Das verlorene Land
Roman. Deutsche Erstausgabe
Die atemberaubende Fortsetzung von "Der Effekt"
Der 14. März 2003 hatte die Welt in ihren Grundfesten erschüttert: Die USA sowie Teile Kanadas und Mexikos wurden durch einen gigantischen Energieblitz restlos vom Erdboden getilgt. Die Welt ist...
Der 14. März 2003 hatte die Welt in ihren Grundfesten erschüttert: Die USA sowie Teile Kanadas und Mexikos wurden durch einen gigantischen Energieblitz restlos vom Erdboden getilgt. Die Welt ist...
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Produktinformationen zu „Das verlorene Land “
Die atemberaubende Fortsetzung von "Der Effekt"
Der 14. März 2003 hatte die Welt in ihren Grundfesten erschüttert: Die USA sowie Teile Kanadas und Mexikos wurden durch einen gigantischen Energieblitz restlos vom Erdboden getilgt. Die Welt ist in Aufruhr, denn egal ob Freund oder Feind, das Verschwinden der letzten großen westlichen Supermacht hat das Gleichgewicht der Kräfte unwiderruflich verschoben...
Der 14. März 2003 hatte die Welt in ihren Grundfesten erschüttert: Die USA sowie Teile Kanadas und Mexikos wurden durch einen gigantischen Energieblitz restlos vom Erdboden getilgt. Die Welt ist in Aufruhr, denn egal ob Freund oder Feind, das Verschwinden der letzten großen westlichen Supermacht hat das Gleichgewicht der Kräfte unwiderruflich verschoben...
Lese-Probe zu „Das verlorene Land “
Das Verlorene Land von John BirminghamProlog
Seattle, »Mann, Präsident sein nervt total.«
Washington »Und was glaubst du wohl, wie sehr es nervt,
mit einem Typen verheiratet zu sein, der sich
ständig darüber auslässt, wie nervig es ist, Präsident zu sein.«
Kipper zuckte zusammen, als Barbara bei dem Versuch,
den obersten Knopf seines Hemds zu schließen, ein Stück
Haut unter seinem Adamsapfel einklemmte.
»Mein Gott, Kip. Du benimmst dich wie ein Kleinkind.
Ein Glück, dass deine Marines dich so nicht sehen können.«
»Es sind nicht meine Marines«, protestierte er, während
er über die Schulter seiner Frau hinweg in den
Ganzkörper-Spiegel schaute, der in ihrem Schlafzimmer
stand.
O Mann.
Er sah aus wie ein Pinguin.
Er trug einen dämlichen Frack. Mit Schwänzen und all
dem Zeug. Wahrscheinlich würde er gleich anfangen, wie
ein bescheuerter Pinguin zu quieken.
Und nachdem Barbara nun endlich mit dem letzten
Knopf fertig war, kam bestimmt gleich die schauderhafte
Prozedur des Krawattenbindens.
»Muss ich das wirklich ...«
»Ja, Kip, du musst das wirklich tun. Es gehört nun mal
zu deinem Job.«
»Aber ausgerechnet Poesie ...«
Kip streckte sich und zog seinen blöden Anzug fertig
an, während Barbara sich vor dem altmodischen Schminktisch
die Ohrringe anlegte.
»Ach komm, Kip«, sagte sie lächelnd. »In den letzten
Jahren hast du dich mit schlimmeren Sachen beschäftigt
als mit Paarreimen. Vielleicht macht es sogar Spaß.«
... mehr
Vielleicht. Wenn er vorher ein paar Biere trinken durfte,
dann würden sich diese blöden Gedichte vielleicht wirklich
reimen. Er hörte schon die Klänge des kleinen Kammerorchesters,
das im Erdgeschoss spielte. Die Musik der
Streichinstrumente und das Murmeln der Gäste drang
durch die dunklen, holzvertäfelten Wände des Schlafzimmers.
Unwillkürlich schaute Kipper auf die Uhr. Es würde
bestimmt noch sehr lange dauern, bis er sein erstes, wohlverdientes
Bier zu sich nehmen durfte.
»Mr. President, sind Sie bereit?«
Barbara lächelte den Protokollchef an. »Oh, Allan, Sie
wissen doch, dass er nie fertig wird. Aber ich habe das
Beste draus gemacht. Gehen wir also nach unten.«
Kipper hatte nicht bemerkt, dass jemand in der Tür aufgetaucht
war, aber es überraschte ihn nicht. Er selbst hatte
Allan Horbach, dem Protokollchef des Weißen Hauses,
den Spitznamen Caspar gegeben, weil er ständig irgendwo
herumspukte. Allerdings musste man zugeben, dass Kipper
mehr Hilfestellung beim Einhalten des Protokolls benötigte
als ein normaler Präsident.
Barbara und Allan begannen eine verhaltene, aber lebhafte
Konversation, als sie den Flur entlang zum Treppenhaus
gingen. Die Hintergrundgeräusche schwollen immer
mehr an, und Kipper schätzte, dass sich mindestens zweihundert
Menschen dort unten im Vestibül des Dearborn
House eingefunden hatten. In der Vergangenheit hatte er
eine ganze Menge Formalitäten abgeschafft, die er als quälend
empfand. Jetzt musste er wenigstens nicht mehr diesen
beinahe unerträglichen Augenblick durchstehen, wenn
Allan sein Kommen ankündigte, als würde er die Gangway
von einem Flugzeug hinuntersteigen. Trotzdem schauten
alle auf, lächelten und winkten, als sie herunterkamen,
und warfen ihnen erwartungsvolle Blicke zu.
Und dann wurden sie in die Menge hineingestoßen. Es
war, als würde man vom Ufer in einen schnell fließenden
Fluss steigen und von den Wogen mitgerissen.
Halb Seattle zwängte sich in den Musiksaal, der gleichzeitig
auch der Salon des Dearborn House war. Kipper
zuckte zusammen, als er Sandra Harvey, die Vorsitzende
der Grünen, bemerkte, die gerade mit Miss Hughes, seiner
Sekretärin, sprach. Er nahm sich vor, Annie zu ermahnen,
sie solle in Zukunft dafür sorgen, dass er immer außer
Haus war, wenn Sandra ihm ihre Aufwartung machen
wollte. Auch seinen Stabschef Jed Culver entdeckte er in
der Menge. Er unterhielt sich gerade mit Henry Cesky,
einem erfolgreichen Bauunternehmer, und Kip fragte sich,
was für ominöse Pläne die beiden mal wieder ausheckten.
Dann war Allan auch schon wieder neben ihm und schob
ihn freundlich mit dem Ellbogen auf die Botschafter von
Großbritannien und Frankreich zu, die über irgendwelche
Vorkommnisse in Guadeloupe stritten.
Er war sich ziemlich sicher, dass es sich dabei um ein
Land handelte und nicht um ein Tapas-Gericht, bezweifelte
aber, ob er unbedingt an ihrer Unterhaltung teilnehmen
sollte.
»Mister President«, sagte Horbach, »wir müssen die Botschafter
begrüßen, dann den Sprecher des Repräsentantenhauses,
den Gouverneur, den ...«
Kippers Gedanken schweiften ab. Sie waren noch nicht
mal eine Minute auf diesem Empfang, und er war fix und
fertig. Er verstand nicht, wie Barbara es schaffte, alle anzulächeln
und mit ihnen zu reden. Es sah aus, als würde
sie Spaß dabei haben. Vielleicht hatte sie den ja tatsächlich.
Die nächsten dreißig Minuten verstrichen mit einer
Reihe quälender »Hallo, wie geht's denn so«-Situationen.
Er grüßte Honoratioren, ausländische Gäste, Senatoren
und Kongressabgeordnete sowie Beamte der Stadtverwaltung
von Seattle, die allesamt in ihre Ämter gekommen
waren, nachdem er sein Amt als Leiter der Stadtwerke von
Seattle gegen das des Präsidenten der Vereinigten Staaten
eingetauscht hatte. Erleichtert stellte er fest, dass auch
Barney Tench, sein alter Schulkamerad und jetzige »König
des Wiederaufbaus«, gekommen war. Er stand drüben
beim Fenster und beugte sich über das Büffet.
»He, Barn, wie läuft's bei dir?«, rief er über die Köpfe
der Menge hinweg und lenkte damit die Aufmerksamkeit
von fünfzig oder sechzig Leuten auf seinen Freund, der
sich soeben ein riesiges Stück Krabbenfleisch in den Mund
schob. Allan Horbach hätte sich beinahe selbst geohrfeigt,
und Barbara trat ihm von hinten gegen das Bein.
»Aber ich muss mit Barney reden«, protestierte Kipper.
»Es geht um seine Arbeit.«
»Nicht jetzt, Mr. President«, beharrte der Protokoll-Tyrann.
»Mr. Ford wird jeden Augenblick mit seinem Vortrag
beginnen.«
»Der Dichter?«, entgegnete Kipper. »Oh, das ist ja toll.«
Sie drängten sich durch die Menge zurück, und ständig
trat ihnen jemand in den Weg. Alle wollten ihm ein
paar Minuten seiner kostbaren Zeit stehlen. Als sie ganz
vorn angekommen waren, stellte man Kipper einen nervös
dreinblickenden Mann in einem schlecht sitzenden
Anzug vor. Er tat ihm sofort leid. Ford sah kein bisschen
glücklicher aus als er selbst.
»Mr. President«, sagte Allan Horbach. »Darf ich Ihnen
den ersten Dichterfürsten des Neuen Zeitalters vorstellen?«
So nennen sie das jetzt, dachte er. Wann haben wir bloß
angefangen, das Ende der Welt als Neues Zeitalter zu bezeichnen?
Er schüttelte Ford die Hand und beugte sich zu ihm, um
den Lärm der vielen Menschen zu übertönen. »Keine
Sorge, Kumpel, morgen ist das alles nur noch ein schrecklicher
Alptraum.«
»Was?« Ford sah ihn erschrocken an. »Ach so, ein Witz.
Okay, alles klar. Soll ich dann jetzt mit dem Vortrag anfangen?«
»Ich denke, der Präsident möchte vorher noch ein paar
Worte sagen«, meinte Horbach.
»Na ja, ehrlich gesagt, reiße ich mich nicht gerade
darum«, sagte Kip und erntete einen warnenden Blick von
seiner Frau. »Aber egal, wir werden auch nicht jünger.
Bringen wir es hinter uns.«
Irgendwo ertönte eine Klingel, als er die kleine Bühne
hinaufstieg, die extra für dieses Ereignis aufgebaut worden
war. Er klopfte gegen das Mikrofon.
»He, hallo, wie geht's euch denn so?«, fragte er, und
schon ebbte das Stimmengewirr ab. Er zwinkerte Ford zu.
»Wie Sie alle wissen, bin ich kein großer Freund von Formalitäten.
Aber ich schätze, es ist halt nötig, ab und zu mal
so einen dämlichen Anzug anzuziehen. Wie meine Großmutter
zu sagen pflegte: Wenn man etwas Wichtiges zu
tun hat, sollte man sich vorher saubere Hosen anziehen.«
Höfliches Gelächter ertönte hier und da, mehr aber nicht.
Nur sein alter Kumpel Barney, der immer noch damit beschäftigt
war, sich Unmengen Krabbenfleisch einzuverleiben,
bekam einen derartigen Lachanfall, dass Kip schon
befürchtete, er könnte ersticken. O Gott, dachte er, aber mit
den anderen hier habe ich doch überhaupt nichts am Hut.
»Wie auch immer«, fuhr er fort. »Heute Abend lohnt es
sich, Hosen zu tragen.«
Er hob den Daumen und warf Adam Ford einen wissenden
Blick zu. Im Gegenzug schenkte ihm der Dichter ein
aufmunterndes Lächeln und zwinkerte ganz begeistert, je
mehr Kipper an Terrain gewann.
»Meine Frau Barbara und ich haben Sie heute Abend
hierher eingeladen, um ... He, zum Teufel, ihr wisst doch
alle, worum es geht. Wir haben einen neuen Dichterfürsten!«
Den letzten Satz rief er laut aus, als wollte er eine College-
Football-Mannschaft ankündigen, die ein großes Turnier
gewonnen hat. Er erntete viel Beifall und zustimmende
Rufe und merkte, dass die Leute ihm jetzt wirklich
zuhörten.
»Ich freue mich, dass ihr genauso gespannt seid wie
ich«, sagte der Präsident und leitete das Ende seiner Rede
ein. »Weil das hier nämlich absolut umwerfend sein wird.
Ihr wisst ja, dass es in den letzten Jahren hauptsächlich
ums nackte Überleben ging. Wir mussten zusehen, dass
wir satt werden, unsere Häuser verteidigen und die Kinder
durchbringen. Das war ...«
Er hielt inne und suchte nach den richtigen Worten.
Zum großen Kummer seiner Mitarbeiter trat Kipper selten
mit einer vorbereiteten Rede vor sein Publikum.
»... das war, na ja, man könnte es eine Herausforderung
nennen, aber das wäre nicht ganz richtig. Es war die Hölle.«
Im Saal war es jetzt ganz still.
»Der 14. März 2003 war der Tag, an dem wir in die
Hölle gefahren sind. Das ist die einzige Art, wie ich es beschreiben
kann, denn noch immer wissen wir ja nicht,
was passiert ist, und ehrlich gesagt, glaube ich nicht, dass
wir es jemals herausfinden werden. Ich habe Hunderte
von Wissenschaftlern auf die Erforschung dieses Ereignisses
angesetzt. Sie haben jede Menge Theorien aufgestellt
und Experimente gemacht, um zu ergründen, wo dieser
Effekt herkam und was er mit unseren Freunden und Angehörigen
gemacht hat. Sie haben jahrelang herumgeforscht
und wissen immer noch nichts. Vielleicht ist es
also Zeit, die ganze Sache aus einem anderen Blickwinkel
zu betrachten. Deshalb ist Adam Ford heute Abend hierhergekommen.
Er ist kein Wissenschaftler, er ist Dichter,
und wenn ich auf das zurückblicke, was uns passiert ist,
auf das Große Verschwinden, dann frage ich mich, ob
seine Methode, nach der Bedeutung dieser Ereignisse zu
fragen, nicht genauso wertvoll ist wie alle Berichte, die
diese Wissenschaftler für mich abgefasst haben. Womöglich
sogar wertvoller.« Er bedeutete dem Dichter, dass er
sich durch die Mikrofone nach vorn durcharbeiten sollte.
»Adam?«
Unter donnerndem Applaus stieg der Dichterfürst aufs
Podium, während der Präsident es verließ. Ford zog ein
einziges Blatt aus der Brusttasche seines Jacketts und hustete,
bevor er sich bei Kipper bedankte. Dann wartete er,
bis sich das Raunen gelegt hatte. Als es ganz ruhig war,
begann er zu lesen.
»Das Gedicht trägt den Titel ›Nachspiel‹«, sagte er und
begann:
»Sie versanken nicht im Meer. Sie fielen nicht im Krieg.
Wir waren nicht bei ihnen, als sie ein letztes Mal um
Atem rangen.
Keine Leichen zu identifizieren.
Doch sie waren da. Und sie verschwanden.
Wir blieben zurück, orientierungslos,
Ohne Beweise oder gar Gewissheit, was geschah,
Keine Brandspuren an den Hauswänden,
Keine Berge von Glas, Koffern und Schuhen,
Keine aufgestapelten Totenschädel, keine Filmaufnahmen
Von herabrieselnden Papierfetzen oder zerberstendem Glas.
Nur dieses unendlich tiefe Gefühl von Trauer,
Das unsere Welt verzerrt wie ein Schwarzes Loch -
Einer Trauer, die wir Nicht-Verschwundenen,
Bei uns tragen, auf der Suche nach einem Ort
In dieser fremden, neuen, veränderten Welt.«
01
New York »Nein, Mr. President, die kriegt man nicht vom
Kätzchenkraulen.«
James Kipper nickte und lächelte zweifelnd, als der breitschultrige
Arbeiter seine Oberarmmuskeln anspannte und
jedem davon einen Kuss aufdrückte. Seine Sicherheitsleute
schienen nicht weiter beunruhigt zu sein. Kipper achtete
inzwischen ganz automatisch auf ihre unausgesprochenen
Signale und ihre Körpersprache. Sie schienen von den
Arbeitern dieser Bergungsmannschaft weniger beunruhigt
als von den zerstörten Fassaden der Bürohäuser von Manhattan,
zwischen denen sich die verrosteten Überreste einer
Massenkarambolage türmten. Es war heiß und feucht, wie
immer im Juni, und der Arbeiter war völlig durchgeschwitzt.
Auch Kipper spürte, dass sein Hemd am Rücken klebte.
Nachdem er seine Ballonmuskeln liebkost hatte, streckte
der Arbeiter eine seiner gigantischen, schwieligen Pranken
aus, um dem 44. Präsidenten der USA die Hand zu
schütteln. Kippers Lächeln war nicht mehr so breit wie
einst, und es war bestimmt nie so breit gewesen wie das
von diesem Gorilla, aber seine Jahre bei den Stadtwerken
hatten seine Finger nicht kraftlos und seinen Händedruck
nicht schlapp werden lassen. Er erwiderte die eisenharte
Umklammerung mit einem immerhin bemerkbaren kräftigen
Zudrücken.
»Donnerwetter, Mr. President«, sagte der Arbeiter scherzhaft.
»Vorsicht, ich brauche meine Wurstfinger noch für
meinen Nebenjob als Konzertpianist.«
Die Männer und Frauen, die Kipper umringten, grinsten
und kicherten. Der Typ war ganz offensichtlich der Witzbold
dieser Truppe.
»Ein Konzertpenis?«, gab Kipper zurück. »Ist das was
Neues? Geht das denn, ohne dass man diese hübschen
kleinen Klaviere ruiniert?«
Karen Milliner, seine Medienreferentin, stöhnte laut auf,
wurde aber von dem vielstimmigen heißeren Gelächter
der Räumungsarbeiter übertönt, die sich kaum noch einkriegen
konnten. Das machte seine Sicherheitsleute ein
bisschen nervös, aber der Riese, der so gern seine Muskeln
abknutschte, übertönte alle anderen, als er auf den
Staatschef deutete und laut brüllte. »Dieser verdammte Kerl
hat mich echt überrumpelt. Das ist der beste verdammte
Scheißpräsident, den wir je hatten!«
Kipper befürchtete schon, der Riese könnte ihn aus lauter
Übermut in den Schwitzkasten nehmen. Dann wären
die Sicherheitsleute aus gutem Grund nervös geworden.
Aber nach ein paar Minuten legte sich der Begeisterungsausbruch
wieder.
Nur eine Frau war die ganze Zeit über ziemlich reserviert
geblieben. Seine Sicherheitsbeamten hatten sie sicherlich
schon bemerkt und behielten sie im Blick, auch
wenn man ihre Augen wegen ihrer dunklen Sonnenbrille
nicht sehen konnte. Kipper bemerkte den Blick der Frau
und lächelte ihr milde amüsiert zu. Ganz offensichtlich
gehörte sie nicht zu diesen Raubeinen. Sie hatte feine Gesichtszüge
und sah nicht aus wie jemand, der Tag für Tag
schwere körperliche Arbeit leistete. Immer wieder stellte
er auf seinen obligatorischen Rundreisen fest, dass die
»Schaulustigen«, wie seine Tochter sie nannte, ihn in ihren
Bann zogen. Die ganze Nation bestand aus Entwurzelten
und Verlorenen, und jeder Einzelne hatte seine eigene
Geschichte. Es wäre sicherlich spannend zu erfahren, wie
der Muskelmann und diese stille Frau dort in die verwil-
derten Straßenschluchten von New York gekommen waren,
drei Jahre, nachdem die zerstörerische Energiewelle genauso
rätselhaft, wie sie gekommen war, auch wieder verschwand.
»Mr. President«, sagte Karen Milliner, »wir müssen weiter.
Der Terminplan, Sie wissen schon.«
Die Bemerkung der Leiterin der Kommunikationsabteilung,
von ihm klammheimlich auch »nervige PR-Tante«
genannt, riss ihn aus seinen Gedanken. Er nickte und lächelte
den Arbeitern entschuldigend zu.
»Tut mir leid, Jungs. Ich bin genau wie ihr nur ein Diener
der Gesellschaft, und meine Chefin hier ...« Er deutete
mit dem Daumen auf Karen Milliner. »... meint, dass ich
wieder zurück an die Arbeit soll.«
Die kleine Gruppe buhte ein bisschen, klatschte aber
Beifall, als er ihnen zum Abschied zuwinkte und davonging.
Seine Sicherheitsleute folgten ihm wie Schatten. Rufe
wie »Danke, Mr. President« und »Weiter so, Kip« folgten
ihm, während er weiter über den Friedhof schritt, der
einstmals das große Amerika gewesen war.
Bald schon umfing sie wieder das leere Grauen der
Ruinen. Schutt und Asche knirschte unter ihren Sohlen,
als die Gruppe sich einen Weg durch die verwüstete Wall
Street bahnte. Nur das Gurren der Tauben war zu hören. Die
Vögel waren als eine der typischen Plagen der Stadt wieder
zurückgekehrt. Die Erholung des Ökosystems innerhalb
des Einzugsgebiets des Effekts schien alle wissenschaftlichen
Prognosen Lügen zu strafen. Büsche und Bäume
säumten die Straßen. Das Dröhnen der Kettensägen vermischte
sich mit dem metallischen Krachen des schweren
Räumgeräts. Eine Menge Arbeit in Manhattan und anderswo
bestand darin, Schneisen ins Dickicht zu schlagen,
um zu den ausgebrannten Gebäuden oder ineinander
verkeilten Schrottautos vorzudringen. Hier sah es nicht so
aus wie in den verkohlten Wüsten, die der Feuersturm in
weiten Flächen von Nordamerika hinterlassen hatte. Hier
gab es Leben, zumindest von einer bestimmten Art. Er
roch den Duft des frisch gefällten Holzes. Anscheinend
wollte New York sich wieder in seinen einst stark bewaldeten
Urzustand zurückverwandeln.
Nachdem er die deftigen Sprüche der Abbruchtruppe
hinter sich gelassen hatte, versank Kipper in seinen eigenen
Gedanken. Er entdeckte einen Lieferwagen mit der
Werbung für »Mister Softee«-Eiskrem, der in den Eingang
der Citibank an der Ecke Front und Wall Street gerast war.
Unter ihm lagen zwei verbeulte Fahrräder. Die vergammelten
Kleidungsstücke der verschwundenen Radfahrer
waren von spitzen Glasscherben aufgeschlitzt worden. Aber
sie waren eben nicht bei einem Autounfall zu Tode gekommen,
erinnerte er sich, sondern einfach verschwunden,
von einem Moment zum nächsten, genau wie alle an deren
Bewohner der Stadt. Genau wie alle anderen Menschen in
Amerika, damals vor vier Jahren.
»Hier war der Verkehr wohl nicht so stark«, sagte er
zu Jed Culver, nur um irgendwas zu sagen. »Nicht wie in
der ... wie hieß die letzte Straße, die wir überquert haben,
wo die Räumungsarbeiten stattfinden?«
»Water Street, Sir«, sagte einer seiner Sicherheitsleute.
Er war neu hinzugekommen. Kipper kannte seinen Namen
nicht, aber er hatte einen New Yorker Akzent. Wer weiß,
was im Augenblick in seinem Kopf vorging.
»Die meisten Autos waren geparkt, als der Effekt kam«,
fügte Culver hinzu. »Hier waren vor allem Fußgänger unterwegs
und Fahrradfahrer, Gesundheitsfanatiker und solche
Leute. Auf der Water Street war mehr los.«
Culvers Südstaatentonfall hatte einen leichten Loui-
siana-Touch, der sich nach einigen Auslandsaufenthalten
abgeschwächt hatte. Nun schwieg er angesichts dieser gigantischen
Nekropolis, in der Millionen von Menschen
verschwunden waren, es war einfach zu bedrückend. Kip-
per wandte sich ab und ließ seinen Blick durch die schattige
Häuserschlucht schweifen, die einstmals das Finanzzentrum
der Welt gewesen war. Zwischen Water und Wall
Street erstreckte sich ein Schrottplatz aus gelben Taxis,
Privatautos und einem gepanzerten Lieferwagen, der von
einem Lastwagen erfasst und umgestoßen worden war.
Der Aufprall hatte die Hecktüren aufgerissen, und man
konnte die sandfarbenen Säcke sehen, die herausgefallen
waren und in denen sich die alten, jetzt wertlosen
Geldscheine befanden. Niemand interessierte sich mehr
für dieses Geld, das längst von einer neuen Währung namens
New American Dollar ersetzt worden war. Sie drehten
um und gingen wieder in Richtung des schweren
Räumgeräts, der Presslufthämmer und des dröhnenden
Lärms.
Das waren die lautesten Geräusche in der Stadt.
Kipper schüttelte den Kopf.
»Kommen Sie«, sagte er. »Gehen wir weiter.«
An der Ecke, wo das Gebäude der JP Morgan Bank stand,
konnte man einen Blick auf die verwitterte Fassade der
New Yorker Börse werfen. Eine große, schmutzige und zerfetzte
amerikanische Fahne hing schlaff zwischen den römischen
Säulen des neoklassischen Portals, das von Weinranken
und Nylonseilen überzogen war. Kipper war nie in
der Wall Street gewesen, nicht mal in New York. Auf Fotos
hatte diese Straße immer viel größer gewirkt. Aber nun
stand er hier vor dem Gebäude, das einst den mächtigen
Motor des globalen Kapitalismus beherbergt hatte, und es
kam ihm klein, beinahe sogar mickrig vor.
Am Ende der Straße entdeckte er eine Art Kirche, die
zwischen den Wolkenkratzern sehr unscheinbar aussah.
Kipper war nicht religiös, aber der Anblick des Kirchturms
stimmte ihn noch melancholischer, machte ihn beinahe
depressiv. Mehr als nur ein paar Wirrköpfe hatten den Effekt
als das Ende der Welt interpretiert. Er selbst allerdings
glaubte, dass es eine rationale Erklärung für die schreckliche
Katastrophe geben musste.
Aber welche Erklärung das sein könnte, wusste niemand.
Er seufzte tief.
Die Delegation war sehr klein. Nur Kipper, Jed Culver,
seine Stabschefin Karen Milliner und ein halbes Dutzend
Sicherheitsleute in dunklen Overalls und mit Kampfausrüstung
gehörten dazu. Die konnte man einfach nicht loswerden.
Jede Menge Plünderer suchten zurzeit die Ostküste
heim und nahmen alles mit, was nicht niet- und
nagelfest war, angefangen bei Sportwagen und schwerem
Gerät bis hin zu Computer-Spielkonsolen und Schmuck.
Kipper musste oft an die alten Ureinwohner Amerikas
denken und ihr Schicksal, als die Europäer auftauchten.
Auch jetzt war der ganze Kontinent reif für eine Übernahme,
und niemand in der Welt dort draußen schien sich
Gedanken darüber zu machen, dass eine kleine Gruppe
von Einheimischen bereits Anrechte hatte.
Die traurige Ironie war in seinen Augen, dass die eigentlichen
Ureinwohner vom Effekt wahrscheinlich vollkommen
ausgelöscht worden waren. Er hatte keine Ahnung,
wie viele von ihnen übrig geblieben waren. Die Volkszählung
im nächsten Jahr würde möglicherweise etwas Licht
in die Sache bringen. Bislang war einfach keine Zeit gewesen,
sich zu vergewissern, wie groß die US-Bevölkerung
überhaupt noch war. Es gab zu viel zu tun, um das nackte
Überleben zu sichern. So war zum Beispiel die Ostküste
inzwischen von Piraten und Gangstern überrannt worden.
Viele von ihnen gehörten zu großen kriminellen Organisationen
aus Europa oder Südamerika, manche operierten
mit der stillschweigenden Rückendeckung bestimmter
Staaten, jedenfalls wenn sie aus Gegenden stammten, wo
es noch Staaten gab. Andere, kleinere Gruppen waren in
der Karibik beheimatet, aber es gab auch Banden, die aus
Afrika oder Osteuropa stammten. In den Berichten, die zu
Hause in seinem Büro in Seattle lagen, stand, dass man
sich mit solchen Leuten besser nicht anlegen sollte. Die
Hälfte von ihnen hatte sich die letzten Reste von Vernunft
mit Cocktails irgendwelcher Dschungel-Drogen weggepustet.
Sie interessierten sich nur für die teuren Autos und
Luxusgüter. Sie kamen, um Kupfer, Eisen und Stahl aus
den Trümmern zu bergen. Sie kamen, um Edelsteine, Gold
und Kunstwerke zu plündern. Das Museum of Modern Art
und ähnliche Einrichtungen waren längst leergeräumt und
ihre Schätze in alle Winde verstreut worden. Manche kamen
auch einfach nur, um in die Straßen von Manhattan zu
kacken.
Andere wiederum drangen ein, um jeden Amerikaner
zu töten, den sie aufspüren konnten.
Nach Culvers Einschätzung suchten jeden Tag etwa achtbis
neuntausend Freibeuter die Straßen von New York heim.
Und im Gegensatz zu Armee und Miliz wurden sie nicht
von irgendwelchen Regeln oder Gesetzen behindert.
»Haben Sie mal hier gearbeitet, Jed?«
»In dieser Straße hier, Mr. President? Nein. Vor sechs
Jahren hatte ich eine Weile in New York zu tun, bei Arthur
Anderson. Aber in der Wall Street war ich nie beschäftigt.«
Kipper reckte den Kopf und schaute sich nach den Soldaten
des Marinekorps um, die sich in den Gebäuden entlang
seiner Route verschanzt hatten. Er konnte sie nirgends
entdecken und unterdrückte den leichten Schauer,
der ihn erfasste. Irgendetwas war hier faul. Die Vegetation
war viel schneller gewachsen, als er sich vorgestellt hatte,
wahrscheinlich hatten die Überflutungen und die Stürme
der letzten Jahre ihren Beitrag dazu geleistet. Die ganze
Stadt machte auf ihn den Eindruck eines überwucherten
Friedhofs. Eines Friedhofs, der gleichzeitig ein Schlachtfeld
war.
Eine ganze Kampfbrigade der übrig gebliebenen US-
Army, unterstützt von Milizeinheiten war nötig gewesen,
um den südlichen Bereich der Insel von Manhattan für
seinen Besuch zu säubern. Und sogar diese Säuberung
war nicht hundertprozentig, es gab immer noch genügend
unbewachte Schlupflöcher und Durchgänge. Zusätzliche
Einheiten der Marines und der Special Forces sowie private
Sicherheitsdienste waren nötig gewesen, um ein keilförmiges
Gebiet zwischen World Trade Center und Battery
Park bis hin zur Anlegestelle der Fähre abzusichern -
und nachdem das geschehen war, hatte eine Abteilung der
irregulären Manhattan-Miliz von Gouverneur Schimmel
einen Kordon eingerichtet, den niemand lebend passieren
konnte.
Karen Milliner trat neben ihn und sprach mit gesenkter
Stimme.
»Die Medien sind hier, Mr. President. Wir sollten einen
Schritt zulegen.«
Ihm war schon klar, warum sie es für nötig hielt zu flüstern.
Er hatte deutlich zu verstehen gegeben, dass er diesen
Teil seiner Inspektionsreise allein durchführen wollte,
nur er und sein Stabschef. Karen war bloß mitgekommen,
weil die Medien zu Anfang und am Ende seines Besuchs
der toten Stadt bedient werden sollten.
Kipper wandte sich von der Börse ab, und schon blieb
sein Blick an den großen dorischen Säulen der Federal
Hall hängen, dem alten Kongressgebäude. Die Statue von
George Washington stand immer noch dort auf einem Sockel
vor dem Gebäude, das die letzten Jahre offenbar besser
überstanden hatte als die vielen modernen Gebäude
in der Umgebung. Eine Putzbrigade hatte den Schutt weggeräumt
und die wuchernden Pflanzen auf der Steintreppe
beseitigt. Nun glänzte die Statue des ersten Präsidenten
der Vereinigten Staaten frisch geschrubbt im Licht der
Sonne.
»Nur eine Minute, bitte«, sagte Kipper.
Er überquerte die Straße, und sein Sicherheitstrupp eilte
hinterher. Jed Culver geriet ziemlich aus der Puste beim
Versuch, mit ihm Schritt zu halten. Am Fuße der Treppen
schaute Kip nach oben in die Augen von George Washington
und senkte dann den Blick, um die Inschrift im Sockel
zu lesen.
An dieser Stelle wurde am 30. April 1789
GEORGE WASHINGTON
als erster Präsident
der Vereinigten Staaten von Amerika
vereidigt.
»Mr. President?« Culver zupfte an seinem Ärmel.
Kipper warf ihm einen ungehaltenen Blick zu. Er hatte
sich tapfer bemüht, seinen Stabschef dazu zu kriegen,
ihn Kip zu nennen oder vielleicht auch Jimmy - tatsächlich
hatte er es ihm sogar befohlen -, aber der ehemalige
Rechtsanwalt bestand darauf, die Formalitäten einzuhalten.
Kipper vermutete, dass es ihm Spaß machte. Jed
Culvers mächtiger Körper steckte in einem dreiteiligen
dunkelblauen Anzug, der an einem derart schwülen Tag
ziemlich lästig sein musste. Der Präsident hingegen trug
Jeans, Schnürstiefel von Carhartt und eine kugelsichere
Weste über einem alten Hemd von L. L. Bean. Sogar diese
ziemlich praktische Kleidung war an diesem feuchtheißen
Tag nicht gerade bequem.
»Nur noch eine Minute, Jed.«
Kipper sah die Statue an und fragte sich, was wohl
wirklich an diesem Tag durch Washingtons Kopf gegangen
war. Er war der Führer einer frisch geborenen Nation geworden,
deren Staat am Rand einer weiten Wildnis exis-
tierte, umgeben von tatsächlichen und möglichen Feinden.
Entgegen dem Rat vieler Offiziere hatte er das Kommando
über die Armee abgegeben. Er hatte vollstes Vertrauen in
das Regierungssystem, das er gerade eingeführt hatte. Das
war ein Grundsatz, den Kipper von George Washington
übernommen hatte.
Kipper hatte sich selbst dazu verdonnert, die Biografien
seiner Amtsvorgänger zu lesen, weil er sich für dieses Amt
nicht im Geringsten qualifiziert fühlte. Dennoch hatte er
nicht herausgefunden, was diese Männer im Innersten bewegt
hatte. Wenn überhaupt, dann konnte er sich mit Truman
ein wenig identifizieren, der gar nicht glücklich darüber
gewesen war, dass ihm nach dem Tod von Roosevelt
die Regierungsgeschäfte zufielen.
Aber wenigstens hatte er geahnt, was auf ihn zukam,
dachte Kipper reumütig. Er dachte an den Weg, den er
gegangen war: Als unbekannter Chef der Stadtwerke von
Seattle war er zum provisorischen Präsidenten ernannt
und schließlich für eine volle vierjährige Amtszeit gewählt
worden. Nun war er seit Januar 2004 der Präsident der
Überreste der Vereinigten Staaten von Amerika. Kurz danach
hatte sich der zerstörerische Effekt verflüchtigt. Es
war der reine Wahnsinn.
»Okay, ich habe wohl erst mal genug gesehen«, lenkte
er ein. »Ich dachte nur, es könnte vielleicht wichtig sein,
mal persönlich einen Blick darauf zu werfen.«
»Genau dafür lieben die Leute Sie, Sir«, sagte Culver lächelnd.
»Sie machen sich die Hände schmutzig, wenn es sein muss. So, können wir jetzt zum Konvoi zurückgehen?
Ich bekomme hier nur Alpträume.«
Sie gingen den gleichen Weg durch die Wall Street zurück
und achteten darauf, den hier und da herumliegenden
Kleiderhaufen auszuweichen, die nicht weggeweht
oder weggespült worden waren. Es waren nicht mehr viele
davon übrig. Culver und Kipper kamen an einem im Weg
Copyright © 2011 der deutschsprachigen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Printed in Germany 2011
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München
unter Verwendung einer Illustration von Shutterstock
Satz: C. Schaber Datentechnik, Wels
Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN: 978-3-453-52601-3
www.heyne-magische-bestseller.de
Vielleicht. Wenn er vorher ein paar Biere trinken durfte,
dann würden sich diese blöden Gedichte vielleicht wirklich
reimen. Er hörte schon die Klänge des kleinen Kammerorchesters,
das im Erdgeschoss spielte. Die Musik der
Streichinstrumente und das Murmeln der Gäste drang
durch die dunklen, holzvertäfelten Wände des Schlafzimmers.
Unwillkürlich schaute Kipper auf die Uhr. Es würde
bestimmt noch sehr lange dauern, bis er sein erstes, wohlverdientes
Bier zu sich nehmen durfte.
»Mr. President, sind Sie bereit?«
Barbara lächelte den Protokollchef an. »Oh, Allan, Sie
wissen doch, dass er nie fertig wird. Aber ich habe das
Beste draus gemacht. Gehen wir also nach unten.«
Kipper hatte nicht bemerkt, dass jemand in der Tür aufgetaucht
war, aber es überraschte ihn nicht. Er selbst hatte
Allan Horbach, dem Protokollchef des Weißen Hauses,
den Spitznamen Caspar gegeben, weil er ständig irgendwo
herumspukte. Allerdings musste man zugeben, dass Kipper
mehr Hilfestellung beim Einhalten des Protokolls benötigte
als ein normaler Präsident.
Barbara und Allan begannen eine verhaltene, aber lebhafte
Konversation, als sie den Flur entlang zum Treppenhaus
gingen. Die Hintergrundgeräusche schwollen immer
mehr an, und Kipper schätzte, dass sich mindestens zweihundert
Menschen dort unten im Vestibül des Dearborn
House eingefunden hatten. In der Vergangenheit hatte er
eine ganze Menge Formalitäten abgeschafft, die er als quälend
empfand. Jetzt musste er wenigstens nicht mehr diesen
beinahe unerträglichen Augenblick durchstehen, wenn
Allan sein Kommen ankündigte, als würde er die Gangway
von einem Flugzeug hinuntersteigen. Trotzdem schauten
alle auf, lächelten und winkten, als sie herunterkamen,
und warfen ihnen erwartungsvolle Blicke zu.
Und dann wurden sie in die Menge hineingestoßen. Es
war, als würde man vom Ufer in einen schnell fließenden
Fluss steigen und von den Wogen mitgerissen.
Halb Seattle zwängte sich in den Musiksaal, der gleichzeitig
auch der Salon des Dearborn House war. Kipper
zuckte zusammen, als er Sandra Harvey, die Vorsitzende
der Grünen, bemerkte, die gerade mit Miss Hughes, seiner
Sekretärin, sprach. Er nahm sich vor, Annie zu ermahnen,
sie solle in Zukunft dafür sorgen, dass er immer außer
Haus war, wenn Sandra ihm ihre Aufwartung machen
wollte. Auch seinen Stabschef Jed Culver entdeckte er in
der Menge. Er unterhielt sich gerade mit Henry Cesky,
einem erfolgreichen Bauunternehmer, und Kip fragte sich,
was für ominöse Pläne die beiden mal wieder ausheckten.
Dann war Allan auch schon wieder neben ihm und schob
ihn freundlich mit dem Ellbogen auf die Botschafter von
Großbritannien und Frankreich zu, die über irgendwelche
Vorkommnisse in Guadeloupe stritten.
Er war sich ziemlich sicher, dass es sich dabei um ein
Land handelte und nicht um ein Tapas-Gericht, bezweifelte
aber, ob er unbedingt an ihrer Unterhaltung teilnehmen
sollte.
»Mister President«, sagte Horbach, »wir müssen die Botschafter
begrüßen, dann den Sprecher des Repräsentantenhauses,
den Gouverneur, den ...«
Kippers Gedanken schweiften ab. Sie waren noch nicht
mal eine Minute auf diesem Empfang, und er war fix und
fertig. Er verstand nicht, wie Barbara es schaffte, alle anzulächeln
und mit ihnen zu reden. Es sah aus, als würde
sie Spaß dabei haben. Vielleicht hatte sie den ja tatsächlich.
Die nächsten dreißig Minuten verstrichen mit einer
Reihe quälender »Hallo, wie geht's denn so«-Situationen.
Er grüßte Honoratioren, ausländische Gäste, Senatoren
und Kongressabgeordnete sowie Beamte der Stadtverwaltung
von Seattle, die allesamt in ihre Ämter gekommen
waren, nachdem er sein Amt als Leiter der Stadtwerke von
Seattle gegen das des Präsidenten der Vereinigten Staaten
eingetauscht hatte. Erleichtert stellte er fest, dass auch
Barney Tench, sein alter Schulkamerad und jetzige »König
des Wiederaufbaus«, gekommen war. Er stand drüben
beim Fenster und beugte sich über das Büffet.
»He, Barn, wie läuft's bei dir?«, rief er über die Köpfe
der Menge hinweg und lenkte damit die Aufmerksamkeit
von fünfzig oder sechzig Leuten auf seinen Freund, der
sich soeben ein riesiges Stück Krabbenfleisch in den Mund
schob. Allan Horbach hätte sich beinahe selbst geohrfeigt,
und Barbara trat ihm von hinten gegen das Bein.
»Aber ich muss mit Barney reden«, protestierte Kipper.
»Es geht um seine Arbeit.«
»Nicht jetzt, Mr. President«, beharrte der Protokoll-Tyrann.
»Mr. Ford wird jeden Augenblick mit seinem Vortrag
beginnen.«
»Der Dichter?«, entgegnete Kipper. »Oh, das ist ja toll.«
Sie drängten sich durch die Menge zurück, und ständig
trat ihnen jemand in den Weg. Alle wollten ihm ein
paar Minuten seiner kostbaren Zeit stehlen. Als sie ganz
vorn angekommen waren, stellte man Kipper einen nervös
dreinblickenden Mann in einem schlecht sitzenden
Anzug vor. Er tat ihm sofort leid. Ford sah kein bisschen
glücklicher aus als er selbst.
»Mr. President«, sagte Allan Horbach. »Darf ich Ihnen
den ersten Dichterfürsten des Neuen Zeitalters vorstellen?«
So nennen sie das jetzt, dachte er. Wann haben wir bloß
angefangen, das Ende der Welt als Neues Zeitalter zu bezeichnen?
Er schüttelte Ford die Hand und beugte sich zu ihm, um
den Lärm der vielen Menschen zu übertönen. »Keine
Sorge, Kumpel, morgen ist das alles nur noch ein schrecklicher
Alptraum.«
»Was?« Ford sah ihn erschrocken an. »Ach so, ein Witz.
Okay, alles klar. Soll ich dann jetzt mit dem Vortrag anfangen?«
»Ich denke, der Präsident möchte vorher noch ein paar
Worte sagen«, meinte Horbach.
»Na ja, ehrlich gesagt, reiße ich mich nicht gerade
darum«, sagte Kip und erntete einen warnenden Blick von
seiner Frau. »Aber egal, wir werden auch nicht jünger.
Bringen wir es hinter uns.«
Irgendwo ertönte eine Klingel, als er die kleine Bühne
hinaufstieg, die extra für dieses Ereignis aufgebaut worden
war. Er klopfte gegen das Mikrofon.
»He, hallo, wie geht's euch denn so?«, fragte er, und
schon ebbte das Stimmengewirr ab. Er zwinkerte Ford zu.
»Wie Sie alle wissen, bin ich kein großer Freund von Formalitäten.
Aber ich schätze, es ist halt nötig, ab und zu mal
so einen dämlichen Anzug anzuziehen. Wie meine Großmutter
zu sagen pflegte: Wenn man etwas Wichtiges zu
tun hat, sollte man sich vorher saubere Hosen anziehen.«
Höfliches Gelächter ertönte hier und da, mehr aber nicht.
Nur sein alter Kumpel Barney, der immer noch damit beschäftigt
war, sich Unmengen Krabbenfleisch einzuverleiben,
bekam einen derartigen Lachanfall, dass Kip schon
befürchtete, er könnte ersticken. O Gott, dachte er, aber mit
den anderen hier habe ich doch überhaupt nichts am Hut.
»Wie auch immer«, fuhr er fort. »Heute Abend lohnt es
sich, Hosen zu tragen.«
Er hob den Daumen und warf Adam Ford einen wissenden
Blick zu. Im Gegenzug schenkte ihm der Dichter ein
aufmunterndes Lächeln und zwinkerte ganz begeistert, je
mehr Kipper an Terrain gewann.
»Meine Frau Barbara und ich haben Sie heute Abend
hierher eingeladen, um ... He, zum Teufel, ihr wisst doch
alle, worum es geht. Wir haben einen neuen Dichterfürsten!«
Den letzten Satz rief er laut aus, als wollte er eine College-
Football-Mannschaft ankündigen, die ein großes Turnier
gewonnen hat. Er erntete viel Beifall und zustimmende
Rufe und merkte, dass die Leute ihm jetzt wirklich
zuhörten.
»Ich freue mich, dass ihr genauso gespannt seid wie
ich«, sagte der Präsident und leitete das Ende seiner Rede
ein. »Weil das hier nämlich absolut umwerfend sein wird.
Ihr wisst ja, dass es in den letzten Jahren hauptsächlich
ums nackte Überleben ging. Wir mussten zusehen, dass
wir satt werden, unsere Häuser verteidigen und die Kinder
durchbringen. Das war ...«
Er hielt inne und suchte nach den richtigen Worten.
Zum großen Kummer seiner Mitarbeiter trat Kipper selten
mit einer vorbereiteten Rede vor sein Publikum.
»... das war, na ja, man könnte es eine Herausforderung
nennen, aber das wäre nicht ganz richtig. Es war die Hölle.«
Im Saal war es jetzt ganz still.
»Der 14. März 2003 war der Tag, an dem wir in die
Hölle gefahren sind. Das ist die einzige Art, wie ich es beschreiben
kann, denn noch immer wissen wir ja nicht,
was passiert ist, und ehrlich gesagt, glaube ich nicht, dass
wir es jemals herausfinden werden. Ich habe Hunderte
von Wissenschaftlern auf die Erforschung dieses Ereignisses
angesetzt. Sie haben jede Menge Theorien aufgestellt
und Experimente gemacht, um zu ergründen, wo dieser
Effekt herkam und was er mit unseren Freunden und Angehörigen
gemacht hat. Sie haben jahrelang herumgeforscht
und wissen immer noch nichts. Vielleicht ist es
also Zeit, die ganze Sache aus einem anderen Blickwinkel
zu betrachten. Deshalb ist Adam Ford heute Abend hierhergekommen.
Er ist kein Wissenschaftler, er ist Dichter,
und wenn ich auf das zurückblicke, was uns passiert ist,
auf das Große Verschwinden, dann frage ich mich, ob
seine Methode, nach der Bedeutung dieser Ereignisse zu
fragen, nicht genauso wertvoll ist wie alle Berichte, die
diese Wissenschaftler für mich abgefasst haben. Womöglich
sogar wertvoller.« Er bedeutete dem Dichter, dass er
sich durch die Mikrofone nach vorn durcharbeiten sollte.
»Adam?«
Unter donnerndem Applaus stieg der Dichterfürst aufs
Podium, während der Präsident es verließ. Ford zog ein
einziges Blatt aus der Brusttasche seines Jacketts und hustete,
bevor er sich bei Kipper bedankte. Dann wartete er,
bis sich das Raunen gelegt hatte. Als es ganz ruhig war,
begann er zu lesen.
»Das Gedicht trägt den Titel ›Nachspiel‹«, sagte er und
begann:
»Sie versanken nicht im Meer. Sie fielen nicht im Krieg.
Wir waren nicht bei ihnen, als sie ein letztes Mal um
Atem rangen.
Keine Leichen zu identifizieren.
Doch sie waren da. Und sie verschwanden.
Wir blieben zurück, orientierungslos,
Ohne Beweise oder gar Gewissheit, was geschah,
Keine Brandspuren an den Hauswänden,
Keine Berge von Glas, Koffern und Schuhen,
Keine aufgestapelten Totenschädel, keine Filmaufnahmen
Von herabrieselnden Papierfetzen oder zerberstendem Glas.
Nur dieses unendlich tiefe Gefühl von Trauer,
Das unsere Welt verzerrt wie ein Schwarzes Loch -
Einer Trauer, die wir Nicht-Verschwundenen,
Bei uns tragen, auf der Suche nach einem Ort
In dieser fremden, neuen, veränderten Welt.«
01
New York »Nein, Mr. President, die kriegt man nicht vom
Kätzchenkraulen.«
James Kipper nickte und lächelte zweifelnd, als der breitschultrige
Arbeiter seine Oberarmmuskeln anspannte und
jedem davon einen Kuss aufdrückte. Seine Sicherheitsleute
schienen nicht weiter beunruhigt zu sein. Kipper achtete
inzwischen ganz automatisch auf ihre unausgesprochenen
Signale und ihre Körpersprache. Sie schienen von den
Arbeitern dieser Bergungsmannschaft weniger beunruhigt
als von den zerstörten Fassaden der Bürohäuser von Manhattan,
zwischen denen sich die verrosteten Überreste einer
Massenkarambolage türmten. Es war heiß und feucht, wie
immer im Juni, und der Arbeiter war völlig durchgeschwitzt.
Auch Kipper spürte, dass sein Hemd am Rücken klebte.
Nachdem er seine Ballonmuskeln liebkost hatte, streckte
der Arbeiter eine seiner gigantischen, schwieligen Pranken
aus, um dem 44. Präsidenten der USA die Hand zu
schütteln. Kippers Lächeln war nicht mehr so breit wie
einst, und es war bestimmt nie so breit gewesen wie das
von diesem Gorilla, aber seine Jahre bei den Stadtwerken
hatten seine Finger nicht kraftlos und seinen Händedruck
nicht schlapp werden lassen. Er erwiderte die eisenharte
Umklammerung mit einem immerhin bemerkbaren kräftigen
Zudrücken.
»Donnerwetter, Mr. President«, sagte der Arbeiter scherzhaft.
»Vorsicht, ich brauche meine Wurstfinger noch für
meinen Nebenjob als Konzertpianist.«
Die Männer und Frauen, die Kipper umringten, grinsten
und kicherten. Der Typ war ganz offensichtlich der Witzbold
dieser Truppe.
»Ein Konzertpenis?«, gab Kipper zurück. »Ist das was
Neues? Geht das denn, ohne dass man diese hübschen
kleinen Klaviere ruiniert?«
Karen Milliner, seine Medienreferentin, stöhnte laut auf,
wurde aber von dem vielstimmigen heißeren Gelächter
der Räumungsarbeiter übertönt, die sich kaum noch einkriegen
konnten. Das machte seine Sicherheitsleute ein
bisschen nervös, aber der Riese, der so gern seine Muskeln
abknutschte, übertönte alle anderen, als er auf den
Staatschef deutete und laut brüllte. »Dieser verdammte Kerl
hat mich echt überrumpelt. Das ist der beste verdammte
Scheißpräsident, den wir je hatten!«
Kipper befürchtete schon, der Riese könnte ihn aus lauter
Übermut in den Schwitzkasten nehmen. Dann wären
die Sicherheitsleute aus gutem Grund nervös geworden.
Aber nach ein paar Minuten legte sich der Begeisterungsausbruch
wieder.
Nur eine Frau war die ganze Zeit über ziemlich reserviert
geblieben. Seine Sicherheitsbeamten hatten sie sicherlich
schon bemerkt und behielten sie im Blick, auch
wenn man ihre Augen wegen ihrer dunklen Sonnenbrille
nicht sehen konnte. Kipper bemerkte den Blick der Frau
und lächelte ihr milde amüsiert zu. Ganz offensichtlich
gehörte sie nicht zu diesen Raubeinen. Sie hatte feine Gesichtszüge
und sah nicht aus wie jemand, der Tag für Tag
schwere körperliche Arbeit leistete. Immer wieder stellte
er auf seinen obligatorischen Rundreisen fest, dass die
»Schaulustigen«, wie seine Tochter sie nannte, ihn in ihren
Bann zogen. Die ganze Nation bestand aus Entwurzelten
und Verlorenen, und jeder Einzelne hatte seine eigene
Geschichte. Es wäre sicherlich spannend zu erfahren, wie
der Muskelmann und diese stille Frau dort in die verwil-
derten Straßenschluchten von New York gekommen waren,
drei Jahre, nachdem die zerstörerische Energiewelle genauso
rätselhaft, wie sie gekommen war, auch wieder verschwand.
»Mr. President«, sagte Karen Milliner, »wir müssen weiter.
Der Terminplan, Sie wissen schon.«
Die Bemerkung der Leiterin der Kommunikationsabteilung,
von ihm klammheimlich auch »nervige PR-Tante«
genannt, riss ihn aus seinen Gedanken. Er nickte und lächelte
den Arbeitern entschuldigend zu.
»Tut mir leid, Jungs. Ich bin genau wie ihr nur ein Diener
der Gesellschaft, und meine Chefin hier ...« Er deutete
mit dem Daumen auf Karen Milliner. »... meint, dass ich
wieder zurück an die Arbeit soll.«
Die kleine Gruppe buhte ein bisschen, klatschte aber
Beifall, als er ihnen zum Abschied zuwinkte und davonging.
Seine Sicherheitsleute folgten ihm wie Schatten. Rufe
wie »Danke, Mr. President« und »Weiter so, Kip« folgten
ihm, während er weiter über den Friedhof schritt, der
einstmals das große Amerika gewesen war.
Bald schon umfing sie wieder das leere Grauen der
Ruinen. Schutt und Asche knirschte unter ihren Sohlen,
als die Gruppe sich einen Weg durch die verwüstete Wall
Street bahnte. Nur das Gurren der Tauben war zu hören. Die
Vögel waren als eine der typischen Plagen der Stadt wieder
zurückgekehrt. Die Erholung des Ökosystems innerhalb
des Einzugsgebiets des Effekts schien alle wissenschaftlichen
Prognosen Lügen zu strafen. Büsche und Bäume
säumten die Straßen. Das Dröhnen der Kettensägen vermischte
sich mit dem metallischen Krachen des schweren
Räumgeräts. Eine Menge Arbeit in Manhattan und anderswo
bestand darin, Schneisen ins Dickicht zu schlagen,
um zu den ausgebrannten Gebäuden oder ineinander
verkeilten Schrottautos vorzudringen. Hier sah es nicht so
aus wie in den verkohlten Wüsten, die der Feuersturm in
weiten Flächen von Nordamerika hinterlassen hatte. Hier
gab es Leben, zumindest von einer bestimmten Art. Er
roch den Duft des frisch gefällten Holzes. Anscheinend
wollte New York sich wieder in seinen einst stark bewaldeten
Urzustand zurückverwandeln.
Nachdem er die deftigen Sprüche der Abbruchtruppe
hinter sich gelassen hatte, versank Kipper in seinen eigenen
Gedanken. Er entdeckte einen Lieferwagen mit der
Werbung für »Mister Softee«-Eiskrem, der in den Eingang
der Citibank an der Ecke Front und Wall Street gerast war.
Unter ihm lagen zwei verbeulte Fahrräder. Die vergammelten
Kleidungsstücke der verschwundenen Radfahrer
waren von spitzen Glasscherben aufgeschlitzt worden. Aber
sie waren eben nicht bei einem Autounfall zu Tode gekommen,
erinnerte er sich, sondern einfach verschwunden,
von einem Moment zum nächsten, genau wie alle an deren
Bewohner der Stadt. Genau wie alle anderen Menschen in
Amerika, damals vor vier Jahren.
»Hier war der Verkehr wohl nicht so stark«, sagte er
zu Jed Culver, nur um irgendwas zu sagen. »Nicht wie in
der ... wie hieß die letzte Straße, die wir überquert haben,
wo die Räumungsarbeiten stattfinden?«
»Water Street, Sir«, sagte einer seiner Sicherheitsleute.
Er war neu hinzugekommen. Kipper kannte seinen Namen
nicht, aber er hatte einen New Yorker Akzent. Wer weiß,
was im Augenblick in seinem Kopf vorging.
»Die meisten Autos waren geparkt, als der Effekt kam«,
fügte Culver hinzu. »Hier waren vor allem Fußgänger unterwegs
und Fahrradfahrer, Gesundheitsfanatiker und solche
Leute. Auf der Water Street war mehr los.«
Culvers Südstaatentonfall hatte einen leichten Loui-
siana-Touch, der sich nach einigen Auslandsaufenthalten
abgeschwächt hatte. Nun schwieg er angesichts dieser gigantischen
Nekropolis, in der Millionen von Menschen
verschwunden waren, es war einfach zu bedrückend. Kip-
per wandte sich ab und ließ seinen Blick durch die schattige
Häuserschlucht schweifen, die einstmals das Finanzzentrum
der Welt gewesen war. Zwischen Water und Wall
Street erstreckte sich ein Schrottplatz aus gelben Taxis,
Privatautos und einem gepanzerten Lieferwagen, der von
einem Lastwagen erfasst und umgestoßen worden war.
Der Aufprall hatte die Hecktüren aufgerissen, und man
konnte die sandfarbenen Säcke sehen, die herausgefallen
waren und in denen sich die alten, jetzt wertlosen
Geldscheine befanden. Niemand interessierte sich mehr
für dieses Geld, das längst von einer neuen Währung namens
New American Dollar ersetzt worden war. Sie drehten
um und gingen wieder in Richtung des schweren
Räumgeräts, der Presslufthämmer und des dröhnenden
Lärms.
Das waren die lautesten Geräusche in der Stadt.
Kipper schüttelte den Kopf.
»Kommen Sie«, sagte er. »Gehen wir weiter.«
An der Ecke, wo das Gebäude der JP Morgan Bank stand,
konnte man einen Blick auf die verwitterte Fassade der
New Yorker Börse werfen. Eine große, schmutzige und zerfetzte
amerikanische Fahne hing schlaff zwischen den römischen
Säulen des neoklassischen Portals, das von Weinranken
und Nylonseilen überzogen war. Kipper war nie in
der Wall Street gewesen, nicht mal in New York. Auf Fotos
hatte diese Straße immer viel größer gewirkt. Aber nun
stand er hier vor dem Gebäude, das einst den mächtigen
Motor des globalen Kapitalismus beherbergt hatte, und es
kam ihm klein, beinahe sogar mickrig vor.
Am Ende der Straße entdeckte er eine Art Kirche, die
zwischen den Wolkenkratzern sehr unscheinbar aussah.
Kipper war nicht religiös, aber der Anblick des Kirchturms
stimmte ihn noch melancholischer, machte ihn beinahe
depressiv. Mehr als nur ein paar Wirrköpfe hatten den Effekt
als das Ende der Welt interpretiert. Er selbst allerdings
glaubte, dass es eine rationale Erklärung für die schreckliche
Katastrophe geben musste.
Aber welche Erklärung das sein könnte, wusste niemand.
Er seufzte tief.
Die Delegation war sehr klein. Nur Kipper, Jed Culver,
seine Stabschefin Karen Milliner und ein halbes Dutzend
Sicherheitsleute in dunklen Overalls und mit Kampfausrüstung
gehörten dazu. Die konnte man einfach nicht loswerden.
Jede Menge Plünderer suchten zurzeit die Ostküste
heim und nahmen alles mit, was nicht niet- und
nagelfest war, angefangen bei Sportwagen und schwerem
Gerät bis hin zu Computer-Spielkonsolen und Schmuck.
Kipper musste oft an die alten Ureinwohner Amerikas
denken und ihr Schicksal, als die Europäer auftauchten.
Auch jetzt war der ganze Kontinent reif für eine Übernahme,
und niemand in der Welt dort draußen schien sich
Gedanken darüber zu machen, dass eine kleine Gruppe
von Einheimischen bereits Anrechte hatte.
Die traurige Ironie war in seinen Augen, dass die eigentlichen
Ureinwohner vom Effekt wahrscheinlich vollkommen
ausgelöscht worden waren. Er hatte keine Ahnung,
wie viele von ihnen übrig geblieben waren. Die Volkszählung
im nächsten Jahr würde möglicherweise etwas Licht
in die Sache bringen. Bislang war einfach keine Zeit gewesen,
sich zu vergewissern, wie groß die US-Bevölkerung
überhaupt noch war. Es gab zu viel zu tun, um das nackte
Überleben zu sichern. So war zum Beispiel die Ostküste
inzwischen von Piraten und Gangstern überrannt worden.
Viele von ihnen gehörten zu großen kriminellen Organisationen
aus Europa oder Südamerika, manche operierten
mit der stillschweigenden Rückendeckung bestimmter
Staaten, jedenfalls wenn sie aus Gegenden stammten, wo
es noch Staaten gab. Andere, kleinere Gruppen waren in
der Karibik beheimatet, aber es gab auch Banden, die aus
Afrika oder Osteuropa stammten. In den Berichten, die zu
Hause in seinem Büro in Seattle lagen, stand, dass man
sich mit solchen Leuten besser nicht anlegen sollte. Die
Hälfte von ihnen hatte sich die letzten Reste von Vernunft
mit Cocktails irgendwelcher Dschungel-Drogen weggepustet.
Sie interessierten sich nur für die teuren Autos und
Luxusgüter. Sie kamen, um Kupfer, Eisen und Stahl aus
den Trümmern zu bergen. Sie kamen, um Edelsteine, Gold
und Kunstwerke zu plündern. Das Museum of Modern Art
und ähnliche Einrichtungen waren längst leergeräumt und
ihre Schätze in alle Winde verstreut worden. Manche kamen
auch einfach nur, um in die Straßen von Manhattan zu
kacken.
Andere wiederum drangen ein, um jeden Amerikaner
zu töten, den sie aufspüren konnten.
Nach Culvers Einschätzung suchten jeden Tag etwa achtbis
neuntausend Freibeuter die Straßen von New York heim.
Und im Gegensatz zu Armee und Miliz wurden sie nicht
von irgendwelchen Regeln oder Gesetzen behindert.
»Haben Sie mal hier gearbeitet, Jed?«
»In dieser Straße hier, Mr. President? Nein. Vor sechs
Jahren hatte ich eine Weile in New York zu tun, bei Arthur
Anderson. Aber in der Wall Street war ich nie beschäftigt.«
Kipper reckte den Kopf und schaute sich nach den Soldaten
des Marinekorps um, die sich in den Gebäuden entlang
seiner Route verschanzt hatten. Er konnte sie nirgends
entdecken und unterdrückte den leichten Schauer,
der ihn erfasste. Irgendetwas war hier faul. Die Vegetation
war viel schneller gewachsen, als er sich vorgestellt hatte,
wahrscheinlich hatten die Überflutungen und die Stürme
der letzten Jahre ihren Beitrag dazu geleistet. Die ganze
Stadt machte auf ihn den Eindruck eines überwucherten
Friedhofs. Eines Friedhofs, der gleichzeitig ein Schlachtfeld
war.
Eine ganze Kampfbrigade der übrig gebliebenen US-
Army, unterstützt von Milizeinheiten war nötig gewesen,
um den südlichen Bereich der Insel von Manhattan für
seinen Besuch zu säubern. Und sogar diese Säuberung
war nicht hundertprozentig, es gab immer noch genügend
unbewachte Schlupflöcher und Durchgänge. Zusätzliche
Einheiten der Marines und der Special Forces sowie private
Sicherheitsdienste waren nötig gewesen, um ein keilförmiges
Gebiet zwischen World Trade Center und Battery
Park bis hin zur Anlegestelle der Fähre abzusichern -
und nachdem das geschehen war, hatte eine Abteilung der
irregulären Manhattan-Miliz von Gouverneur Schimmel
einen Kordon eingerichtet, den niemand lebend passieren
konnte.
Karen Milliner trat neben ihn und sprach mit gesenkter
Stimme.
»Die Medien sind hier, Mr. President. Wir sollten einen
Schritt zulegen.«
Ihm war schon klar, warum sie es für nötig hielt zu flüstern.
Er hatte deutlich zu verstehen gegeben, dass er diesen
Teil seiner Inspektionsreise allein durchführen wollte,
nur er und sein Stabschef. Karen war bloß mitgekommen,
weil die Medien zu Anfang und am Ende seines Besuchs
der toten Stadt bedient werden sollten.
Kipper wandte sich von der Börse ab, und schon blieb
sein Blick an den großen dorischen Säulen der Federal
Hall hängen, dem alten Kongressgebäude. Die Statue von
George Washington stand immer noch dort auf einem Sockel
vor dem Gebäude, das die letzten Jahre offenbar besser
überstanden hatte als die vielen modernen Gebäude
in der Umgebung. Eine Putzbrigade hatte den Schutt weggeräumt
und die wuchernden Pflanzen auf der Steintreppe
beseitigt. Nun glänzte die Statue des ersten Präsidenten
der Vereinigten Staaten frisch geschrubbt im Licht der
Sonne.
»Nur eine Minute, bitte«, sagte Kipper.
Er überquerte die Straße, und sein Sicherheitstrupp eilte
hinterher. Jed Culver geriet ziemlich aus der Puste beim
Versuch, mit ihm Schritt zu halten. Am Fuße der Treppen
schaute Kip nach oben in die Augen von George Washington
und senkte dann den Blick, um die Inschrift im Sockel
zu lesen.
An dieser Stelle wurde am 30. April 1789
GEORGE WASHINGTON
als erster Präsident
der Vereinigten Staaten von Amerika
vereidigt.
»Mr. President?« Culver zupfte an seinem Ärmel.
Kipper warf ihm einen ungehaltenen Blick zu. Er hatte
sich tapfer bemüht, seinen Stabschef dazu zu kriegen,
ihn Kip zu nennen oder vielleicht auch Jimmy - tatsächlich
hatte er es ihm sogar befohlen -, aber der ehemalige
Rechtsanwalt bestand darauf, die Formalitäten einzuhalten.
Kipper vermutete, dass es ihm Spaß machte. Jed
Culvers mächtiger Körper steckte in einem dreiteiligen
dunkelblauen Anzug, der an einem derart schwülen Tag
ziemlich lästig sein musste. Der Präsident hingegen trug
Jeans, Schnürstiefel von Carhartt und eine kugelsichere
Weste über einem alten Hemd von L. L. Bean. Sogar diese
ziemlich praktische Kleidung war an diesem feuchtheißen
Tag nicht gerade bequem.
»Nur noch eine Minute, Jed.«
Kipper sah die Statue an und fragte sich, was wohl
wirklich an diesem Tag durch Washingtons Kopf gegangen
war. Er war der Führer einer frisch geborenen Nation geworden,
deren Staat am Rand einer weiten Wildnis exis-
tierte, umgeben von tatsächlichen und möglichen Feinden.
Entgegen dem Rat vieler Offiziere hatte er das Kommando
über die Armee abgegeben. Er hatte vollstes Vertrauen in
das Regierungssystem, das er gerade eingeführt hatte. Das
war ein Grundsatz, den Kipper von George Washington
übernommen hatte.
Kipper hatte sich selbst dazu verdonnert, die Biografien
seiner Amtsvorgänger zu lesen, weil er sich für dieses Amt
nicht im Geringsten qualifiziert fühlte. Dennoch hatte er
nicht herausgefunden, was diese Männer im Innersten bewegt
hatte. Wenn überhaupt, dann konnte er sich mit Truman
ein wenig identifizieren, der gar nicht glücklich darüber
gewesen war, dass ihm nach dem Tod von Roosevelt
die Regierungsgeschäfte zufielen.
Aber wenigstens hatte er geahnt, was auf ihn zukam,
dachte Kipper reumütig. Er dachte an den Weg, den er
gegangen war: Als unbekannter Chef der Stadtwerke von
Seattle war er zum provisorischen Präsidenten ernannt
und schließlich für eine volle vierjährige Amtszeit gewählt
worden. Nun war er seit Januar 2004 der Präsident der
Überreste der Vereinigten Staaten von Amerika. Kurz danach
hatte sich der zerstörerische Effekt verflüchtigt. Es
war der reine Wahnsinn.
»Okay, ich habe wohl erst mal genug gesehen«, lenkte
er ein. »Ich dachte nur, es könnte vielleicht wichtig sein,
mal persönlich einen Blick darauf zu werfen.«
»Genau dafür lieben die Leute Sie, Sir«, sagte Culver lächelnd.
»Sie machen sich die Hände schmutzig, wenn es sein muss. So, können wir jetzt zum Konvoi zurückgehen?
Ich bekomme hier nur Alpträume.«
Sie gingen den gleichen Weg durch die Wall Street zurück
und achteten darauf, den hier und da herumliegenden
Kleiderhaufen auszuweichen, die nicht weggeweht
oder weggespült worden waren. Es waren nicht mehr viele
davon übrig. Culver und Kipper kamen an einem im Weg
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Autoren-Porträt von John Birmingham
John Birmingham wurde 1964 in Liverpool geboren und wuchs in Australien auf. Er arbeitete lange Jahre als Journalist, bevor er sich dem Schreiben von Romanen widmete. Heute ist er einer der populärsten australischen Autoren der Gegenwart.
Bibliographische Angaben
- Autor: John Birmingham
- 2011, 751 Seiten, Maße: 11,9 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Dtsch. v. Gutberlet, Ronald
- Übersetzer: Ronald Gutberlet
- Verlag: Heyne
- ISBN-10: 3453526015
- ISBN-13: 9783453526013
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