Das Moor des Vergessens
In der Idylle des Lake District wird eine zweihundert Jahre alte Moorleiche entdeckt. Der Tote weist bizarre Tätowierungen aus der Südsee auf und bestärkt einen Verdacht, den die junge Literaturwissenschaftlerin Jane Gresham schon länger hegt: Könnte es...
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In der Idylle des Lake District wird eine zweihundert Jahre alte Moorleiche entdeckt. Der Tote weist bizarre Tätowierungen aus der Südsee auf und bestärkt einen Verdacht, den die junge Literaturwissenschaftlerin Jane Gresham schon länger hegt: Könnte es sich um die sterblichen Überreste von Fletcher Christian handeln, jenem legendären Anführer der Meuterei auf der Bounty? Ist er damals vielleicht heimlich zurückgekehrt und hat mit seiner abenteuerlichen Geschichte William Wordsworth, dem berühmten Dichter und Jugendfreund, den Stoff für ein verschollenes Meisterwerk geliefert? Jane scheint nicht die Einzige zu sein, die auf der Suche nach dem wertvollen Manuskript ist. Denn plötzlich geht der Tod um. Innerhalb kurzer Zeit verlieren alle, bei denen man das Epos vermutet, auf mysteriöse Weise ihr Leben.
Jane scheint nicht die Einzige zu sein, die auf der Suche nach dem wertvollen Manuskript ist. Denn plötzlich geht der Tod um. Innerhalb kurzer Zeit verlieren alle, bei denen man das Epos vermutet, auf mysteriöse Weise ihr Leben ...
Das Moor des Vergessens von Val McDermid
LESEPROBE
Jane Gresham starrte auf das, wassie geschrieben hatte, hinunter und strich es dann mit einem ungeduldigenFederstrich so heftig durch, dass das Papier zerriss. Dieser Scheiß-Jake,dachte sie wütend. Sie war doch erwachsen, kein verliebter Teenager. Undpseudo-lyrische Ergüsse waren etwas, das sie schon seit Jahren hinter sichhaben sollte. Sie konnte sich selbst gut genug einschätzen, dass ihr bereitsbei ihrem ersten Uniexamen klar gewesen war, eine Dichterin würde sie nie sein.Sie war gut im Studium von Gedichten anderer, im Interpretieren ihrer Werke,den thematischen Zusammenhängen ihrer Verse, und konnte sie in ihrerKomplexität anderen zugänglich machen, denen sie, so hoffte sie jedenfalls,darin einige Schritte voraus war. »Gemeiner Kerl«, sagte sie laut, zerknülltedas Blatt und warf es in den Papierkorb. Er verdiente es nicht, dass sie sichseinetwegen den Kopf zerbrach. Und genauso wenig hatte er den ihr so vertrautenSchmerz verdient, der sie bei dem Gedanken an ihn ergriff.
Sie wollte nicht mehr an Jake denkenund wandte sich in dem engen Zimmer, das die Wohnungsbehörde zwar als Schlafzimmer einstufte, das sie aber inbewusster Anmaßung ihr Arbeitszimmer nannte, einem Stoß CDs neben demSchreibtisch zu. Sie las die Titel und fing bei der Suche nach einem Song, dersie nicht an ihn erinnerte, absichtlich am unteren Ende an. Was war ereigentlich? Ihr Ex? Ihr ehemaliger Liebhaber? Ihr zeitweilig nicht verfügbarerLover?
Wer wusste das? Sie jedenfallsnicht. Und sie hatte wirklich Zweifel daran, dass er nach einer Woche überhauptnoch einen Gedanken an sie verschwenden würde. Leise vor sich hin murmelnd, zogsie Nick Caves Murder Ballads heraus und legte sie ins CD-Laufwerk ihresComputers. Die dunkel grollende Stimme passte so gut zu ihrer Stimmung, dasssie paradoxerweise wie ein Gegenmittel wirkte. Unwillkürlich lächelte Jane.
Sie nahm das Buch, das sie hattelesen wollen, bevor Jake Hartnell sie abgelenkt hatte. Aber sie brauchte nurein paar Minuten, bis ihr klar wurde, wie weit sie in Gedanken davon entferntwar. Ärgerlich über sich selbst schlug sie heftig das Buch zu. WordsworthsBriefe von 1807 würden eben warten müssen. Bevor sie sich entschieden hatte,was sie als Nächstes in Angriff nehmen wollte, klingelte der Wecker ihresMobiltelefons. Jane runzelte die Stirn und verglich die Zeit auf ihrem Telefonmit der auf ihrer Uhr. »Verflixt«, sagte sie. Wie war es möglich, dass es schonnach halb zwölf war? Wo war der Morgen geblieben?
»Scheiß-Jake«, sagte sie wieder,sprang auf und schaltete den Computer ab. So viel Zeit mit dem Gedanken an ihnzu vertrödeln, wo es doch bessere Dinge gab, auf die man sich stürzen konnte.Sie griff nach ihrer Tasche und ging ins andere Zimmer. Offiziell war dies ihrWohnzimmer, aber Jane nutzte es als Wohn-/Schlafraum, weil sie lieber einenRaum ausschließlich zum Arbeiten haben wollte. Dadurch war der Rest der Wohnungetwas beengt, aber sie fand, das war kein zu hoher Preis dafür, dass sie einenPlatz hatte, wo sie ihre Bücher und Papiere liegen lassen konnte, ohne jedesMal alles wegräumen zu müssen, wenn sie essen oder zu Bett gehen wollte.
Das kleine Zimmer bot selbst fürihren spartanischen Lebensstil kaum genug Raum. Ihre Bettcouch nahm den meistenPlatz ein, obwohl sie jetzt zusammengeklappt war. An der gegenüberliegendenWand stand ein Tisch mit drei darunter geschobenen Stühlen. Ein kleinerFernseher war hoch oben auf einem Wandarm montiert, und ein Knautschsessel lagganz hinten in der Ecke. Aber mit dem frischen lindgrünen Anstrich wirkte dasZimmer hell und freundlich. Der Couch gegenüber hingen einige farbigeDigitalfotos vom Lake District, die auf A3-Format vergrößert und laminiertwaren. Mitten in der Landschaft lag Greshams Farm, wo ihre Familie, so weit manzurückdenken konnte, ihr mageres Auskommen gefunden hatte. Egal, wie es draußenvor den Fenstern aussah, Jane konnte morgens in der Welt aufwachen, in der sieaufgewachsen war und die ihr immer noch an jedem einzelnen Tag ihresStadtlebens fehlte.
Sie zog ihre Freizeithose und ihrOberteil aus Fleecestoff aus und eine enge schwarze Jeans und ein schwarzesStretchtop mit spitzem Ausschnitt an, das ihre ansehnlichen Brüste betonte. Eswar keineswegs ihre Lieblingskleidung, aber die Erfahrung hatte ihr gezeigt,dass sie mehr Trinkgelder von den Gästen bekam, wenn sie ihre Vorzügeunterstrich. Glücklicherweise wirkte sie dank ihres dunklen Teints in schwarzerKleidung nicht sterbenskrank, und ihr Kollege Harry hatte ihr versichert, dasssie in dem engen Top nicht so plump aussah, wie sie sich vorkam. Nach einemBlick aus dem Fenster auf das Wetter nahm sie ihre Regenjacke vom Haken,streifte sie über und eilte zur Wohnungstür. Es war ihr egal, dass sie allesandere als chic aussah, bei diesem Platzregen war es ihr wichtiger, trocken undwarm zur Arbeit zu kommen. Jane warf wie immer einen letzten Blick auf dieAnsichten vom Lake District, bevor sie in eine völlig andere Welt hinausging.Sie glaubte nicht, dass irgendjemand in Fellhead sich ihre jetzige Umgebungvorstellen konnte, nicht einmal in seinen schlimmsten Träumen. Als sie ihrerMutter gesagt hatte, dass ihr eine Sozialwohnung in der Marshpool-Farm-Siedlung zugeteilt worden sei, hatte Judy Gresham gestrahlt.
»Das ist aber schön, Schatz«, sagtesie. »Ich wusste gar nicht, dass es in London Farmen gibt.« Jane schüttelteresigniert, aber zugleich amüsiert den Kopf. »Es gibt dort seit Ewigkeitenkeine Farm mehr, Mum. Es ist eine Wohnsiedlung aus den sechziger Jahren. Betonso weit das Auge reicht.« Enttäuschung trat auf das Gesicht ihrer Mutter. »Ach.Na ja, wenigstens hast du ein Dach über dem Kopf.« Dabei beließen sie es. Janekannte ihre Mutter gut genug, um sich darüber klar zu sein, dass sie dieWahrheit gar nicht wissen wollte. Jane erfüllte nämlich so wenige dererforderlichen Bedingungen, dass die einzige Wohnung, die die Wohnungsbehördeihr anbieten würde, genau einer solchen Behausung entsprach, in der siegelandet war. Ein Hasenstall, für den kaum ein Mieter zu fi nden war, in einerheruntergekommenen Siedlung im East End, wo fast niemand legale Arbeit hatte,wo Tag und Nacht die Kinder ohne Aufsicht herumtobten und wo es mehr gebrauchteKondome und Spritzen gab als Grashalme. Nein, Judy Gresham würde sich aufkeinen Fall vorstellen wollen, dass ihre Tochter an einem solchen Ort lebte.Von allem anderen abgesehen, würde es ja auch die Möglichkeiten sehreinschränken, mit Jane und ihrem Erfolg anzugeben.
Aber ihrem Bruder Matthew hatte siees erzählt. Alles war ihr recht, um die Bitterkeit zu dämpfen, die er empfand,weil sie diejenige war, die es geschafft hatte, wegzugehen, während er, wie ersich ausdrückte, im hinterletzten Kaff verschimmelte, wo ja wegen der Elternjemand bleiben musste. Es spielte dabei keine Rolle, dass er als der Älterezuerst ausgeflogen war, studiert und dann beschlossen hatte, zu der Arbeitzurückzukommen, die er sich immer schon gewünscht hatte. Matthew, dachte Jane,war einfach schon beleidigt zur Welt gekommen. Das Ironische daran war, dass JaneLondon sofort gegen Fellhead eingetauscht hätte, wenn sie dort die geringsteChance gehabt hätte, der Arbeit nachzugehen, die sie liebte.
Aber es gab im Lake District keineStellen für Akademiker, nicht einmal für eine Wordsworth-Spezialistin wie sie.Höchstens wenn sie die streng wissenschaftliche Forschung gegen Vorträge inSchulen über die Dichter des Lakeland eingetauscht hätte. Doch bestimmt hättenichts anderes ihre Liebe zum Wort schneller zerstört. Also saß sie hier imschlimmsten städtischen Inferno fest. Jane drückte das Kinn auf die Brust, alssie über die Galerie zum Treppenhaus ging. Die Bauweise ihres Blocks konnte sienur einer bösartigen Laune des Architekten zuschreiben, denn der Wind aus dermeistens vorherrschenden Richtung pfiff so über die Fußwege, dass einem selbstdie sanfteste Sommerbrise stürmisch und unangenehm vorkam. An diesemregnerischen Herbsttag fegte der Wind in jede Ecke und jeden Winkel desGebäudes und drang in die Kleider der Bewohner, die sich aus ihren Wohnungenherauswagten.
Jane wandte sich dem Treppenhaus zuund hatte kurz Ruhe vor ihm. Mit dem Aufzug fahren zu wollen war sinnlos. Sieignorierte die Graffi ti mit den vielen Rechtschreibfehlern, dieunappetitlichen Abfallhäufchen, die vom Wind in die Ecken geweht worden waren,und den Gestank von Fäulnis und Urin und ging die Treppe hinunter. An derersten Biegung drehte es Jane fast den Magen um. Der Anblick war ihr sovertraut, dass sie eigentlich daran hätte gewöhnt sein müssen, aber jedesmal,wenn sie die kleine Gestalt im wackeligen Lotossitz drei Stockwerke höher aufdem schmalen Treppengeländer sitzen sah, zitterten ihr die Knie.
»He, Jane«, rief die kleine Gestaltleise. »Hallo, Tenille«, antworteteJane und zwang sich trotz ihrer Angst zu einem Lächeln. Tenille streckte dieBeine aus und ließ sich mit todesverachtender Lässigkeit auf den feuchten Betonneben Jane gleiten. »Weißte wasNeues?«, fragte die Dreizehnjährige, während sie neben ihr herging. »Ich weißnur, dass ich zu spät zur Arbeit komme, wenn ich mich nicht beeile«, sagteJane, beschleunigte ihre Schritte und lief die Treppe hinunter. Tenille ginggenauso schnell, und ihre langen Dreadlocks hüpften auf ihren schmalenSchultern.
»Ich komm mit«, sagte Tenille undversuchte mit recht kümmerlichem Erfolg den großspurigen Gang der kleinenGangster nachzuahmen, die sich im Labyrinth dieser trostlosen Siedlungherumtrieben und ihr Gewerbe von älteren Brüdern, Cousins oder sonstirgendjemandem lernten, der es geschafft hatte, lange genug außerhalb der Knastmauernzu bleiben, um es ihnen beizubringen. »Ich hör mich nicht gern wie ne altespießige Nervensäge an, Tenille, aber solltest du nicht in der Schule sein?« Eswar Janes üblicher Spruch, und sie wusste die Antwort schon im Voraus. »DieLehrer ham mir nix zu sagen«, antwortete Tenille automatisch und machte nochgrößere Schritte, um mit Jane mithalten zu können, als sie die Straßeerreichten. »Was wissen die schon von meinem Leben?« Jane seufzte. »Ich habsso satt, Tenille, immer wieder das Gleiche von dir zu hören. Du bist doch vielzu intelligent, um dich mit dem Mist abzufinden, der auf dich zukommt, wenn dukeine Ausbildung hast.« Tenille steckte die Hände in die Taschen ihrer dünnenJacke aus Lederimitat und zuckte abwehrend die schmalen Schultern. »Ach, scheiß drauf«, sagte sie. »Ich willdoch kein Brutkasten für so n kleenen Scheißer sein. So n Baby-Mamma-Drama is nix für Tenille.«
Sie passierten einen Durchgang unterdem Wohnblock und kamen neben einer Schnellstraße wieder heraus, wo Autosvorbeirasten, deren Fahrer sich freuten, endlich aus dem zweiten Ganghochschalten zu können, sodass die Reifen auf dem nassen Asphalt zischten.»Schwer, sich vorzustellen, wie du dasvermeiden willst, wenn du deinen Kopf nicht anstrengst «, sagte Jane trocken undhielt gebührenden Abstand von der Straße und den vorbeifahrenden, spritzendenFahrzeugen. »Ich will so sein wie du,Jane.« Dies war ein Wunsch, den Jane schon unzählige Male von Tenille gehörthatte. »Dann geh in die Schule«, sagtesie und versuchte, ihre Frustration zu verbergen. »Ich hasse das sinnlose Zeug,was wir dort machen müssen«, sagte Tenille und verzog die Lippen zu einemspöttischen Grinsen, das ihr unbefangenes nettes Gesicht zu einer starrenverächtlichen Maske machte. »Es ist nicht so wie die Sachen, die du mir zulesen gibst.« Ihre Ausdrucksweise hatte sich vom Straßenslang zuvorschriftsmäßigem Englisch gewandelt, als erlaube ihr das Verlassen derSiedlung, ihre Rolle abzustreifen und sich als normaler Mensch zu geben.
»Das ist mir klar. Aber auch ichhabe mein Ziel noch nicht erreicht, weißt du. Als ich angefangen habe, wollteich eigentlich nicht in Bars und Seminarräumen jobben, während ich mein Buchschreibe, damit ich eine richtige Stelle bekommen kann. Aber um auch nur soweit zu kommen, musste ich den gleichen Mist durchmachen. Und es stimmt, ichbetrachte den größten Teil davon als Mist«, fuhr sie fort und übertönte damit,was immer Tenille noch hatte einwenden wollen. Sie wünschte, sie könnte ihretwas anderes als Plattitüden bieten, aber sie wusste nicht, was sie einerdreizehnjährigen Waise mit dunkler Haut sagen sollte, die Wordsworth,Coleridge, Shelley und De Quincey nicht nur verehrte, sondern auch dieBedeutung ihrer Werke mit einer Leichtigkeit erfasste, die zu erreichen Janeselbst zehn Jahre konzentrierten Studiums gekostet hatte. Tenille wich einemKinderwagen aus, in dem ein Kleinkind mit schokoladebeschmiertem Mondgesichtund einem Schnuller im Mund lag, der wie ein Stöpsel die Luft zu stoppenschien, damit die dicken Backen aufgeblasen blieben.
Die junge Frau, die den Kinderwagenschob, wirkte nicht viel älter als Tenille. »So was schaff ich einfach nicht,Jane«, sagte Tenille niedergeschlagen. »Vielleicht könnte ich irgendwas anderesmit Versen machen. Rappen wie Ms. Dynamite«, fügte sie hinzu, klang aber nichtsehr überzeugt. Sie wussten beide, dass es nie so weit kommen würde. Außer wennjemand eine Droge zur Hebung des Selbstbewusstseins erfände, die Jane ihrspritzen könnte, bevor sie dem Heroin verfiel, das die halbe Siedlung alsBeruhigungsmittel zu nehmen schien. Jane blieb an der Bushaltestelle stehen undwandte sich Tenille zu. »Niemand kann dir die Worte in deinem Kopf wegnehmen«,sagte sie.
Tenille zupfte an einem abgekautenFingernagel und starrte auf den Gehweg. »Meinst du, das weiß ich nicht?«,schrie sie beinahe. »Wie sonst meinst du, verdammt noch mal, schaffe ich es, zuüberleben?« Plötzlich drehte sie sich auf den Fußballen um, lief weg und sprangmit überraschend eleganten Bewegungen wie eine Gazelle den unebenen Bürgersteigentlang. Sie verschwand in einer Gasse, und Jane empfand die gewohnte Mischungaus herzlicher Zuneigung und Frust.
© Droemer Knaur
Übersetzung: Doris Styron
- Autor: Val McDermid
- 2008, 4. Aufl., 544 Seiten, Maße: 12,3 x 18,8 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Doris Styron
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 3426635151
- ISBN-13: 9783426635155
- Erscheinungsdatum: 11.01.2008
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