den kroschen Lammbraten musste sie schlucken. Es klopfte an der Tür, und ein Herr in einer feinen grünen Heuke, mit Marderfell abgesetzt, trat ein. »Robert!«, sagte Alyss und lächelte ihrem Schwager zu. Er war kein schöner Mann, sein Kinn ein wenig fliehend, über der Stirn lichteten sich die Haare, aber er pflegte sich wohl zu gewanden und auf sein Äußeres zu achten. »Was bedeutet diese lautstarke Glaubensbekundung dort draußen?« »Buße für verschütteten Wein und eine Schlägerei.« »Ist meine männlich starke Hand vonnöten?« »Diesmal wohl nicht. Aber bei dem nächsten Unfug überlasse ich die Sünder gerne dir.« »Es wird nicht lange auf sich warten lassen.« »Vermutlich nicht. Was führt dich in mein Kontor, Schwager? « »Ein Pfandleiher namens Ambrosio di Como. Er wünscht den Erben des Arndt van Doorne zu sprechen.« »Ei wei.« »Soll ich ihn fortschicken?« »Nein, lass nur. Ich spreche mit ihm.« »Ich bleibe dabei, wenn du nichts dagegen hast.« Alyss nickte, und Robert verließ das Kontor, um gleich darauf mit einem äußerst rundlichen Mann zurückzukommen. Der verbeugte sich schwungvoll, dann trat er mit ausgestreckten Händen und tieftrauriger Miene auf Alyss' Schreibpult zu. »Signora, es schmerzt mich so, Euch behelligen zu müssen. So bald nach Eurem schmerzlichen Verlust.« Seine Hände pressten sich auf sein Herz. Alyss musterte ihn kühl. Er war recht dunkel, seine schwarzen Locken glänzten fettig unter seinem Barett, seine großporige Haut glänzte ebenfalls, aber sein Wams, das sich über seinen Bauch spannte, wirkte reinlich. »Was ist Euer Anliegen, Ambrosio di Como?«, fragte sie nüchtern. »Ah, ein Weib, das wenig Worte macht über ihr Leid. Gefasst und besonnen, doch innerlich sicher noch immer verwundet. Meine Ehrerbietung, Signora. Das Leben geht weiter. Und die leidenschaftlichen Gebete der Euren werden Euch Trost sein.« Ein Ave-Maria dröhnte durch die Türritzen, begleitet von der Eselin Gesang. Alyss unterdrückte mannhaft ihre Erheiterung. »Euer Begehr?« »Ah, kein Beileid erwünscht?« Ambrosios Hände flatterten resigniert. »Kommt zur Sache«, sagte Robert. »Ja, die Sache. Es sind zwei Sachen, wohledle Herrschaften, und sie betreffen das Erbe des wohledlen Arndt van Doorne.« »Dessen Erbin ich bin. Was hat er mir hinterlassen?« Misstrauen klang in Alyss' Frage mit. Sie hatte allen Grund, die Machenschaften ihres Gatten auch nach seinem Dahinscheiden noch zu fürchten. Zuletzt hatte sich herausgestellt, dass das Hurenhaus »Zur Eselin« ebenfalls zu dem Erbe gehörte, das er ihr hinterlassen hatte. Das allerdings hatte sie gegen eine echte Eselin, eben jene singende Jennet, eingetauscht. »Im vergangenen Herbst hat der wohledle Herr Gemahl zwei Fässer Salz aus Lüneburg von mir beleihen lassen. Auf ein halbes Jahr. Das aber ist mit dem Osterfest verstrichen. Und darum biete ich sie Euch zur Auslöse an.« »Ich bin Weinhändlerin. Verkauft sie in der Salzgasse.« »Ähm ... ja, aber ...« »Und nun gehabt Euch wohl, Ambrosio di Como.« Der aber wedelte entsetzt mit seine Händen und brauchte noch ein gutes Dutzend Sätze, um seine Verwunderung auszudrücken, seinen Abschied vorzubereiten und den Segen Gottes auf das Haus herabzuflehen. »Sabbelschnüss«, murmelte Alyss, als er endlich gegangen war. »Wortgewaltig und reich an Gesten, in der Tat. Aber du hast recht daran getan, das Salz nicht auszulösen. Mag der Teufel wissen, was sich wirklich in den Fässern befindet.« »Mir egal. - Ah, wie ich höre, ist die Buße getan. Ich werde mich dann mal um die Verwundeten kümmern. Wenn ich es richtig gesehen habe, wird Lucien ein blaues Auge bekommen und Frieder eine mächtige Beule am Kopf entwickeln.« Sie schlug den Registerband zu und wischte die Feder gründlich ab. »Worum ging der Streit der beiden?« »Keine Ahnung. Die Inquisition wird jetzt stattfinden.« Die Befragung, gütlich, nicht peinlich, ergab, dass es um die Beleidigung der Ehre einer Dame gegangen war. Lucien hatte sich abfällig über Alyss' Base Leocadie geäußert, die dem Ritter Arbo von Bachem anverlobt und deren Hochzeit für den Mai geplant war. Frieder, der die schöne Leocadie selbst für ein Tränenkrüglein hielt, verstand Luciens Bezeichnung »bécasse ennuyeuse mit ihrem chevalier de fer claquant« zwar nicht wortwörtlich, wohl aber den Tonfall, in dem sie geäußert worden war, und hatte eine Übersetzung verlangt. Die durch Luciens Mangel an Sprachkenntnis dann noch derber wurde, weshalb Frieder Lucien eins aufs Maul gab. Die Angelegenheit eskalierte darauf. »Langweilige Schnepfe«, flüsterte Alyss die korrekte Übersetzung in Catrins Ohr. »Mit Ritter Klappereisen.« Die seufzte. »Leocadie ist so schön, Alyss, da fällt es nicht sonderlich auf, dass sie nicht zu geistreichen Bemerkungen fähig ist. Aber Lucien muss lernen, seine Zunge zu zügeln. Und sie der unseren Sprache gefügig zu machen.« »Ich werde ihnen Unterricht erteilen. Wenngleich meine Kenntnisse des Welschen langsam eingerostet sind.« »Du hast genug zu tun, Alyss. Aber vielleicht finden wir einen Studiosus, der ihnen Lektionen erteilen kann.« Während sie überlegten, versammelten sich die anderen Mitglieder des Hauswesens in der Küche, und Hilda, die Haushälterin, verteilte die Aufgaben, um das Abendessen zu richten: Lauryn, Frieders Schwester, schnitt das knusprige Brot in Scheiben, Lore, jetzt in frischer, unriechbarer Schürze, verteilte Heringe und junge Zwiebeln auf den Tellern, Frieder schenkte Most aus, Denise schöpfte Quark aus einem Topf, und Lucien hockte schmollend auf der Bank und sandte Malefiz böse Blicke. Den Kater schienen die jedoch nicht zu stören, er rieb seinen Kopf schmeichelnd an Alyss' Bein und bekam ein Stückchen Fisch gereicht. Als alle am Tisch saßen, nickte Alyss Robert zu. Er sollte den Tischsegen sprechen, doch bevor er dazu ansetzte, kam Merten in die Küche gepoltert. »Habt Mitleid mit dem Elend«, rief er und lächelte in die Runde. »Den ganzen Tag habe ich geschuftet und keinen Krumen Brot bekommen. Ich flehe Euch an, werte Dame, gebt einem Verhungernden Nahrung.« »Lauryn, eine weitere Portion Fisch, Quark und Brot! Frieder, Becher und Most! Lucien, rück ein Stück zur Seite!« Merten, der Stiefsohn ihres verstorbenen Gatten, genoss Gastrecht in Alyss' Haus, auch wenn nicht jeder den geckenhaft gekleideten jungen Mann mochte. Sie hatte lange Jahre ein gewisses Mitleid mit ihm gehabt. Früh hatte er den leiblichen Vater, dann die Mutter verloren, war bei einer zänkischen Großmutter aufgewachsen und hatte kein Handwerk und keinen Handel gelernt. Sie war nachsichtig gewesen, doch dann hatte Arndt ihr Vermögen vergeudet, und sie hatte Merten nicht mehr unterstützen können. Seither hatte er einen Teil seines lustigen Lebenswandels aufgegeben und sich um einige ihrer Kunden gekümmert. So weit, so gut, doch seit dem letzten Herbst hatte er begonnen, ihr den Hof zu machen, und das war ihr mehr als unangenehm. Auch jetzt warf er ihr heimliche Blicke zu, die selbstredend nicht unbemerkt blieben. Lucien stupste seine Schwester Denise an und verkündete in deutlich hörbarem Geflüster: »Vois comme il bave. Il veut à sa chemise.« »Lucien, tais-toi!«, raunzte Robert ihn an. Der zog nur laut die Nase hoch und erhielt von Hilda, die hinter ihm am Herd werkelte, eine kräftige Kopfnuss. »Au!« »Benimm dich, Junge. Und kein welsches Zeug mehr.« »Isch nix kann Kölsch.« »Dann lernst du es. Robert, kannst du uns einen Lehrer für Denise und Lucien finden? Unter den Händlern wird doch sicher der eine oder andere sein, der beide Sprachen beherrscht und einen harten Stock zu führen weiß.« »Ich höre mich um. Den harten Stock allerdings weiß ich auch zu führen.« Denise flüsterte jetzt auf ihren Bruder ein, der ein immer düstereres Gesicht zog. Alyss hatte den Verdacht, dass das Mädchen weit mehr verstand als er. Der Rest des Abendmahls verlief friedlich, und als schließlich der Tisch abgeräumt war, fragte Catrin Alyss leise: »Was hat er gesagt?« »Dass Merten geifert und an meinen Kittel will.« »Da hat er wohl leider recht, der kleine Unhold.«
2. Kapitel
Marian trottete die Stiege zum Schlafraum des Gasthauses hoch. Ihm war kalt, er war müde, und seine Schulter schmerzte, weil ein ungebärdiges Maultier der Meinung gewesen war, dass er die Schuld an dem trüben Regenwetter trug. Der Biss ging zwar nicht tief, aber er war sicher, dass er einen prächtigen blauen Fleck hinterlassen hatte. In seinem Beutel würde er einen Topf mit Arnikasalbe finden und sich verarzten, bevor er sich zum Schlafen niederlegte. Bett - je nun. Fünf breite Betten standen Seite an Seite in dem muffigen Raum unter dem Dach, drei davon waren bereits belegt, und sonores Schnarchen dröhnte aus ihnen. Im flackernden Schein der Tranlampe wühlte er in seinem Gepäck und stellte missmutig fest, dass sein kostbarer Vorrat an Heilsalbe beinahe erschöpft war. Mit einem leisen Stöhnen zog er die feuchten Lederstiefel aus, schälte sich aus den Kleidern und betrachtete seine malträtierte Schulter. Schwärzlich schimmerte die Haut, und mit zusammengebissenen Zähnen behandelte er die wunde Stelle. Dann legte er sein Untergewand wieder an und kroch unter die schäbige Decke. Zwei Wochen noch - mehr oder weniger, dann würde er wieder zu Hause sein. Reisen war anstrengend, vor allem so früh im Jahr. Aber trotz aller Widrigkeiten war Marian nicht unzufrieden. Die Zeit in Venedig war erfolgreich gewesen, die Handelsgeschäfte blühten, und in den Ballen und Gebinden, die seine Gesellschaft mit sich führte, befanden sich vielfältige Waren, die er mit großem Gewinn zu veräußern gedachte. So hatte er prunkvolle Seiden aus dem Morgenland erstanden, Spezereien aus den Ländern jenseits des mittelländischen Meeres, feinstes Papier aus der Lombardei und vor allem Glaswaren aus Venedig. Die bunten Perlen würden die Herzen der Frauen höherschlagen lassen. Vermutlich auch das seiner Zwillingsschwester Alyss. Aber als er die Kostbarkeiten aussuchte, war es Gislindis gewesen, die seine Hand geführt hatte. Marian lächelte im Dunklen. Die Tochter des Messerschleifers schlich sich oft in seine Gedanken. Sie war eine weise Frau und klug obendrein. Sie war auch ein schönes Weib, mutig und treu. Er hatte einst mit ihr getändelt, müßig und ohne Absicht. Dann aber hatte er gemerkt, dass er sich in ihrer Gegenwart glücklicher fühlte und die Wunden in seinem Gemüt allmählich aufhörten, ihn zu bedrücken. Bei seiner letzten Reise in den Süden hatte eine junge Frau sein Herz erobert, doch sie war gestorben und hatte eine Leere hinterlassen, die kaum zu ertragen gewesen war. Heute jedoch fragte er sich, ob sie wirklich glücklich mit ihm geworden wäre, ein Kind südlicher Sonne - konnte man es wie ein Zitronenbäumchen in den Norden verpflanzen? Und schließlich gestand er sich ein, dass er sich nun nach Gislindis sehnte, nach ihrer Freundschaft, ihrem Witz und ihren süßen Küssen. Sie war von niederem Stand, die Tochter einer Fahrenden und eines wolfsrachigen Messerschleifers, und in den Augen der Welt würde er nur ein ungesegnetes Verhältnis mit ihr eingehen können. Das aber wollte er ihr nicht antun. Sechs Monate war er nun unterwegs, und während dieser Zeit hatte er Pläne geschmiedet. Pläne, die möglicherweise nicht einfach auszuführen waren, aber wenn die passenden Umstände zusammenkamen, würde er Gislindis eines Tages doch als sein Weib heimführen. Vorsichtig drehte Marian sich auf die Seite seiner gesunden Schulter. Sein eigenes Bett hatte eine weiche Matratze aus Daunen, die Decke war flauschig gefüllt und aus feinstem Leinen. Hier stach ihm hartes Stroh durch das löchrige Laken in die Hüften, und das Kopfpolster strömte den knoblauchartigen Geruch von jenen aus, die vor ihm auf diesem Lager übernachtet hatten. Ein weiterer Gast betrat den Raum, rülpste, ließ seine Stiefel zu Boden poltern und sank schwer auf die andere Seite des Bettes. Bierdunst umgab ihn, und er zerrte an der Decke. Marian musste sich einen kurzen, heftigen Kampf mit ihm liefern, aber dann war der Kerl eingeschlafen, und er rettete seinen Anteil an der Decke. Der Schlummer blieb ihm fern, aber damit fand Marian sich ab. Es gab Dinge, über die er nur des Nachts nachdenken konnte, den Tag über musste er beständig sein Augenmerk auf die Mitglieder seiner Reisegruppe lenken, musste das Umladen der Fracht beaufsichtigen, mit den Karrenführern und Schiffseignern handeln, Obdach für seine Männer suchen und die Wegstrecken festlegen. Bis Straßburg waren sie nun gekommen, ohne dass es nennenswerte Verluste gegeben hatte. Ab morgen würde es leichter werden, die Fracht würde auf einen Oberländer verladen und stromabwärts Richtung Köln verschifft werden. Die Ostertage wollten sie in Speyer verbringen. Dort hatte das Handelshaus derer vom Spiegel eine Niederlassung, und die drei Tage Ruhe würden ihnen allen guttun. Es war richtig, dass er sich endlich entschieden hatte, die Nachfolge seines Vaters in den Handelsgeschäften anzutreten, befand Marian. Auch wenn die ärztliche Heilkunst noch immer einen gewissen Reiz auf ihn ausübte. Vor zwei Jahren, nach dieser entsetzlichen Spanienfahrt, als er und sein Tross überfallen worden waren, er seine Geliebte verloren hatte und dabei selbst schwer verwundet worden war, hatte er geschworen, Köln nie wieder zu verlassen. Stattdessen wollte er lernen, wie man Kranke und Verletzte heilt - und eigentlich hatte er den vermessenen Wunsch gehegt, Tote wieder zum Leben zu erwecken. Er hatte die Hebammenkunst gelernt - verbotenerweise, denn Männern war diese Tätigkeit nicht erlaubt. Er hatte das Knocheneinrenken vom Meister Hans, dem Henker, beigebracht bekommen, und die Apotheker Trine und Jan hatten ihm die Geheimnisse der Heilkräuter und Gifte enthüllt. Und bis vor Kurzem war er sogar dem Bader Pitter zur Hand gegangen, wenn es um blutige Operationen ging. Die theoria der Medizin hatte er in den Folianten der Universität und in der Infirmerie des Klosters zu ergründen versucht, aber die praktische Seite hatte ihn immer weit mehr fasziniert. Sofern sie nicht mit Schmerzen verbunden war. Und das war schließlich auch ein Grund für ihn, dem Studium der Heilkunst zu entsagen. Seine dumme, lästige Gabe, die Schmerzen seiner Patienten erspüren zu können, half ihm zwar, die Krankheit zu erkennen, aber die Behandlung, vor allem wenn es um Knochenrichten und Schneiden ging, fiel ihm schwer. Also hatte er für sich entschieden, dass er helfen würde, wenn man ihn darum bat, aber als Beruf würde er die Heilkunst nicht ausüben. Immerhin, diese Reise hatte ihm in Venedig einige interessante Gespräche beschert. Ein jüdischer Arzt und ein arabischer Kollege hatten sich an seinen Kenntnissen und Ideen erfreut und ihm ihrerseits etliche Geheimnisses ihrer medizinischen Traditionen weitergegeben. Und so war er auch in der Lage gewesen, einem freundlichen Kontoristen erfolgreich den Star zu stechen, allerlei Reisebeschwerden seiner Leute zu mildern und verrenkte Glieder zu richten. Sein Bettgenosse wälzte sich auf ihn und hauchte ihm seinen Atem ins Gesicht. Marian rutschte zum Bettrand, befreite sich aus der Umarmung und den Decken und zog tastend Stiefel, Hose und Wams an. Leise verließ er den dumpfen Schlafraum. Die Gaststube war leer, der Riegel vor der Tür. Er öffnete ihn und schlüpfte hinaus in den Hof. Dankbar atmete er die kühle Nachtluft ein. Dann wandte er sich den Ställen zu. Sein Pferd wieherte verhalten, als er sich zu ihm ins Stroh setzte. »Gestatte, dass ich die Nacht wieder bei dir verbringe, mein Freund.« Das Tier gestattete, und Marian streckte sich auf dem Boden aus. Es war hart, das Stroh nicht mehr ganz frisch, aber wenigstens hatte sein Pferd kein Bier getrunken und keine scharf gewürzten Speisen zu sich genommen. Noch einmal wanderten seine Gedanken der Heimat entgegen, und in seiner Vorstellung zog er die lavendelduftende Decke seines eigenen Bettes über sich, und darüber schlief er ein.
3. Kapitel
Der Tag hatte sonnig begonnen, und nachdem Alyss die Pflichten und Aufgaben verteilt hatte, war sie mit Jerkin auf dem Handschuh zum Weingarten gegangen. Die Wurzeln der Reben hatten sie in den letzten Tagen abgedeckt, die Stecken aufgerichtet, bald würde sie die jungen Triebe daran hochbinden. Wieder nahte ein Frühling, wieder vollendeten sie und ihr Bruder ein Lebensjahr. Ihr sechsundzwanzigstes war es, und als der Falke sich in den blauen, wolkenlosen Himmel erhob, wischte sie sich eine ungebärdige Locke aus der Stirn. Sie war eine alte Frau geworden. Eine kinderlose alte Witwe ... Fort!, befahl sie diesem trüben Gedanken. Was für ein Unsinn. Ihre Ziehschwester Catrin war neun Jahre älter als sie und hatte nun doch einen Gatten gefunden. Nicht nur das, es wollte ihr sogar scheinen, dass sie gesegneten Leibes war. Welch ein Glück sie hatte. Als Kind war Catrin ein unscheinbares Geschöpf gewesen, das nur stammeln und stottern, nicht aber sprechen konnte. Alyss' Mutter Almut hatte sie zu sich genommen, und in deren Obhut hatte sie gelernt, ihre Zunge zu disziplinieren. Sie hatte jedoch die Ehelosigkeit in dem Beginenkonvent am Eigelstein den Freiern vorgezogen, die ihre Eltern für sie ausgesucht hatten. Zu Alyss' Schwager Robert aber hatte sie eine keusche Zuneigung entwickelt, die er ebenso keusch zu erwidern schien. Dann war er vor zwei Jahren Opfer eines bösartigen Anschlags geworden. Sein eigener Bruder, Alyss' Gatte, hatte den gewalttätigen Friesen Yskalt aufgehetzt, ihn zu ermorden. Doch der Zufall wollte es, dass der Mörder den Falschen erschlug und Robert untertauchen konnte. Dabei war ihm der englische Tuchhändler John of Lynne eine entscheidende Hilfe gewesen. Bis zum vergangenen Jahr hatte er John als dessen struppiger Diener Bob begleitet und zusammen mit ihm über Alyss' Hauswesen und auch über Catrin gewacht. Alyss hatte ihren Schwager schon früher sehr gernegehabt, er war ein vernünftiger Mann mit einem feinen Sinn für Humor. Die vergangene Zeit, die er unter harten Bedingungen verbracht hatte, hatten ihn jedoch entschlossener werden lassen - und auch breitschultriger. Als dann endlich die Tage des Versteckens gezählt waren, hatte er sich Catrin erklärt, und sie hatte freudig das Beginendasein aufgegeben. Als Hebamme aber würde sie weiterhin tätig sein, wenn man ihre Dienste wünschte. Benefiz hechelte hinter Malefiz her, der wiederum sein Jagdrevier in dem Rebgarten hatte. Oben stieß der Falke seinen schrillen Schrei aus. John würde bald zurückkommen. Alyss hatte eine Botschaft von ihm erhalten, in der er ihr den Tod seines Vaters kundtat. Einige Regelungen zur Erbschaft mussten noch getroffen, Waren mussten eingekauft werden, danach aber wollte er nach Köln zurückkehren. Und dann? Johns scheinheilig-frommes Weib hatte den Schleier genommen, seine unselige Ehe war aufgelöst. Als sie im Herbst den Mörder von Arndt van Doorne gefunden hatten, den Bettelscholaren Caspar, den Merten dann im Streit erschlug, da war auch sie, Alyss, frei geworden.
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Autoren-Porträt von Andrea Schacht
Andrea Schacht war lange Jahre als Wirtschaftsingenieurin und Unternehmensberaterin tätig, hat dann jedoch ihren seit Jugendtagen gehegten Traum verwirklicht, Schriftstellerin zu werden. Ihre historischen Romane um die scharfzüngige Kölner Begine Almut Bossart gewannen auf Anhieb die Herzen von Lesern und Buchhändlern. Mit Die elfte Jungfrau kletterte Andrea Schacht erstmals auf die SPIEGEL-Bestsellerliste, die sie seither mit schöner Regelmäßigkeit immer neu erobert. Sie lebt mit ihrem Mann und zwei Katzen in der Nähe von Bonn.
Bibliographische Angaben
- Autor: Andrea Schacht
- 384 Seiten, Maße: 14,5 x 22 cm, Geb. mit Su.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863655087
- ISBN-13: 9783863655082
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