Das Sklavenschiff

jeden erfahrenen Seemann sofort klar, dass sie als Getreidetransporter gebaut worden war, dazu bestimmt, den Weizen, den Hafer und den Roggen, der auf den Feldern im Hinterland von Vannes angebaut wurde, in die nahe gelegenen Häfen von Nantes und Bordeaux oder vielleicht auch bis nach Spanien zu befördern.

Der Erste Leutnant Robert Durand, ein hochgewachsener junger Mann mit braunem Haar, nahm den ersten Eintrag ins Schiffstagebuch vor, bevor die Diligent ihren Anker lichtete. Mit einem eleganten Schlenker seines Gänsekiels malte er den Buchstaben "A" hin, dreieinhalb Zentimeter hoch und oben und unten in zierliche Schnörkel auslaufend. In großen Buchstaben schrieb er dann auf Latein weiter, bis er Ad Majorem Dei Gloriam Virginis q: Mariae zu Papier gebracht hatte: Zum größeren Ruhme Gottes und der Jungfrau Maria. Vom Lateinischen ins Französische übergehend, hielt er anschließend fest, welches das Ziel der Reise war. "Mit der Hilfe Gottes", schrieb er, "unternehmen wir es, von Vannes, wo wir für unsere Fahrt seeklar gemacht wurden, mit dem Schiff Diligent, welches den Brüdern Billy und M. La Croix, unseren Ausrüstern, gehört, zur Küste von Guinea zu segeln und von dort nach Martinique, um daselbst unsere Schwarzen zu verkaufen und dann nach Vannes zurückzukehren."

Was einen an Robert Durands Worten vor allem anderen frösteln macht, ist der nüchterne und geschäftsmäßige Ton. Er schrieb über den Handel mit Menschen genauso, wie er über den Verkauf von Fässern voll Wein oder einer Ladung Weizen geschrieben hätte. Seine Worte enthalten keinerlei Hinweis darauf, dass seine Mission ihn mit einem Gefühl von Scham oder mit moralischen Zweifeln erfüllte. Wäre dies der Fall gewesen, so hätte er die Reise nicht gleich zum Auftakt mit solch prächtigem Schnörkel der Mehrung des Ruhmes "Gottes und der Jungfrau Maria" gewidmet. Dabei war Durand kein hartgesottener Sklavenhändler; er zählte erst 26 Jahre, und dies sollte seine erste Fahrt nach Afrika sein.

Wenn die Einstellung, die es Robert Durand erlaubte, eine derart niederträchtige Mission in solch sachlichen, prosaischen Formulierungen zu umreißen, nicht durch seine persönlichen Erfahrungen geprägt worden war, dann muss sie mit einer allgemeineren Denkweise übereingestimmt haben, die im frühen 18. Jahrhundert in den Häfen der Bretagne, von denen aus die Sklavenschiffe in See stachen, gang und gäbe war. Inwieweit der Sklavenhandel moralisch zu rechtfertigen war, wurde während der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Frankreich so gut wie gar nicht in der Öffentlichkeit diskutiert. Die meisten Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens waren zu sehr von Problemen vereinnahmt wie den Kriegen, die das Land führte, Hungersnöten, Geldverfall, Steuern, religiösen Streitigkeiten und den vielen ganz alltäglichen Gewalttaten, um sich den Kopf über die Sklavenschiffe zu zerbrechen, die von ein paar französischen Häfen aus auf Fahrt gingen. In diesen Tagen wurde weit häufiger über den Handel mit Getreide diskutiert als über den mit Menschen.

Wenn überhaupt irgendwo in Frankreich das Thema Sklavenhandel zur Sprache kam, dann in den Häfen, die an diesem Handel beteiligt waren. Doch auch dann drehten sich die Gespräche lediglich um Dinge wie die Möglichkeit, sich Sklaven zu beschaffen, um Profite, Tarife und Prämien. Gleichwohl sollte sich eine der höchst seltenen Gelegenheiten zu einer Eruption moralischer Fragen, die der Sklavenhandel aufwarf, ergeben. Die Diskussionen, die damals geführt wurden, gewähren uns einen flüchtigen Einblick in Gedanken und Gefühle der Menschen einer vergangenen Zeit, die uns sonst verborgen bleiben würden.

Zu dieser Eruption kam es 1714 in Nantes, einer Stadt, 100 Kilometer südöstlich von Vannes ebenfalls an der Küste der Bretagne gelegen, in einer Entfernung also, die sich mit der Eilkutsche in sechs Stunden zurücklegen ließ. Nicholas De Fer, ein Pariser Kartenzeichner und "Geograph Seiner Katholischen Majestät", beschrieb Nantes 1716 als "die größte Stadt der Bretagne, wenn sie auch die Hauptstadt von nichts anderem als ihrem eigenen Hinterland ist. Sie liegt an der Loire, ein Dutzend Meilen von der Stelle entfernt, wo dieser Fluss ins Meer mündet. Es ist einer der berühmtesten Häfen Europas mit einer langen und schönen Brücke, welche durch mehrere sehr reizende Inseln unterbrochen ist. Die Stadt besitzt ein befestigtes Schloss; sie ist der Sitz einer Diözese, welche der Erzdiözese von Tours untersteht; sie weist ein Présidial-Gericht auf, ... einen Rechnungshof und eine Universität. Das Meer, dessen Fluten an ihren Kai heranreichen, macht sie zu einer wichtigen Handelsstadt."

Was De Fer zu erwähnen unterließ, war, dass Nantes dabei war, sich zum führenden Hafen Frankreichs zu entwickeln, was den Sklavenhandel anbelangte. 1714 stachen von diesem Hafen aus drei Viertel aller französischen Sklavenschiffe in See. Nantes wies zu der Zeit mehr als 40000 Einwohner auf und hatte sich jenseits der alten Stadtmauern in zahlreiche Vororte zergliedert. Das Nordufer der Loire, das außerhalb der Wallanlagen lag, war das eigentliche Zentrum finanzieller und kommerzieller Aktivitäten, und dort befanden sich auch die Hellingen für die Sklavenschiffe, die man nach Afrika aussandte. Diese Schiffe legten nicht in Nantes selbst an, weil die versinterten Fahrrinnen für Fahrzeuge von mehr als 50 Tonnen unpassierbar waren, sondern gingen weiter flussabwärts vor Anker, sodass Güter und Besatzungsmitglieder auf kleinen Booten, den gabares, zwischen ihnen und der Stadt hin- und hertransportiert werden mussten.

Trotz des geschäftigen Treibens ein paar Meilen flussaufwärts war der Sklavenhandel für die Bürger von Nantes etwas Abstraktes; seine Realität blieb ihnen verschleiert. Am Kai bekamen sie keine Sklavenschiffe zu sehen und auch keine Sklaven. Wenn die Segler nach Guinea aufbrachen, waren ihre Laderäume voll Tuch, Weinbrand und Kaurimuscheln, und kehrten sie dann über ein Jahr später zurück, so bestand ihre Ladung aus Zucker, Baumwolle und Indigo, Güter, die in der Karibik angekauft worden waren. Die Sklaven wurden an der afrikanischen Küste an Bord genommen und an Zuckerrohrpflanzer in den Kolonien verkauft, die Frankreich damals in der Karibik besaß: Sie kamen nie näher als 1000 Meilen an Nantes heran. Die Einzigen von ihnen, die jemals ihren Fuß in die Stadt setzten, waren die schwarzen Diener und Dienerinnen, welche die Plantagenbesitzer von den karibischen Inseln mitbrachten, wenn sie Frankreich einen Besuch abstatteten. Eine solche Dienerin war es, die den Schleier zerriss und die Diskussion über die Sklaverei in das öffentliche Bewusstsein drängte.

Die Ereignisse, die eine erbitterte Auseinandersetzung auslösten, nahmen zu Beginn des Jahres 1714 ihren Anfang.

Nantes, Januar 1714

Eine schwarze, von einem einzigen Pferd gezogene Kutsche bahnt sich ihren Weg durch den kühlen Dunst, mit dem der Winterregen die engen Gassen der Stadt erfüllt hat. Schlamm und Dung bleiben an ihren Rädern haften, die feines Sprühwasser aufsteigen lassen - in das sich vor den Läden der Metzger auch Blut mischt -, wenn sie durch die Pfützen rollen. Die Giebel vierstöckiger Fachwerkhäuser neigen sich von beiden Seiten zur Straßenmitte vor, sodass der Eindruck eines überdachten Ganges entsteht, in den von oben her lediglich wenig Licht einfällt. Die Häuser machen die Straße sogar mitten am Tag finster.

Die Kutsche rollt nur langsam dahin, um den Schweinen, Enten und Hühnern Gelegenheit zur Flucht zu geben, die sich die Straße mit Leuten, die zu Fuß ihren verschiedenen Zielen entgegeneilen, mit Hausierern und Lieferburschen mit ihren Handkarren teilen. Vor allem gilt es, eine Begegnung mit den Ochsengespannen zu vermeiden, da an den weit ausladenden Jochen der Zugtiere in den engen Gassen kein Vobeikommen ist. Weiter vorne sieht der Kutscher jetzt zwei runde Türme aufragen, von deren spitzen Dachaufsätzen das Regenwasser herunterrinnt. Das ist das Tor von Saint-Nicholas, die einzige Öffnung in der Stadtmauer in Richtung Westen. Durch dieses Stadttor gelangt die Kutsche endlich ins Freie, wo sich bis zum Horizont die Bäume, Wiesen und kleinen Bürgerhäuser des Vororts Bignon Ebard ausbreiten.

Auf der anderen Seite der schmalen Brücke, die sich über die stehenden Gewässer des Stadtgrabens spannt, gabelt sich die Straße. Der linke Arm führt am rechten Ufer der Loire entlang, an der Börse und den Dockanlagen des Quai de la Fosse vorbei - den Zentren der kommerziellen Aktivität von Nantes. Einige der Arbeiter auf dem Kai sind gerade dabei, Handelsgüter auf zwei Sklavenschiffe zu schaffen: die Sainte-Agnes, deren Ziel Gabun ist, und die Grand Duc de la Bretagne, die nach Angola segeln soll. Obwohl die Schiffe ein gutes Stück flussabwärts, außer Sichtweite, ankern, wird ihre Anwesenheit durch die garbares angezeigt, die zwischen den Dockanlagen und den beiden Seglern hin- und herrudern.

Anstatt die Docks anzusteuern, biegt die Kutsche jedoch scharf nach rechts auf den unbefestigten Weg ab, der parallel zum Stadtgraben und den Wallanlagen verläuft. Hier sind die Pfützen gefährlicher als auf den Gassen in der Stadt, da sich unter ihrer Oberfläche manchmal nahezu bodenlose Löcher verbergen. Später wird der Bürgermeister einmal scherzen, einige dieser Löcher seien so tief, dass man in ihnen ertrinken könnte. Sich in langsamer Fahrt einen Weg zwischen den Pfützen hindurch und über die Wagenrinnen suchend, rollt die Kutsche weiter nach Norden, ungefähr 300 Meter weit von der Loire weg, bevor sie dann nach links in einen engen Weg einbiegt.

Der auf beiden Seiten mit Bäumen bestandene "Kalvarienweg" genießt einen zwiespältigen Ruf. Es ist ein Privatweg, der zum Kloster Notre-Dame du Calvaire hochsteigt, wo er endet. Dadurch erhält er die Aura des Frommen und Gesitteten, die sein Name impliziert; er ist aber auch berüchtigt dafür, dass sich hinter den Bäumen an seinen Rändern die Matrosen von den auf der Loire vor Anker gegangenen Schiffen mit leichten Mädchen aus der Stadt vergnügen. Im Januar finden hier allerdings keinerlei amouröse Aktivitäten statt, da die Wiesen, die den Weg in seinem unteren Teil flankieren, durch die vielen Regengüsse des Winters überflutet sind. Je mehr der Weg ansteigt, desto flacher werden die Pfützen und Wagenspuren. Oben auf der Kuppe des Hügels, direkt nachdem sie eine kleine Kapelle passiert hat, kommt die Kutsche vor der Pforte des Klosters zum Stehen.

Eine Frau und ein junges Mädchen, beide in Kapuzenumhänge gehüllt, steigen aus. Als sie sich durch den Dunst der Pforte nähern, hebt die Ältere der beiden ihre Röcke etwas an, damit sie nicht durch die Wasserlachen schleifen. Im Inneren des Klosters legt sie mithilfe des Mädchens ihren Umhang ab. Sie trägt ein Gewand, das in der Art der "offenen Robe" geschnitten ist und im frühen 18. Jahrhundert als schick gilt. Derart modische Kleidung in einem solch ernsten und nüchternen Ambiente gibt einen Hinweis darauf, dass die Trägerin wohl aus einer anderen Stadt stammt oder womöglich einer Pflanzerfamilie angehört, die auf einer der von Frankreich kolonisierten Inseln in der Karibik zu Hause sind. Die Besitzer von Zuckerrohrplantagen und ihre Frauen und Kinder sind in Nantes für die auffällige, protzige Art, sich zu kleiden, verschrien. Als das Mädchen, nachdem es der Dame beim Ablegen ihres Umhangs behilflich war, selbst sein Obergewand und seine Handschuhe ablegt, werden im trüben Licht, das im Inneren des Klosters herrscht, krauses Haar und schwarze Haut sichtbar.

Bei der Dame handelte es sich um Madame Villeneuve, die Angehörige einer Pflanzerfamilie, die auf "den Inseln", wie man in Nantes die französischen Kolonien in der Karibik einfach nur nannte, beheimatet war. Das schwarze Mädchen hieß Pauline und war Madame Villeneuves Sklavin. Ihre Herrin hatte Pauline mitgenommen, um sich von ihr während der Fahrt über den Atlantik und ihres Aufenthalts in Nantes bedienen zu lassen. Jetzt aber wollte sie sich für ein Jahr nach Paris begeben, wo sie in einem Haus Aufnahme finden würde, das aller Wahrscheinlichkeit nach schon reichlich über Dienstboten verfügte. Das Mädchen sollte daher als eine Art Pensionsgast in dem Kloster unterkommen, wo man ihm Frömmigkeit, Disziplin, Demut und gute Manieren beibringen würde - Eigenschaften, die einer Leibdienerin nur zum Vorteil gereichen konnten. Nachdem Madame Villeneuve die Summe von 200 Livre für den einjährigen Aufenthalt ihrer Sklavin im Voraus entrichtet hatte, wurde diese als "Pauline Villeneuve" in das Gästeverzeichnis des Konvents eingetragen.

Eine Nonne in einem Habit aus braunem Leinen mit weiten Ärmeln und mit einem schwarzen Schleier vor dem Gesicht führte die beiden Besucherinnen an der Küche, dem Speisesaal und dem Versammlungsraum vorbei zum Westflügel des Klostergebäudes, dem so genannten "Pensionat". Von den vier Flügeln, die den in der Mitte gelegenen Innenhof umgaben, war jener mit dem Pensionat nahezu doppelt so breit gebaut worden wie die anderen, sodass die Gästezimmer in seinem Inneren viel geräumiger waren als die winzigen Kammern, die den Nonnen als Behausung dienten. Einige der Gäste lebten mit Dienstboten und Familienmitgliedern in regelrechten Wohnungen, Pauline jedoch würde eine der "petites pensionnaires" sein und einen sehr viel bescheideneren Raum beziehen. Ihr kleines Gemach besaß ein Fenster, das auf den zentralen Innenhof führte, in dem man oft Nonnen sehen konnte, die dort schweigend und in Kontemplation versunken umherwandelten. Nachdem sie Pauline letzte Anweisungen gegeben und sich von ihr verabschiedet hatte, bestieg Madame Villeneuve wieder die Kutsche, um sich ins Stadtinnere zurückfahren zu lassen.

Obwohl sie ein Sklavenmädchen von einer karibischen Insel war, war Pauline durchaus mit dem katholischen Glauben vertraut. Der Code Noir, der Gesetzeskodex, welcher die Sklavenhaltung in den Kolonien in der Karibik regelte, verfügte, dass alle Sklaven getauft werden und die Genehmigung erhalten sollten, sonntags den Gottesdienst zu besuchen. Ob man sich auf den abgelegenen Plantagen wirklich an diese Vorschriften hielt, ist zu bezweifeln, da aber Pauline die persönliche Zofe von Madame Villeneuve war, darf man davon ausgehen, dass ihr die katholische Liturgie und die Grundzüge religiöser Rituale schon bekannt waren, bevor sie mit ihrer Herrin in Nantes eintraf. Nun, in den Wochen nach ihrer Ankunft, lernte Pauline viel über das Leben in Notre-Dame du Calvaire. Das höchste Ziel der Benediktinerschwestern bestand darin, jenen Grad spiritueller Vollkommenheit zu erreichen, welchen die Jungfrau Maria am Fuß des Kreuzes verkörperte. Die Regeln und Bräuche des Konvents waren so festgelegt, dass sie den Nonnen helfen sollten, diese Vergeistigung zu erlangen, und zwar durch ein Leben in Armut, in Demut, in Keuschheit, im Schweigen und im Gebet.